Zwiespältige Erwartung

 

Hartmut Haller fährt zu seinem Postfach. Da er heute 65. Geburtstag hat, findet er sogar mehrere Briefe und Karten in dem Fach. Er schaut sie rasch durch. Da steht auf einem Brief seine Anschrift mit grüner Tinte geschrieben, kein Absender. Aber sofort erkennt er diese charakteristische Schrift! ELISABETH!

Er spürt eine Welle der Freude und gleichzeitig einen Schauer, der wie ein eiskalter Wasserguss die auflodernde Begeisterung löscht. Das Zittern in seinen Händen wird stärker. Während er mit dem Aufzug in die fünfte Etage des Seniorenheims fährt, sind seine Augen geschlossen. Bilder fliegen vorbei: Elisabeth vor 40 Jahren bei dem Hauskonzert von Professor Weise, als sie einander kennen lernten. Elisabeth, die bildhübsche Studentin, schlank mit lockenden Rundungen und eleganten Bewegungen; die schwarzen langen Haare, das bezaubernde Lächeln und die Grübchen in den Wangen! Damals war er schüchtern und unsicher. Doch dann hörte der Professor ihn Violine spielen und ermunterte ihn, sein Jurastudium aufzugeben und Musiker zu werden. Der Professor und Elisabeth entschieden über sein Leben! Haller wurde Musiker und überwand viele Selbstzweifel.

In seinem kleinen Zimmer öffnet er vorsichtig das Kuvert, als ob er Elisabeth nicht verletzen wollte, zieht ein Briefpapier heraus, das zu dem Umschlag passt:

Lieber Hartmut,

endlich konnte ich Deine Adresse ausfindig machen. Morgen werde ich vor Deiner Tür stehen und Dir persönlich gratulieren – absichtlich einen Tag nach Deinem 65. Geburtstag! Heute wünsche ich Dir einen schönen Tag mit Deinen Gästen. Ich freue mich sehr auf Dich!

Liebe Grüße, Elisabeth

Hartmut Haller schließt wieder die Augen und beobachtet Bruchstücke aus seinem Lebensfilm.

Er sieht sich mit Elisabeth auf dem ersten gemeinsamen Spaziergang, hört ihre lebhafte Stimme, fühlt wieder ihre Nähe, freut sich an dem blumigen Sommerkleid und dem roten Seidenschal, den sie so neckisch um den Hals gebunden hatte. Mitten in dem Gespräch über Beethovens „Frühlingssonate“, die sie am Abend vorher so innig miteinander gespielt hatten, blieben sie stehen und küssten einander zum ersten Mal, zuerst zärtlich,  tastend, dann immer leidenschaftlicher ….

Hartmut Haller öffnet die Augen. Er will dieses Gefühl gar nicht spüren, zu schlimm war das Ende des Glücks! Er reißt missmutig die anderen Briefe auf. Während er die üblichen Glückwünsche liest, merkt er, wie unkonzentriert er ist und wie sehr sich Elisabeth in den Vordergrund drängt:

Elisabeth, die mit ihm stundenlang so beglückend intensiv übte, damit er, der junge Geiger, bei ihrem Examenskonzert sogar mit ihr spielen konnte. Und der Jubel danach! Elisabeth war der Star der Hochschule! – Da war es selbstverständlich, dass Elisabeth ihn in seinem Examenskonzert am Flügel begleitete und einen großen Anteil zu seinem Erfolg beitrug.

Haller fährt zum Fenster. Warum kommt sie morgen? Was will sie nach all den Jahren von mir? Wie hat sie meine Adresse gefunden?

Während er über den Park schaut, wo die Blätter von den herbstlichen Bäumen geweht werden, denkt er an Elisabeth, diese großartige Duo- und Lebenspartnerin! Sie hatten schon ein paar Jahre glücklich zusammen gelebt. Dann während ihrer ersten großen Tournee durch Südamerika spürte er plötzlich auf dem Podium, wie der Geigenbogen ihm nicht gehorchte. Der Druck, den er dem Ton verleihen wollte, gelang nicht. Er erschrak. Elisabeth bemerkte die Unsicherheit sofort und spielte geistesgegenwärtig lauter. In den folgenden Tagen wurde der rechte Arm immer schwächer, und Hartmut sah unscharf. Er ging noch in Buenos Aires zum Arzt, der aber auch nicht helfen konnte.

Es war das letzte Konzert der Tournee. Voller Sorge traten sie den Heimweg an. In Deutschland gingen sie von Arzt zu Arzt. Schließlich äußerte ein Neurologe den Verdacht auf eine Multiple Sklerose.

Haller erinnert sich an die Wochen der Verzweiflung, mit dieser Diagnose und den Folgen leben zu müssen und wahrscheinlich nicht mehr musizieren zu können. Er sieht die Physiotherapeuten, die ihm Mut zusprechen und mit ihm die Arm- und Handbewegungen üben. Seine Freude über die völlige Wiederherstellung seines Körpers nach dem ersten Schub und die zwei Jahre anschließend mit erfolgreichen gemeinsamen Konzertreisen und glücklichen Stunden im Privatleben werden ihm wieder bewusst.

Sein Blick fällt auf eine Fotografie aus dieser Zeit, die über seinem kleinen Esstisch hängt: er mit Elisabeth beim Applaus in der Dorfkirche von Saanen bei den Yehudi–Menuhin-Festwochen. Das war ein grandioser Abend! Und ihre glücklichste gemeinsame Zeit.

Umso schlimmer der Absturz in den nächsten Schub, der endgültig die Diagnose Multiple Sklerose bestätigte: Diesmal waren der linke Arm und das linke Bein gelähmt. Zum ersten Mal war er gezwungen, sich an Gehhilfen fortzubewegen. Elisabeth war auf ihrer nächsten Tournee, die sie als Solopianistin mit einem italienischen Kammerorchester geplant hatte, ohne ihn durch Amerika unterwegs, während er in der Rehaklinik wieder gehen lernte.

Er sieht Elisabeth, wie sie erfüllt von der Reise zurückkam und spürt sein Glück, ihr auf dem Flughafen ohne Gehstöcke entgegen zu gehen und sie umarmen zu können. Am Abend dann der Schock. Elisabeth eröffnete das Gespräch mit dem Satz: „Ich habe mich in den Dirigenten verliebt, mit dem ich auf Tournee war: Enrico Montini. Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht, und ich habe ihn angenommen!“

Schreckliche Bilder:  Wie er verzweifelt versuchte herauszufinden, warum Elisabeth fähig war, innerhalb von vier Wochen sich zu diesem Mann mehr hingezogen zu fühlen als zu ihm, dem jahrelangen Duo-Partner und Geliebten!

Dann das Ende: Elisabeth, die nach Tagen voll quälender Diskussionen mit einem Leb wohl die Wohnung verlässt. Die Frau seines Lebens verließ sein Leben, und die Liebe blieb in ihm zurück.

Er nimmt wieder einmal wahr, dass er diesen Schlag heute noch nicht überwunden hat. Mühsam hatte er sich nach Elisabeths Auszug von einem Engagement zum nächsten gehangelt und war froh, dass er nach dem nächsten MS-Schub eine Anstellung in einer Jugendmusikschule bekam. Er, der international anerkannte Geiger, in der Jugendmusikschule! Und doch war er dankbar, dass er sich mit Musik beschäftigen und Kinder und Jugendliche begeistern konnte. Sie kamen gern zu ihm, auch als er einen Elektrorollstuhl brauchte, weil beide Beine den Dienst versagten.

Er erhielt immer wieder Nachrichten über Elisabeths Leben durch Notizen in verschiedenen Zeitungen: Sie heiratete Montini, konzertierte international, bekam eine Professur an der Musikhochschule und profilierte sich als sehr angesehene Pädagogin.

Hallers Blick fällt auf den Brief: „Ich freue mich auf Dich!“ –

Wie kann sie sich freuen? Sie hat mich verlassen! Was will sie von mir?

Haller verbringt den Tag in seinen Erinnerungen. Er holt die Fotoalben aus dem Schrank und blättert sein Leben mit wechselnden Gefühlen durch. Langsam wird es dunkel, zum Abendessen fährt er nicht, zwei Äpfel aus der Obstschale genügen ihm. Begleitet von der Musik, die sie gemeinsam auf Schallplatten und CDs eingespielt haben und die er sorgfältig aufbewahrt hat, gibt er sich den Erinnerungen hin. Er taucht ein in sein erfülltes Leben mit Elisabeth und geht erst spät in der Nacht zu Bett. Die Bilder der Konzerte und privaten Erlebnisse lassen ihn sehr unruhig schlafen. Er wird oft wach und hat viele Fragen an Elisabeth.

Was soll ich dir morgen sagen? Wie kommst du dazu, dich wieder zu melden? Genügt es nicht, dass ich so lange schon allein bin? Musst du die Wunde wieder aufreißen? Ich freue mich trotzdem, dich zu sehen. Ich habe dich immer in Gedanken begleitet und jede Nachricht über dich aufmerksam gehört und gelesen. Wenn du in der Nähe ein Konzert gegeben hast, war ich dort. Aber ich habe mich nie getraut, dir gegenüber zu treten oder in dein neues Leben einzudringen. Die Begegnung mit dir hätte mir zu wehgetan. Alle deine Plattenaufnahmen habe ich gekauft und wieder und wieder gehört.

Wie geht es dir? Wie lebst du nach dem Tod von Montini vor zwei Jahren? Ich habe es in der Zeitung gelesen, tut mir Leid für dich. Wie lange willst du noch deinen Lehrauftrag ausfüllen? Du bist doch ein Jahr älter als ich. Elisabeth, warum hast du dich in Montini verliebt? Warum konntest du innerhalb von vier Wochen Tournee dich für ihn entscheiden und mich verlassen? Diese Frage hast du mir nie beantwortet! Sie quält mich am meisten. Habe ich einen Fehler gemacht, oder war es dein Vorwand, nicht mit einem Behinderten zusammen leben zu müssen?

Er kann keine Antwort von Elisabeth bekommen, die zwar so lebendig in Gedanken vor ihm steht, aber doch Jahrzehnte entfernt ist. Seine Angst, wieder verletzt zu werden, kriecht in ihm hoch, und er getraut sich nicht einmal in seiner nächtlichen Fantasie zu fragen, ob sie ihn für den Rest seines Lebens wenigstens als Freundin begleiten will.

Aber warum kommst du dann? Du weißt, dass ich in einem Pflegeheim lebe. Du kannst dir denken, dass es mir nach 30 Jahren Multipler Sklerose körperlich nicht gut geht! Warum hast du mich überhaupt gesucht? Brauchst du mich jetzt? Mich, den Musiker, der mit Windeln im Rollstuhl sitzt und nicht einmal mehr die Geige halten kann?

Haller ist schon früh bereit, Elisabeth zu empfangen. Nach dem Frühstück versucht er, sich abzulenken mit einem Mozart-Klavierkonzert, und er will die Partitur mitlesen, aber er sieht Elisabeth am Flügel und hört nur ihr zu. Dann versucht er, Zeitung zu lesen und merkt, dass er immer wieder dieselbe Seite lesen muss, weil Elisabeth seine Gedanken besetzt. Das Mittagessen schmeckt ihm nicht, er lässt den Teller halbvoll zurückgehen, fährt in sein Zimmer und gleitet dort im Rollstuhl in einen Schlummer der Erschöpfung.

Klopfen weckt ihn. Die Tür öffnet sich langsam. Zuerst sieht er einen großen Blumenstrauß, dann sieht er sie.

 

Diese Geschichte entstand in der Schreibwerkstatt. Die Aufgabe war zu schildern, was die erste Hauptperson macht und empfindet, wenn Sie den Brief mit der Besuchsankündigung der zweiten Hauptperson erhält und auf den Besuch wartet. Nur der ungefähre Text des Briefs war vorgegeben. Während der Wartezeit soll die Geschichte der beiden Hauptpersonen geschildert werden. Die Geschichte soll zu Ende sein, wenn die angekündigte Person den Raum betritt.

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