„Billa,” sagt die Mutter an der Wohnungstür, „ich geh mal rasch zu Frau Sandler hinüber und besorge noch Butter und Sahne. Das habe ich vorhin vergessen. Bleibst du so lange da? Dann können wir anschließend mittagessen, und später gehen wir zum Weihnachtsgottesdienst.”
Billa nickt nur leicht mit ihrem blonden Lockenschopf: „Ja, ja, ich muss noch meine Puppen fürs Fest umziehen!” Auf diese Gelegenheit hatte sie gewartet! Jetzt kann sie endlich nachschauen, ob ihr Plan funktioniert. Deshalb blickt sie kaum vom Boden auf, wo sie mit ihren puppenmütterlichen Aufgaben beschäftigt ist.
Billa wartet eine Weile, bis sie unten die Haustür zuklappen hört, dann geht sie zielsicher in Mamas Schlafzimmer. Ihr Herz pocht, weil sie ganz genau spürt, dass sie etwas streng Verbotenes vorhat. Aber sie kann die Spannung einfach nicht mehr aushalten.
Billa weiß, dass Mama im Schlafzimmerschrank ihre Geschenke versteckt, ganz oben in dem Fach, wo Kinder nicht hinaufreichen können. Billa zieht sich Mamas Stuhl vom Ankleidetisch heran, klettert hoch, öffnet die Tür, und da entdeckt sie genau, was sie vermutet hatte.
Viele kleine und größere Päckchen liegen da, bunt mit Weihnachtspapier dekoriert. Überall hängen die kleinen Schildchen dran mit den Namen der Menschen, denen Mama etwas schenken will. Und Billa muss gar nicht lange suchen. Ganz vorne liegt das Päckchen, das sie unbedingt sehen will. Genau hatte sie sich im Schaufenster des Puppengeschäftes Form und Größe der Schachtel eingeprägt. Es gibt nur ein einziges Paket in dem Schrank, das zu der Puppe passt, die sich Billa so sehnlich von Mama gewünscht hat. Und Mama hat „Billa” auf das Schild am Paket geschrieben. Alle anderen Päckchen interessieren Billa nicht.
Sie spürt, wie ihr die Freude ins Gesicht schießt und ihre Augen glücklich leuchten. Ja, ihr Plan wird gelingen! Sie hat es sich genau überlegt. Das wird ein wunderbares Fest werden.
Sie schließt die Tür des Schrankes, steigt vom Stuhl und geht wieder in ihr Zimmer. Als Mama zurückkommt, sind die Puppen mit ihren schönsten Kleidchen angezogen. „Das hast du aber schön gemacht,” lobt Mama. „Mit deinen sieben Jahren bist du schon eine prima Puppenmutter!”
Billa ist zufrieden mit sich, sie hat sich nichts anmerken lassen von ihrem heimlichen Blick in den Schrank. Sie hört nicht, dass Mama ins Schlafzimmer geht, um sich umzuziehen. Billa ist so sehr auf ihren Plan konzentriert, während sie auf dem Teppichboden mit ihren Puppen spielt, dass sie richtig zusammenzuckt, als Mama plötzlich neben ihr steht und mit strenger Stimme faucht: „Sybilla! Du warst am Schlafzimmerschrank!”
Oje, denkt Billa, wenn Mama Sybilla sagt, dann gibt´s fürchterlichen Ärger! Wie hat sie das bloß gemerkt? Billa weiß, dass ihr Gesicht wie eine rote Lampe leuchtet und sie verrät. Sie stottert nur: „Aber, Mama, ich wollte doch nur …” Weiter kommt sie nicht.
Mama schreit: „Du hast den Stuhl vor dem Schrank stehen lassen! Du hast mir das ganze Fest verdorben!” Sie packt Billa am Pulli und wirft sie sehr unsanft auf dem Boden um. Billa kann sich gerade noch abstützen, sonst würde sie mit dem Gesicht auf den Teppich fallen. Sie ist starr vor Schreck und spürt, wie die Angst vor noch mehr Streit sie lähmt. Sie kann gerade noch Clarissa, ihre Lieblingspuppe, in den Arm schließen, um sich bei ihr zu trösten.
Billa hört, wie Mama mit ihrer Wut ins Schlafzimmer rennt. Dort schlagen die umherfliegenden Päckchen auf den Boden, und dann kommt Mama mit stampfenden Schritten zurück zu Billas Zimmer. Billa sitzt auf dem Boden, als die Tür auffliegt und Mama von der Türschwelle her mit einem Schwung alle Geschenke so heftig vor Billa hinwirft, dass sie auf dem ganzen Zimmerboden herumkullern. Und Mama schreit aus vollem Hals und mit zitternder Stimme: „Sybilla, das war für dich Weihnachten!”
Billa erkennt gerade noch, wie Tränen über Mamas wutrotes Gesicht fließen. Da knallt die Tür ins Schloss, und Billa ist allein. Sie sinkt mit dem Schlag der Tür in sich zusammen wie ein platzender Luftballon. Erst nach einer ganzen Weile löst sich die Starre ihres Erschreckens, und sie beginnt zuerst zögernd und dann hemmungslos zu weinen. Ihre ganze Trauer fließt in das Kopfkissen.
Nur von weit dringt Mamas Schluchzen aus dem Wohnzimmer zu ihr. Billa hat schon oft seit dem Sommer erlebt, als Papi nicht mehr von der Geschäftsreise zurückkam, dass sie und Mama getrennt voneinander weinen und dann wieder zusammenfinden. Mama ist manchmal richtig ungerecht. Aber Billa spürt, dass Mama immer noch über Papis Tod sehr traurig ist. Es war ja auch schrecklich, als die Polizisten erzählten, er sei von einem Betrunkenen auf dem Gehweg überfahren worden. Und dann der Moment, als die Männer in den schwarzen Anzügen Papi im Sarg in die Erde versenkt haben! Bei diesem Gedanken schüttelt es Billa, und sie schluchzt noch heftiger.
Nach einer ganzen Weile wischt sich Billa ihre Tränen aus dem Gesicht, sie schnieft einmal kräftig die Nase hoch und schaut die Fotografie von Papi an, der sie von der Wand her anlacht. Sie löst das Bild vom Haken, legt sich damit auf ihr Bett und sagt: „Papi, bitte hilf mir. Ich hab´s doch nicht böse gemeint!”
Billa weiß in ihrem wunden Herzen, dass sie Mama unbedingt ihren Plan mit der Puppe erklären muss. Sie zieht sich das Paket, in dem die Puppe eingepackt ist, ins Bett und weint über Papi, über Mama und über den Schmerz, gerade an Weihnachten mit Mama Streit zu haben. Billa spürt die wühlenden Messer des Unrechts und die wohltuende Wärme der Erinnerung an glückliche Tage. Billa kann Mamas Wut und Traurigkeit kaum aushalten. Zum ersten Mal Weihnachten ohne Papi und ohne Omi! Und dann auch noch solchen Ärger!
Billa weint sich in den Schlaf. Es dauert einige Zeit, in denen Billa sich hin- und herwälzt, weil sie viele Bilder im Traum mit verwirrenden Gefühlen quälen.
Inzwischen legt der Schnee am Nachmittag einen weißen Teppich auf die Straßen und die Bäume, und die Kerzen in den Fenstern und auf den weihnachtlichen Tischen lassen ein warmes Licht in die Stuben strömen. Nur in Billas Zimmer wird es immer dunkler.
Sie hört nicht, wie leise die Tür aufgeht. Sie wacht erst auf, als Mamas Hand zärtlich über ihr Haar streicht: „Billa, es tut mir leid, ich wollte nicht so garstig zu dir sein.”
Billa schlingt dankbar ihre Arme um Mamas Hals und küsst sie. Mama drückt Billa an sich und sagt: „Weißt du, Billa, als Kind habe ich auch manchmal heimlich gespickt, welche Geschenke Omi verpackt hatte. Ich kann dich verstehen. Aber ich habe mich so geärgert, weil ich dich mit den Geschenken überraschen und dir eine Freude machen wollte.”
Billa schluckt, fasst sich ein Herz und gesteht: „Ich habe doch nur wegen Omi geschaut!”
Mama runzelt die Stirn: „Wegen Omi? Das versteh ich nicht!”
Billa rutscht näher zu Mama hin und erklärt ihr wie einer Mitverschwörerin: „Ich hatte doch einen Plan! Ich verrate ihn dir. Aber du darfst mir nicht böse sein! Versprichst du mir das?” Billa hielt Mama die offene Hand hin.
„Also gut, versprochen!” Mama nimmt zärtlich Billas Hand und schaut sie aufmerksam an, und Billa spürt, wie liebevoll Mama doch ist.
Billa erzählt: „Seit Omi im Pflegeheim liegt, besuche ich sie doch immer wieder mit Clarissa zusammen.” Billa deutet auf ihre Lieblingspuppe und fährt fort:
„Omi erkennt mich oft nicht, und fragt immer wieder, wer ich bin. Das ist doch so schlimm für mich. Erst wenn ich ihr sage, dass wir doch Billa und Clarissa sind, nimmt sie uns in den Arm und weiß dann, dass wir zu ihr gehören. Dann holt sie immer ganz vorsichtig Clarissa aus meinem Arm und streichelt sie. Und neulich hat Omi langsam gesagt: ´Mein ganzes Leben lang habe ich mir so eine schöne Puppe gewünscht wie deine Clarissa!´”
Billa macht eine kleine Pause und beobachtet neugierig, ob Mama jetzt den Plan schon erkennt. Mama nickt: „Und jetzt willst du …?”
„Ja,” sagt Billa begeistert, „und da hab ich gedacht, ich wünsche mir von dir die Puppe aus dem Laden und bringe Clarissa zu Omi, und dann hat Omi auch eine Puppe! Und vielleicht erkennt sie mich dann besser!”
„Oh Billa,” seufzt Mama und umarmt sie, „dann hab ich dir ja schrecklich Unrecht getan mit meiner Wut! Verzeihst du mir?”
„Ja, Mama!” Billa fühlt sich plötzlich so viel leichter! Jetzt wird ihr Plan doch noch Wirklichkeit werden, und Mama freut sich auch! Mit ihrer ganzen Begeisterung strahlt Billa: „Gehen wir nachher zu Omi und feiern mit ihr und mit Clarissa Weihnachten?”
„Aber gern, Billa!” lacht Mama. Doch dann fragt sie ernst: „Bist du dir sicher, dass du Clarissa hergeben willst?”
Billa nickt energisch mit dem Kopf: „Ja, Mama, das habe ich mir gut überlegt. Für Oma mache ich das gern. Und ich kann die beiden ja immer besuchen, wenn ich will. Ich verliere Clarissa nicht, sie wohnt nur in einem anderen Haus und macht Oma glücklich. Das ist doch gut, oder nicht?”
Auch Mama ist inzwischen ernst geworden und sagt nachdenklich: „Ja, Billa. Das ist sehr gut. Du hast es ganz richtig gedacht. Wir müssen jetzt in Zukunft immer gemeinsam entscheiden, damit wir miteinander unser Leben meistern. Und ich sehe schon, du bist ein sehr vernünftiges Kind, das auch mit dem Herzen denkt.”
Da schaut Billa Mama fragend an: „Erfüllst du mir noch einen Wunsch, Mama?”
Mama nickt: „Gern, wenn du noch so eine gute Idee hast!”
„Ja,” lacht Billa, „ich hab eine zweite Überraschung. Ich möchte jetzt einen geschmückten Zweig von unserem Weihnachtsbaum mitnehmen, mit dir im Schnee zu Papis Grab gehen und dort eine Kerze anzünden. Schau mal, was ich habe!”
Billa zieht eine Schublade an ihrem Schreibtisch auf und holt aus dem hintersten Eck eine Bienenwachskerze, auf die sie einen Weihnachtszweig geformt hatte: „Ich habe die Kerze selbst gegossen. Tante Bertel hat mir in ihrer Werkstatt gezeigt, wie das geht. Meinst du, Papi würde sich darüber freuen?”
Mama lächelt mit Tränen in den Augen: „Aber ja, Billa, du bist ein Schatz! Deine Pläne sind wunderbar. Genau so werden wir es machen!”
Billa umarmt Mama: „Ja, und dieses Bild von Papi nehmen wir zu Omi mit, dann sind wir alle beieinander!” Sie drückt Mama noch einen herzhaften Kuss auf die Wange und rennt hinaus an die Garderobe, um sich für den Besuch bei Papi und Omi warm anzuziehen.
Sie hört und sieht nicht, wie Mama auf dem Bett Papis Bild in die Hände nimmt und unter Tränen sagt: „Danke, dass ich dieses Kind von dir habe! So bist du immer bei mir!”
Diese Geschichte habe ich in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht.