Euphemismen

Im weitesten Sinn ist ein Mythos eine Sache oder Begebenheit, die aus irrationalen Gründen glorifiziert wird. In diesen Bereich passen auch die im deutschen Sprachgebrauch häufigen Euphemismen. Euphemia bedeutet im Griechischen Worte von guter Bedeutung. Damit werden Sachverhalte beschönigt, verhüllt, verbrämt, bagatellisiert oder banalisiert. Gefühle sollen geschont und unangenehme Gefühle möglichst nicht erweckt werden. Deshalb gehören diese sprachtaktischen Verrenkungen zum Handwerkszeug all derer, die etwas zu verbergen oder zu verkaufen haben, was im klaren Licht gesehen unangenehm, abstoßend oder gar kriminell ist. Die häufigsten Anwender von Euphemismen sind deshalb Politiker, Wirtschaftsbosse und Menschen, die zu ihren Taten nicht wirklich stehen wollen. Auch im Alltagsbereich finden wir Euphemismen im körperlichen, sexuellen, religiösen und sozialen Bereich.

Weiterlesen

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , , | Kommentare deaktiviert für Euphemismen

Das Berufsbild des Rentners

In der Woche vor meinem 65. Geburtstag, genau eine Woche, bevor ich Rentner wurde, begegnete ich einem alten Bekannten wieder, der ein paar Jahre vor mir in die Rente gegangen war. Er sagte lachend:

„Rentner ist der schönste Beruf, den es gibt! Nur die Ausbildungszeit ist so lang!“

Dieser Satz beschäftigte mich in den nächsten zwei Nächten. Rentner war für mich immer gleichbedeutend mit nicht mehr im Beruf zu sein. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, dass Rentner eine Berufsbezeichnung sein könnte. Was ein Arzt, ein Rechtsanwalt, ein Schreiner, ein Architekt beruflich machen, weiß ich, aber was macht ein Rentner? Und mal angenommen, Rentnersein wäre ein Beruf: Was ist dann seine Aufgabe, und wie bereitet er sich darauf vor? Wann kann er sagen, er habe sein Berufsaufgabe gut erfüllt und sein Berufsziel erreicht?

Ein prägendes Erlebnis, das mich als jungen Arzt mit dem Thema Rentnersein konfrontiert hat, will ich vorweg erzählen.

Als ich meine Praxis erst kurz eröffnet hatte, wurde ich eines Morgens von der Ehefrau eines Mannes angerufen, den ich aus dem privaten Bereich kannte: groß, stattlich, gut aussehend, erfolgreich, zwei Söhne, eigenes Haus. Er war einer der Direktoren eines Weltkonzerns. Die Frau bat mich um einen dringenden Hausbesuch, da ihr Mann morgens weinend aufgewacht sei und sich nicht beruhigen lasse. Sie wisse überhaupt nicht, was er habe und wie sie mit ihm umgehen solle.

Als ich kurz darauf am Bett des schluchzenden und verzweifelten Patienten saß und ihn langsam „heruntergeredet“ hatte, sodass wir miteinander sprechen konnten, kam der erklärende Satz: „Gestern wurde ich in der Firma mit allen Ehren in die Rente verabschiedet. Heute Morgen bin ich aufgewacht, und jetzt bin ich nichts mehr wert. Ich weiß überhaupt nicht, was ich jetzt tun soll.“

Im weiteren Verlauf des Gesprächs wurde auch ihm klar, dass er sich sein Leben lang nur über die Leistung bei seiner Arbeit definiert und zum Beispiel keine Hobbys hatte. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, womit er sich als Rentner beschäftigen sollte und wollte.

***

Manchmal hilft es, Dinge ganz neu zu erkennen oder Neues an Bekanntem zu entdecken, wenn man den Blickwinkel oder den Kontext einer Betrachtung wechselt. Und weil Englisch neben Latein mittlerweile die medizinische Fachsprache geworden ist, nützen die Psychotherapeuten und Psychiater das Wort frame für Rahmen und geben dem Bild und den Ansichten der Patienten oder Klienten einen neuen Rahmen, damit er neue Erkenntnisse gewinnen kann. Die Therapeuten sagen dazu Reframing. Dies will ich in dem folgenden Text tun.

Üblicherweise sehen wir in der Rentenzeit ein erstrebenswertes Ziel, weil wir dann nichts mehr arbeiten müssen und nur noch frei sind und keine Pflichten mehr haben. Und die Rente kommt von allein.

Heinrich Zille hat das Motto dazu gereimt:

„Wie herrlich ist es, nichts zu tun und dann vom Nichtstun auszuruhn!“

Das ist eine fröhliche und sehr oberflächliche Sichtweise. Deshalb will ich sie in den folgenden Überlegungen mit einem neuen Gedanken umrahmen und dann genauer anschauen.

Ich schreibe diesen Essay auch, weil ich ab dem nächsten Monat Rentner bin. Dabei weiß ich, dass wir Ärzte immer beichten, wenn wir anderen Menschen, besonders unseren Patienten, etwas empfehlen. Wir raten ihnen (oft), was wir selbst machen müss(t)en. Ich verfasse diesen Essay also sehr bewusst auch für mich selbst.

Der neue Rahmen des jetzt zu betrachtenden Bildes heißt:

Rentner zu sein ist ein Beruf, auf den wir uns lange vorbereiten müssen, und der uns viele schöne und schwierige Aufgaben stellt und dadurch an die Grenzen unserer physischen und psychischen Möglichkeiten führt und uns zwingt, sie zu überschreiten.

Die meisten Menschen haben eine etwa 65-jährige Ausbildung für diesen Rentnerberuf durchlaufen. Manche fühlen sich schon früher reif dafür, denn fürs vermeintliche Nichtstun brauchen wir ja keine Ausbildung. Das können wir schon lange! Manche Menschen wollen eine längere Ausbildungszeit nützen, weil sie an dieser Weiterbildung Freude haben oder weil sie damit Geld verdienen müssen oder wollen. Vielleicht sind sie sich auch nicht bewusst oder wollen nicht wahrhaben, welche Aufgaben als Rentner auf sie warten.

Die berufliche Aufgabe, die wir als Rentner lösen müssen, besteht darin, den individuellen Sinn des Lebens zu erkennen, zu erfühlen und mit Leben zu erfüllen. Die wichtigste Herausforderung kommt am Schluss: Wir müssen uns darauf vorbereiten, dieses Leben und das Sterben als natürlichen Teil des Lebens emotional anzunehmen und in Würde und bewusst loszulassen.

Oder persönlich formuliert: Ich muss herausfinden, wie die Frage heißt, auf die mein Leben die Antwort ist.

Mich erinnert das an meinen Mathematiklehrer, der einmal gesagt hat: „Sie müssen die Probleme der Klassenarbeit vor der Prüfung lösen, nicht während der Prüfung. Denn Sie haben zu wenig Zeit, wenn Sie erst dann anfangen, sich mit der Aufgabe zu beschäftigen. Während der Prüfung brauchen Sie alle Konzentration, das Gelernte situationsentsprechend und unaufgeregt anzuwenden.“

Das bedeutet für die Vorbereitungszeit auf die Rente, also für den Azubi-Rentner, eben diese Aufgaben, die wir in der Rentenzeit lösen müssen, in unseren Trainingsplan vor der Rente einzubeziehen und nicht auszuklammern und zu verdrängen. Dabei hilft uns der Gedanke, dass das Sterben zum Leben gehört wie die Geburt auch. Die absolute Gewissheit, dass wir alle durch das letzte große Tor des Sterbens durchgehen müssen, sollte uns ruhiger machen und dazu führen, dass wir uns intensiv und gelassen damit beschäftigen.

Über die Geburt eines Kindes freuen wir uns, und vor dem Sterben und dem Tod haben wir Angst. Warum eigentlich? Beides sind normale Teile des Lebens. Und das Thema loslassen beschäftigt uns das ganze Leben lang in mehr oder weniger drastischer Form.

So wie ein Kind im Uterus keine Ahnung davon hat, wie sehr sich das Leben nach der Geburt ändert, wissen wir nicht, was nach dem Tod auf uns wartet. Der Fötus weiß nicht, dass er einmal mit dem Mund essen wird, statt über die Nabelschnur versorgt zu werden. Er weiß nicht, dass er einmal gehen und mit anderen Menschen sprechen kann. Der Fötus würde wahrscheinlich sagen: „Es kann gar keine Mutter geben, denn ich sehe sie nicht. Also kann sie sich auch nicht um uns kümmern oder gar Gefühle für uns haben. Es kann kein Leben nach der Geburt geben, denn es ist noch keiner von dort zurückgekommen!“

Wir sollten es immerhin im Bereich des Möglichen lassen, dass es sogar nach dem Tod schön werden kann, wenn auch eben ganz anders, als wir es mit unserem irdischen Verständnis denken können.

Wenn wir mit Angst den Gedanken an das Sterben und den Tod verdrängen, beschäftigen wir unser Unterbewusstsein oder unser Bewusstsein intensiv mit negativen Gedanken in Bezug auf diesen Sterbevorgang. Wie viel sinnvoller wäre es, dies positiv zu tun, wenn wir schon wissen, dass wir ihn nicht vermeiden können!

Angst ist eine sehr wirksame Autosuggestion, dass genau das geschieht, wovor wir uns in bangen Nächten fürchten. Denn unser Unterbewusstsein erfüllt die Gedanken und emotionsgeladenen Bilder, mit denen wir unser Unterbewusstsein beschäftigen. Es erkennt keine Verneinungen.

Wir können uns nicht vornehmen, keine rosa Elefanten zu sehen, weil wir ja wissen, dass es sie nicht gibt! Wenn wir darüber nachdenken, dass wir keine rosa Elefanten sehen wollen, sehen wir rosa Elefanten. Angst vor dem Sterben und dem Tod schafft intensiv emotional beladene Prägungen in unserem Unterbewusstsein. Auch die Lernforschung zeigt, dass wir Sachverhalte, die wir unter emotional günstigen Bedingungen gelernt haben, leichter merken können und später gern und erfolgreich anwenden können. Dinge, die wir mit negativen Empfindungen gelernt haben, sitzen ebenfalls tief geprägt in unserem Hirn, aber sie sind an einer anderen Stelle – nämlich im Mandelkern – gespeichert und dort mit Ablehnung und Aggression verbunden. Wenn diese Lerninhalte später im Leben abgerufen werden, tauchen automatisch die damit verbundenen negativen Emotionen wieder auf, und Ergebnisse werden verschlechtert.

Wir müssen unser Unterbewusstsein prägen mit emotional positiv geladenen Gedanken über die Dinge und Ereignisse, die wir erreichen und erleben wollen. Das setzt voraus, dass wir klar wissen, was wir wollen. Viele Menschen wissen nur, was sie nicht wollen, und denken darüber intensiv nach. Sie programmieren sich emotional und sachlich negativ. –

Es gibt den verblüffenden, scheinbar paradoxen Satz: „Hüte dich vor deinen Gedanken, denn sie erfüllen sich.“ – Aber auch diese Aufforderung enthält eine Verneinung („hüte dich vor“), die von unserem Unterbewusstsein nicht erkannt wird und emotional negativ beladen ist. Der Satz muss richtig heißen: „Denke oft darüber nach, was Du willst, und freu dich darauf.“

***

Es wäre töricht und unrealistisch zu glauben, wir könnten alles mit unseren Gedanken beeinflussen.

„Wir müssen das Leben nehmen wie es kommt. Aber wir können etwas dafür tun, dass es kommt, wie wir es nehmen möchten.“

Dieser Satz von Curt Goetz ist eine gute Richtschnur. Verbinden wir sie mit Seneca:

„Zweifle nicht, ohne zu hoffen. Hoffe nicht, ohne zu zweifeln.“

Der amerikanische Onkologe Bernie Siegel sagt:

„Im Zweifelsfall ist Hoffnung immer richtig.“

Wir brauchen Hoffnung gerade dann, wenn die Situation hoffnungslos ist. Bei Sonnenschein brauchen wir keinen Regenschirm! Aber wenn es unerträglich wird, alles schwarz erscheint, Schmerzen und Sorgen die Nacht zur Qual machen und der segensreiche Schlaf sich nicht einstellt, dann ist es hilfreich, Hoffnung zu haben auf einen Tod ohne Schmerzen. Sie lassen sich besser ertragen, wenn wir wissen, wann und dass sie enden werden. Wir erleben Erleichterung in dem Bewusstsein und in der Hoffnung, geliebt worden zu sein und gute Spuren zu hinterlassen, die gepflegt werden. Dann helfen uns der Gedanke und das Gefühl, mit uns selbst und der Umwelt im Reinen zu sein.

Wir brauchen die Hoffnung, sterben zu dürfen in der Umgebung, die wir uns wünschen, vielleicht sogar im Arm eines geliebten Menschen, der uns loslässt, weil (!) er uns liebt. Es ist ein Segen, wenn wir auf ein Ende hoffen dürfen mit dem Wissen, ein sinnvolles Leben erlebt und erarbeitet zu haben. Ja, Leben ist Arbeit: meistens in den ersten beiden Dritteln ganz anders – unter anderen Gesichtspunkten – als im letzten Drittel.

Ich bin in meiner Azubi-Rentner-Zeit immer im richtigen Moment den richtigen Menschen, den richtigen Büchern und der richtigen Musik begegnet.

Jedenfalls hatte ich oft den Eindruck, Zufälle fallen uns zu, wenn sie fällig sind.

Meine Aufgabe besteht darin, aufmerksam zu sein und zu merken, wann da scheinbar zufällig wieder der richtige Mensch vor mir steht, die richtige Musik läuft oder ich das richtige Buch in der Hand habe, und was es mir zeigen will, was ich daraus lernen oder woran ich mich freuen kann. Oder wenn wir es religiös formulieren wollen:

Zufall ist Gottes Trick, inkognito zu bleiben.

Wer Sinn erleben will, muss etwas Sinnvolles tun. Auf tun liegt die Betonung! Das ist das Motto des bewussten Rentners. Dabei ist bewusste seelische und emotionale Arbeit mindestens gleich wichtig wie körperliche, die im Alter ja oft durch Behinderungen eingeschränkt ist. Viele Rentner beteiligen sich deshalb sehr bewundernswert und intensiv – oft auch ehrenamtlich – an sozialen und beruflichen Aufgaben, für die sie fähig und erfahren sind. Sie leisten damit einen wertvollen und unverzichtbaren Beitrag zu unserer Gesellschaft.

Auch hier gilt: Helfer müssen immer stark bleiben. Sie haben die Pflicht, für die Stabilität ihres Rückgrates zu sorgen. Und das meine ich nicht nur körperlich mit der Belastbarkeit des Rückens, sondern auch im übertragenen Sinne seelisch, emotional und geistig. Wenn Helfer sich überlasten, werden sie zu hilflosen Helfern. Das nützt dann wirklich niemand. Ganz im Gegenteil: Der Helfer wird auch hilfsbedürftig. Er bringt sich selbst in die Lage, aus der er anderen Menschen heraushelfen will. Deshalb sind eingeplante und von allen Beteiligten akzeptierte Pausen wichtig, um die emotionale und körperliche Kraft immer wieder zu regenerieren.

Ein wichtiger Gesichtspunkt, der uns zum Helfer-Syndrom führt, sind früh eingepflanzte Schuldgefühle. Dadurch haben wir früh ein negatives Urteil anderer Menschen über uns als richtig angenommen und versuchen, durch vermehrte Leistung diese Schuld abzutragen. Je mehr wir dies versuchen, umso mehr merken wir, dass es nichtfunktioniert. Schuld – das negative Urteil anderer – wird zur Aggression, die wir gegen uns selbst richten. Das Einzige, was ich – und nur ich! – wirklich ändern kann – aber das ist oft schwer –, ist meine Einstellung den Dingen gegenüber.

Das zeigt diese Zen-Geschichte: Ein Schüler kommt zum Meister und fragt: „Seit wann bist du Meister?“ – Der Meister sagt: „Als ich noch ganz jung war, wollte ich die ganze Welt ändern. Irgendwann habe ich bemerkt, dass ich das nicht kann. Dann habe ich versucht, alles um mich herum zu verändern. Ich habe lange gebraucht, bis ich mir eingestehen musste, dass ich auch das nicht schaffe. Jetzt versuche ich, mich zu verändern. Seither nennen mich die Menschen Meister.“

Dabei muss klar sein, dass der Abschluss einer Berufsausbildung, z. B. ein Meisterbrief bei den Handwerkern oder ein Staatsexamen bei den Akademikern oder eine Approbation beim Arzt noch kein Zeichen ist, dass der Absolvent alles kann. Er hat nur die Erlaubnis, den Beruf von jetzt an selbstverantwortlich auszuüben. Ab hier beginnt die eigentliche Sammlung von Erfahrung, der wirkliche Lernprozess. Alles hat auch eine gute Seite, selbst wenn wir gerade auf die negative Seite der Medaille (des Lebens) schauen. Wir können die Medaille nicht haben, wenn wir nicht bereit sind, beide Seiten in der Hand zu tragen. Es liegt an uns, welche wir anschauen und was wir daraus machen. Es rettet uns, wenn wir in unserer Azubi-Zeit gelernt haben, dass auch in unserem Leben scheinbar unüberwindbare traumatische Erlebnisse Gutes nach sich gezogen haben. Viele wunderbare Entwicklungen wären nicht möglich gewesen, wenn wir nicht vorher etwas Schlimmes durchgemacht hätten.

Wir brauchen Geduld und Kraft, die Wendung zum Guten zu erleben. Und in diesem Sinn kann auch der Tod etwas Gutes sein.

„Es gibt Zeiten, in denen es gesund ist zu sterben.“

Dieser Satz stammt von Dame Ciceley Saunders, die als Krankenschwester und Ärztin für die Gründung und Entwicklung der englischen Hospizbewegung von der englischen Königin geadelt wurde und deren Wirken die Grundlage für die Hospizbewegung in der ganzen westlich orientierten Welt darstellt. Auch ich habe es mehrfach erlebt, dass ich am Bett eines gerade verstorbenen Patienten stand und mit den Angehörigen sagen konnte: „Jetzt ist es zwar sehr traurig, aber gut so!“

***

Ein gültiges Testament und eine möglichst individuell und sorgfältig ausgearbeitete Patientenverfügung helfen, dass wir leichter und bewusster leben können. Damit können wir viel bestimmen, und es lohnt sich, für die Abfassung dieser Dokumente Zeit und Mühe aufzuwenden, denn es sind die wesentlichen Dinge, die wir in Bezug auf Leben und Tod entscheiden können. Wie viel Zeit wenden wir auf, um das richtige Auto, das beste Haus, die schönste Reise auszuwählen? Dann lohnt es sich erst recht, für unser Leben und Sterben unsere Vorstellungen gründlich zu überlegen und zu formulieren, soweit sie in unserer Macht liegen. Auch hier können wir (in bestimmten Grenzen) etwas dafür tun, dass das Leben so kommt, wie wir es nehmen möchten.

Wir können mit einem guten Testament sogar Einfluss auf den Verlauf nach unserem Tod nehmen und damit einen Beitrag zu Frieden (oder Unfrieden!) in der Familie leisten. Mit der Patientenverfügung nehmen wir den Verwandten z.B. Therapieentscheidungen bei unserem Sterbeprozess ab, indem wir selbst entscheiden. Es ist für die Verwandten schwer genug, unserem Sterben zuzusehen und es zu ertragen. Aber sie wissen dann wenigstens, was sie uns Gutes tun können, indem sie unseren festgelegten Willen akzeptieren und umsetzen.

Der Rentner ist ein selbständiger Unternehmer, der das Recht hat, seine Arbeitszeit einzuteilen und seine Lebensweise selbst zu bestimmen. Nichts verpflichtet uns so sehr zur Verantwortung wie Freiheit. Also ist es wichtig, die Arbeitszeit bewusst und sinnvoll einzuteilen und zu nützen.

Die Arbeitszeit des Rentners ist definiert als die Zeit, die nötig ist, um die Aufgabe zu lösen. Das sind im Fall des Rentners 24 Stunden täglich. Dabei muss berücksichtigt werden, dass eine pausenstrukturierte Arbeitsweise nicht nur sinnvoll, sondern dringend erforderlich ist, um die Zeit des Rentnerdaseins optimal zu verlängern.

Ich schreibe bewusst optimal und nicht maximal! Mit optimal meine ich die unter den gegebenen Umständen beste Lebensdauer. Maximal bedeutet die längste erreichbare Lebenszeit – ohne Rücksicht auf die Lebensumstände oder Lebensqualität. Mir ist die Lebensqualität viel wichtiger als die Lebensdauer. Deshalb bin ich auch bereit, auf Lebensdauer zu verzichten, wenn die Lebensqualität mir nicht mehr lebenswert erscheint. Ich lege Wert darauf, dass ich entscheide, was meine Lebensqualität ist und wann ich mein Leben lebenswert empfinde oder nicht (und nicht meine Verwandten oder ein Arzt oder gar ein Pfarrer). Deshalb habe ich dies in meiner Patientenverfügung detailliert formuliert.

Die pausenstrukturierte Arbeitsweise ist wie gesagt nicht nur in der Azubi-Zeit des Rentners wichtig, sondern auch in der Rentnerzeit. Meinen Patienten erkläre ich den Begriff und Wert der pausenstrukturierten Arbeit am Beispiel des EKGs mit der Arbeit des Herzens. Die Phase der Entspannung (Diastole) ist beim gesunden Herz immer länger, beim trainierten Herz sogar manchmal doppelt so lang wie die Phase der Arbeit (Systole). Je besser das Herz trainiert ist, umso kräftiger und wirkungsvoller ist die Arbeitsphase.

Nur weil das Herz von Beginn der ersten Schläge im Mutterleib an streng eingehaltene Pausen macht, kann es ein ganzes Menschenleben lang zuverlässig arbeiten. Schon wenn das Herz des Erwachsenen pro Minute über 140 Schläge macht, werden die Pausen zur Erholung viel zu kurz. Das hält auch ein gesundes Herz nicht lange durch. Wenn diese Schlagzahl höher wird und länger durchgehalten werden soll und gar unrhythmisch wird, droht akute Lebensgefahr!

Ein anderes Beispiel für den Wert der pausenstrukturierten Arbeit habe ich bei der Bundeswehr gelernt: Wenn eine Gruppe Soldaten einen Tagesmarsch von vierzig Kilometer machen soll und alle Männer ohne Pause möglichst rasch über diesen Weg getrieben werden, ist zu erwarten, dass nur ein Teil der Männer das Ziel erreicht. Wenn man aber den Soldaten vorher schon sagt, dass sie alle zehn Kilometer zwanzig Minuten Pause machen müssen(!), ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass alle Männer das Ziel erreichen.

Die Ruhephasen sind auch ein notwendiger (die Not wendender) Bestandteil der Rentnerarbeit. Denn Erholung im Schlaf, bei bewusster Langsamkeit und anderen absichtlich eingelegten Ruhepausen sind ein integrierter Bestandteil der Arbeit. Sie sind unerlässlich und haben den besten Erholungswert und dauerhafte positive Auswirkung, wenn sie mit Freude angenommen und genossen werden.

Dann gibt es auch keine Langeweile! Denn nichts weilt zu lang, weil alle Zeit, die wir haben, ein wichtiger Teil unserer Arbeit als Rentner ist. Auch während des scheinbaren Nichtstuns arbeitet unser Körper. Wir dürfen nicht in den verbreiteten Fehler verfallen zu glauben, körperliches Nichtstun sei immer gleichbedeutend mit Faulheit. Denkpausen in körperlicher Ruhe und Zeiten, Emotionen bewusst aufzunehmen und zu verarbeiten, Meditationsphasen im weitesten Sinn sind unverzichtbar und sollten als Kreativzeit und Phasen zur Erholung des Körpers und des Geistes angesehen und geschätzt werden. Dann verarbeitet unser Gehirn die Eindrücke des Tages, auch z.B. in Träumen, und bildet neue Synapsen und Neurone und baut sie aus.

Die Schlafforschung zeigt, dass Menschen, die nicht mehr träumen können und schlecht schlafen, auch zum Beispiel mit einem Schlafapnoe-Syndrom, also ein pathologisches Schlafmuster haben, körperlich krank werden. Sie haben häufig einen Bluthochdruck und andere gestörte vegetative Funktionen. Ganz abgesehen von ihrer Unfähigkeit, die gesunden Verarbeitungsmechanismen des Schlafes für Alltagserlebnisse und besonders für traumatische Begebenheiten nützen zu können. – Nicht ohne Grund gibt es die Foltermethode Schlafentzug!

Die Hirnforschung hat bewiesen, dass zwei Aktivitäten die Entwicklung der Demenz aufschieben können: geistige Aktivität kombiniert mit Bewegung. Denn dadurch wird die Neubildungen von Synapsen und Neuronen angeregt, und bestehende Verbindungen werden in Funktionen gehalten. Nicht benutzte Synapsen und Funktionsbereiche bilden sich zurück wie ein Muskel in einem eingegipsten Bein. Kognition ist die Fähigkeit, die Umwelt wahrzunehmen und darauf zu reagieren, z.B. mit Aufmerksamkeit, Reaktionsgeschwindigkeit, Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit, Anpassung der Stimmung an die Situation.

Deshalb ist es sinnvoll, gerade im Rentnerberuf Training von Kognition und Bewegung regelmäßig in den Tagesablauf einzubauen. Eindrücke und Aktivitäten in der Natur und /oder bei kreativen Tätigkeiten (Malerei, Musik, handwerkliche Tätigkeiten etc.) können wertvolle Beiträge zur Fülle und Bewältigung der kognitiven Anforderung leisten. Wenn die Feinmotorik und Gleichgewichtsreaktionen gleichzeitig mit der Konzentration und Reaktionsgeschwindigkeit gefördert werden wie beim Spielen eines Instrumentes oder beim Fahrradfahren oder Tanzen, können wir unsere Hirnfunktion optimal fördern und dabei die Lebensqualität regelmäßig verbessern. Dass wir damit auch die körperliche und kardiale Kondition optimieren, ist ein sehr angenehmer und erstrebenswerter Begleiteffekt.

Die vielfältigen Möglichkeiten, Kognition zu trainieren, lassen uns eine große Wahl: Vom Spaziergang, Joggen, Fahrradfahren, Wandern, Tanzen bis zum Lesen, Schreiben, künstlerischen Arbeiten, Gedächtnis- und Konzentrationstraining bietet sich eine große Bandbreite an.

Manche Rentner haben während ihrer Ausbildung interessante Tätigkeiten gelernt, die damals ihr Beruf waren und jetzt in der Rentenzeit zur Erbauung und zum kognitiven Training genützt werden können, auch in vermindertem zeitlichem Umfang. Die Rentner helfen den anderen Menschen, die sich noch in der Vorbereitung zum Rentner befinden, z. B. durch Vertretungen im alten Azubi-Bereich, mit ihrer Erfahrung, und sich selbst mit Erfolgserlebnissen.

Neben all den beruflichen schweren Aufgaben darf der Rentner nicht vergessen, sein Berufsleben so freudig und heiter wie möglich zu führen. Wohl dem, der das in seiner Azubi-Zeit gelernt und mit einer positiven Gesinnung und Familie und Freunden geprägt hat.

Eine glückliche Partnerschaft und eine harmonische Einbindung in eine friedlich funktionierende familiäre Struktur bereichern nicht nur den Alltag, die allgemeine Lebensqualität und emotionale Stabilität und Belastbarkeit, sondern verlängern auch statistisch nachgewiesen die Lebensdauer.

Allein lebende Menschen leben kürzer als partnerschaftlich verbundene. Sogar ein Haustier, um das sich ein alter Mensch kümmern kann, wenn er allein lebt, erhöht erwiesenermaßen die Lebensqualität und die Lebensdauer des alten Menschen. Auch aus diesem Grund gibt es häufig in Altenheimen und Betreuten Wohnanlagen eine Hauskatze, die eine Verbindung zu den alten Menschen untereinander herstellt und Wärme, Fürsorge und Pflichtgefühl fördert.

***

Dankbarkeit über die eigene Gesundheit und die Möglichkeiten, den Beruf täglich aufs Neue ausfüllen zu dürfen und vielleicht sogar treue Begleiter in der Familie und in Freunden zu haben, sollte eine dauerhafte Grundhaltung sein.

Das Motto dazu könnte lauten: Die Vergangenheit ist Geschichte, die Zukunft ist Geheimnis, der Augenblick ist ein Geschenk. (Ina Deter)

Es gibt immer Menschen, denen es viel schlechter geht als uns selbst. Ein Blick auf die Intensivstation im nächsten Krankenhaus beweist das. Auch wenn wir selbst auf dieser Intensivstation liegen, ist immer noch eine schlechtere Situation denkbar. Dann brauchen wir die Hoffnung, von der ich vorhin schon sprach.

Auch das Einkommen des Rentners, das er sich in seiner Ausbildungszeit erarbeitet hat und von dem er in der Rente lebt, kann durch Beschäftigung mit Aktivitäten aus der Azubi-Zeit vergrößert werden, indem der Rentner seinen Beruf zumindest stunden- oder tagesweise weiter ausübt.

Wahrscheinlich ist es sehr schwierig, plötzlich mit Beginn des Rentnerberufs ein neues Hobby zu beginnen. Viel sinnvoller und realistischer erscheint es mir, während der Ausbildung zum Rentner solche Hobbys zu entwickeln, die wir dann zeitlich verstärkt in der Rentenzeit nützen können, um Kreativität, Lebensfreude und zwischenmenschliche Kontakte zu erweitern oder positiv zu erleben. Erfahrene Lebensberater sagen, ein Hobby müsse mindestens zwei Jahre lang in den Alltag des Azubi-Rentners integriert sein, damit es nachher in der Rentnerzeit auch sinnvoll, effektiv, dauerhaft und mit Freude ausgeübt wird.

Zwischenbemerkung: Bei hat die Liebe zur klassischen Musik schon als junger Schüler begonnen. Mein Lesedrang begann, als ich lesen lernte und wurde richtig angefacht, als ich als Neunjähriger wegen einer Knochenvereiterung neun Monate zu Hause mit Gipsbein verbringen musste und meine Mutter mir alle zwei oder drei Tage zwei neue Bücher aus der Stadtbibliothek brachte. Meinen Hang zur Literatur und meine Liebe zum kreativen Umgang mit der Sprache habe ich meinem Lateinlehrer zu verdanken. Er war einer der wenigen Lehrer, von denen ich wirklich etwas Bleibendes fürs Leben mitbekam. Als Student fing ich an, Gedichte und lange Briefe zu schreiben und Prosatexte für meine Studentenverbindung, in der Geist und Musik wichtiger waren als Saufen. Mein wichtigstes Werkzeug war eine kleine Schreibmaschine, die ich benutzte, bis ich den ersten PC kaufte..

Wenn man früh genug mit einem oder mehreren Hobbys beginnt und diese während der Berufszeit ausübt, wenn auch in vermindertem Maß, gibt es dann gar keine Zeit, in denen der gut ausgebildete Rentner in ein so oft gefürchtetes schwarzes Loch fallen kann. Denn die 24 Stunden des Tages sind mit der Arbeit an dem in der Einleitung definierten Ziel ausgefüllt. Der gut ausgebildete Rentner ist ein bewusst lebender und arbeitender Mensch. Er hat gute Chancen, sein Arbeitsziel – das ist auch sein Lebensziel! – erfolgreich zu erreichen.

Bei Krankheit werden wir möglicherweise durch körperliche Beeinträchtigung an der gewohnten Bewegung gehindert. Wir müssen/können uns bewusst machen, dass (leider?) Wachstum und seelische Entwicklung durch Leiden erheblich befördert werden.

„Krankheiten sind die Reisen der armen Leute“, sagte Jean
Améry. Hier reifen wir beschleunigt – oft auch gegen unseren momentanen Willen, weil es so schwierig, ja manchmal unerträglich ist. Keiner kommt aus einer Krankheit heraus wie er hineinging. Die Sichtweise auf das Leben mit all seinen Facetten verändert sich mehr oder weniger stark.

Auch Prioritäten verändern sich während der Krankheit. Palliativmedizinische Forschungsprojekte zeigen, dass bei Sterbenden die Qualität der Beziehungen zu Familienmitgliedern oder anderen wichtigen Personen in den Vordergrund rücken und vom Sterbenden oft als wichtiger empfunden werden als das eigene Befinden. Eine Begleitung durch geschulte Hospizmitarbeiter und / oder einfühlsame Freunde und Familienmitglieder ist in dieser Phase der Rentnerarbeit sehr hilfreich.

Da ist das Licht am Ende des Tunnels, auf das wir hoffen dürfen – das große ewige Licht, von dem übereinstimmend viele Menschen in allen Kulturen sprechen, die über Nahtodeserlebnisse berichten.

Das Ziel des Lebens kommt immer mehr in den Brennpunkt der Arbeit des Rentners. Wer an eine Reinkarnation oder ein ewiges Leben unserer Seele glaubt, hat es leichter. Bei der Reinkarnation erhalten wir in einem nächsten Leben eine neue Chance, die Ausbildung zum Rentner und seine Rentenzeit effektiver zu gestalten. Beim ewigen Leben brauchen wir das alles nicht, weil wir bereits am letzten großen Ziel angekommen sind. Und Menschen, die sich sehr gequält fühlen mit ihrem Leben, sehen im Tod eine Erlösung, wenn sie davon ausgehen, dass dann alles Leid ein Ende hat und danach nichts mehr kommt.

***

Ein weiterer Gesichtspunkt, der das Rad des Lebens erklärt und zeigt, wie wir uns bewusst auf die Inhalte der Rentnerarbeit vorbereiten können, liegt in der Überlegung, dass wir am Ende des Lebens wieder mehr oder weniger schnell in einen kindlichen Zustand wechseln. Diesen Gedanken hat mein Vater, der Kinderarzt war, schon geäußert, als ich noch Schüler war. Er sagte, er fühle sich „ab siebzig aufwärts“ wieder als Arzt zuständig.

Tatsächlich habe auch ich diese Sichtweise in meiner Arbeit als Kinderarzt und Allgemeinarzt und besonders als Palliativarzt bestätigt gefunden. Dann können Arzt und Familienmitglieder oft mit Verhaltensweisen sehr gut kommunizieren, die beim Kind erfolgreich sind. Ein plakativer Vergleich soll das an einigen Beispielen zeigen.

Das Neugeborenen ist nach der Geburt völlig pflegebedürftig und kann außer den vegetativen Funktionen (Essen, Trinken, Stuhlgang, Miktion, Atmung, Schmerzäußerung) noch nichts aktiv tun.

Der alte Mensch ist am Ende auch völlig pflegebedürftig und kann außer den vegetativen Funktionen nichts mehr tun.

Der Säugling lernt zunehmend Kontrolle über seine vegetativen Funktionen wie und freut sich darüber, weil es ihm als Lernleistung positiv von der Umwelt reflektiert wird.

Der alte Mensch verliert langsam die Kontrolle über diese Funktionen, leidet darunter, wenn er das wahrnimmt, und wird leider zu oft dafür verlacht.

Der Säugling hat noch Windeln.

Der alte Mensch braucht sie wieder. – Ein Freund, früherer Direktor der Paul Hartmann AG, die Fixies-Windeln herstellt, erzählte mir, die Zahl der verkauften Windeln für Erwachsene sei viel höher als die Zahl der Kinderwindeln!

Der Säugling schläft beruhigt im Arm der Eltern ein.

Der alte Mensch ist (oft) beruhigt, wenn seine Kinder da sind und ihn umsorgen.

Während der Zeit des Neugeborenen beschäftigen sich die Eltern am intensivsten mit dem Kind.

Während der Zeit des alten Menschen beschäftigen sich viele Kinder am intensivsten mit den Eltern.

Unruhige Säuglinge können mit der Ruhe im Arm der Mutter oder des Vaters beruhigt werden. Medikamente sind dann oft nicht nötig.

Alte unruhige Menschen können sehr gut von ihren Kindern oder Pflegepersonen beruhigt werden. Auch damit kann die Menge der verabreichten Sedativa erheblich reduziert werden. Ein Merkmal für die gute persönliche Fürsorge von alten Menschen in Pflegeheimen kann die geringe Verordnungsmenge von Beruhigungsmitteln sein! Das erfordert aber eine hohe persönliche Zuwendung!

Beim Säugling wachsen und gedeihen die kognitiven Funktionen (Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit, Reaktionsgeschwindigkeit).

Beim alten Menschen lassen sie immer mehr nach.

Der Säugling lernt, sich anfänglich mit Lauten, dann als Kleinkind mit ganzen Wörtern, später mit vollständigen Sätzen zu verständigen.

Beim alten Menschen geht es genau in der umgekehrten Reihenfolge zum Ende. Besonders dramatisch erkennen wir das an dem degenerierenden Verlauf einer Alzheimer-Demenz, bei der die Sprache und Gedankenwelt des Patienten oft strukturell und in Bezug auf den Wortschatz geradezu zerfällt.

Der Säugling lernt den Gebrauch von Gegenständen als Hilfsmittel.

Das verlernt der alte Mensch wieder.

Der Säugling lernt zu gehen mit Hilfe der Eltern und mit Hilfsmitteln.

Der alte Mensch geht zuerst mit Hilfsmitteln, dann an der Hand bzw. mithilfe der Kinder seine letzten Schritte. Schließlich ist er dauerhaft bettlägerig.

Das Neugeborenen braucht langsam ansteigende Flüssigkeitsmengen, weil der Körper sich auf zunehmende Leistung und Wachstum einstellen muss.

Der sterbende Mensch braucht immer weniger Nahrung und Flüssigkeit, weil der Körper sich auf abnehmende Leistung und Stoffwechsel-Stillstand einstellt. Deshalb sind auch eine (gut gemeinte) Überwässerung und Zwangsernährung eines sterbenden Menschen gefährlich und widernatürlich! Mundpflege und Ernährung nach Wunsch sind besser, weil sie der Situation angemessen sind – auch wenn der Patient stirbt.

Der Säugling hat die Eltern als natürliche und gesetzliche Betreuer.

Der alte Mensch hat (oft) die Kinder oder enge Verwandte als gesetzliche Betreuer.

Das Kind freut sich anfänglich über wenige Pfennige Taschengeld, später über steigende Summen und schließlich über das selbst verdiente Geld.

Der alte Mensch freut sich, wenn er mit der erarbeiteten Rente leben kann. Dann braucht er immer weniger Geld, weil er auf Grund der nachlassenden Fähigkeiten weniger verbrauchen kann. Er verursacht eher mehr Kosten durch die aufwändige Pflege und teure Therapie des Kranken, die entweder von seiner Rente oder von den Kindern bezahlt werden müssen, so wie er einst als Elternteil für seine heranwachsenden Kinder bezahlt hat.

In der Rentner-Azubi-Zeit hat der Mensch mehr Geld und weniger Zeit, es auszugeben. In der Rentnerzeit hat er weniger Geld und mehr Zeit, es auszugeben.

Die Kinder kommen in die Kinderkrippe und bekommen dort die Grippe und/oder andere Virusinfekte und werden dadurch immunstark und wieder gesund. Sie werden dort von Erwachsenen betreut.

Die alten Menschen kommen ins Betreute Wohnen oder Pflegeheim und sterben dort an der Grippe oder einer anderen Infektion, weil sie immunschwach sind. Sie werden von jüngeren Menschen betreut.

Das bedeutet, dass wir am Ende unseres Lebens wieder wie Kinder werden.

Gläubigen hilft dieser Satz: „Wer sich das Reich Gottes nicht wie ein Kind schenken lässt, wird nie hineinkommen.“ (Markus 10, 15)

Es ist bitter und verzweifelnd, das Nachlassen der eigenen Kräfte und Fähigkeiten bewusst zu erleben. Da es aber oft den naturgegebenen Tatsachen entspricht und nur vergleichsweise wenige Menschen aus voller Gesundheit heraus zum Beispiel durch einen Unfall plötzlich sterben, ist es wichtig, dass wir uns seelisch auf diesen degenerativen Verlauf des Lebens vorbereiten.

Deshalb sind die Aufgaben des Rentnerberufs auch die schwersten des Lebens. Wir brauchen eine lange Vorbereitungszeit – ein ganzes Leben! –, um all diese Zusammenhänge zu erleben, zu verstehen, daran zu reifen und sie zu akzeptieren. Hier geht es im wörtlichen Sinn um Leben und Tod.

Wenn wir das mit dem Verstand erfasst haben, kommt die schwerste Aufgabe: Wir müssen diesen Weg emotional annehmen und JA zu diesem Leben sagen – in einem Moment, in dem wir es loslassen. Wenn wir das erreichen, haben wir unser Leben und unsere Aufgabe als Rentner erfüllt.

Ich kenne kein schlichteres und gleichzeitig ausdrucksstärkeres Bild, um unsere notwendige (die Not wendende) Einstellung dazu deutlich zu machen, als dieses:

Dieser Essay ist im Almanach deutschsprachiger Schriftstellerärzte 2013 und in meinem Buch Mein Leben ist bunt erschienen.

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , , , , , , | Kommentare deaktiviert für Das Berufsbild des Rentners

Spiegelsonett zu meinem 65. Geburtstag

Das Prinzip des Spiegelsonetts: Die Endreime werden an der Spiegelachse gespiegelt, und das zweite Sonett setzt sich mit dem Gegensatz des ersten Sonetts auseinander. Im folgenden Gedicht beschäftigt sich das erste Sonett mit der Zeit vor meiner Rente, das zweite mit der Zeit danach.

 

Der Blick zurück zeigt Schatten und viel Licht
auf meinen Pflichten, Praxis-, Klinikjahren,
die von Bürokraten oft belästigt waren;
denn sie behindern menschgerechte Sicht.

Der Mensch verliert durch Paragrafen sein Gesicht.
Patienten werden Nummern in den Scharen,
Massendaten und Verwaltungsformularen.
Einzig bleibt das Wort als ärztliches Gewicht.

Die Vielfalt von Beruf, Familie und Privatint´ressen
war in einem Tag nicht ruhig zu ermessen,
um darauf in Muße immer fehlerfrei zu bauen.

Ich habe meine Makel, Schatten nicht vergessen,
will sie darum mehr verstehen, besser messen.
Dann kann ich Verstand´nes konstruktiv verdauen.

————————————————————-

Die Rentenzeit schenkt Muße mir, um anzuschauen,
was mir nützt, mich freut und reift und wessen
Verse, Bücher, Noten stetig mir und unvergessen

neue Schätze, Freunde, Glücksmomente anvertrauen.
Dann werd´ ich mit Dank mein Leben daran messen,
das Schöne spielen, schreiben und Gesundes essen.

Aktive Ruhe schenkt dem Leben neues Angesicht,
ermöglicht, dass die reifenden Gedanken garen.
Wege, die mal schattenvoll und holprig waren,
können wandelnd spenden goldenes Gedicht.

Ich gehe gerne meinen Weg, erhoffe klare Sicht
und wünsch´mir, nach gesunden Jahren
mit Birgit, meinen Kindern, Freunden, wahren
Zeilen münde dieses Leben in das große Licht.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Dieses Gedicht ist im Almanach deutschsprachiger Schriftstellerärzte 2013 erschienen.

Veröffentlicht unter Gedichte | Verschlagwortet mit , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Dinu Lipatti

Als Sechzehnjähriger durfte ich im Rahmen eines Schüleraustauschs ein halbes Jahr in Liverpool in die Quarry Bank High School gehen. Dort hatte John Lennon wenige Jahre zuvor seine Schulzeit beendet und war mit den Beatles schon ein weltberühmter Musiker. In der Familie, in der ich mich von der ersten Stunde an wohl gefühlt habe, hatte ich einen „Bruder“ Jonathan, der ein halbes Jahr älter war als ich. Wir verstanden uns prächtig, nicht nur, weil er wie ich ein großer Liebhaber klassischer Musik war. Viele Stunden unserer Freizeit verbrachten wir vor dem Plattenspieler, im Konzertsaal oder am Klavier. Jonathan war ein sehr guter Pianist, und ich bewunderte ihn deshalb.

Neben einem unvergesslichen Klavierabend von Artur Rubinstein habe ich mit Jonathan eine andere lebensprägende Stunde erlebt, von der ich berichten will.

Weiterlesen

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , , , | Schreib einen Kommentar

Ein literarischer Brief zu Stefan Zweig

Liebe Frau S.,

Sie haben mir das Buch von Alberto Dines „Tod im Paradies“ ausgeliehen, seine Biografie über Stefan Zweig, die mich wie kaum ein anderes Buch in den letzten Jahren beeindruckt hat. Für dieses Geschenk des Lesen-Dürfens möchte ich mich herzlich bedanken.

Wenn ich mit jeder brillant formulierten Zeile neu spüre, mit welch einem enormen Fleiß und perfektionistischer Hingabe der brasilianische Autor sich des wechselvollen Lebens seines Protagonisten angenommen hat, ergreift mich großer Respekt vor der schriftstellerischen und wissenschaftlichen Leistung und dem enormen Einfühlungsvermögen von Alberto Dines in die Seelenstruktur und Psychodynamik Zweigs.

Weiterlesen

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , , | Schreib einen Kommentar

Der Ratschlag

 

Wenn der Ratschlag dich im Zentrum trifft,
wirkt der Rat als Schlag in dem Genick.
Drum erspar ich dir das Seelengift
und überlass dich dem gesunden Lebensblick.

Wenn das Leben stachelhart und dornenvoll
den Überlebenswillen, alle guten Kräfte stählt,
werden nur die Besten aus dem Sorgen-Moll
vom Schicksal in das Licht von Dur gewählt.

Das Leben selbst schenkt uns den besten Rat
als lebenslanger Wunder-voller Dauertherapeut.
Und Leiden ist als Wachstumsfaktor stets bereit,
den der Unbewusste ständig ängstlich scheut.

Bewusst beleuchtet auch das zarte Wortespiel
des harten Lebensweges tief erfühlten Sinn.
Er hilft uns zu dem letzten großen Ziel,
zum Licht, zu dem erfüllten Leben hin.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Veröffentlicht unter Gedichte | Verschlagwortet mit , , , | Schreib einen Kommentar

Hoffnungsschimmer

„Ein Mann will sich umbringen“, sagte der Mann von der Zentrale des Roten Kreuzes über Funk, als ich ihn den Notarztwagen stieg. Der Fahrer brachte mich in die kleine Ortschaft, von wo der Patient selbst per Telefon um Hilfe gebeten hatte.

Als die beiden Rettungssanitäter und ich in dem Mehrfamilienhaus in der dritten Etage klingelten, hörten wir nach einer Weile schlurfende Schritte in der Wohnung. Die Tür wurde langsam geöffnet, zuerst einen Spalt weit. Ein unrasierter und zerzauster Männerkopf kam zum Vorschein. Dann ging die Tür langsam und ganz auf. Da stand ein gebeugter blasser Mann, schätzungsweise Mitte vierzig. Die Gesichtszüge gruben tiefe Rinnen unter den Bartstoppeln, Runzeln zerfurchten seine Stirn, die trüben Augen waren nur halb geöffnet und ließen einen matten Blick zwischen den Lidern herausgleiten. Die schlaff hängenden Schultern und der pyknische Oberkörper waren nur mit einem schmuddelig weißen Unterhemd bedeckt. An den Seiten der schwarze Hose mit den zerknitterten Bügelfalten und dem fleckigen Stoff baumelten alte Hosenträger herab. Nicht einmal von den Hosenträgern hat der Mann noch Halt, dachte ich. Die nackten Füße steckten in ausgetretenden Latschen, die früher mal gepflegte Lederpantoffeln gewesen sind.

Der Mann ging mit gesenktem Kopf einen kleinen Schritt zur Seite, damit wir eintreten konnten. Ich stellte mich und meine beiden Begleiter vor. Der Patient sagte nichts. Wir gingen ins Wohnzimmer. Mit einem kurzen Rundumblick erkannte ich, dass dies das einzige Zimmer der Wohnung war. Ein zerwühltes Bett mit schmutziger Bettwäsche stand an der einen Wand. Ein alter Holzschrank diente als Garderobe: Vor der Schranktür hing ein schwarzes Anzugjackett, und über diesem baumelte ein zur Schlinge gebundenes Seil, nur der Kopf darin fehlte noch. Mit dem nächsten Blick entdeckte ich mehrere große Messer und einen Dolch auf der Plastiktischdecke in der Zimmermitte liegen. Na, da ist ja alles vorbereitet, schoss mir durch den Kopf.

Ich bot dem Patient einen Stuhl am Tisch an und schob mit einer sanften, aber klaren Bewegung die Messer in Richtung des Sanitäters, der sie an den Tischrand zu sich legte. Herr Schneider, wie ich den Schwerkranken nennen will, saß vornüber gebeugt mit unter der Tischplatte gefalteten Händen.

Ich sagte ganz ruhig zu meinen Begleitern: „Ich schlage vor, einer von Ihnen geht ins Auto und sagt auf der Wache Bescheid, wo wir sind, der andere bleibt hier. lch will versuchen, mit Herrn Schneider ein Gespräch zu führen.“ Ein kurzer Blick zwischen den beiden klärte die Lage, ein Sanitäter setzte sich zu uns, sein Kollege verschwand.

Ich wartete eine Weile, ob Herr Schneider anfangen würde, von allein zu sprechen. Aber es kam kein Wort, keine Bewegung. Er schien völlig isoliert und eingemauert in seiner Innenwelt. Er nahm keinen Kontakt mit uns auf. Ich war überrascht, wie er mit einer solch schweren Blockade überhaupt hatte telefonieren können.

Ich begann vorsichtig: „Herr Schneider, Sie machen mir einen sehr traurigen Eindruck. Stimmt das?“ – Es schien mir wie eine Bedenkzeit, die er brauchte, damit die Frage wie eine tropfende Botschaft gegen seine Denkblockade in ihn hineinfließen und sich langsam eine Antwort in ihm formen konnte. Dann nickte er kaum erkennbar mit dem Kopf, ohne aufzuschauen.

„Seit wann ist das denn so?“, fragte ich weiter. – Wieder dauerte es ein ganze Weile, bis leise und monoton die Antwort kam: „Weiß nicht genau …“ Er war in sich und auf den Tisch fixiert, durch den er mit müdem Blick hindurch ins Unendliche schaute.

„Ist es so schlimm, dass Sie Ihr Leben selbst beenden wollen?“, sagte ich mit einem kleinen Fingerzeig auf die Messer und den Strick am Schrank. – Da blickte er langsam auf und sah mich an. Kurz leuchtete Leben auf, dann verlosch es resignierend: „Nicht mal das schaff ich!“

Nach einer Gedankenpause erwiderte ich: „Aber ich denke, Sie haben um Hilfe gerufen, weil Sie eigentlich leben wollen. Das ist doch was Gutes.“-

Er bewegte sich nicht und stierte in die Tischdecke. „Aber so kann ich nicht leben!“, murmelte er vor sich hin aus seinem Seelenkerker.

„Was ist denn so schlimm?“, wollte ich wissen. „Alles,“ meinte er nach einer ganzen Weile leise und ergänzte stoßweise: „Alles dunkel – Kein Job – Kein Geld – Bin allein.“

„Ich möchte Sie in Sicherheit bringen vor Ihren Absichten, sich umzubringen. Sind Sie einverstanden?“

Er blickte mich aus dem Augenwinkel an: „Sie können mir nicht helfen. Niemand kann das.“

Er stak tief in seinem dumpfen Seelengrau. Ich ließ nicht locker: „Das wissen wir erst, wenn wir es probiert haben.“ Er schüttelte ganz langsam den Kopf, ohne etwas zu sagen.

Ich setzte nach: „Ich möchte Sie gern mitnehmen in eine Klinik, wo Menschen ohne Hoffnung wie Sie gut behandelt werden und eine Chance haben, wieder ins Leben zurück zu kommen.“

„In die Klappse?“, fragte er in einem so unbeteiligten Ton, als sei er von der Sache gar nicht betroffen. Ich antwortete: „Ich bringe Sie in das Psychiatrische Krankenhaus, wo man Ihnen helfen kann, wieder auf andere Gedanken zu kommen. Gehen Sie mit?“

„Die können mir auch nicht helfen!“, beharrte er mit brüchiger Stimme und gesenktem Blick.

„Aber bitte lassen Sie es uns versuchen. Nur dann haben Sie eine Chance. Ich kann Sie nicht einfach hier sitzen lassen und wieder wegfahren. Sie haben uns doch gerufen, damit wir etwas unternehmen, was Ihnen nützt.“

„Meinen Sie wirklich, die können etwas für mich tun?“, fragte er mit zaghafter Stimme, in der schon ein bisschen Hoffnung mitschwang.

„Ich möchte es auf jeden Fall versuchen. Ich bin mir sicher, dass Sie da gut versorgt sind. Gehen Sie mit?“ Er streckte langsam seinen Oberkörper und hob die Schultern. Dann schaute er mich an: „Es bring ja doch nichts. Aber wenn Sie meinen …“  Jetzt saß er aufrecht und schaute mich an.

„Möchten Sie noch etwas anderes auf die Fahrt anziehen?“, fragte ich erleichtert. Ich nahm den Strick von der Jacke und reichte ihn dem Sanitäter, der ihn kommentarlos unter seiner Jacke verschwinden ließ. Herr Schneider zog langsam ein hellblaues Hemd, sein schwarzes Jackett und andere Schuhe an.

„Darf er noch ein paar Sachen in die Tasche dort packen?“, fragte ich Herrn Schneider mit einem Blick auf den Sanitäter. Herr Schneider nickte, und der Sanitäter füllte rasch ein paar Hemden, Unterwäsche und einen Badebeutel mit den wichtigsten Utensilien in die Sporttasche, die neben dem Bett stand. Dann gingen wir durchs Treppenhaus die drei Stockwerke hinunter zum Auto. Von unterwegs telefonierte ich mit der Zentrale und organisierte, dass wir Herrn Schneider im Krankenhaus, aus dem ich kam, einer anderen DRK-Besatzung übergeben konnten, die ihn ins 30 km entfernte Landeskrankhaus brachte. Unser Notarztwagen musste einsatzbereit bleiben.

Ich war unglaublich erleichtert, dass ich Herrn Schneider hatte dazu bewegen können, freiwillig mit uns zu gehen. Als ich später am Tag beim Dienstarzt der Klinik nachfragte, erhielt ich die Bestätigung, er sei gut angekommen.

Drei Wochen später sprach mich einer der Sanitäter auf dem Krankenhausflur an: „Erinnern Sie sich noch an den Mann, den wir miteinander wegen seiner Suizidabsichten eingewiesen haben?“

Ich erwiderte: „Ja natürlich, wissen Sie, wie es ihm geht?“

„Ja,“ sagte er langsam, „er ist heute morgen entlassen worden. Wir haben ihn aus der Psychiatrie nach Hause gebracht. Eine halbe Stunde später sind wir von den Nachbarn gerufen worden. Er ist vom Balkon gesprungen. Jetzt ist er tot.“

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte habe ich im Almanach deutschsprachiger Schriftstellerärzte 2012 unter dem Titel Hoffnungsschimmer veröffentlicht

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , , | Schreib einen Kommentar

Ähnlich und einzigartig

Wer die Natur betrachtet, wird erfüllt mit Staunen,
denn sie schafft mit bunter Vielfalt große Pracht
und schöpft aus reicher Fantasie und lacht
aus Tier und Pflanze mit geglückten Launen.

Weiterlesen

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , , , | Schreib einen Kommentar

Für einen verliebten Freund

Wenn die bunten Schmetterlinge
ausgelassen Purzelbäume tanzen
und aus Strahle-Augen Glitzerringe
leuchten, die den zarten ganzen
Tag mit Seelenfunkeln übergießen,
hat Klein Amor seinen Pfeil geschnellt.
Er lässt dein Herz rasch überfließen
und verzaubert zärtlich deine Welt.
Wenn das Leuchten dir entgegen scheint,
kleine Fältchen um die Augen lächeln
und ein Mund es gut mit deinem meint,
wird Klein Amor Sonnenstrahlen fächeln,
die ein fragend banges Herz erwärmen,
auch des Lebens Segen freudig spenden
und mit leisem Fühlen wohlig schwärmen:
Der Liebe Ruf an dich wird niemals enden …

Copyright Dr. Dietrich Weller

 

Veröffentlicht unter Gedichte | Verschlagwortet mit , , , | Schreib einen Kommentar

Genuss mit Muse und Muße – aus schwäbischer Sicht

Lesung „Genuss und Muße / Muse“
zum BDSÄ-Kongress Juni 2011 in Leonberg 

Vorweg eine Bemerkung: Das so genannte scharfe ß nennt man im Schwäbischen wegen seiner Schreibform Dreierles-S. Aus demselben Grund heißt in anderen Bundesländern Rucksack-S.

Und jetzt will ich etwas erklären zu dem Thema

 

Der Genuss und die Muße mit der Muse –
und das Ganze aus schwäbischer Sicht

Diese Überschrift ist beim ersten Lesen für einen Schwaben ein Widerspruch in sich selbst. Denn die wichtigste und einzige legitime Aufgabe des Schwaben besteht im Schaffa (Arbeiten) und nicht im Bassledô. Das kommt aus dem Französischen passe le temps – die Zeit verbringen und meint im Schwäbischen den absolut verbotenen Müßiggang.

Und wenn der Schwabe schon da sitzt und genüsslich sein Viertele schlotzt wie kleine Kinder ihr Eis und mit sichtlichem Behagen seine Pfeif oder Zigarr raucht oder an ordentlicha Roschtbrate verzehrt, hat er immer eine gute Begründung parat, warum er jetzt gerade schafft.

Zum Beispiel muss er jetzt Pause machen, denn Essa ond Trenka hält Leib ond d´Seel z´samma, oder er muss ausprobiera, ob die Wirtschaft emmer noch guat isch. Und das ist natürlich in erster Linie a recht´s Gschäft und erfordert größte Anstrengung und Konzen-tration. Dafür hat man ihm Respekt und Anerkennung zu zollen, weil er sogar beim Essa ond Trenka schafft, wo andre Leut den Herrgott an guata Ma sei lasset..

Ich saß einmal mit einem befreundeten Schwaben in einem sehr guten Lokal in Stuttgart bei einer vorzüglichen Flasche Rotwein. Als die Flasche leer war, sagte der Freund zum Ober: „I wois net, ob uns der Wai wirklich g´schmeckt hat. Deshalb brauchat mr´nômal a Flasch.“ (Ich weiß nicht, ob uns der Wein wirklich geschmeckt hat. Dehalb brauchen wir noch eine Flasche.)

Klar ist, dass der Schwabe immer ein mehr oder weniger schlechtes Gewissen hat, wenn er net schafft. Denn was denkat da d´Leut? Er will ja net faul sein, kein Dagdiab, der dem Herrgott den Tag stielt.

So lässt sich auch der überlieferte Stoßseufzer eines berühmten schwäbischen Fabrikan-ten erklären, der während des Urlaubs im Liegestuhl eines luxuriösen australischen Hotel-gartens stöhnt: „Jetzt muss i hier sitza, ond dahoim sodd´mr d`Beem spritza!“ (Jetzt muss ich hier sitzen, und daheim sollte man die Bäume spritzen!“

Auch wenn eines der schwäbischen Lieblingswörter gmiatlich (gemütlich) heißt, ist es ein großes Lob, wenn er zu seinem Freund sagt: „Du siesch aber abg´schafft aus. (Du siehst aber abgearbeitet aus!)“

Dass der Schwôb fast ausschließlich helenga (heimlich) genießt, wird bei der folgenden Geschichte deutlich.

Mein Vater fragte bei einem Hausbesuch den Hausherrn, den besten Metzger in Leon-berg: „Was machet Se em Urlaub?“„Ach,“ meinte der Metzger, „mir ganget a bissle en Schwarzwald, nix B´sonders?“ – Mein Vater blinzelte ihn an: „Na, Traube Tonbach?“ Das war schon damals das beste und teuerste Ferienhotel im ganzen Schwarzwald. Der Metzger nickte und führte gleichzeitig seinen Zeigefinger an die Lippen: „Pst, des verträgt ´s Schnaufa net! (Das darf man nicht einmal atmen – und schon gar nicht sagen!“)

Das Genießen beim Schaffen hört man aus dem zweiten Wahlspruch des Schwaben bei der Arbeit: „Nô net hudla! Emmer mit dr Ruhe!“ (Nur nicht schlampen! Immer mit der Ruhe!“). Dabei muss klar sein, dass der Schwabe sorgfältig und bedacht zu Werke geht und nichts mehr hasst als Hektik und Schlamperei.

Er ist ein stiller Genießer, der spätestens nach dem zweiten Viertele ins Philosophieren gerät, auch wenn er vielleicht gar nichts spricht, denn er will kein Schwätzer sein. Und die Frauen wollen keine Schwatzbasen sein, auch wenn sie (ganz selten) über die anderen schwätzen.

Das Stammtischgespräch kann also typischerweise so ablaufen: Stille bis zum zweiten Viertele, dann „So so, bisch aô da?“ – Lange Pause – „Ha ja, ao amôl wieder!“ –Pause – „S´isch heiß heut!“ – Pause – „Ja, aber da kannsch nix macha!“ – Pause – „Na drenka m´r no oins! (Dann trinken wir noch eins!“) Und zu Hause erzählt er dann saim Weib (seiner Ehefrau),dass es wieder sehr gmiatlich war.

Und wenn der Schwabe gefragt wird, wie es denn geschmeckt hat, wenn es besonders leckeres Essen gibt, macht er dem verhassten preußischen Militärgrundsatz alle Ehre, indem er deren Grundsatz „Keine Kritik ist Lob!“ abwandelt in den Satz „Mr kann´s essa!“ – Aber dann solltet ihr mal das verschmitzt lächelnde, genießerische Gesicht dazu sehen und den geschleckt sauberen Teller, den der Schwabe hinterlässt! Denn mr derf nix verkomma lassa, ond des schöne Sößle erst recht net!“

Ein richtiger Schwabe hat natürlich auch seine Muse, aber er nennt sie nicht so. Je nach Verwandschafts- oder Freundschafts- oder Erlaubtheitsgrad gibt es viele Namen. Sehr liebe- und respektvoll nennt er sie  offiziell mai Weib oder mai Regierong.

Am beliebtesten und häufigsten sind natürlich die steigernden Verkleinerungsformen Man beachte diese schwäbische Eigenschaft: Die Bedeutung wird hervorgehoben und gesteigert durch das Anhängen der zärtlichen und verkleinernden Silbe –le.

Ganz zärtlich ist mai Amenôschlupferle (bestmögliche, aber schlechte Übersetzung: An-mich-hin-kuschelchen“). Er möchte gern, dass sie an ihn nô schlupft, hin schlüpft, damit er in sie hinein schlüpfen kann. Wenn er sehr verliebt ist, hat sie alles in der –le-Form: a glains Näsle, a süßes Göschle, blaue Äugla, Birnen- oder Apfelbrüschtla ond a gnaggich´s Ärschle. Und er gibt ihr dann keinen Kuss, sondern viele Küssla.

Auch das Bild der Schnecke findet im zärtlichen Miteinander seine übertragene Bedeu-tung: Sie ist sein Schneckle, mit der er sich in seinem (Schnecken-) Häusle z´rickzia und z´samma schneckla (zurückziehen und zusammen schneckeln) will.

Ein Schätzle – oder im Honoratioren-Deutsch ein Schätzchen – ist etwas besonders Kostbares.

Wenn das Schätzle auch gute Spätzla, die köstlichste aller schwäbischen Teigvaritationen, von Hand schaben kann, wird ein richtiger Schwabe ernsthaft in Erwägung ziehen, mit dieser Frau in ein eigenes Häusle zu ziehen. Nach dieser gastronomischen Köstlichkeit nennt er dann auch sein allerliebste Muse Spätzle.

Wenn er zwei Spätzla in zwei verschiedenen Häusern genießt, stellt ihn das vor größere Herausforderungen in logistischer und schauspielerischer Hinsicht. Wenn er aber bloß zwei Spätzla auf em Deller hôt, befindet er sich in einer schlechten Wirtschaft.

Im Idealfall bekommen die jungen Leut´ ein Häußle zur Hochzeit geschenkt, wenn der Schwiegervater reichlich Sach´ hat.

Hier gilt bei der Auswahl der Zukünftigen die pragmatische schwäbische Devise: A Reiche und Scheene frisst ao net meh als a Arme ond Wiaschte. (Eine Reiche und Schöne isst auch nicht mehr als eine Arme und Hässliche.)

Wenn es dann zuhause zu Spannungen kommt und er versucht, sich gegen seine Regierung aufzulehnen, kann es sein, dass dieser emanzipationsbedürftige Ehemann von saim Weib (seiner Ehefrau) als Hausteufel ond Gassenengel bezeichnet wird, denn auf der Gass, also auf der Straße und in der Öffentlichkeit benimmt er sich vorbildlich, leutselig, hilfsbereit und gut erzogen.

Im Schwäbischen gibt es eine sehr differenzierte Benutzung des Wortes Mensch:

Der Mensch ist das bekannte deutsche Substantiv und unterscheidet ihn vom Tier.

Das Mensch ist eine Frau, wobei noch nicht ganz klar ist, ob das positiv oder negativ ist. Da muss man genau auf den Tonfall und die Mimik des Sprechenden achten.

Besonders verächtlich ist es gemeint, wenn Männer über die Menscher sprechen.

Wenn er aber von dem netta Menschle oder dem saubera Menschle spricht, ist es schon fast ein Indiz für Schmetterlinge in seinem Bauch beim Anblick dieser süßen Krott. Hier wird die hässliche Kröte zum Inbegriff desverwandelbaren Schatzes. Sie muss von dem Prinzen geküsst werden!

Dann hat er sich verguggt in sie, er hat sich verschaut. Im Hochdeutschen bedeutet das verliebt. Und manchmal hat diese Silbe die Bedeutung wie bei verlaufen: Es geht in die falsche Richtung.

Und wenn der Vater mit leichtem Glitzern in den Augen über die Angebetete des Sohnes bei der ersten Begegnung anerkennend sagt: Des isch aber a saubers Mädle oder ein saubers Menschle, ist das kein Kommentar über die Reinlichkeit der jungen Frau, sondern fast schon ein sicheres Zeichen dafür, dass die junge Frau große Chancen hat, wegen ihres offen-sichtlich guten Charakters und Aussehens herzlich in die Familie aufgenommen zu werden.

Wer eine köstliche und wahre Beschreibung der schwäbischen Lebensweise lesen und Muße und Muse genießen will, sei auf das köstliche Büchlein unseres Kollegen und verstorbenen BDSÄ-Mitglieds Dr. Gerhard Vescovi hingewiesen: „Der Hippokrates im Heckengäu“. Ich kannte Vescovi schon als Schüler, weil mein Vater, ein Kon-Assistent von ihm, mich zu einer Lesung mitgenommen hatte. Später begegnete ich ihm wieder, und er war mit ein Grund, warum ich in den BDSÄ eingetreten bin. In einem Brief an Gerhard Vescovi habe ich ihn, den schreibenden Kollegen, 1997 so charakterisiert: „Verschmitzt, hinter-gründig, leutselig, menschenliebend, gut beobachtend, genießerisch, mitteilsam, kurz: ein echter, kultivierter Schwabe.“

Zusammenfassung: Mancher Schwabe genießt bis zur Schwelgerei, kann es aber schlecht zugeben, macht es oft heimlich, weil er aus lauter Rücksicht keinen Sozialneid aufkommen lassen will. Und er hat hoffentlich eine Muse, die er mit Muße genießt. Dabei achtet er sorgfältig auf eine finanzielle Optimierung, wie die folgende Geschichte zeigt, die Taddäus Troll in seinem legendären Buch Deutschland deine Schwaben niedergeschrieben hat.

Ein Paar kam in die Sprechstunde eines Psychiaters und bat ihn, ihnen beim Sex zuzuschauen. Er sagte mit einem Wink zur Couch: „Gut!“ – Als das Paar glücklich und ermattet war, meinte er: „Ich habe nichts Auffallendes feststellen können!“ und verlangte 80 € für die Sitzung. Nach drei weiteren Terminen mit dem gleichen Verlauf sagte der Psychiater: „Was wollen Sie eigentlich hier herausfinden?“ – Nichts“, sagte der Mann und deutete auf seine Partnerin, „aber sie ist verheiratet, zu ihr können wir nicht gehen. Ich bin auch verheiratet, bei mir geht´s auch nicht. Hier haben wir ein saugutes Alibi. Das Holiday Inn verlangt 130 €, das Steigenberger sogar 300 €. Bei Ihnen kostet´s 80 €, ônd d´Krankakass erstattet 67,50 €.“

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , , , , , | Schreib einen Kommentar