Die Arbeit meines Vaters war auch durch die tiefe Überzeugung geprägt, dass ein guter Kinderarzt seine Patienten zu Hause besuchen müsse, wenn sie hohes Fieber haben oder aus dringenden anderen Gründen nicht in die Praxis kommen oder gebracht werden konnten. Er schilderte mir oft, wie wichtig und therapiebestimmend die Eindrücke sind die er dabei über die Lebensumstände der Familien erfuhr. Deshalb nahm er sich regelmäßig in der Mittagspause und abends nach der Sprechstunde viele Stunden zu ausführlichen Hausbesuchen und Gesprächen mit den Kindern und deren Eltern oder Großeltern. Meine Schwester und ich wünschten uns, daß er sich auch für uns so interessiert wie für die fremden Kinder.
Eines Morgens wachte ich mit dem Gefühl auf, am ganzen Körper zu kochen, und mein Kopf lastete so groß und schwer wie ein Riesenkürbis auf meinen Schultern, als ich aufstand und zum Frühstückstisch schwankte. Vater sah mich mit seinem diagnostischen Blick und griff sofort an meine Stirn: „Was ist denn mit dir los? Du hast ja Fieber!“ Ich antwortete mühsam und mit kloßiger Stimme: „Ja, und heiße Kartoffeln im Hals!“
Er nahm wortlos den Kaffeelöffel neben seiner Tasse in die Hand, drehte meinen Kopf zum Licht und zielte kurz mit dem Löffel in die Richtung meiner Lippen: „Mach mal auf!“ Ich spürte, wie das kalte Metall meine heiße Zunge hinunterdrückte. Vaters geübter Blick war genau so kurz wie seine Diagnose: „Ordentliche Mandelentzündung. Mama gibt dir Aspirin und Penicillin, dann geht´s wieder.“ Er bat meine Mutter, in der Schule anzurufen und mich zu entschuldigen. Die ganze Prozedur hatte höchstens zwanzig Sekunden gedauert.
Dann trank Vater im Stehen seinen Kaffee aus, schluckte den letzten Bissen seines Marmeladebrotes hinunter und verließ mit einem knappen „Kopf hoch!“ in meine Richtung die Wohnung. Er hatte es wieder eilig, zu seinen Patienten zu kommen. Aber heute fühlte ich mich doch auch als Patient und wollte seine Aufmerksamkeit und Zuwendung haben! Enttäuscht ging ich in mein Bett.
Zum Mittagessen kam Vater nach Hause wie immer, und jetzt geschah etwas ganz Außergewöhnliches: Er kam von der Eingangstür direkt in mein Zimmer. Ich spürte, wie mein Herz einen kleinen Sprung machte und dann schneller schlug, denn Vater betrat mein Zimmer selten. Er machte einen richtigen Hausbesuch bei mir. Das war großartig!
Er gab mir die Hand, und ich war richtig verblüfft über diese unübliche Geste! Während er sich an meinen Bettrand setzte, fragte er interessiert: „Na, wie war´s heute morgen?“ Mir schoss mit glühender Freude der Gedanke durch den Kopf: Jetzt hatte er Zeit für mich!
Ich erzählte bereitwillig, dass ich dank der Tabletten mit klarem Kopf einen von Hans-Otto Meissners spannenden Reiseberichten über die Sahara gelesen hatte. Vater hörte mir sehr aufmerksam zu und stellte sogar ein paar zusätzliche Fragen, die ich mit dreifacher Begeisterung beantwortete: Ich war richtig glücklich über sein echtes Interesse an meiner Lektüre und die kostbare Zeit, die er sich für mich nahm, und ich berichtete gerne über die neu gelernten Einzelheiten des Wüstenlebens, die ich so lebendig in mir aufgenommen hatte. Ich spürte, wie mich das wunderbare Gefühl glücklich machte, für Vater jetzt wichtig zu sein.
Meine Mutter kam dazu, und auch von ihr wollte er genau wissen, wie es mir ergangen war. Er machte sich ein Bild über den Verlauf und entschied, die Therapie so fortzuführen, wie wir sie begonnen hatten.
Dann stand er auf und sagte: „Du kannst zum Essen aufstehen, komm, lass uns miteinander essen!“ Er drehte sich zur Tür, öffnete sie, wendete mir dabei den Rücken zu, und in diesem Moment sagte ich leise, aber so, dass er es hören konnte: „Wenn du doch immer so viel Zeit für uns hättest wie jetzt, wo ich krank bin!“
Ein kleines Zucken ließ seinen Körper erstarren, er stockte, und für den Bruchteil einer Sekunde blieb er stehen wie ein Fragezeichen. Dann straffte er sich zum Ausrufungszeichen und ging ohne Worte und ohne Blick zu mir hinaus und schloss die Tür. Der Hausbesuch war vorüber.
Das Mittagessen anschließend lief ab wie immer, und Vaters Besuch bei mir wurde nicht mehr erwähnt. Ich getraute mich nicht, mit ihm über den großen Besuch zu sprechen, den er mir geschenkt hatte, weil ich Angst hatte, etwas sehr Wertvolles kaputtzureden und ihn zu verärgern.
Erst viele Jahre später, als ich selbst meine Praxis hatte und viele Stunden damit verbrachte, meine Patienten zu Hause zu besuchen und für meine eigenen Kinder keine Zeit hatte, erinnerte er mich an jenen Hausbesuch bei mir: „Weißt du noch? Deine Bemerkung, als ich an der Tür stand, hat mir damals sehr weh getan, aber du hattest ja recht. Kannst du mich jetzt verstehen?“
„Oh ja, das kann ich jetzt!“ Davon war ich überzeugt. Und wir führten ein offenes Gespräch zwischen Vater und Sohn, in dem er wie so oft das Vorbild des jüngeren Kollegen war. Heute, während ich diese Geschichte schreibe, denke ich auch daran, wie intensiv Vater und Mutter sich um mich gekümmert haben, als ich neun Monate lang mit einer Knochenhautentzündung im Wadenbein im Bett lag und zweimal operiert werden musste.
Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere Kurzgeschichten veröffentlicht.