Die Blutprobe

Nach einem Kinobesuch ging ich spät nachts zur Klinik zurück. Da sah ich Licht im ersten Stock in der Chirurgie-Ambulanz. Das machte mich neugierig. Ich war gerade dabei, mein erstes Praktikum nach dem ersten Semester des Medizinstudiums in der Chirurgischen Klinik im Kreiskrankenhaus Heidenheim zu verbringen. Ich wohnte in einem Zimmer im zweiten Stock über dem damals noch recht alten Ambulanztrakt. Deshalb konnte ich auch außerhalb der Dienstzeit direkt am Geschehen in der Klinik Anteil nehmen.

„Es ist gut, dass du kommst!“ sagte Rainer, der junge Medizinalassistent, der Nachtdienst hatte und mitten im großen Untersuchungsraum stand. „Bleib mal da, vielleicht brauch ich deine Hilfe!“ Mein Interesse war geweckt, und ich fragte, worum es denn gehe.

„Hast du mitgekriegt, dass in der letzten Nacht ein randalierender Betrunkener die Vorhänge hier heruntergerissen und dem Kollegen vom Nachtdienst den oberen Schneidezahn eingeschlagen hat, als dieser dem Patienten Blut für eine Alkoholprobe abnehmen wollte? Gerade hat die Polizei angerufen und wieder einen Patienten zur Blutprobe angemeldet. Da kann ich möglicherweise deine tätige Unterstützung brauchen. Ich möchte gerne meine Zähne behalten. Und neue Vorhänge zu kaufen, ist zu teuer.“

Das waren ja schöne Aussichten! Aber ich blieb, teils aus Neugier, teils aus Kollegialität und mit einem komischen Gefühl, dass es sehr ungemütlich und turbulent werden könnte. Ich hatte ja noch nie an einer solchen Blutprobe teilgenommen.

Ich schaute Rainer an, der ein ganz freundlicher Mann mit einer eher zierlichen Statur war. Er hatte einem betrunkenen Schläger höchstens Geschwindigkeit zu entgegnen, bestimmt keine rohe Kraft. Und ich konnte mich noch an meine letzte Keilerei auf dem Schulhof erinnern, als ich vielleicht zwölf Jahre alt war und die Rangordnung in der Klasse neu ausgekämpft werden mußte. Aber Gedanken an solche gewalttätigen Auseinandersetzungen waren mir inzwischen sehr fremd und verabscheuenswert geworden. Deshalb wollte ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass jetzt gleich, wenn dieser angekündigte Patient hier auftauchen würde, eine Prügelei uns und den Raum demolieren könnte.

Wir warteten. Die Ambulanzschwester rückte noch einmal die neu aufgehängten Vorhänge zurecht, so als ob sie ihnen ein letztes Mal etwas Gutes tun wollte, bevor der Grobian sie wieder herunterreißt. Rainer erklärte mir inzwischen die wichtigsten Grundsätze für ein Alkoholgutachten, das er gleich im Auftrag der Polizei machen würde, und ich war gespannt auf den schlimmen Betrunkenen. Ich bemerkte, wie ich schon im Vorfeld gegen ihn eingenommen war, weil ich ihn automatisch mit dem Bösewicht der letzten Nacht identifiziert hatte und jetzt eine Wiederholung des Tumultes erwartete.

Da sahen wir aus dem Fenster der Ambulanz im ersten Stock, wie der Polizeiwagen vorfuhr. Zwei große Polizisten stiegen aus und machten auf mich einen entschlossenen Eindruck. Dann kletterte langsam ein Männchen aus dem Auto, sehr schmächtig von Gestalt mit dunkelbraunem Anzug. Ach, es war ja Samstagabend, er kommt wohl vom Feiern, er hat sich fein gemacht, dachte ich.

Ich nahm meine Vorurteile wahr und bemühte mich um mehr Objektivität, als er kurz darauf aus dem Aufzug auf uns zu kam. Er machte auf den ersten Blick keinen betrunkenen Eindruck, er ging gerade, ohne zu schwanken und begrüßte uns sehr leutselig. Da merkte ich, dass er etwas enthemmt war, leicht lallend sprach und etwas glänzende Augen hatte.

Er trug offensichtlich seinen Sonntagsanzug, die schwarze schmale Lederkrawatte hing auf Halbmast über dem weißen Hemd, und im vollen Haar befestigte etwa ein Pfund Pomade die große schwarze Locke über der Stirn und die langen Strähnen im Nacken. Sein Gesicht war sonnengegerbt, und ich vermutete, dass er wohl die meiste Zeit im Freien arbeitete. Ein unangenehmer Mischduft aus süßlichem Parfüm der billigsten Klasse, abgestandenem Alkohol und kaltem Zigarettengestank umgab ihn wie eine ekelerregende Dunstwolke, die uns einfing, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen konnten.

Die Schwester beeilte sich zwar, so ganz unauffällig beim Fenster vorbeizulaufen und es nebenbei zu öffnen, aber ich spürte das leichte Würgegefühl in meinem Hals und hielt mich auf Distanz.

Als der freundlich lächelnde Patient mir die Hand gab, fühlte ich zuerst meine innere Abwehr und dann die zupackende und mit Schrunden übersähte Hornhaut eines Mannes, der mit seiner Hände schwerer Arbeit den Lebensunterhalt verdient. Dieser Mann konnte zupacken, und er wirkte bei aller Zierlichkeit durchtrainiert, muskulös und kräftig. Das kann ja heiter werden, dachte ich. Das könnte ein Bauarbeiter sein, der jetzt am Wochenende feiert und feuert, schoss mir durch den Kopf.

Die Polizisten hielten sich im Hintergrund, als der Patient Rainer ganz ergeben fragte: “Ich bin der Meier Hans, Herr Doktor, was soll ich denn jetzt tun? Wollen Sie mir Blut abnehmen?“

„Ja,“ meinte dieser mit betonter Höflichkeit, „ziehen Sie bitte Ihr Jackett aus, und setzen Sie sich bitte da hin.“

Er schob ihm einen Stuhl entgegen, Herr Meier nahm ihn, zog die Jacke aus, hängte sie umständlich über die Lehne, setzte sich und streckte bereitwillig seinen rechten Arm aus. Das lief ja ganz anders, als ich erwartet hatte! Es herrschte eine richtig gelöste Stimmung. Trotzdem dachte ich wieder an die kräftigen Hände, und inzwischen hatte ich auch die kräftigen Bizepsmuskeln gesehen! Das ließ mich sehr wachsam sein.

Herr Meier beobachtete, wie Rainer sorgfältig die Armbeuge desinfizierte und dann geübt und zielsicher die Kanüle in die gestaute Vene einführte. „Das habe ich ja gar nicht gespürt, Herr Doktor!“ sagte unser Gast erleichtert. „Das haben Sie aber gut gemacht!“

Rainer lächelte und meinte: „Ja, Sie haben auch genug Alkohol getrunken, da merkt man es nicht so!“

Unser nächtlicher Besucher unterhielt uns mit lockeren Sprüchen und meinte dann lachend zu den Polizisten gewandt: „Aber ihr bringt mich nachher wieder in den Hirschen! Da hab ich noch eine Flasche stehen!“

„Nein, nein, wir bringen Sie nach Hause, Sie haben schon genug getrunken!“ entgegnete einer der Männer in Grün freundlich.

„Das ist aber schade!“ lallte Herr Meier Rainer an und deutete mit dem Kopf in die Richtung der Polizisten: „Der ist gar nicht nett zu mir!“

Da fragte ich die Polizisten: „Warum haben Sie ihn denn zu uns gebracht?“

Einer der beiden erklärte: „Na, weil er im Hirschen eine Schlägerei anfangen wollte! Da hat uns der Wirt gerufen.“ Also doch, dachte ich, dann passiert es jetzt hier! Wie verwunderlich, dass er so friedlich ist! Ich hielt mich im Hintergrund und fand es sehr beruhigend, dass zwei starke Polizisten im Raum standen.

Noch während das alkoholhaltige Blut durch die Kanüle in das Vakuumröhrchen floss, wollte Herr Meier wissen: „Herr Doktor, wie viele Promille hab ich denn jetzt?“ – „Das kann ich jetzt noch nicht sagen, das Blut muss ich zuerst ins Labor schicken!“, meinte Rainer ruhig. Oje, dachte ich, jetzt wird der Maier Hans bestimmt wütend, und dann geht es los! Aber nichts dergleichen geschah. Unser Patient blieb freundlich.

Inzwischen waren die Blutprobe abgenommen und das Versandröhrchen vorschriftsmäßig versorgt, beschriftet und eingetütet. Jetzt kamen die anderen vorgeschriebenen Tests dran. Rainer erklärte Herrn Meier ganz verständlich die Schreibprobe, den Gehtest auf der geraden Linie und den Drehtest. Und Herr Meier war so bereitwillig, alles mitzumachen, dass es für uns Zuschauer eine richtige Freude war. Er setzte bereitwillig und leicht zitternd den Satz „Ich bin heute im Krankhaus!“ auf die vorgesehene Linie des Gutachtenbogens, wahrscheinlich ohne zu ahnen, wie sehr diese unsichere und vom Alkohol entstellte Schrift ein Baustein im Urteil gegen ihn war, falls es tatsächlich zu einer Strafanzeige kommen sollte.

Dann bemühte er sich redlich, auf einem Strich gerade entlangzugehen, der in Wirklichkeit die Fuge des geplättelten Bodens war. Je intensiver er versuchte, sich auf die Linie zu konzentrieren, um so häufiger tappte er daneben. Und als Rainer Herrn Meier wie vorgeschrieben ein paarmal auf der Stelle um seine eigene Achse drehte, um anschließend seine Augenreflexe zu prüfen, begann dieser so zu schwanken, dass wir ihn halten mussten, sonst wäre er möglicherweise umgefallen. Aber das war für unseren Gast alles ein nettes Spiel, eine lustige Abwechslung, und er machte amüsiert mit.

Ich empfand dagegen die Ruhe vor dem befürchteten Sturm. Wann würde er losschlagen? Rainer gab ihm ja wirklich keinen Grund – meiner Meinung nach. Aber ich wusste, dass Betrunkene sehr unerwartet reagieren können.

Schließlich waren die Formalitäten erledigt, die Teste ausgefüllt, und wir wollten uns verabschieden und Herrn Meier auf möglichst unkomplizierte und freundliche Art wieder loswerden. Er bedankte sich rührselig bei Rainer: „Das haben Sie aber gut gemacht, Herr Doktor, das nächste Mal komme ich wieder zu Ihnen!“

„Lieber nicht!“ meinte Rainer leise und lächelte ihn an.

Also gaben wir Herrn Meier die Hand, wünschten ihm und den Polizisten eine gute Nacht und atmeten erleichtert auf. Dann hakten die Polizisten kameradschaftlich und stabilisierend rechts und links bei Herrn Meier ein und schlenderten zu dritt den breiten Klinikflur entlang.

Geschafft, dachte ich erleichtert und sah, wie Rainer sich die Schweißperlen von der blassen Stirn wischte. „Ui, das ist ja noch mal gut gegangen!“ sagte er und ließ langsam die Luft zwischen den Zähnen durchstreichen, sodass ein leises Pfeifen zu hören war. „Da haben wir aber Glück gehabt, der war ja ganz friedlich!“

In diesem Moment sah ich gerade noch im Augenwinkel, wie Herr Meier sich entschlossen aus der freundlichen Klammer der Polizisten befreite, sich ruckartig umdrehte und direkt auf uns zumarschierte. Noch fünf Meter trennten uns. Jetzt! schoss mir durch den Kopf, er kommt zurück! Es war mir klar, jetzt würde es geschehen, Rainer hatte es richtig vermutet! Er hatte mich gewarnt!

Mein Puls begann zu rasen, ich spürte, wie meine Muskulatur sich anspannte. Noch drei Meter! Ich sah, wie Rainer noch blasser wurde, der Schreck stand ihm im Gesicht. Die Schwester ging in Deckung. Die Polizisten hatten kehrtgemacht und gingen eingreifbereit hinter Herrn Meier auf uns zu. Noch zwei Meter! Da geschah es!

Herr Meier blieb stehen, zog umständlich sein braunes Jackett aus, streckte dem völlig verblüfften Rainer seinen Arm hin und lallte freundlich: „Bitte, Herr Doktor, nehmen Sie mir noch mal Blut ab! Das war sooooo schön!“

Herr Meier war sehr traurig, als wir ihm erklärten, dass das nicht nötig sei, und zog dann endlich mit seinen Begleitern ab.

Dieser Abend war mir eine Lehre, dass nicht alles so kommt, wie man es vermutet, und dass Vorurteile über Menschen trügerisch sein und unsere Wahrnehmungen in die falsche Richtung lenken können, besonders wenn man das Verhalten eines Menschen auf einen anderen projiziert. Unsere Wahrnehmungen verändern unsere Wahrnehmungen!

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Dies Geschichte habe ich in meinem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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