Die Grundlagen einer guten Schmerzbehandlung

 

Schmerz ist eine grundlegend unangenehme Empfindung, die dem Körper zugeschrieben wird und dem Leiden entspricht, das durch die psychische Wahrnehmung einer realen, drohenden oder phantasierten Verletzung hervorgerufen wird.

Engel (1969)

Schmerz ist nur ein Symptom, dessen Entstehung und Lokalisation immer exakt abgeklärt werden wollen, da seine Ursachen sehr vielfältig sein können.

Bonica (1979)

Vielleicht ist die Hoffnung die letzte Weisheit der Narben.

Siegfried Lenz (*1926), deutscher Schriftsteller

16.1 Schmerz betrifft den ganzen Menschen 

Das ist leicht zu erkennen, wenn wir uns eine schmerz-volle Verletzung zuziehen. Nicht nur die körperliche Unverletztheit, sondern auch die seelische Verfassung verändern sich: Ärger, Wut, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein sind nur einige Gefühle, die sofort auftauchen. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, dass Schmerzen unsere Denkvorgänge erheblich beeinträchtigen. Wer starke Schmerzen hat, kann nicht frei denken und handeln. Deshalb ist es unbedingt wichtig, einen Kranken von seinen Schmerzen sofort und anhaltend zu befreien. Nur so ist er in der Lage, aktiv an seiner Genesung mitzuarbeiten oder, wenn eine Heilung nicht mehr möglich ist, seine geistig-seelische Entwicklung zum Tode hin bewusst zu erleben.

Hermann Hesse formulierte das so:

„Der Schmerz ist ein Meister, der uns klein macht, ein Feuer, das uns ärmer brennt, das uns vom eigenen Leben trennt, das uns umlodert und allein macht.“

16.2 Die Medikamenteneinnahme 

Jede Schmerztherapie muss zum Ziel haben, dass die gute Lebensqualität des Patienten so weit wie irgend möglich erhalten bleibt. Deshalb müssen die Einnahmehäufigkeit und die Dosis der Medikamente nach Rücksprache mit dem Patienten so gewählt werden, dass die Schmerzen nicht wieder auftreten, sondern dauerhaft unterdrückt werden. Das bedeutet, dass die nächste Tablette eingenommen werden muss, bevor die Wirkung der letzten Tablette so weit nachgelassen hat, dass der Schmerz wiederkommt. Eine Einnahme „nach Bedarf“ oder mit dem Hinweise „3 x 1 täglich“ ist deshalb bei chronischen Schmerzen nicht sinnvoll. Denn die neue Tablette hat eine gewisse Anlaufzeit bis zur vollen Wirkung, und so lange hat der Patient wieder Schmerzen und braucht mehr Medikamente.

Bei sterbenden Patienten, die von Schmerzen gequält werden, ist eine Verstärkung der Schmerzen im Laufe der fortschreitenden Krankheit zu erwarten. Deshalb müssen die Dosierung und manchmal auch die Medikamente gewechselt werden. Das oft erwähnte Argument der Suchterzeugung oder drohenden Drogenabhängigkeit entfällt, weil erwiesen ist, dass Morphin in retardierterFN Form nicht süchtig macht.

Es gibt mehrere Arten von Schmerzen, je nachdem wie sie entstehen. Und wir kennen verschiedene Typen von Schmerzmitteln, die bei bestimmten Schmerzarten besser oder weniger gut wirken und die Beschwerden verschieden stark lindern. Die möglichen Nebenwirkungen dieser Medikamente sind zu beachten und bei Bedarf mit zusätzlichen Medikamenten oder anderen Maßnahmen zu mildern.

Besprechen Sie als Angehörige und als Patienten die Schmerztherapie ausführlich mit Ihrem betreuenden Arzt. Lassen Sie sich die Dosierung und die Wirkung genau und klar verständlich erklären. Die Dosierung sollte einfach, exakt und individuell für den Patienten festgelegt und leicht anwendbar sein. Das heißt, eine trinkbare oder leicht schluckbare Tablette ist meist die günstigste Verabreichungsform. Auch stark wirksame Medikamente wie Morphium gibt es als Pflaster, Tropfen oder in Retardkapseln, die man öffnen und in Form von winzigen Kügelchen auf Joghurt gestreut essen kann. Bei den meisten Patienten steigern opiumähnliche Medikamente nach anfänglicher Müdigkeit die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit.

Scheuen Sie sich nicht nachzufragen, wenn Sie etwas nicht verstanden haben. Die Art und die Dosierung der Schmerztherapie müssen regelmäßig überprüft und manchmal angepasst werden, weil sich der Zustand des Patienten jederzeit verändern kann.

Die Schmerzempfindung ist subjektiv sehr unterschiedlich, deshalb sind auch die erforderlichen Dosen von Schmerzmitteln unterschiedlich, nicht nur wegen des verschiedenen Körpergewichtes, das aus pharmakologischen Gründen einen Einfluss auf die Medikamentenauswirkung hat. Der Patient sollte deshalb seine Schmerzmedikamente nach einem individuell vereinbarten Schema selbst einnehmen können, wenn er dazu in der Lage ist.

16.3 Alternative Methoden der Schmerzlinderung

Es gibt außer Medikamenten auch andere wirksame schmerzlindernde Methoden, die alleine oder in Verbindung mit Medikamenten unterstützend helfen können. Ich denke dabei an Akupunktur, Visualisierungsverfahren wie Autogenes Training und Silva mind control, Atemtherapie, physikalische Methoden wie Massagen, Krankengymnastik, Wärme- und Kältebehandlung, pflegerische Maßnahmen wie Einreibungen, Wickel oder passende Lagerung.

Einem geübten Arzt oder einem speziell ausgebildeten Anaesthesisten40 stehen viele moderne schmerzstillende Methoden zur Verfügung von regelmäßigen Spritzen über Katheter, die eingepflanzt werden und als Zufuhrweg für das Schmerzmittel benutzt werden, bis zu Nervenblockaden und operativen Schmerzbekämpfungsmethoden. Für jeden Patienten und jede Situation existieren individuell einsetzbare Techniken, die Schmerzfreiheit ermöglichen.

16.4 Das Trio Schmerz, Sorgen und Schlafentzug

Es besteht eine enge Zusammenwirkung und wechselseitige Verstärkung dieser drei Phänomene! Sie unterhalten einen wahrhaft verheerenden und zermürbenden Teufelskreislauf.

Sorgen in jeder Hinsicht, Frustration, Ärger, das Gefühl der Zurückweisung, Angst und andere negative Empfindungen und Gedanken verstärken die Schmerzen subjektiv. Das heißt der Patient leidet unter den Schmerzen stärker, als wenn er sich seelisch wohl und ausgeglichen fühlen würde. Die Einsamkeit, die der Schmerz bewusst macht, verschärft die Lage zusätzlich. Schmerzen machen natürlich Sorgen und Angst. Wie lange geht der Schmerz noch? Hört er überhaupt wieder auf? Nicht ohne Grund gehören chronische Schmerzen auch zum hoch wirksamen Programm der Folterknechte aller menschlichen Generationen. Sie zermürben auch stärkste Charaktere und stürzen hoffnungsvollste Menschen in tiefste Verzweiflung.

Menschen, die man nach den schlimmsten Erfahrungen ihres Lebens fragt, antworten neben zwischenmenschlichen Konflikten meist mit einem Erlebnis, das ihnen starke körperliche Schmerzen ausgelöst hat. Es ist auch bekannt, dass heftige Schmerzen viel besser ausgehalten werden, wenn man weiß, dass sie mit Sicherheit in Kürze aufhören. Wie verheerend ist es dann, wenn der Mensch erfährt, dass ihm seine Schmerzen nicht geglaubt und nicht gelindert werden!

Wenn der Schmerz den Schlaf raubt, ist die Katastrophe komplett. Schlafentzug ohne Schmerzen ist schon allein eine Foltermethode, macht aggressiv und senkt die Lebens- und Widerstandskraft, weil wir unsere Kräfte nicht auftanken können. Die Angst, Schmerzen zu haben und nicht schlafen zu können, erhöht also den Schmerz, die Angst und die Sorgen vor der nächsten Nacht!

Ganz wichtig ist die Erkenntnis, dass die Schmerz-schwelle angehoben wird, also der Patient weniger Schmerz empfindet, wenn er sich in angenehmer Gesellschaft befindet, aktiv sein kann, sich geborgen fühlt und keine Angst und keine Depression hat. Das be-deutet, dass die soziale Lage des Patienten einen entscheidenden Einfluss darauf hat, wie der Kranke seinen Schmerz erlebt.

Deshalb sind auch Medikamente gegen Angst und Depression wirksame Schmerzmittel, wenn die sozialen Voraussetzungen dafür gegeben sind. Wir müssen also den Patienten eine angemessene emotionale Unterstützung vermitteln und sie zu eigener Aktivität anre-gen, um bei der Linderung der Schmerzen mitzuhelfen. Schlafstörungen müssen konsequent behandelt werden.

Oft hat die Schmerzäußerung des Patienten einen auf-fordernden Charakter: Der Patient will dem Angehörigen oder dem Pflegepersonal etwas ganz anderes mitteilen als den Schmerz, nämlich dass er mehr Zuwendung oder Ruhe haben möchte oder etwas ande-res, was er entweder nicht bewusst erkennt oder nicht klar äußern kann oder will.

Daraus ergibt sich ein Grundsatz der Schmerztherapie:

Wir müssen den Menschen behandeln und nicht den Schmerz.

16.5 Gute Informationen sind wichtig! 

Leider kommt es häufig vor, dass chronisch kranke Patienten trotz all dieser Methoden Schmerzen haben. Untersuchungen haben ergeben, dass im allgemeinen die Dosierung der Schmerzmittel niedrig war, weil die Ärzte entweder nicht genau informiert sind oder Sorge haben, zu hoch zu dosieren.

Und viele Ärzte haben keine Erfahrung mit der Anwendung von Betäubungsmitteln wie Morphium und ähnlichen Präparaten. Oft werden zum Beispiel die stuhlgangfördernden Hilfen bei Morphintherapie vergessen, obwohl bekannt ist, dass Verstopfung eine typische Nebenwirkung der opiumähnlichen Medikamente ist. Außerdem sind die bürokratischen Vorschriften für deren Anwendung kompliziert.

Viele Patienten empfinden ein Betäubungsmittel wie Morphium als Makel, und einige berichten über negative Reaktionen von seiten ihrer Bekannten oder Verwandten, die wegen der angeblichen Gefährdung und Suchtentwicklung Bedenken äußerten.

Gute Schmerztherapie zu machen, ist eine schwierige Aufgabe und eine dauernde Herausforderung für den Arzt und das Pflegepersonal.

Nach übereinstimmender Meinung von Schmerzspezialisten und Ärzten, die in der Betreuung chronisch Kranker Erfahrung haben, stellt es bei den gegebenen Möglichkeiten einen ärztlichen Kunstfehler und eine menschliche Unterlassung dar, Schwerkranke dauerhaft an Schmerzen leiden zu lassen.

Leider wissen die Ärzte sehr wenig über eine gute Schmerzbehandlung. Auch ich hatte während meines Studiums zu diesem Thema keine besondere Ausbildung. In einer Studie über 1,1 Millionen Patienten aus 330 deutschen Hausarztpraxen innerhalb von drei Jahren hat Prof. ZenzFN-1 von der Universität Bochum folgendes festgestellt: Von den in der Studie erfassten 28 000 Krebspatienten erhielten nur 1,9 % innerhalb dieser drei Jahre ein starkes Betäubungsmittel wie Morphium oder ähnliche Medikamente. Rund ein Drittel der Verschreibungen waren falsch, weil der Zeitraum zwischen den Dosierungen zu groß war. Eine verschwindende Minderheit von 0,001 Prozent der Krebskranken wurde gemäß dem Stufenschema der Weltgesundheitsorganisation zur Schmerztherapie behandelt, das seit 1986 ständig verbessert wird und bei den meisten Ärzten unbekannt ist.

In einer Kontrolluntersuchung fand Prof. ZenzFN-2 heraus, dass auch die inzwischen erfolgte Lockerung der Verschreibungsregeln für Betäubungsmittel nur bei zehn Prozent der Ärzte eine Veränderung ihres Verordnungsverhaltens bewirkt hatte. 95 Prozent der Ärzte waren der Meinung, dass keiner ihrer Patienten Morphium-Präparate braucht. Jeder dritte Arzt hatte nicht einmal die für die Verschreibung notwendigen Spezialrezepte in der Praxis.

Außerdem wies Prof. ZenzFN in einem weiteren Artikel nach, dass Morphium-Präparate auch bei schwersten Rückenschmerzen oder Nervenerkrankungen, die von nicht-bösartigen Krankheiten herrühren, nicht mehr Nebenwirkungen haben als bei der Behandlung von Krebsschmerzen.

Es muss auch berücksichtigt werden, dass langsam und anhaltend wirkende Morphinpräparate durch die Schmerzlinderung dem Patienten eine wesentlich bessere Aktivität erlauben und damit seine Unabhängigkeit fördern. Außerdem herrscht international Einigkeit darüber, dass bei vernünftiger Anwendung von Opiaten keine Suchtgefahr besteht.

Viele Gedanken, die ich in diesem Kapitel aufgezählt habe, stehen auch in der sehr aufschlussreichen Broschüre von Dr. med. Thomas Schlunk „Schmerzbehandlung bei Tumorpatienten“, Herausgeber: Interdisziplinäres Tumorzentrum der Eberhard-Karls-Universität, Herrenberger Str. 23, 72070 Tübingen, Tel. 07071 – 29 52 35.

Die Broschüre kann dort angefordert werden und einen kompetenten Ratgeber für das betreuende Team darstellen.

Außerdem gibt es für Ärzte Fachbücher und auch für Patienten eine Fülle von hervorragender Informationsliteratur. Die Mundipharma GmbH z. B. bietet Broschüren zu den Themen Schmerzkontrolle, Tumorschmerz, Schmerztherapie und alternative Therapie-formen bei Schmerzen an; außerdem einen Ratgeber für Betroffene „Der chronische Schmerz“ und einen Video-Film „Palliativmedizin heute“. (Was Palliativ-medizin ist, können Sie ausführlich im nächsten Kapitel lesen.) Dieses Servicematerial können Sie bei Mundipharma GmbH, Postfach 1350, 65533 Limburg/Lahn, oder Mundipharma Str.6, 65549 Limburg, Tel. 0130 – 85 51 11, anfordern.

Außerdem hat die Deutsche Hospizstiftung ein neues Verzeichnis von Schmerztherapeuten in Praxen und Kliniken veröffentlicht. Die Zahl der bei der Stiftung registrierten Mediziner ist inzwischen auf 873 angestiegen. Sie können unter der Telefonnummer 0231 – 73 80-730 Auskünfte über Behandlungsstellen und Rehabilitations- und Kureinrichtungen erfragen.



FN Es wirkt verzögert, anhaltend und zeigt keine raschen Anflutungs- und Abklingverläufe, die für Abhängigkeit sorgen können.

40 Narkosearzt. Viele niedergelassene Anaesthesisten haben sich auf Schmerztherapie spezialisiert.

FN-1 Zenz: Journal of Pain and Symptom Management, 1995,10; 187-191

FN-2 Zenz: Journal of Pain and Symptom Management, 1996,12; 109-111

FN  Zenz, Journal of Pain and Symptom Management 1992, 7; 69-77

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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