Wir hatten es gerade für fünf Minuten geschafft, am Sonntagnachmittag gleich drei diensthabende Kollegen aus den verschiedenen Abteilungen um einen Tisch im Ärztekasino zu versammeln, da wurde die Idylle schon wieder gestört. Mein Notarztwagenalarm schrillte und zerriss die gemütliche Kaffeerunde, noch bevor ich ein Stückchen von dem Kuchen essen konnte, den die Mutter einer kleinen Patientin mitgebracht hatte.
Ich rannte los zum Ausgang, wo der Pkw-Notarztwagen und der große Rettungswagen geparkt waren. Die Rettungsassistenten eilten gleichzeitig aus ihrem Dienstzimmer herbei, und wenige Sekunden später bogen wir von der Ausfahrt auf die Hauptstraße, die Blaulichter rotierten auf den Dächern der roten Autos. Der Fahrer gab Gas. Die Straßen waren frei, und wir kamen rasch voran.
„Was gibt´s denn?“ wollte ich von dem Fahrer wissen. Während er bei Rot über die freie Kreuzung fuhr, meinte er knapp: „Ich weiß ich auch nicht viel. Die Zentrale sagte, ein Mann hat angerufen, eine Frau hat starke Schmerzen, wir sollen schnell kommen!“ Damit war unsere Unterhaltung schon beendet, und ich versank in Gedanken und überlegte mir die vielfältigen Schmerzen, bei denen ein Notarzteinsatz gerechtfertigt war. Ich dachte an Herzinfarkt, Nieren- und Gallenkoliken, Unfälle und andere schlimme Notfälle.
Während ich mich innerlich auf eine komplizierte Situation einzustellen versuchte, rasten wir weiter in einen Vorort und dort in eine Gegend mit abbruchreifen Häusern und verkommenen Grundstücken, auf denen allerlei Müll und aufeinander gestapelte Schrottautos herumlagen. Eine verwahrloste Gegend, die ausgestoßen wirkte von der Glitzerwelt der Innenstadt wie ein schmutziges Anhängsel an einem gepflegten Körper.
Der Beifahrer hatte den Stadtplan auf dem Schoß und dirigierte den Fahrer routiniert und mit knappen Angaben zu unserem Einsatzort. Da standen wir vor einem verfallenen Einfahrtstor aus zerrissenem Maschendraht, dahinter sahen wir vergammelte Hütten und ein kleines dreistöckiges Haus. Ein altes und verrostetes Schild verkündete von einer Schrotthandlung, die irgendwann einmal hier ihre Geschäfte erledigt hatte und längst verlassen war. Ein Rettungssanitäter stieg aus, öffnete mit raschem Griff das altersschwache Tor, das fast aus den Angeln fiel, und wir fuhren mit beiden Einsatzwagen auf holperigem Weg durch ölverschmierte Pfützen und steinige Schlaglöcher auf den Hof, der wie ein verlassener Müllplatz aussah. Wir bahnten uns durch die herumliegenden Schrottwracks und alten Reifen einen Weg zum Haupthaus, das völlig heruntergekommen vor uns stand. An den Fenstern hingen zugeklappt verwitterte Bretter, die einmal Läden waren, einige hingen aus den Scharnieren gerissen im Wind, und viele der Fensterscheiben waren im Laufe der Jahre zu Bruch gegangen. Die Scherben ragten spitz aus dem Rahmen. Der Putz fiel von den Wänden, den alten Firmennamen konnte ich nur mit viel Phantasie lesen. Wir schauten einander fragend an und dachten wohl alle das gleiche: Hier sollte unsere Patientin sein? Wohnt hier jemand?
Aber die Zeit drängte, es war schließlich ein Notarzteinsatz. Also hatten wir keine Zeit, lange Überlegungen anzustellen und uns mit Vermutungen aufzuhalten. Ich sagte nur: “Also, schnell suchen!“ Da wir zu fünft waren, lief ein Rettungssanitäter rasch über das Gelände, wir anderen betraten das düstere und muffig riechende Haus. Schon im Eingang sahen wir eine Maus über den schmierigen Boden huschen und in irgendeinem Versteck verschwinden. Das kann ja heiter werden, dachte ich und ging hinter dem Sanitäter her. Er versuchte vergeblich, Licht zu machen. Die Schalter funktionierten nicht. Aber dieser erfahrene Mann hatte vorsorglich die starke Taschenlampe aus dem Wagen eingesteckt. Die Erdgeschoßräume waren im überfliegenden Scheinwerferlicht schnell durchsucht: Überall Müll, alte Möbel, zerrissene Tapeten, kaputte Bodenbeläge, verstreute Aktenordner, umgeworfene Stühle, offene und leere Schränke.
Wir riefen durch das Treppenhaus und erhielten keine Antwort. So tasteten wir uns im Halbdämmer eine Treppe hoch, das Geländer war defekt, die Stufen knarrten, der Wind pfiff durch das Treppenhaus wie durch einen Kamin, und ich musste sofort an den Film „Psycho“ denken mit seinen unheimlichen Szenen. Wir stiegen zügig Stockwerk um Stockwerk empor, und in jeder Etage bot sich dasselbe Bild wie im Erdgeschoß: ein altes Chaos, stummes Zeugnis der unbewohnten Verwahrlosung.
Da hörten wir plötzlich auf unser Rufen eine schwache Frauenstimme: „Ich bin auf dem Speicher!“ Also noch eine klapprige steile Holzstiege hinauf durch eine Bodenluke, an Spinnenwebennetzen vorbei, auch hier rannten Mäuse und knackten Dielen. Der alkohol- und rauchgeschwängerte Mief hier oben verschlug uns fast den Atem. Da hinten in einem Lattenverschlag flackerte eine Kerze! Das war das einzige Licht in diesem fensterlosen Dachboden.
Der Rettungssanitäter hievte seinen schweren Koffer hoch, wir halfen ihm und eilten zu dem kleinen Verlies, das offensichtlich die Bleibe unserer Patientin war. Da lag sie auf einer uralten Matratze ohne Leintuch, bedeckt mit einem fleckig-verschmierten Laken. Ringsherum lagen zahllose leere Bierflaschen, stanken überquellende Aschenbecher und schmutzige Wäsche, die auf dem Boden verstreut waren. Die Kerze hatte sich auf einer Glasscherbe festgetropft und verbreitete ein schwaches unruhiges Licht. Schemenhaft konnte ich einen winzigen Dachraum mit Ziegeln und Dachsparren, Bretterboden und einer niedrigen schrägen Decke erkennen. Ich bückte mich nieder und versuchte mit Hilfe der Taschenlampe, das Gesicht zu erkennen.
Eine verhärmte Frau mit wirren Haaren und schmutzigem Gesicht schaute mich aus ihren Runzeln blinzelnd an: „Gut, dass Sie kommen, mir tut´s weh!“ Die verwaschene Sprache war noch verständlich und bewies mit dem erheblichen Mundgeruch, was die Patientin getrunken hatte. Die eingefallenen Lippen ließen beim Sprechen viele Lücken und ein paar verrottete Zahnstummel frei.
„Wo tut´s denn weh?“ fragte ich. Sie hatte sich wohl eine schmerzstillende Alkoholdosis genehmigt und reagierte verlangsamt. Ihre ausgemergelten Arme bewegten sich, die schmutzstarrenden Hände mit der glimmenden Zigarettenkippe zwischen den gelben Fingerspitzen schoben ein Kleidungsstück weg, das wohl in besseren Zeiten ein Nachthemd gewesen war, und sie streckte uns ihr nacktes Hinterteil entgegen. „Da!“ nuschelte sie und zeigte auf ihre eingefallene Gesäßbacke. Ich leuchtete genauer hin und erkannte die eindeutigen Abdruckspuren eines kräftigen Gebisses, mit Blut unterlaufen, aber ohne oberflächliche Hautverletzung. Wie gut, dass mein Gesicht im Schatten des Lichtkegels war, so konnte keiner meine Verblüffung sehen.
„Wie kommen Sie denn zu diesem Biss?“ wollte ich wissen. Ein gequältes Lächeln flog über ihr von der Sucht gezeichnetes Gesicht, und sie klärte uns mit einem Satz auf: „Wir mögen´s gern mit Beißen, und da hat er wohl zu fest gebissen! Haben Sie eine Salbe da?“ Ich war entsetzt. Das soziale Elend, die bizzare Entstehung einer Bissquetschwunde, die katastrophale Umgebung, Endstation eines Abstiegs. Ich hielt einen Moment inne und schaute mir die Frau an, ein menschliches Wrack, ihre Haut war vergilbt, das Gesicht aufgedunsen, Tränensäcke unter den Augen, der Körper abgemagert, ein zerfallender Mensch.
Der Sanitäter fragte: “Können Sie uns mal Ihre Personalien sagen?“ Sie drehte sich stöhnend zur Seite, griff in eine Tasche und zog mühsam ein zerschlissenes Etui heraus, das sie umständlich öffnete, und dann streckte sie mir ihren Personalausweis entgegen. Ich schaute das Passbild an und sah eine junge und gepflegte Frau mit freundlichen und klaren Augen. Mein Blick wanderte zu der Frau auf der Matratze und noch einmal auf den Ausweis. Ich konnte es kaum glauben. Deshalb fragte ich: „Sind Sie das?“ Sie schüttelte langsam den Kopf und sagte leise und langsam: „Nein, das war ich mal vor fünf Jahren.“ Ich rechnete nach: Sie war dreißig Jahre alt, ich hatte sie auf mindestens fünfzig geschätzt.
Die zweite Matratze lag neben der Frau, von einem Knäuel aus zerrissener Bettdecke und dreckiger Schmutzwäsche bedeckt. Ich schaute die Patientin an, die mich aus rot geränderten Augen musterte. “Wo ist denn ihr Partner?“ fragte ich. Sie überlegte kurz: „Danach“, seufzte sie und deutete auf ihre Hinterfront, die sie inzwischen wieder bedeckt hatte, „hat er mich hier liegen lassen und ist ins Stadion gegangen. Von unterwegs hat er Sie aus einer Telefonzelle angerufen.“
Was sollte ich tun? Hier gab es keinen Grund für eine Fahrt im Notarztwagen oder einen Krankenhausaufenthalt. Eine Salbe hatten wir nicht im Auto, weil es dort nur Notfallmedikamente gab. Ich schrieb eine Salbe auf und reichte der Frau das Blatt: „Wenn er zurückkommt, bitten Sie ihn, die Salbe zu holen. Macht er das?“ Sie überlegte: „Ja, wahrscheinlich schon, wenn er nicht voll ist. Morgen gibt es wieder Geld beim Sozialamt. Da muß einer von uns sowieso in die Stadt. Danke, daß Sie da waren!“
Sehr nachdenklich verabschiedete ich mich. Im Kasino wollte ich meinen Kuchen nicht mehr essen, und der Kaffee schmeckte bitter.
Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.