Der heimliche Gedanke: Wie lange noch?

 

Die Zukunft hat viele Namen. Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare. Für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte. Für die Tapferen ist sie die Chance.

Victor Hugo (1802-1885), französischer Schriftsteller

Der Mensch fürchtet den Tod nur, weil er noch nicht glücklich genug gewesen ist.

Karl A. Varnhagen (1785-1858), deutscher Kritiker und Schriftsteller

15.1 Die Situation der Angehörigen und Pflegepersonen 

Auch Pflegepersonen leiden oft sehr stark unter dem schlechten Zustand des Patienten, besonders wenn die Lage hoffnungslos erscheint, der Kranke langsam und unaufhaltsam dahinsiecht oder zu allem Elend des Patienten auch noch die Ängste und Ekelgefühle des Helfers bei der Versorgung des Kranken kommen. Wir glauben dann manchmal, ein gnadenvoller Tod sei würdiger und wünschenswerter als der jetzt bestehende und quälende Zustand. Insofern ist es verstehbar, dass Angehörige, Teammitglieder und medizinische Hilfspersonen den Tod des Patienten wünschen.

Als gesundes Familienmitglied wissen Sie, dass Ihr Wunsch sich letztlich gegen den Patienten richtet, und das löst im allgemeinen Schuldgefühle aus. Es ist sicherlich in Ordnung, dem Patienten alles für ihn Gute zu wünschen, auch wenn dies möglicherweise sein Tod ist. Klar muss dabei nur sein, dass wir nicht wissen können, was wirklich für den Patienten gut und richtig ist. Wir sehen die Lage aus unserer Sicht, und selbst wenn wir die Situation des Patienten aus seinem Blickwinkel betrachten wollen, können wir nur mit unseren Gedanken versuchen, seine Gedanken zu überlegen.

Hier müssen wir bedenken, dass der häufigste Denkfehler heißt:

„Ich denke, der andere denkt wie ich denke.“

Dieser Satz ist die Grundlage aller Missverständnisse.

15.2 Die Situation des Patienten 

Wir können auch nicht erkennen, was aus einer übergeordneten Sicht das Schicksal des Patienten ist. Oder, um es religiös zu formulieren: Wir wissen nicht, was Gott mit dem Kranken vorhat. Wir müssen davon ausgehen, dass ein seelisch-geistiger Entwicklungs-prozess in einem Menschen abläuft, solange er noch lebt, auch wenn dieses Leben rein äußerlich betrachtet auf ein absolutes Minimum reduziert ist. Diesen Vorgang dürfen wir meiner Meinung nach nicht aktiv beenden.

Andererseits kann ich verstehen, dass ein Schwerstkranker unter bestimmten Bedingungen nicht mehr leben will und nach klarer Abwägung aller Gesichtspunkte beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Ich respektiere das, wenn ich es auch für sehr tragisch halte. Meines Erachtens müssen wir solchen Menschen unbedingt alle Möglichkeiten anbieten, im Gespräch zu bleiben und Hilfe zu finden, um das als unerträglich empfundene Leben weiter tragen zu können.

Als Außenstehende, auch als Familienmitglieder können wir nur versuchen, dem Kranken sein Leben lebenswert zu gestalten, wobei wir uns bewusst sein müssen, dass er das Wort lebenswert definiert und nicht wir! Das bedeutet, dass wir mit dem Patienten über seinen Sinn und Wert des kranken Lebens sprechen müssen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass wir dem Patienten unsere Sicht nicht aufzwingen dürfen und können. Und der Patient hat sehr wahrscheinlich eine andere Meinung, weil er in einer ganz anderen Lage ist als wir Gesunden. Was wirklich wichtig ist, können wir letztlich wohl gar nicht entscheiden oder behaupten, denn wir kennen die Pläne der Schöpfung für den Patienten nicht. Für mich ist nur klar, dass jeder Mensch die Verantwortung trägt für sein Handeln und sein Unterlassen. Er wird also irgendwann dafür Rechenschaft ablegen und die Konsequenzen aus seinem Tun ziehen müssen.

Ansonsten denke ich, dass der Satz „Ich liebe dich!“ auch bedeutet: „Ich akzeptiere dich so, wie du bist, und wenn du gehen willst, lasse ich dich gehen.“ Jemanden festhalten, heißt ihn zu verlieren. Wir können nur etwas oder jemanden wirklich gewinnen, wenn wir bereit sind loszulassen. Um so größer und schwieriger ist die Aufgabe, auch den Schwerkranken, die nicht mehr gesund werden, eine optimale menschliche und fachliche Pflege zu geben. Das schließt eine individuelle und hervorragende Schmerztherapie ebenso ein wie einen geistigen und geistlichen Beistand.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

 

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