Ende und Anfang

„Die rapsgelben Felder, der blaue See dort unten mit den sanften Bergen und den vereinzelten Bauernhäusern dahinter! Und dieser hohe Himmel über allem! Welch ein friedlicher Platz!“
Barbara streicht zärtlich über Holgers Schläfen und schmiegt sich an ihn.
„Ja“, flüstert Holger, um die Stille nicht zu zerstören, „ja, ich weiß!“
Barbara schaut ihn erstaunt an: „Warst du schon einmal hier?“
Holger nickt wortlos, und zwischen seinen zusammengekniffenen Augenlidern blickt er
in die Weite der Vergangenheit. Er drückt Barbara fest an sich und spürt, wie intensiv er Vergangenheit und Gegenwart in diesem Moment verbindet.
Nach einer langen Pause, in der er gedanklich den wohl überlegten Schritt in die Zukunft geht, löst er Barbara langsam aus seinem Arm, dreht sich auf der Bank um und zeigt auf ein verwittertes Herz in der Rinde der großen Kiefer direkt hinter ihnen.
Barbara sieht dort „A + H“ eingeschnitzt und darunter „2.5.1980“. Sie schaut Holger verblüfft an.
„Hast du das gemacht?“
Als Holger nickt, fragt sie: „Wer ist A?“
„Wegen ihr und uns beiden habe ich dich heute hierher geführt“, meint Holger nachdenklich.
Barbara rutscht ein kleines Stückchen weg von ihm und lächelt argwöhnisch: „Muss ich eifersüchtig werden?!“
Holger schüttelt langsam den Kopf und bleibt ernst: „Nein, nein! Schau dir mal das
Datum an!“
Barbara überlegt kurz, dann erkennt sie: „Das ist ja genau auf den Tag vor zehn Jahren gewesen! – Wer ist A? Und wo ist A jetzt? “
„A steht für Anna, wir waren an ihrem zwanzigsten Geburtstag hier! Heute wäre sie dreißig.“
„Wäre?“, fragt Barbara sofort.

In Holgers Augen schimmern Tränen. Barbara legt ihre Hand auf seine und wartet.
Holgers Stimme zittert:
„Anna war meine große Liebe, und diese Bank hier war unser Lieblingsplatz.“
Es fällt Barbara schwer, die Spannung auszuhalten. Aber sie spürt, dass sie jetzt nicht drängen darf. Holger ringt mit seinen Gefühlen und hat Mühe, ruhig zu sprechen.
„Hier haben wir uns damals verlobt und ausgemacht, zwei Monate später zu heiraten.“
Er schweigt und sieht hinter seinen verschlossenen Lidern sich und Anna glücklich umschlungen auf der Bank, bis Barbaras Stimme ihn leise  drängt:
„Und dann?“
„Eine Woche später erfuhren wir, dass sie Leukämie hatte.“
„Das ist ja schrecklich!“, entfährt es Barbara, „erzähl weiter!“
Sie heftet Ihre schreckgeweiteten Augen an seine Lippen.

„Eigentlich gibt es nicht viel zu erzählen:
Sie kämpfte neun Monate tapfer gegen eine Leukämie, die auf keine Chemotherapie ansprach.
In einer kurzen, trügerischen Phase der Besserung haben wir tatsächlich zwei Monate
später geheiratet.
Wir spürten, wir haben nur kurze Zeit, unsere Liebe trotz Angst zu genießen.
Ich habe noch nie so intensiv gelebt wie in diesen Monaten und alle Gefühle, Gedanken und Bilder im Tagebuch meines Herzens aufgenommen. Davon habe ich in den vergangenen Jahren gezehrt.
Eines Tages Anfang Februar bat Anna mich im Krankenhaus darum, ich solle sie wenigstens für ein paar Minuten hierher an unseren Lieblingsplatz bringen.
Ich sagte, sie sei zu krank, um das Risiko eines Ausflugs einzugehen. Aber sie bettelte  darum wie ein kleines Kind.
Es war ihr sehr wichtig und dringend. Und ich fühlte, es war ihr letzter Wunsch.“

Er schaut Barbara mit Tränen in den Augen an. Dann spricht er mit langen Pausen weiter.

„Ich trug sie wegen der beißenden Kälte in Winterkleidern und in einem Schlafsack vom Auto hier her. Sie war viel zu schwach zum Gehen.
Ihre rote Lieblingsmütze verbarg ihren kahlen Kopf und war doch ein Alarmlicht. –
Ich hatte Decken dabei und eine Thermoskanne mit heißem Tee. –
Aber wir wärmten uns mit Küssen und Umarmungen. –
So saßen wir im Schnee zusammengekuschelt auf dieser Bank. –
Die Landschaft war ganz weiß– wie mit einem Leichentuch verhüllt – auch der See lag unter einer Schnee- und Eisdecke. –
Ich sah diesen einfarbig hellgrauen Himmel über uns und keinen Sonnenstrahl. –
Die Landschaft war schon tot, Anna stirbt auch, dachte ich damals. –
Und ich fühlte genau, wie Anna hier von der Welt und von mir Abschied nahm. –
Nachdem ich sie wieder in die Klinik gebracht hatte, wurde sie in der folgenden Nacht
bewusstlos. – Sie wachte nicht mehr auf! –
Am Tag der Beerdigung setzte das Tauwetter ein. –
Die Bäume auf dem Friedhof weinten sich den Schnee von den Zweigen. –
Danach fuhr ich hierher, um mit Anna allein zu sein. –
Die herunter tropfenden Kiefernadeln vermischten sich mit der aufgeweichten Erde und wurden im Schneewasser ertränkt.
Ich saß unter einem Schirm und ließ meiner Trauer freien Lauf. “

Barbara schaut Holger liebevoll in die Augen, nimmt seine Hände und sagt leise: „Danke, dass du mir das erzählt hast.“

Erst nach einer Pause fragt sie: „Und warum hast du mir die Geschichte gerade hier und heute offenbart?“

Holger lächelt: „Jedes Jahr an ihrem Geburtstag war ich bisher hier. Und drei Jahre nach ihrem Tod habe ich Anna und mir versprochen: Wenn ich je eine Frau finde, für die ich eine gleiche große Liebe spüre, werde ich sie Anna hier vorstellen. Heute möchte ich von Anna und diesem Platz Abschied nehmen, damit ich mit dir eine gemeinsame Zukunft beginnen und einen neuen Lieblingsplatz finden kann.“

Barbara gleitet langsam in seine offenen Arme. Sie schweigen lange und innig.

Copyright Dr. Dietrich Weller
Diese Geschichte entstand in der Schreibwerkstatt als Hausaufgabe.

 

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