Hilfreiche Texte: Dem Tag mehr Leben geben

Vorbemerkung:

Herr Dr. med. Dietmar Epple ist niedergelassener Internist und Palliativmediziner in Leonberg und leitet seit vielen Jahren hier das stationäre Hospiz  Zur Eröffnung des neuen Hospizbaus hielt er am 01. Februar 2012 die folgende Rede. Sie wurde vorgeschlagen für den Preis  Rede 2012, den das Institut für Rhetorik in Tübingen jährlich verleiht.

Ich veröffentliche die Rede hier mit Erlaubnis von Herrn Dr. Epple.

Festvortrag am 01.02.2012

Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.

(Dame Cicely Saunders)

 

Liebe Anwesende,

Ich freue mich, hier und heute das Wort an Sie richten zu dürfen. Ich freue mich, dass wir mit der lang erwarteten und ersehnten Eröffnung des Hospiz-Neubaus gemeinsam bestätigt finden: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Umweg“.

Wenn ich an den Werdegang dieses Bauwerkes denke, fallen mir Begriffe ein wie Träumen, Mut, Wagen, Hoffen, Glauben – aber auch Begriffe wie Angst, Sorgen, Zweifel, Aussichtslosigkeit:

Hier spiegelt sich eine Polarität, die mich im Umgang mit unseren Patienten umtreibt, die mich letztlich in persönlichen stillen aber auch unruhigen Stunden umtreibt: Neben der bekanntermaßen notwendigen und vielfach möglichen Therapie belastender Symptome wie Atemnot, Schmerz, Unruhe, Angst, Übelkeit, schwebt immer die Frage im Raum:

Warum das Ganze, was soll’s?

Was „bewegt“ mich, gibt meinem Dasein Sinn?

Wie kann ich meine immer wieder auftretende „Starre“ überwinden?

Wie komme ich von der Resignation zum Hoffen?

Wie komme ich zu dem Gedankengang: „Ich lebe – und wenn der Tod kommt, ich bin da!“?

Manches scheint mir klar, immer wieder hänge ich aber fest, verspüre auch Frustration und eine eingangs schon erwähnte „Aussichts-Losigkeit“.

Ein wichtiger Aspekt der Hospizarbeit ist mir, im übertragenen Sinn „Wege zu Aussichtstürmen“ zu finden, zu kartieren und schließlich anderen aufzeigen zu können.

Einen Satz möchte ich Ihnen heute mitgeben:

Von Cicely Saunders, der Begründerin der Hospizbewegung, stammt der viel zitierte Spruch:

Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.

Diesem einfachen Satz spüren wir im Hospiz für unsere Patienten und für uns und gerne wir hier alle für uns nach. Ein markant formulierter Auftrag, der es in sich hat.

Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.

Eigentlich erfrischend einfach und klar. Nur: Wie macht man das – „Leben“?

Es gibt ja sichere Todeszeichen, aber gibt es zwischen (schwerer) Geburt und Sterben ebenso sichere Lebenszeichen, Zeichen, bei denen ich sage: Stimmt, das ist „Leben“?

Reicht ein „Hänschen piep einmal“ oder ein „Häschen hüpf!“? Was braucht der Mensch? Was ist mein „Way of life“, zu Deutsch: Meine Lebensart, mein Lebensweg, oder besser: Mein Weg zum Leben. Wie versteht sich „Savoir vivre“ für mich?

Fragen über Fragen, denen ich versuche, mögliche Antworten gegenüber zu stellen:

Streng nach der Erkenntnis: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ gibt´s jetzt dazu ’ne Kleinigkeit zu Essen:  Neben dem vorgenannten „Satzknochen“ zum Abnagen folgt nun eine „Wortsuppe“, in der sie stochern dürfen:

Der Tod lauert bekanntlich an jeder Ecke – das Leben aber, Gott sei Dank,  auch!

Facetten des Lebens für mich: Miteinander reden. Zuhören. In Verbindung bleiben. Füreinander da sein. Fair handeln. Fair geben. Mal sehen, was geht. Sich freuen. Spaß haben. Augen offen halten. Chancen ergreifen. Lachen und Weinen. Vorwärts schauen. Hoffen. Wissen vermehren. Wachsen. Besser werden. Genügsam sein. Linie halten. Ressourcen nutzen. Haushalten. Wurzeln schlagen. Blüten treiben. Kunst pflegen. Musik genießen. Mitmachen. Sich verwenden. Andere sehen. Vorwärts gehen. Sich treiben lassen. Menschen und Orte besuchen.  Sich beschäftigen. Suchen. Dankbar sein. Zur Ruhe kommen. Nachdenken. Vordenken. Mitdenken. Kommen und Gehen. Abschied nehmen. Fehler machen. Zugeben. Fehler vergeben. Voneinander lernen. Lieben. Gott suchen. Fühlen. In sich reinhören. Handeln. Ein Ziel haben. Fünfe grad sein lassen. Stehen lassen. Toleranz. Profil haben. Wachsen. Entwickeln. Entfalten. Entpuppen. Wandeln. Werden. Genießen. Gut essen. Bewegen. Herkunft. Zukunft. Kultur haben. Pflegen. Kreativ sein. Vertrauen. Wagen. Grenzen kennen. Offen sein. Neugierig sein. Sich verwöhnen lassen. Hier und jetzt sein. Sich beschränken, Schwerpunkte setzen. Vergnügt sein.

Aber:

Wie kann ich heute leben, Leben gestalten, Leben genießen – wenn ich morgen tot sein könnte? Wie kann ich lachen, Kontakt pflegen, dankbar sein, Pläne machen, andere trösten, Mut machen, an das Leben glauben; Sinn erkennen – wenn ich morgen tot sein könnte?

Wie kann ich froh sein – wenn Leid mich begleitet, wenn ich den Tod vor Augen habe, wenn Arbeitslosigkeit besteht, Trennung, Brüche in der Lebensbiographie? Wenn ich Schuld auf mich geladen habe?

Wie kann ich heute mit meiner Situation zufrieden sein angesichts nachlassender Kräfte, Autonomieverlust, Hilfsbedürftigkeit? Wenn Fähigkeiten verloren gehen, wenn ich Hilfe annehmen muss, anstatt Geben zu können?

Leben bedeutet mir heute, jetzt und hier unbeirrt vom Morgen zu leben, Lebensmöglichkeiten kreativ zu suchen und zu nützen, im Geben wie auch im Nehmen. Nicht aber, nicht vorhandenen Lebensmöglichkeiten nachzutrauern.

Wenn Leben trotz Herkunft und Zukunft heute ist, will ich’s heute versuchen.  Wenn Leben heute ist, kann es heute Sinn machen.

Das Leben lässt sich nicht festhalten, einpacken, verschieben.

Endlichkeit zu erkennen und zu bejahen schließt heute Leben nicht aus. Endlichkeit drängt uns sogar geradezu, heute bewusst zu leben.

Leben kommt nicht von Reichtum oder Besitz, großen Häusern, tollen Autos, iPhones, übrigem Geld oder Zeit, sondern von den zwischenmenschlichen Aktivitäten, die daraus möglich werden, vom Geben und Nehmen in Beziehungen, von Anerkennung, Zuneigung, Aufmerksamkeit, Beachtung, Ehre, die einem zuteilwird, vom Gehör, das mein Wort findet, von Alltag, Freud und Leid, die ich mit anderen teilen kann.

Bei Lebensgestaltung geht es

  • um den Mut zum ersten Schritt,
  • um die Bedeutung von „morgen“ und „heute“ in meinem Denken,
  • um den Sinn des Lebens,
  • um Haben oder Sein,
  • um mich und die anderen,
  • um den Blickwinkel an Sachverhalte und Situationen, an deren Bewertung, an die Freiheit, sich bei verschiedenen Möglichkeiten für die Gute zu entscheiden als Grund zum Hoffen, somit Perspektiven zu bekommen. Realistische Hoffnung keimen zu lassen.
  • Es geht um Perspektivenwechsel durch Lob und Dankbarkeit.
  • Es geht um die Erfahrung des Füreinander-Da-Seins.
  • Es geht also ganz grundsätzlich um Lebens-gestaltung, die Erkenntnis, dass Für-andere-da-zu-Sein ein wichtiger Zweig meines Daseins und Wohlbefindens ist und sinnstiftend wirkt.
  • Es geht letztlich um Leben angesichts des Todes.

Auch und gerade in der Hospizarbeit spiegelt sich „Leben“ wieder, Ideenreichtum, Gestaltungskraft und Durchhaltevermögen einzelner.

Hospiz gibt’s praktisch nicht ohne die Erkenntnis Einzelner,

  • dass hier Menschen in Not sind,
  • dass Menschen Menschen brauchen (und nicht Apparate),
  • gibt’s nicht ohne deren Mut, sich – ohne den genauen Weg zu kennen – aufzumachen auf das Ziel hin, diesen Missstand zu ändern, nach Gleichgesinnten zu suchen, gegen alle Ungewissheit auf dem Weg zu bleiben.
  • Hospiz heißt dann aber auch, gemeinsam sich der wachsenden Verantwortung zu stellen, Strukturen zu schaffen und zu finanzieren, ohne den Geist des Anfangs zu verlieren und das Thema „abzuverwalten“. Heißt sichere, gute Rahmenbedingungen in Form von Räumen zu schaffen, die barrierefrei bedarfsgerecht Möglichkeiten zur Lebensgestaltung in schwieriger Lebenssituation ermöglichen.

Wir sind heute beieinander, um einen Meilenstein auf diesem Weg zu feiern. Ich bin stolz, froh und dankbar, hier einen kleinen Beitrag bringen zu dürfen und mit den Anwesenden zu feiern.

Es ist mir ein Bedürfnis, meine Achtung und meinen Respekt vor solch wagemutigen „PowerFrauen“ (und einzelnen Männern) zu bekunden und ihnen meinen Dank auszusprechen – verbunden mit den besten Wünschen für die weitere Hospizarbeit und dieses Haus.

Jeder kann seinen Beitrag leisten zu diesem Projekt. Ich mache etwas Unkonventionelles und singe und spiele ein Lied von Gerhard Schöne, das das Thema auf seine Art unterstreicht. Vielleicht hat die eine oder andere Privatperson oder der eine oder andere Funktionär hier im Raum eigene Ideen, vielleicht auch Beulen im Geldbeutel oder Reserven im Etat, die man angehen könnte: So oder so, die Sache ist’s wert. Wir gestalten hier das Leben in unserem Ort und Kreis.

(Dr. Epple begleitete sich auf der Gitarre.)

 

Spar deinen Wein nicht auf für morgen (G. Schöne)

Spar deinen Wein nicht auf für morgen,
sind Freunde da, so schenke ein,
leg, was du hast, in ihre Mitte –
durchs Schenken wird man reich allein.

Spar nicht mit deinen guten Worten,
wo man was totschweigt, schweige nicht,
und wo nur leeres Wort gedroschen
da hat dein gutes Wort Gewicht.

Spar deine Liebe nicht am Tage
für´n paar Minuten in der Nacht,
hol sie aus ihrer Dunkelkammer
dann zeigt sie ihre Blütenpracht.

Spar deinen Mut nicht auf für später,
wenn Du mal was ganz großes bist.
Dein kleiner Mut hilft allen weiter
weil täglich Mut vonnöten ist.

Spar deinen Wein nicht auf für morgen,
sind Freunde da, so schenke ein,
leg, was du hast, in ihre Mitte –
durchs Schenken wird man reich allein.

 

Ich fasse zusammen:

Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben zu geben.

Hier, heute, jetzt, mit Gottvertrauen.

Danke für ihre Aufmerksamkeit.

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