Das Attest

Der neue Patient kam ins Sprechzimmer und äußerte ohne Umschweife seinen Wunsch: „Herr Doktor, schreiben Sie mir bitte ein Attest, dass ich am 23. Oktober krank bin.“

Ich überlegte kurz und sagte dann verwundert: „Aber das ist in drei Wochen. Woher wissen Sie, dass Sie gerade da einen Tag lang krank sein werden?“

Er meinte gelassen: „Mein Anwalt hat gesagt, Sie sollen dieses Attest so schreiben.“

Da wurde ich hellhörig und hakte nach: „Wie kommt Ihr Anwalt dazu, solch ein verrücktes Attest zu fordern? Es wäre eine Urkundenfälschung, wenn ich es schreiben würde, denn ich darf eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur verbunden mit einer Untersuchung ausstellen. Und so gesund, wie Sie jetzt aussehen, kann ich nicht einmal ahnen, daß Sie in drei Wochen krank sind und schon gar nicht, warum.“

Ich holte Luft und sah mich noch zu einer Erklärung verpflichtet: „Was Sie wollen, ist ein betrügerisches Gefälligkeitsattest, mit dem ich erstens meine Zulassung riskiere und zweitens mich erpressbar mache. Und drittens: Stellen Sie sich mal vor, was Ihr Anwalt mit diesem Attest machen würde, wenn er gegen mich wäre! Er würde mich vor den Kadi zitieren, und da hätte ich nicht den Schimmer einer Chance.“ Mein Gegenüber schaute mich nur an, und ich fragte direkt und noch freundlich: „Also jetzt will ich´s wirklich wissen: Warum wollen Sie dieses Attest?“

Mein Patient blieb ganz ruhig und erzählte, und die Art, wie er berichtete, zeigte mir, daß er sich mit seiner Bitte völlig im Recht fühlte und zunehmenden Unmut wegen meiner Weigerung gegen mich aufbaute. Er meinte:

„An diesem 23. Oktober habe ich eine Vorladung vor Gericht, und da will ich nicht hingehen. Mein Anwalt sagt, das sei ganz einfach mit dem Attest. Und das denke ich auch. Es ist doch nur ein Satz, den Sie schreiben müssen. Was ist schon dabei? Also, kriege ich jetzt den Zettel oder nicht?“

Ich kam langsam in Fahrt, weil ich merkte, wie er mich in die Zange nehmen wollte. Ich musste also noch klarer reagieren. Auf der anderen Seite spürte ich eine gewisse Neugier, die Hintergründe dieses Betrugsversuchs herauszubekommen. Außerdem begannen mich sein Ansinnen und seine Kaltschnäuzigkeit zunehmend zu ärgern. Das wollte ich ihm vermitteln:

„Nein, ich schreibe Ihnen das Attest nicht. Und Ihrem Anwalt sagen Sie bitte einen Gruß, dass ich seine Aufforderung als eine Unverschämtheit empfinde. Eigentlich müsste man sein Vorgehen der Anwaltskammer melden, aber der Aufwand ist mir zu groß. Und so wie ich ihn nach Ihren Erzählungen einschätze, wird er bei einer Nachprüfung zu seiner Aussage auch nicht stehen. Aber sagen Sie mal, was für eine Gerichtsverhandlung ist denn das, vor der Sie sich drücken wollen?“

Mein Gegenüber erklärte weiter ganz gelassen: „Ach, wissen Sie, da bin ich vor ein paar Monaten in der Nähe von Frankfurt geblitzt worden, als ich zu schnell fuhr. Und ich habe auf den Anhörungsbogen und die darauf folgende Post nie reagiert. Jetzt kommt es eben zu einer Verhandlung. Und da müssen Sie doch verstehen, dass ich nicht hingehen will. Also jetzt schreiben Sie halt rasch das Attest, und dann haben wir´s hinter uns!“

Der Dialog begann mir bei allem Ärger über die vergeudete Zeit und die Frechheit des Patienten auch Spaß zu machen. Also führte ich das Gespräch engagiert weiter:

„Nein, dann haben wir´s eben nicht hinter uns, denn möglicherweise geht es dann erst richtig los und zwar für Sie und mich! Was glauben Sie denn, was passiert, wenn dieser Betrug rauskommt?“ Ich machte eine rhetorische Pause und redete dann etwas leiser und noch intensiver weiter: „Und wenn´s ganz dick kommt, ist Ihr Anwalt auch noch dran wegen absichtlicher Verwendung falscher Beweismittel. Das ist ein glatter Betrug!“

Ich wollte dem Gespräch eine konstruktive Wendung geben und sagte verbindlich: „Wissen Sie, ich kann ja verstehen, dass Ihnen der Gerichtstermin nicht passt, aber merken Sie, dass Sie immer tiefer in die Sache verstrickt werden, je mehr Sie sich weigern, einfach zu Ihrem zu schnellen Fahren zu stehen und die Konsequenzen zu tragen? Natürlich ist die Sache schon weit fortgeschritten, aber wenn Sie sich jetzt weiter entziehen, gilt eben auch für Sie das alte Gesetz: Konflikte kommen immer wieder in verschärfter Form, bis wir sie annehmen und lösen.“

Ich machte eine kurze Pause, um ihm eine Chance zu geben, über diesen Grundsatz nachzudenken. Dann redete ich weiter: „Sie merken doch schon an dem Verlauf, den Sie mir berichten, dass das stimmt. Diese Erkenntnis ist sehr unangenehm, aber ganz einfach. Deshalb müssen Sie aus der Spirale aussteigen, so rasch Sie können. Und das ist jetzt!“ Ich bekräftigte noch dazu: „Es wird nicht besser! Das ist dann immer noch die billigste Lösung, obwohl ihr Preis schon hoch ist. Was würde denn passieren, wenn Sie jetzt zu der Verhandlung gehen würden?“

Jetzt wurde er bedrückt und meinte kleinlaut: „Dann würde ich eine saftige Geldstrafe und ein paar Punkte in Flensburg bekommen, und mein Chef würde mich rausschmeißen. Deshalb brauche ich Ihre Hilfe. Bitte geben Sie mir das Attest!“ Er ließ nicht locker. Ich auch nicht:

„Nein, das Attest gebe ich Ihnen nicht, aber ich bin bereit, mit Ihnen zu überlegen, wie Sie aus der Eskalation aussteigen können. Warum würde denn Ihr Chef Sie rauswerfen? Zu schnelles Fahren allein ist kein Kündigungsgrund. Steckt noch was anderes dahinter?“

Er begann zu zögern und meinte dann widerwillig: „Na ja, ich bin so schnell gefahren, dass ich sicherlich für einen Monat den Führerschein abgeben muss, und als Außendienstler brauche ich ihn.“

Ich erwiderte fest: „Das ist schon eher ein Grund, Sie zu entlassen. Aber wenn Sie ein guter Mann sind, wird Ihr Chef Sie mit einem ernsten Wort verwarnen und wahrscheinlich tief innen drin Verständnis für Sie haben, aber Sie deshalb nicht kündigen.“

Mein Patient schüttelte den Kopf: „Das ist es ja, ich bin kein guter Mann, und ich habe Angst, dass mein Chef erfährt, dass ich während der Arbeitszeit bei einer Konkurrenzfirma war, um mich zu bewerben, und einen Kundenbesuch abgerechnet habe.“

Ich hatte Verständnis für seine Bedenken: „Oje, jetzt wird´s aber dick. Das ist natürlich schlimm, das ist ja noch ein Betrug! Aber trotzdem und gerade deshalb frage ich Sie jetzt ganz ernsthaft: Wie viele krumme Sachen wollen Sie noch drehen, um Ihre Verantwortung abzuwälzen, und wie lange wollen Sie eine Lüge nach der anderen mit einer weiteren Lüge vertuschen?“

Ich redete eindringlich und sehr ernsthaft mit ihm, weil ich erreichen wollte, dass er bei aller Problematik die Konsequenzen seines Planes erkannte und sich nicht noch weiter in sein Lügengebäude verstrickte.

Jetzt wurde er wütend und fauchte wie ein Hund, der sich zu sehr in die Ecke gedrängt fühlte: „Also wenn Sie mir jetzt nicht sofort das Attest geben, gehe ich!“

Ich stand ganz ruhig auf, reichte ihm die Hand und sagte: „Dann wünsche ich Ihnen alles Gute!“ und ging zur Tür, um sie zu öffnen.

Da sagte er leise: „Wahrscheinlich haben Sie ja Recht, aber ich kann nicht!“ Er verließ die Praxis, ohne mir die Hand zu geben und ohne zurückzuschauen. Ich dachte, er würde nie wieder kommen.

Im November stand der Mann an einem Montagmorgen plötzlich wieder da und sagte ebenso direkt und ohne vorherige Einleitung wie bei seinem ersten Besuch: „Ich brauche ein Attest, dass ich am Wochenende krank war.“

Ich hatte unsere letzte Unterhaltung noch gut im Gedächtnis und fragte ganz sachlich: „Was haben Sie denn gehabt?“

„Also, wissen Sie,“ meinte er zögernd, „eigentlich so richtig krank war ich nicht, aber ich brauche das Attest, sonst feuert mich mein Chef.“

Einerseits ärgerte ich mich, schon wieder ein Attest mit im Moment noch unklarem Hintergrund schreiben zu sollen, andererseits rechnete ich ihm seine Ehrlichkeit an, denn er hätte mich auch anlügen und die Geschichte von der Magen-Darm-Grippe oder den schlimmen Kopfschmerzen erzählen können. Ich fragte also weiter:

„Na, da bin ich aber gespannt, was wirklich los war. Was ist denn übrigens mit der Gerichtsverhandlung passiert?“

Er holte tief Luft: „ Das ist es ja! Ich bin nicht hingegangen, weil ich kein Attest hatte. Daran sind Sie schuld!“

„Moment mal,“, warf ich ein, „ich habe die Verantwortung dafür, dass ich Ihnen das Attest mit guter Begründung nicht geschrieben habe, das ist richtig. Aber schuldig fühle ich mich deshalb noch lange nicht. Und dass Sie nicht bei der Gerichtsverhandlung waren, ist Ihre Verantwortung. Also weiter, und dann?“

„Ja, und dann standen am Freitag plötzlich die Polizisten vor der Tür, hielten mir einen Haftbefehl unter die Nase und brachten mich übers Wochenende in den Knast, weil ich bei der Verhandlung nicht erschienen war. Am Samstag und Sonntag habe ich es von dort aus mit Hilfe meines Anwaltes geschafft, heute Morgen wieder frei zu kommen. Jetzt sagt mein Anwalt, ich solle von Ihnen ein Attest holen, dass ich übers Wochenende und heute krank war. Sonst erfährt mein Chef, wo ich war.“

Jetzt war ich wirklich wütend und gleichzeitig von der Dreistigkeit dieses zweifelhaften Männerduos betroffen: „Sagen Sie mal, was für einen Winkeladvokaten haben Sie denn da als Anwalt? Der ist ja nicht nur frech und ständig betrugsbereit und verleitet andere zum Betrug, sondern er ist ganz offensichtlich auch gewissenlos!“

Meine Wut sprang mir aus den Augen, und ich kam in Fahrt: „Stellen Sie sich mal vor, ich bescheinige Ihnen eine Krankheit und damit automatisch, dass ich Sie untersucht habe, denn ich darf gar keine Bescheinigung ohne Untersuchung ausschreiben. Und dann kommt durch die Gerichtsakten raus, dass Sie eingesessen sind.“ Ich schaute ihn an. Er wurde langsam wutrot im Gesicht. Ich legte nach:

„Was glauben Sie, machen der Staatsanwalt und der Richter und die Ärztekammer mit mir? Also, für so blöd und selbstzerstörerisch dürfen Sie mich wirklich nicht halten! Das ist doch unglaublich!“

Dann wurde ich wieder versöhnlicher und fragte: „Wollen Sie denn immer noch nicht zu Ihrer Sache stehen, so schlimm sie auch ist? Sie merken doch, dass es immer schwieriger und teurer wird. Ich verstehe ja, dass es wirklich problematisch ist für Sie, aber Sie müssen den Schaden begrenzen und nicht vergrößern!“

Ich bemühte mich um ein gutes Gespräch in der komplizierten Lage des Patienten. Aber er wollte oder konnte nicht auf dieser Ebene mit mir reden. Deshalb polterte er in seiner Hilflosigkeit und jetzt auch sichtbaren Verzweiflung los und schimpfte: „Sie sind mein Hausarzt, Sie müssen mir helfen, Sie sind dazu verpflichtet! Geben Sie mir jetzt sofort das Attest, sonst werde ich wirklich krank!“

Ich blieb ruhig und sehr bestimmt: „Wenn Sie mich als Ihren Hausarzt sehen, sollten wir zueinander Vertrauen haben. Ich habe zu betrügerischem Verhalten kein Vertrauen. Deshalb könnte ich die Behandlung ablehnen. Ich will Ihnen helfen, aber das kann nicht so sein, dass ich in Ihren Betrug einsteige und mich durch eine Urkundenfälschung mitschuldig mache. Dazu bin ich keineswegs verpflichtet. Auch dann nicht, wenn Sie völlig verzweifelt sind!“

Ich sah, dass er anfing, tief einzuatmen zum großen Schrei. Trotzdem machte ich meinen Versuch noch einmal: „Also, lassen Sie uns darüber nachdenken, wie Sie mit dem kleinsten möglichen Schaden und ohne weiteren Betrug aus Ihrer Lage rauskommen.“

Er brauste auf, donnerte die geballte Faust auf den Schreibtisch und wurde laut: „Dann eben nicht!“ Wütend und zornrot im Gesicht sprang er vom Sessel auf, riss die Sprechzimmertür auf, ging hinaus und knallte sie hinter sich wieder zu. Ich holte tief Luft. Das hatte ich so nicht erwartet, aber ich fühlte mich gut, weil ich zu meiner Meinung trotz der Anfeindung gestanden war. So, dachte ich, das war´s, dieser Patient kommt nie wieder.

Irrtum! Ein paar Monate später war er wieder da. Er setzte sich hin und begann die Unterhaltung wieder sehr direkt und fließend: „Also erstens brauche ich meinen Asthma-Spray und bitte Sie um ein Rezept. Und zweitens will ich mich von Ihnen verabschieden. Ich habe meine Strafe abgesessen und meine Schulden bezahlt. Jetzt ziehe ich um. Ich habe die Stelle bei Frankfurt bekommen.“ Er machte ein kurze Pause. Ich hatte anerkennend meine Augenbrauen hochgezogen, da setzte er hinzu: „Danke für Ihre Hilfe. Aber es war schwierig für mich.“

Ich schaute ihn an. Sein Gesicht war klar und ruhig, und er streckte mir langsam über die Tischplatte seine warme und trockene Hand entgegen, die ich gerne annahm. Dann schrieb ich das Rezept, und wir verabschiedeten uns mit einem langen Blick und einem kräftigen Händedruck. Wir hatten einander verstanden.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte hab eich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs- und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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