Trauer ist Erinnerungsarbeit

 

Wir haben nur die Wahl, ob wir den Schmerz der Trauer rasch und heftig erleben wollen oder langsam und meist auch mit späteren psychosomatischen Beschwerden verbunden, wenn er verdrängt wird. Wir kommen an der Trauer nicht vorbei.

Dr. med. Elisabeth Kübler-Ross

32.1 Gefühle aushalten 

Alle Gedanken und Gefühle, die wir im Angesicht des Sterbens und des Todes haben, sind bereits ein Teil der Trauer- und Trennungsarbeit. Dazu gehören auch die Aktivitäten, die uns und den Sterbenden mehr oder weniger gut darauf vorbereiten. Zu diesen Tätigkeiten gehören sehr alltägliche Verrichtungen wie Waschen, Pflegen, Füttern, Umkleiden, Gespräche, alte Fotoalben anschauen und darüber reden, eine Reise noch einmal machen. Dann gibt es solche, die einmalig sind: das letzte Testament zu machen, unerledigte Geschäfte endgültig -für das Ende gültig!- zu erledigen, mit bestimmten Menschen bewusst das letzte Gespräch zu führen, den letzten irdischen Sonnenstrahl zu sehen, bevor das ganz große Licht naht.

Jede Art der Kommunikation zeigt uns, wie wir mit dem Sterben zurechtkommen, das wir vor uns sehen und in uns spüren, ob wir blockiert sind oder wachsen. Die Trennungsarbeit geht bis zu dem Moment oder der Lebensphase, wo wir den Tod des geliebten Menschen angenommen und so verinnerlicht und verarbeitet haben, dass wir wieder offen sind für neue Gefühle und Handlungen, die ein Leben ohne diesen Menschen frei ermöglichen.

Ich will es noch einmal betonen, weil es so grundlegend wichtig ist: Um wirklich richtig mit einer Trennung umzugehen, müssen wir sie bewusst und geduldig wahrnehmen und aushalten.

Wenn ein Angehöriger eines Verstorbenen zu mir kommt und um eine Beruhigungstablette für den Tag der Beerdigung bittet, versuche ich ihm klar zu machen, dass ein intensiver Schmerz und ein bewusstes Erleben der Trennung hilfreicher und gesünder sind als eine Betäubung, in der die Trauerfeier und die Grabszenen hinter einen Nebelschleier verdrängt werden. Manchmal gebe ich eine Tablette mit und rate den Patienten, sie einfach in der Tasche zu haben, sozusagen „als letzte Sicherheit“. Das Wissen um die bereitliegende Tablette beruhigt die Patienten. Das spricht für den geistig-seelischen Einfluss unserer Gedanken auf unsere Körperfunktionen.

Ich kenne inzwischen viele Menschen, die mit der Beruhigungstablette in der Tasche die Beerdigung gut überstanden haben und hinterher froh waren, diesen Stunden bewusst und ungetrübt erlebt zu haben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass enge Angehörige in diesen Stunden des Abschieds so sehr mit sich und ihrem Schmerz beschäftigt sind, dass sie teilweise oder vollständig blockiert sind, die Reden und Beileidsbekundungen und andere Zeichen aufzunehmen oder gar zu verarbeiten. Deshalb habe ich bei meinen eigenen Trauerreden die schriftliche Fassung so in einen schönen Einband vorbereitet, dass ich sie als Geschenk nach der Rede immer an den engsten Verwandten des Verstorbenen geben konnte. So hatten die Hinterbliebenen die Möglichkeit, die Rede zu Hause in Ruhe zu gegebener Zeit zu lesen und aufzunehmen.

Denn die Erinnerung an alles, was mit dem Verstorbenen zusammenhängt, muss in Gedanken noch einmal „auferstehen“, damit wir ihn schließlich in Liebe endgültig loslassen können. Deshalb ist es so wichtig, möglichst oft und intensiv über den Verstorbenen zu sprechen und sich an viele Einzelheiten aus dem gemeinsamen Leben zu erinnern.

Ein sehr bildliches Beispiel erlebe ich immer wieder, wenn ich auf dem Friedhof an dem Grab von Heiko vorbeikomme. Er lebte im selben Haus wie ich, war mein Patient und verstarb an einem bösartigen Bauchtumor, als er etwa zwei Jahre alt war. Da sein Lieblingsspielzeug ein Bagger war, baten die Eltern meine damals vierjährige Tochter, einen Bagger zu malen, damit der Steinmetz ein Vorbild eines „kindlichen“ Baggers hat, um eben diesen Bagger auf den Grabstein zu meiseln. Und so ist das Gedenken an Heiko für immer an seinen Bagger gebunden, mit dem er viele glückliche Stunden verbracht hatte.

Die Erinnerung an Menschen ist auch für mich ein wichtiger Grund, warum ich dieses Buch schreibe. Ich mache mir sehr genau wieder bewusst, was ich damals im Umgang mit den geschilderten Persönlichkeiten erlebt, gefühlt und gelernt habe. Das erhöht zwar im Moment der akuten Trauer den Schmerz der Trennung, aber es verkürzt die Trauerphase auf natürliche Weise, Denn offensichtlich haben wir nur ein bestimmtes Maß an „Trauerenergie“ zur Verfügung. Wenn sie aufgebraucht ist, können andere Gefühle des alltäglichen Lebens wieder mehr Raum einnehmen, und das Leben kann in normale Bahnen gleiten.

32.2 Entwicklungsmöglichkeiten nach der Trauer 

Dies kann kompliziert werden, wenn zum Beispiel eine Frau ihren ganzen Lebenszweck und -sinn auf die Person des Ehemannes und die von ihm geschaffene soziale Ebene eingestellt hat. Wenn der Mann stirbt und diese Frau kein eigenständiges Persönlichkeitsbild von sich hat, das auch ohne den Mann in der Gesellschaft angenommen ist, wird sie immer dem Mann nachtrauern, weil ihr durch seinen Tod der Boden, auch das gesellschaftliche Parkett, entzogen wurde. Diese Verhältnisse treffen wir besonders bei Frauen an, die keine Berufsausbildung haben und den Sinn ihres Lebens in der Begleitung des Mannes und der Kinder gesehen haben.

Diese Frauen müssen entweder ihren weiteren Weg in der geistig-emotionalen Vergangenheit leben und immer der zunehmend idealisierten Zeit nachtrauern. Sie neigen dazu, zum Beispiel die Kinder zu verpflichten, wenigstens stellvertretend den sozialen Rahmen und die ehemalige Bedeutung für die Mutter zu schaffen. Wobei hier der Konflikt der Eigenständigkeit oder Angebundenheit der Kinder auftritt.

Und die zweite, reife Möglichkeit für diese Frauen besteht darin, ihr Leben jetzt in die eigene Hand zu nehmen und konstruktive Entscheidungen selbst zu treffen. Sie kann sich aufmachen, einen zweiten Lebensabschnitt mit neuen Aufgaben zu führen, in dem der Wert und Sinn des eigenen Lebens an der eigenen Persönlichkeit definiert werden und nicht an der des Ehemannes oder der Familie.

Manche Frauen nützen nach dem Tod ihres Ehemannes diese Gelegenheit, ein völlig neues Leben im Rahmen einer großartigen Entwicklung zu gestalten, das ihnen eine neue Identität und völlig veränderte Sicht ihres Daseins vermittelt. Dies kann für Frauen gelten, die entweder von ihrem Mann stark abhängig waren, unterdrückt lebten oder durch den an ihnen klammernden Mann während der Ehe erheblich beeinträchtigt waren, eine eigenständige Entwicklung zu leben.

Wenn solche Frauen die Freiheit des Alleinseins als Chance erkennen und die damit verbundene Verantwortung annehmen, besteht die Grundlage für eine neue und imponierende Reifung nach der traumatischen Trennung.

32.3 Wie bewältigen wir die Trauer 

Trauer und Angst sind für die meisten Menschen zwei quälende und lebenseinschränkende Gefühle. Sie können teilweise mit ähnlichen Methoden behandelt werden. Beim Umgang mit der krankhaften Angst wurde das Phänomen der Gefühlserschöpfung durch intensive Konfrontation gefunden. Angst ist ja zunächst ein sehr sinnvolles Gefühl, weil es uns vor Gefahren schützt. Aber sie kann so groß werden, dass sie uns im alltäglichen Leben einengt und unfähig macht, die normalen Aufgaben zu bewältigen. Dann sind wir krank vor Angst und leiden daran. Das ist ein behandlungs-bedürftiger Zustand.

Die moderne psychiatrische Forschung hat gezeigt, dass die direkte Konfrontation mit der angstauslösenden Situation, zum Beispiel einer engen Aufzugskabine oder einer belebten Straße, die Angst vorhergehend scheinbar unbewältigbar groß werden lässt. Aber wenn diese panische Angst ausgehalten wird, verschwindet sie und kommt nicht wieder.

In Bezug auf die Trauerarbeit bedeutet das praktisch, dass wir uns intensiv erinnernd mit unseren Gefühlen und unserer Beziehung zu dem Sterbenden oder Verstorbenen beschäftigen müssen. Diese Gefühle können in ihrer intensivsten Form mit ihrer Größe und Tiefe von trauernden Liebenden nicht nur als Vollendung der irdischen Liebe, sondern auch als Ausdruck einer tragischen und lösenden Schönheit erlebt werden.

Ein eindrucksvolles Beispiel habe ich von der Familie Basler gehört. Als Herr Basler im Sterben lag, holte die Familie am Samstagabend den zuständigen Pfarrer ans Krankenbett. Dieser verstand es mit wenigen Sätzen sehr geschickt, die trauernde Ehefrau zum Gespräch mit ihrem Mann zu bringen. Sie erzählte ihm ihr 34 Jahre langes gemeinsames Leben und vermittelte ihm damit noch einmal ihre ganze Liebe und Dank-barkeit. Das war Erinnerungsarbeit und gleichzeitig ein Aufarbeiten der Vergangenheit, eine Zusammenfassung des Lebens, um es abzuschließen. Während dieser Erzählung der Ehefrau entspannte sich Herr Basler zusehends, und als sie in ihrer Schilderung an diesem Abend angekommen war, machte Herr Basler noch zwei letzte sanfte Atemzüge.

In diesen letzten Tagen von Herrn Basler war seine jüngste Tochter nach einem anstrengenden Staatsexamen und der aufopfernden Pflege des Vaters für einige Tage zum Wandern weggefahren, um wieder „aufzutanken“. Sie sagte zu mir: „Beim Wandern kann ich meinen Stress am besten loswerden.“ Als sie weg fuhr, war nicht abzusehen, dass der chronisch kranke Vater in den nächsten Tagen sterben würde. So wanderte sie mit ihrem Lebenspartner über eine Bergroute, die sie mit den Eltern in früheren Jahren begangen und in sehr guter Erinnerung hatte. Von den einzelnen Gipfeln und besonders markanten und erinnerungsträchtigen Stellen brachte sie je einen Stein mit. Als sie wenige Stunden nach dem Tod des Vaters zu Hause eintraf, setzte sie sich zu ihm ans Bett, „erzählte“ ihm von der Wanderung und „zeigte“ ihm die Steine. Sie gab ihm die Steine mit ins Grab. Auch das ist eine besonders individuelle Art von liebevoller Trauerarbeit.

Bei vielen Menschen tauchen während einer Trauerfeier Assoziationen an andere Menschen, andere Trennungen und traurige Erlebnisse auf, die Gefühle wecken und von dem jetzt gerade Betrauerten ablenken. Dies kann zu einer sogenannten Nachtrauer füh-ren, die nichts anderes ist als eine verspätet aufgetauchte und deshalb immer noch nötige Form der Trauerarbeit. Das Unterbewusstsein schickt uns immer im richtigen Moment die richtigen Gedanken in Form von Bildern und Gefühlen. Das haben wir schon be-sprochen. Nehmen Sie es an. Es ist richtig.

Die bei uns üblichste Art der Erinnerungsarbeit sind die Trauerreden mit vielen Erinnerungen an den Verstorbenen. Bei dem „Leichenschmaus“ nach der Trau-erfeier wird in geselliger Runde die Erinnerung an das gemeinsame Leben mit dem Verstorbenen besprochen. Viele Erlebnisse werden noch einmal erzählt, und auf diese Art und Weise kehrt manchmal schon während der Kaffeerunde wieder ein gewisses Maß an Heiterkeit, Frohsinn und „normalem Leben“ in die Gesellschaft zurück.

Bei uns ist es auch üblich, die Toten auf dem Friedhof zu besuchen, am Grab in stillem Gedenken stehen zu bleiben und ihnen Blumen zu schenken und das Grab zu pflegen. Die Erinnerung, die wir mit Andenken an den Toten und seinen Bildern aufbewahren, spielt ebenso eine wichtige Rolle wie Reisen an Orte, die wir mit dem Verstorbenen erlebt haben.

In anderen Kulturen wie zum Beispiel in Japan wird jedes Jahr an einem bestimmten Tag am Grab ein Festessen mit den Lieblingsgerichten des Toten zelebriert. Der Tote wird in einem Ritual herbeigerufen und eingeladen, und es entwickelt sich eine gemeinsame Essenszeremonie.

Diese Erinnerungsarbeit ist auch wichtig, wenn wir uns von einem Lebenden trennen, zum Beispiel im Rahmen einer beendeten Liebesbeziehung, einer Scheidung, nach einer schönen Reise oder wenn wir uns von einer Wohnung, einem Land oder einer anderen wichtigen Gemeinschaft trennen. Die vielen Jahrgangstreffen der zahlreichen Gemeinschaften, die wir durchlaufen haben, sind typische Beispiele dafür.

32.4 Die Selbsthilfegruppen

Ich möchte Sie noch auf zwei Einrichtungen aufmerksam machen, bei der Sie als Patient und als Angehöriger Hilfe, Rat und Ansprache in Selbsthilfegruppen finden können.

Die vielen Selbsthilfegruppen in Deutschland werden organisiert und vernetzt von

NAKOS: Nationale Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen, Otto-Suhr-Allee 115 , 10585 Berlin, Telefon: (030)  31018960.
E-Mail: selbsthilfe@nakos.de
Internet: www.nakos.de. Foren: www.selbsthilfe-interaktiv.de. Junge Seite: www.schon-mal-an-selbsthilfegruppen-gedacht.de

Für die Region Stuttgart wenden Sie sich bitte an

KISS: Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen e.V. Stuttgart, Tübinger Str. 15, 70178 Stutgart, Telefon: (0711)  6 40 61 17. E-Mail: info@kiss-stuttgart.de. Internet: www.kiss-stuttgart.-de

Für fast alle Krankheiten und sozialen Notfälle und Randgruppen der Bevölkerung gibt es Selbsthilfegruppen. Ich zähle nur ein paar Themen auf, die zu unserem Buch passen:

Verschiedene Krebs-Selbsthilfegruppen,
Künstlicher Darmausgang
Patienten mit Transplantationen verschiedener Organe
alle Arten von Suchterkrankungen
Unfallopfer
Eltern von Drogenabhängigen
Co-Abhängigkeit (das ist die Abhängigkeit, einem Abgängigen / Süchtigen helfen zu müssen)
Schmerzpatienten
Telefonkette für alte Menschen
Tod eines Kindes
Tod eines Partners
Trauernde
Trennungskonflikte
Verwaiste Eltern.

Dies ist nur eine kleine Auswahl aus der sehr langen Liste von bestehenden Gruppen. Wenn ich Ihr Thema nicht aufgeführt habe, zögern Sie nicht, eine der beiden Kontaktstellen anzurufen, Ihr Problem zu schildern und nach Hilfe zu fragen.


Copyright Dr. Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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