Der wasserdichte Verband und die nächtliche Operation

Etwa fünfzig Meter hinter unserem Schiff hatten die Forscher außerhalb des Windschattens des Schiffes eine Boje mit einem etwa fünf Meter hohen Mast ausgesetzt, an dem Spezialinstrumente in verschiedenen Höhen über und unter dem Wasserspiegel Meßdaten sammelten und diese über ein dickes Kabel zum Computer in den Forschungsraum im Schiff leiteten. Diese Boje mußte regelmäßig gewartet werden, deshalb fuhr die Mannschaft, die Bojendienst hatte, einmal am Tag mit einem Motorboot hinaus und reinigte und justierte die Windräder.

Dabei ergab sich einmal folgende kuriose Situation: Einer der Wissenschaftler hatte Schmerzen wegen eines eingewachsenen Zehennagels, den ich operieren musste. Wir überlegten, dass der Patient für mindestens drei Tage nicht ins Salzwasser gehen dürfe. Es war mir klar, dass jeder Beschäftigte auf der Boje immer nasse Füße bekommt. Aber in der noch nicht verheilten Wunde war Salzwasser gar nicht gut, und so hatte der Forscher sich auf meine Bitte hin für diese Tage einen Vertreter für seinen Bojendienst gesucht.

Da alles geregelt war, schnitt ich nach einer örtlichen Narkose das entzündete Nageleck heraus, nähte die Wunde zu und verband sie. Am nächsten Tag wurde aber der Ersatzmann krank, lag mit einer kräftigen Grippe im Bett, und kein anderer als mein Patient konnte die Aufgabe ausführen. So kam er zu mir und fragte mich, wie wir einen so dünnen und wasserdichten Verband machen können, dass er mit dem Fuß in den Tennisschuh hineinkommt. Auf der Boje hatten sich innerhalb von wenigen Tagen scharfkantige Muscheln festgesetzt, die ganz rasch die Fußsohle aufschlitzten. Deshalb war das Tragen von Schuhen mit guten Sohlen beim Bojendienst unverzichtbar.

Ich dachte nach: sehr dünner und wasserdichter Verband? Jede Binde wäre zu dick und nicht wasserdicht gewesen. Da hatte ich eine Idee, aber ich traute mich nicht so recht, sie gleich umzusetzen. Deshalb fragte ich meinen Patienten, ob er bereit sei mitzumachen. Heinz hatte mir nämlich bei seinen Erklärungen zum Medikamentenschrank auch eine große Schachtel mit Präservativen gezeigt, die den Seeleuten von der See-Berufsgenossenschaft kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Das wäre doch was: passgerecht für den Großzeh, dünn und wasserdicht!

Mein Patient war begeistert: „Das machen wir! Das ist der Spaß wert!“ Bereitwillig und lachend hielt er seinen Fuß in die Höhe, und ich machte einen ungewöhnlichen und sehr hilfreichen Verband, den wir unter einem dünnen Socken verschwinden ließen. Der Fuß passte hervorragend in den Tennisschuh, und mein Patient marschierte zufrieden zum Bojendienst. Als ich dann kurz darauf wieder an Deck war, sah ich, wie er vor seiner versammelten Gruppe den Schuh auszog und den Fuß in die Höhe streckte: „Schaut mal, was der Doc mir für einen tollen Verband gemacht hat.“ Es gab natürlich ein riesiges Hallo, und ein Witz jagte den anderen. Aber den Zweck hat der Verband erfüllt, darüber waren wir uns einig.

Eines Abends saß ich gemütlich an Deck in einem Gespräch vertieft, da hörte ich einen Matrosen laut fluchen und jammern, von dem ich immer den Eindruck hatte, dass er ein Zwillingsbruder von Bud Spencer ist! Ich hörte ihn schmerzvoll schreien: „Wo ist der Doc?“ Ich lief zu ihm und sah die Bescherung. Er hatte seinen Feierabend zum Fischen verwendet und an der Reling die Angel ausgeworfen. Irgendwo hatte sie sich festgehakt, und er hatte gezoeng. Sie gab nicht nach, deshalb zog er noch mehr. Plötzlich war der große Angelhaken auf ihn zu geflogen, der Matrose griff instinktiv danach, um sein Gesicht zu schützen, und schon saß der Haken im Daumen.

Die kleinen und großen Widerhäkchen an dem Stahl hatten sich tief ins Fleisch seines dicken Daumens gebohrt, und es gelang mir nicht, den Haken herausziehen, ganz im Gegenteil: Sie zurrten sich nur noch fester in das Fleisch, und der arme Patient schrie vor Schmerzen!

Ich erkannte schnell, dass das Problem nur mit einer Operation lösbar war und ging mit dem Matrosen in den Operationsraum. Zur Hilfe holte ich mir einen der Studenten, der mir erzählt hatte, dass er bei der Bundeswehr Sanitäter war. Er freute sich, dabei sein zu dürfen.

Also bat ich zuerst unseren fast kollabierten Schwergewichtler, sich auf den Tisch zu legen, befestigte die Armlehne, um die Hand gut abzustützen, und setzte nach der Desinfektion eine Leitungsanaesthesie, um den Daumen gefühllos zu machen. Die nötigen Instrumente lagen im Schrank bereit, und ich holte mir noch Tupfer, Naht- und Verbandsmaterial. Dann zog ich die sterilen Handschuhe an, um alles ordentlich auf das Tuch legen zu können, und begann die Operation. Ich musste genau am Haken entlang den Daumen aufschneiden, viel tiefer als dem Patienten und mir lieb war. Dann erst erkannte ich, wie viele kleine Häkchen sich in das Fleisch hinein gebissen hatten. Ich brauchte ein ganze Weile, um mit möglichst großer Schonung des Gewebes den Haken zu befreien. Nachdem ich die Wunde vernäht und den Verband angelegt hatte, waren wir alle ganz zufrieden und genehmigten uns einen doppelten Cognac. Die Wunde verheilte gut.

 

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