Asozial?

Bis zu diesem Tag war ich der Meinung, dass Medizinstudenten sich selbstverständlich taktvoll benehmen und wissen, was sich gehört. Aber mir stand wieder eine Lektion bevor.

In einer Vorlesung sprach der Direktor der Frauenklinik in Mannheim, Herr Professor Stoll, über die gynäkologische Problematik und Versorgung von Frauen, die viele Kinder haben. „Der Begriff viele Kinder“, so erklärte er, „ist definiert. Das bedeutet in der Medizin und Soziologie in den Industrieländern drei oder mehr Kinder.“

In diesem Moment zischte es scharf im Hörsaal. Die Köpfe flogen herum. Ich begriff gar nicht, warum an dieser Stelle des Vortrags jemand auf die Idee kommen konnte, sein Missfallen so deutlich zum Ausdruck zu bringen. Was war denn an diesem Satz abzulehnen?

Professor Stoll stutzte einen Moment, schaute in die Runde, suchte wohl den Störenfried und sagte ruhig und interessiert: „Warum zischen Sie?“ Da kam aus dem Auditorium von einem Studenten die scharfe Antwort: „Viele Kinder zu haben, ist asozial!“

Der Professor wurde blass und konnte sich ganz offensichtlich nur mühsam beherrschen. Sein Gesicht fror ein. Seine rechte Hand umklammerte die Tafelkreide, und die angespannte Haut über den Knöcheln wurde leichenweiß. Ich bemerkte, wie er blitzschnell seine Reaktion überlegte.

Nach einer Schrecksekunde nagelte er den Studenten mit einem durchdringenden Blick auf den Sitz und sagte, jedes Wort betonend: „Herr Kollege, ich habe sechs Kinder! Halten Sie Ihre Behauptung aufrecht, dass ich asozial bin?“

Wir alle im Hörsaal waren geschockt von der Peinlichkeit der Situation und der Dreistigkeit des Kollegen. Auch wir schauten ihn entsetzt an. Den unnachgiebigen Blick und die bedrohliche Stille, bei der wir das Surren einer Mücke hörten, konnte er wohl nicht aushalten. Mühsam stand er auf und verließ ohne Antwort den Raum.

Nach einer kurzen Weile sprach Professor Stoll über sein begonnenes Thema weiter, als sei nichts geschehen.

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

 

Dieser Beitrag wurde unter Prosa abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.