Vorbemerkung: Diese Geschichte ist die veränderte Geschichte „Der Vertrag“, jetzt in die Weihnachtszeit versetzt und weitergeführt.
Thomas Bernau betrachtet den vorweihnachtlichen Spätnachmittagstrubel. Viele Menschen hetzen von Geschäft zu Geschäft. Noch an diesem letzten Tag vor Heiligabend müssen die Geschenke gekauft werden. Weihnachten kommt ja immer so plötzlich! Die bunten Lichter in Kerzen- und Sternform erleuchten die Frankfurter Innenstadt, an den Buden stehen vermummte Leute, die sich in der Kälte an einem Punsch oder Grog wärmen und weiße Atemschleier in den Zuckerwatte-, Lebkuchen- und Alkoholduft mischen.
Bernau steht jetzt vor dem mit elektrischen Kerzen beleuchteten Bau am Mainufer, in dem er bald Executive Creative Director sein wird. Bosse und Hack steht in großen Buchstaben über dem Eingang. Ein führendes Werbeunternehmen. Stefan Bosse, der Inhaber, hatte mit Bernau neulich bei dem Kongress in Stuttgart das entscheidende Vorstellungsgespräch geführt, und für heute 17 Uhr ist die Vertragsunterzeichnung vereinbart.
„Ich wünsche mir, dass wir den Vertrag noch vor Weihnachten unterschreiben“, hatte er gesagt und Bernau nach Frankfurt eingeladen.
Ab April wird das gute Leben auch für mich wieder beginnen, hofft Bernau, und ich werde von Stuttgart nach Frankfurt ziehen und mich beruflich und privat neu orientieren. Er spürt die Freude auf seine kommenden Erfolge, rückt die Krawatte unter dem Schal zurecht und mustert sich in der Scheibe der Eingangstür. Dann betritt er selbstsicher seine zukünftige Arbeitsstätte.
An der Rezeption wird er freundlich begrüßt: Ja, man habe schon auf ihn gewartet, meint die Dame lächelnd und telefoniert kurz. Zwei Minuten später bringt Marga Distler Bernau in die oberste Etage.
Im Aufzug sagt sie: „Herr Bosse hat gerade aus dem Auto angerufen, er verspätet sich etwas. Sie wissen ja, der Stau im Feierabendverkehr und dann noch vor Weihnachten! Wir gehen jetzt zuerst in das Büro Ihrer zukünftigen Assistentin. Ich vertrete sie zurzeit, sie kommt morgen aus einem Kurzurlaub zurück!“
Frau Distler öffnet die Tür, und Bernau sieht im Vorbeigehen das Namensschild „Franca Sturm, Assistentin der Geschäftsführung“.
„Möchten Sie gern einen Kaffee oder Tee, Herr Bernau, oder … Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen ja plötzlich ganz blass aus! Geben Sie mir rasch Ihren Mantel und Schal, und setzen Sie sich hier an den Besprechungstisch. Soll ich einen Arzt rufen?“
Bernau schüttelt den Kopf und hält sich an einem Stuhl fest, dann lässt er sich langsam auf die Sitzfläche sinken. Er spürt den Schweißausbruch, der in kürzester Zeit sein Hemd angefeuchtet hat.
„Ich werde sofort aus dem Erste-Hilfe-Schrank ein paar Kreislauftropfen holen, die werden Ihnen helfen. Bitte stehen Sie nicht auf! Ich bin gleich wieder da!“
Frau Distler öffnet die Fenster und eilt hinaus.
Bernau schließt einen Moment die Augen. Ein kalter Windstoß trifft ihn erfrischend ins Gesicht.
Nein, nicht wieder Franca!, fleht er im Stillen. Ich ertrage sie nicht mehr.
Er sieht seine Ex-Frau vor seinem inneren Auge leibhaftig am Schreibtisch sitzen. Ihre pechschwarzen Haare schaukeln um den Hals und bilden einen starken Kontrast zu dem leuchtend roten Lippenstiftmund.
Sie grinst hämisch, aus ihren Augen lodert Kampfeslust: Tja, mein Lieber, du entkommst mir nicht! Jetzt wirst du hübsch den Vertrag unterschreiben, und dann werden wir hier wunderbare Zeiten miteinander haben. Ich werde deinen Terminkalender führen und dir eine sehr aufmerksame Assistentin sein, nicht wahr, Liebling!
Bernau bäumt sich innerlich auf, lässt sich aber auf den Dialog ein: Ja, ich will diesen Vertrag haben! Aber ohne dich, Franca! Endlich habe ich mich von dir in Stuttgart gelöst und von deiner Sucht, dich über alles und jedes zu ereifern. Jetzt bin ich nicht mehr bereit, mich wieder in deine Fänge zu begeben. Du hast mich vom siebten Himmel der Leidenschaft und Liebe direkt in die Hölle deiner triebhaften Eifersucht und in einen erbarmungslosen Scheidungskrieg gestürzt. Immer diese sinnlosen Kämpfe um Kleinigkeiten! Ganze Nächte haben wir sinnlos durchdiskutiert und gestritten!
Franca ergänzt in seiner Fantasie: Ja, ich weiß, aber denk mal an die leidenschaftlichen Versöhnungen hinterher! Ach Liebling, das war doch nur mein Temperament!
Bernau wehrt ab: Nein, das war nicht nur dein berstendes Temperament, das war deine Bosheit, die aus jeder noch so banalen Gelegenheit einen neuen Eifersuchtsausbruch provoziert. Wie ein Vulkan bist du jedes Mal explodiert und hast mich unter einer Lava von Verdächtigungen, Beschuldigungen und Hass begraben. Das werde ich nicht mehr dulden. Ich werde diesen Vertrag unterschreiben und dich bei der nächstbesten Gelegenheit kündigen!
Plötzlich schöpft Bernau Hoffnung: Ja, das ist die Lösung! Er strafft sich, wischt den kalten Schweiß von seiner Stirn und will aufstehen.
Da hört er wieder Francas höhnische Stimme: Glaub ja nicht, dass du mich loskriegst!
Bernau überlegt sofort: Sie hat womöglich einen unbefristeten Vertrag und eine sehr gute Beziehung zu Bosse! Und die letzten beiden Jahre hat sie genutzt, um sich hier eine kleine Festung zu bauen! Nachdem sie alle Bewerbungen gelesen hat, war es ihr sicher ein hinterhältiges Vergnügen, dafür zu sorgen, dass ich hier Chef werde. Bosse weiß bestimmt nicht, dass wir verheiratet waren. Sie hat ja ihren Namen behalten!
Bernau sinkt in den Stuhl und überlegt: Soll ich den Vertrag trotzdem unterschreiben? Soll ich mir noch einmal die Strapazen mit den ständigen Kämpfen aufladen? Schaffe ich es, Franca in ihre Schranken zu weisen? Als ECD müsste mir das doch gelingen! Ich könnte ihr Anweisungen geben, die sie befolgen muss. Wenn sie sich querstellt, kann ich sie deshalb entlassen.
Er fasst wieder Mut und richtet sich auf. Aber Franca legt sofort in seinem Kopf nach: Du kennst mich ja, Liebling! Ich weiß, was ich will, und ich weiß, wo ich dich packen kann! Glaub ja nicht, dass du mich unterkriegst!
Das ist zu viel für Bernau. Es ist ihm klar, dass er ihr nicht gewachsen ist. Er zuckt zusammen, als Frau Distler herein kommt: „Hier sind die Tropfen. Da wird es Ihnen gleich wieder besser gehen!“
Sie zählt die Tropfen in ein halb volles Wasserglas, Bernau trinkt in kleinen Schlucken, holt tief Luft und sagt:
„Frau Distler, es ist mir außerordentlich peinlich, aber ich bitte Sie, Herrn Bosse auszurichten, dass ich den Vertrag nicht unterschreiben kann. Ich ziehe meine Bewerbung zurück. Es gibt einen sehr persönlichen Grund, der mir erst gerade erschreckend deutlich geworden ist und über den ich nicht sprechen möchte.“
Bernau wirft den Mantel über den Arm, nimmt seinen Aktenkoffer, wendet sich zur Tür – „Ich finde allein hinaus, vielen Dank!“ – und verlässt den Raum mit mühsam gebremstem Schritt. Am liebsten würde er rennen.
Die nächsten beiden Stunden schlendert er ziellos in den nasskalten Straßen umher, lässt sich in der Menge von einer Bude zur anderen durch das Vorweihnachtstreiben schieben, bis er an einem Stand einen Glühwein trinkt. Dabei ist er abgelenkt von seinen Gedanken, hadert mit dem Schicksal und fragt sich, warum er von Franca nicht loskommt. Andererseits ist er heilfroh, Franca gerade noch entronnen zu sein. Gleichzeitig ist er erschüttert und deprimiert, dass er sich erneut von ihr hat in die Flucht schlagen lassen.
Plötzlich fällt ihm ein, dass er noch eine Verabredung hat. Er eilt zum Auto zurück und fährt zu seinem Schulfreund Karsten. Bernau hat ihn seit drei Jahren nicht mehr gesehen, weil Karsten inzwischen mit seiner Familie in Frankfurt lebt. Er hat Bernau eingeladen, nach der Vertragsunterzeichnung zum Abendessen zu kommen, und er wird von Karsten und seiner Frau Anja herzlich begrüßt:
„Es ist prima, dass du kommst und über Nacht bleibst! Jetzt machen wir uns einen gemütlichen Abend. Wir haben extra für dich eine Freundin aus der Nachbarschaft eingeladen.“
Thomas Bernau sieht zuerst wadenlange beige Stiefel, dann eine schlanke Taille in einer champagnerfarbenen Hose und einen dunkelbraunen Kaschmir-Rollkragenpulli. Das Gesicht der Frau mit winzigen Sommersprossen lacht ihn an und lädt ihn zum Schmunzeln ein. Er fühlt die Wärme ihrer braunen Augen. Ihr blonder Pferdeschwanz wippt, als sie beschwingt auf ihn zugeht – selbstsicher und doch mit gebührender Distanz.
„Schön, Sie kennen zu lernen, Herr Bernau! Ich gratuliere Ihnen!“
Bernau ist verwundert: „Wozu?“
„Zum Vertragsabschluss. Leider konnte ich an der Unterzeichnung nicht teilnehmen, weil ich heute erst heute Nachmittag vom Urlaub zurückkam. Ich bin Ihre neue Assistentin Franca Sturm!“
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Bernau fragt erschreckt: „Wie heißen Sie?“
Sie lächelt ihn an: „Franca Sturm.“
„Oh Gott, das ist ja schrecklich!“
„Warum ist das schrecklich, mir gefällt meine Name!“
„Nein, so habe ich das nicht gemeint“, beeilt sich Bernau. „Genauer gesagt: Ich bin jetzt in
einer fürchterlichen Situation, wenn Sie Franca Sturm heißen. Aber das können Sie nicht verstehen.“
Er greift unbewusst nach einer Sessellehne und hält sich fest: „Darf ich mich mal hinsetzen?“
Karsten ist verblüfft über die unerfreuliche Wendung des Gesprächs. Er fragt mit erzwungenem Lächeln: „Der Name Franca Sturm ist dir doch sehr gut bekannt, warum ist das ein Problem für dich?“-
„Das ist ja das Problem!“, erwidert Bernau.
Karsten nützt die Gelegenheit, ein Glas Prosecco anzubieten. Ein paar Momente lang sind alle mit den Gläsern beschäftigt.
Karsten hebt sein Glas: „Na, denn auf einen schönen Abend!“ Sie prosten einander zu.
Franca Sturm sitzt direkt neben Bernau, zögert kurz, dann schaut sie Bernau direkt in die Augen und fragt mit fester Stimme:
„Verzeihen Sie, wenn ich nachfrage, aber wenn ich Ihre Assistentin bin, sollte ich wissen, warum Sie mit mir ein Problem haben.“
Bernau überlegt: „Nein, ich habe kein Problem mit Ihnen, oder doch, ja, es ist sehr kompliziert!“
Er dreht verlegen sein Glas in der Hand, dann überwindet er sich:
„Ich glaube, ich muss Ihnen erzählen, was passiert ist. Die Situation ist total verfahren.“
Franca Sturm rutscht auf dem Sessel etwas nach vorn.
„Jetzt bin ich aber gespannt!“
„Meine geschiedene Frau heißt Franca Sturm. Mit ihr habe ich glücklicherweise seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr. Ich weiß nicht, wo sie ist. Ahnen Sie jetzt, was mir durch den Kopf schoss, als ich in Ihrem Büro den Namen am Türschild las?“
Franca Sturm pflichtet ihm bei: „Oje, das kann ich mir vorstellen! Sie dachten, Ihre Exfrau ist Ihre neue Assistentin!“
Bernau nickt: „Genau, und deshalb habe ich den Vertrag nicht unterschrieben! – Und jetzt sehe ich Sie, eine ganz andere Franca Sturm!“
Sie erfasst die Lage sofort:
„Ach du meine Güte, das ist ja blöd gelaufen! Jetzt weiß ich, warum Sie so erschrocken sind, als ich mich gerade vorgestellt habe. Und Sie haben den neuen Job abgelehnt!“
Nach einer kurzen Pause sagt sie verschmitzt:
„Aber eine gute Assistentin hat immer eine Lösung für Ihren Chef parat!“
Bernau ist überrascht: „Wie wollen Sie denn dieses Missverständnis lösen? Ich bin doch total blamiert.“
„Sie müssen nur eine Frage beantworten: Wollen Sie den Vertrag jetzt noch haben, nachdem Sie mich kennengelernt haben?“
„Ja klar!“ Seine Augen strahlen.
Franca holt schmunzelnd ihr Handy aus der Handtasche.
„Ich weiß, wo Bosse jetzt ist. Ich werde ihm die Situation erklären.“
„Aber denken Sie, er ist mir nicht böse?“
Franca sagt beruhigend: „Das lassen Sie mal meine Sorge sein! Sie sind der beste Bewerber. Ich habe in Bosses Auftrag allen anderen Bewerbern abgesagt und weiß, dass er Sie als neuen ECD haben will.“
Sie verschweigt den Zusatz „und ich auch!“ und verlässt den Raum. Nach wenigen Minuten kommt sie strahlend zurück.
„Morgen elf Uhr dreißig im Büro! Anschließend gibt´s Mittagessen für uns drei in Bosses Lieblingslokal. Ich habe schon einen Tisch bestellt. Bosse ist sehr froh über Ihren Entschluss, doch noch zu unterschreiben, und wünscht uns einen vergnügten Abend!“
Und so wird der Vorweihnachtsabend ein sehr fröhlicher Auftakt für Thomas Bernaus neues Leben mit der ganz anderen Franca Sturm.
Copyright Dr. Dietrich Weller