Es kann sein, dass man vor lauter Eulen die eigene Eule nicht sieht, wenn man sie nach Athen tragen soll. Das erlebte ich in der Pathologieprüfung im Staatsexamen. Auch hier war die intensive Fragestunde schon fast vorbei, und wir spürten, dass alles unproblematisch lief. Da fragte mich der Professor: „Was sind denn die wesentlichen Kennzeichen eines bösartigen Tumors?“
In der Pathologie ist dies eine umfangreiche und wichtige Frage. Einerseits konnte ich froh sein über eine sowenig einschränkende Frage, denn ich konnte vorerst selbst bestimmen, über welche der Eigenschaften ich reden wollte. Andererseits braucht man zur guten Beantwortung eines solch weit gestellten Themas eine klare Gliederung im Kopf, um sich nicht in der Weite des Feldes zu verirren.
Aber ich war mir sicher und begann. Ich sprach eine ganze Weile konzentriert und nach einem, wie ich meinte, übersichtlichen Schema. Nachdem ich alle wichtigen Details so gut ich konnte dargestellt hatte und noch einmal über die Vollständigkeit meiner Ausführungen nachdachte, meinte der Professor: „Sie haben alles ganz richtig erklärt. Sie haben auch alle wichtigen Gesichtspunkte beschrieben – bis auf einen sehr wichtigen, den bekanntesten. Sagen Sie mir nur das Stichwort zur Vollständigkeit.“
Ich war verblüfft, wiederholte in Gedanken noch einmal meine verschiedenen „Überschriften“, die ich besprochen hatte, und fand das fehlende Stichwort nicht. Der Professor wollte mir helfen und sagte schließlich: „Ich weiß, dass Sie es wissen, weil Sie es vorhin bei einer ganz anderen Frage besprochen haben. Ich dachte nur, Sie könnten es in diesem Zusammenhang noch einmal erwähnen. Es ist nicht schlimm, wenn Sie jetzt nicht draufkommen, aber ich denke, es ist wichtig, dass bösartige Tumoren Metastasen[1] bilden!“
Das Einfachste, Wichtigste hatte ich vergessen zu sagen, die Eigenschaft, die jeder Laie sofort auf Anhieb weiß.
Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.
[1] Tochtergeschwülste