Alltag auf See

Am folgenden Tag, als Heinz nach einer herzlichen Verabschiedung von Bord gegangen war, lichteten wir auf der Meteor den Anker, und die große Reise begann. Alle Schiffe, die Heinz mir im Hafen gezeigt hatte, verließen fast gleichzeitig den Hafen, nachdem sie in den vergangenen Tagen gründlich gebunkert hatten. Das heißt, sie haben Lebensmittel, Wasser, Öl und alles andere neu getankt, was sie für eine längere Zeit auf See ohne Nachschubmöglichkeit brauchen.

Teilweise hatte die Besatzung gewechselt, nur bei uns blieb die Forschungsmannschaft weitgehend gleich. Ihre Mitglieder, Angehörige verschiedener Hamburger Institute, hatten die Forschungsräume eingerichtet und dort während der letzten vier Wochen auf See gearbeitet. Insgesamt fuhren 75 Menschen an Bord mit. Etwa zwei Drittel gehörten zu dem wissenschaftlichen Personal, das dritte Drittel stellte das Stammpersonal der Meteor.

Viele Seemeilen später setzen wir an dem vorgeschriebenen Platz den Tiefseeanker, eine große Stahlplatte an einem dünnen und stabilen Stahlseil, das fast einen Kilometer lang aus mehreren Stücken zusammengehängt werden musste, da der Atlantik an dieser Stelle so tief war.

Der Alltag begann. Für mich war ärztlich kaum etwas zu tun. Im Durchschnitt kam jeden Tag ein Patient mit kleineren Beschwerden: ein bisschen Schnupfen, verspannte Nackenmuskulatur, ein kleiner Riss in der Haut, manchmal Durchfall oder das Gegenteil. Kleinigkeiten, kaum der Rede wert. Schwierige Unfälle oder Erkrankungen wie zum Beispiel Heinz sie erzählt hatte, musste ich glücklicherweise während der ganzen Zeit nicht behandeln. Darüber war ich schon froh. Trotzdem erlebte ich sehr interessante und lehrreiche, lustige und spannende Momente.

Ich wollte mein eigenes Arbeitsprogramm durchhalten, das ich mir vorgenommen hatte. Noch in Wilhelmshaven waren mir zwei frühere Schiffsärzte der Meteor begegnet, die mir viele gute Tipps gegeben hatten. Sie gaben mir einstimmig den Rat: „Du musst dir auf jeden Fall für die ganze Zeit ein Arbeitsprogramm vornehmen und dich etwas abschotten, sonst kommt immer einer von der Besatzung oder den Wissenschaftlern zu dir und lädt dich zum Trinken ein. Einer hat nämlich immer frei, das ist der Arzt, den suchen sie sich, wenn sie Pause oder Freiwache haben. Und dann ist die Gefahr groß, dass du an der Flasche hängst.“

Deshalb hatte ich geplant, während der Meteor-Zeit den Nelson, das beste amerikanische Kinderheilkundelehrbuch mit über 2000 Seiten, durchzuarbeiten und mich damit auch auf meine anschließende Weiterbildung als Kinderarzt vorzubereiten. Meine vertraute Schreibmaschine hatte ich eingepackt, um regelmäßig so ausführlich mit Durchschlag Tagebuch schreiben zu können, dass ich es in den beiden geplanten Hafenpausen nach je vier Wochen heimschicken konnte. 1974 gab es noch keine Computer, die man so rasch mal hätte einpacken können. Heute würde ich den Laptop und einen handlichen Drucker in den Koffer legen.

Ich setzte mich meistens morgens nach dem Bad und dem Frühstück in der Offiziersmesse an den Schreibtisch in meiner Kajüte und arbeitete ein paar Stunden lang. Zwischendurch erfrischte ich mich bei einem Spaziergang an Deck und unterhielt mich mit den Wissenschaftlern, die mir gerne und verständlich ihre Arbeit erklärten.

Diesen  Tagesablauf empfand ich sehr interessant, und ich lernte viel über meteorologische und ozeanografische Fragestellungen und Zusammenhänge, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Ein paarmal hielten die Forschungsgruppenleiter in der Bibliothek auch Fortbildungsvorträge über die laufenden Untersuchungen für alle Interessierten ab, in denen sie ausführlich und für alle Gäste verstehbar ihre Projekte und Arbeitsmethoden erklärten..

Rechtzeitig zu dem Frühschoppen lud ich regelmäßig meine Gäste ein, die offensichtlich gerne am Sonntagmorgen zum Bierchen kamen. Wir besprachen das Leben an Bord, und ich erfuhr so manche Seemannsgeschichte aus vergangenen Zeiten und fernen Ländern. Ich empfand diese Stunden vor dem Mittagessen als nette Unterhaltung ohne wesentlichen Tiefgang, wie es eben an einem Stammtisch so zugeht.

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht

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