Spiegelsonett zu meinem 65. Geburtstag

Das Prinzip des Spiegelsonetts: Die Endreime werden an der Spiegelachse gespiegelt, und das zweite Sonett setzt sich mit dem Gegensatz des ersten Sonetts auseinander. Im folgenden Gedicht beschäftigt sich das erste Sonett mit der Zeit vor meiner Rente, das zweite mit der Zeit danach.

 

Der Blick zurück zeigt Schatten und viel Licht
auf meinen Pflichten, Praxis-, Klinikjahren,
die von Bürokraten oft belästigt waren;
denn sie behindern menschgerechte Sicht.

Der Mensch verliert durch Paragrafen sein Gesicht.
Patienten werden Nummern in den Scharen,
Massendaten und Verwaltungsformularen.
Einzig bleibt das Wort als ärztliches Gewicht.

Die Vielfalt von Beruf, Familie und Privatint´ressen
war in einem Tag nicht ruhig zu ermessen,
um darauf in Muße immer fehlerfrei zu bauen.

Ich habe meine Makel, Schatten nicht vergessen,
will sie darum mehr verstehen, besser messen.
Dann kann ich Verstand´nes konstruktiv verdauen.

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Die Rentenzeit schenkt Muße mir, um anzuschauen,
was mir nützt, mich freut und reift und wessen
Verse, Bücher, Noten stetig mir und unvergessen

neue Schätze, Freunde, Glücksmomente anvertrauen.
Dann werd´ ich mit Dank mein Leben daran messen,
das Schöne spielen, schreiben und Gesundes essen.

Aktive Ruhe schenkt dem Leben neues Angesicht,
ermöglicht, dass die reifenden Gedanken garen.
Wege, die mal schattenvoll und holprig waren,
können wandelnd spenden goldenes Gedicht.

Ich gehe gerne meinen Weg, erhoffe klare Sicht
und wünsch´mir, nach gesunden Jahren
mit Birgit, meinen Kindern, Freunden, wahren
Zeilen münde dieses Leben in das große Licht.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Dieses Gedicht ist im Almanach deutschsprachiger Schriftstellerärzte 2013 erschienen.

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Dinu Lipatti

Als Sechzehnjähriger durfte ich im Rahmen eines Schüleraustauschs ein halbes Jahr in Liverpool in die Quarry Bank High School gehen. Dort hatte John Lennon wenige Jahre zuvor seine Schulzeit beendet und war mit den Beatles schon ein weltberühmter Musiker. In der Familie, in der ich mich von der ersten Stunde an wohl gefühlt habe, hatte ich einen „Bruder“ Jonathan, der ein halbes Jahr älter war als ich. Wir verstanden uns prächtig, nicht nur, weil er wie ich ein großer Liebhaber klassischer Musik war. Viele Stunden unserer Freizeit verbrachten wir vor dem Plattenspieler, im Konzertsaal oder am Klavier. Jonathan war ein sehr guter Pianist, und ich bewunderte ihn deshalb.

Neben einem unvergesslichen Klavierabend von Artur Rubinstein habe ich mit Jonathan eine andere lebensprägende Stunde erlebt, von der ich berichten will.

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Ein literarischer Brief zu Stefan Zweig

Liebe Frau S.,

Sie haben mir das Buch von Alberto Dines „Tod im Paradies“ ausgeliehen, seine Biografie über Stefan Zweig, die mich wie kaum ein anderes Buch in den letzten Jahren beeindruckt hat. Für dieses Geschenk des Lesen-Dürfens möchte ich mich herzlich bedanken.

Wenn ich mit jeder brillant formulierten Zeile neu spüre, mit welch einem enormen Fleiß und perfektionistischer Hingabe der brasilianische Autor sich des wechselvollen Lebens seines Protagonisten angenommen hat, ergreift mich großer Respekt vor der schriftstellerischen und wissenschaftlichen Leistung und dem enormen Einfühlungsvermögen von Alberto Dines in die Seelenstruktur und Psychodynamik Zweigs.

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Der Ratschlag

 

Wenn der Ratschlag dich im Zentrum trifft,
wirkt der Rat als Schlag in dem Genick.
Drum erspar ich dir das Seelengift
und überlass dich dem gesunden Lebensblick.

Wenn das Leben stachelhart und dornenvoll
den Überlebenswillen, alle guten Kräfte stählt,
werden nur die Besten aus dem Sorgen-Moll
vom Schicksal in das Licht von Dur gewählt.

Das Leben selbst schenkt uns den besten Rat
als lebenslanger Wunder-voller Dauertherapeut.
Und Leiden ist als Wachstumsfaktor stets bereit,
den der Unbewusste ständig ängstlich scheut.

Bewusst beleuchtet auch das zarte Wortespiel
des harten Lebensweges tief erfühlten Sinn.
Er hilft uns zu dem letzten großen Ziel,
zum Licht, zu dem erfüllten Leben hin.

Copyright Dr. Dietrich Weller

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Hoffnungsschimmer

„Ein Mann will sich umbringen“, sagte der Mann von der Zentrale des Roten Kreuzes über Funk, als ich ihn den Notarztwagen stieg. Der Fahrer brachte mich in die kleine Ortschaft, von wo der Patient selbst per Telefon um Hilfe gebeten hatte.

Als die beiden Rettungssanitäter und ich in dem Mehrfamilienhaus in der dritten Etage klingelten, hörten wir nach einer Weile schlurfende Schritte in der Wohnung. Die Tür wurde langsam geöffnet, zuerst einen Spalt weit. Ein unrasierter und zerzauster Männerkopf kam zum Vorschein. Dann ging die Tür langsam und ganz auf. Da stand ein gebeugter blasser Mann, schätzungsweise Mitte vierzig. Die Gesichtszüge gruben tiefe Rinnen unter den Bartstoppeln, Runzeln zerfurchten seine Stirn, die trüben Augen waren nur halb geöffnet und ließen einen matten Blick zwischen den Lidern herausgleiten. Die schlaff hängenden Schultern und der pyknische Oberkörper waren nur mit einem schmuddelig weißen Unterhemd bedeckt. An den Seiten der schwarze Hose mit den zerknitterten Bügelfalten und dem fleckigen Stoff baumelten alte Hosenträger herab. Nicht einmal von den Hosenträgern hat der Mann noch Halt, dachte ich. Die nackten Füße steckten in ausgetretenden Latschen, die früher mal gepflegte Lederpantoffeln gewesen sind.

Der Mann ging mit gesenktem Kopf einen kleinen Schritt zur Seite, damit wir eintreten konnten. Ich stellte mich und meine beiden Begleiter vor. Der Patient sagte nichts. Wir gingen ins Wohnzimmer. Mit einem kurzen Rundumblick erkannte ich, dass dies das einzige Zimmer der Wohnung war. Ein zerwühltes Bett mit schmutziger Bettwäsche stand an der einen Wand. Ein alter Holzschrank diente als Garderobe: Vor der Schranktür hing ein schwarzes Anzugjackett, und über diesem baumelte ein zur Schlinge gebundenes Seil, nur der Kopf darin fehlte noch. Mit dem nächsten Blick entdeckte ich mehrere große Messer und einen Dolch auf der Plastiktischdecke in der Zimmermitte liegen. Na, da ist ja alles vorbereitet, schoss mir durch den Kopf.

Ich bot dem Patient einen Stuhl am Tisch an und schob mit einer sanften, aber klaren Bewegung die Messer in Richtung des Sanitäters, der sie an den Tischrand zu sich legte. Herr Schneider, wie ich den Schwerkranken nennen will, saß vornüber gebeugt mit unter der Tischplatte gefalteten Händen.

Ich sagte ganz ruhig zu meinen Begleitern: „Ich schlage vor, einer von Ihnen geht ins Auto und sagt auf der Wache Bescheid, wo wir sind, der andere bleibt hier. lch will versuchen, mit Herrn Schneider ein Gespräch zu führen.“ Ein kurzer Blick zwischen den beiden klärte die Lage, ein Sanitäter setzte sich zu uns, sein Kollege verschwand.

Ich wartete eine Weile, ob Herr Schneider anfangen würde, von allein zu sprechen. Aber es kam kein Wort, keine Bewegung. Er schien völlig isoliert und eingemauert in seiner Innenwelt. Er nahm keinen Kontakt mit uns auf. Ich war überrascht, wie er mit einer solch schweren Blockade überhaupt hatte telefonieren können.

Ich begann vorsichtig: „Herr Schneider, Sie machen mir einen sehr traurigen Eindruck. Stimmt das?“ – Es schien mir wie eine Bedenkzeit, die er brauchte, damit die Frage wie eine tropfende Botschaft gegen seine Denkblockade in ihn hineinfließen und sich langsam eine Antwort in ihm formen konnte. Dann nickte er kaum erkennbar mit dem Kopf, ohne aufzuschauen.

„Seit wann ist das denn so?“, fragte ich weiter. – Wieder dauerte es ein ganze Weile, bis leise und monoton die Antwort kam: „Weiß nicht genau …“ Er war in sich und auf den Tisch fixiert, durch den er mit müdem Blick hindurch ins Unendliche schaute.

„Ist es so schlimm, dass Sie Ihr Leben selbst beenden wollen?“, sagte ich mit einem kleinen Fingerzeig auf die Messer und den Strick am Schrank. – Da blickte er langsam auf und sah mich an. Kurz leuchtete Leben auf, dann verlosch es resignierend: „Nicht mal das schaff ich!“

Nach einer Gedankenpause erwiderte ich: „Aber ich denke, Sie haben um Hilfe gerufen, weil Sie eigentlich leben wollen. Das ist doch was Gutes.“-

Er bewegte sich nicht und stierte in die Tischdecke. „Aber so kann ich nicht leben!“, murmelte er vor sich hin aus seinem Seelenkerker.

„Was ist denn so schlimm?“, wollte ich wissen. „Alles,“ meinte er nach einer ganzen Weile leise und ergänzte stoßweise: „Alles dunkel – Kein Job – Kein Geld – Bin allein.“

„Ich möchte Sie in Sicherheit bringen vor Ihren Absichten, sich umzubringen. Sind Sie einverstanden?“

Er blickte mich aus dem Augenwinkel an: „Sie können mir nicht helfen. Niemand kann das.“

Er stak tief in seinem dumpfen Seelengrau. Ich ließ nicht locker: „Das wissen wir erst, wenn wir es probiert haben.“ Er schüttelte ganz langsam den Kopf, ohne etwas zu sagen.

Ich setzte nach: „Ich möchte Sie gern mitnehmen in eine Klinik, wo Menschen ohne Hoffnung wie Sie gut behandelt werden und eine Chance haben, wieder ins Leben zurück zu kommen.“

„In die Klappse?“, fragte er in einem so unbeteiligten Ton, als sei er von der Sache gar nicht betroffen. Ich antwortete: „Ich bringe Sie in das Psychiatrische Krankenhaus, wo man Ihnen helfen kann, wieder auf andere Gedanken zu kommen. Gehen Sie mit?“

„Die können mir auch nicht helfen!“, beharrte er mit brüchiger Stimme und gesenktem Blick.

„Aber bitte lassen Sie es uns versuchen. Nur dann haben Sie eine Chance. Ich kann Sie nicht einfach hier sitzen lassen und wieder wegfahren. Sie haben uns doch gerufen, damit wir etwas unternehmen, was Ihnen nützt.“

„Meinen Sie wirklich, die können etwas für mich tun?“, fragte er mit zaghafter Stimme, in der schon ein bisschen Hoffnung mitschwang.

„Ich möchte es auf jeden Fall versuchen. Ich bin mir sicher, dass Sie da gut versorgt sind. Gehen Sie mit?“ Er streckte langsam seinen Oberkörper und hob die Schultern. Dann schaute er mich an: „Es bring ja doch nichts. Aber wenn Sie meinen …“  Jetzt saß er aufrecht und schaute mich an.

„Möchten Sie noch etwas anderes auf die Fahrt anziehen?“, fragte ich erleichtert. Ich nahm den Strick von der Jacke und reichte ihn dem Sanitäter, der ihn kommentarlos unter seiner Jacke verschwinden ließ. Herr Schneider zog langsam ein hellblaues Hemd, sein schwarzes Jackett und andere Schuhe an.

„Darf er noch ein paar Sachen in die Tasche dort packen?“, fragte ich Herrn Schneider mit einem Blick auf den Sanitäter. Herr Schneider nickte, und der Sanitäter füllte rasch ein paar Hemden, Unterwäsche und einen Badebeutel mit den wichtigsten Utensilien in die Sporttasche, die neben dem Bett stand. Dann gingen wir durchs Treppenhaus die drei Stockwerke hinunter zum Auto. Von unterwegs telefonierte ich mit der Zentrale und organisierte, dass wir Herrn Schneider im Krankenhaus, aus dem ich kam, einer anderen DRK-Besatzung übergeben konnten, die ihn ins 30 km entfernte Landeskrankhaus brachte. Unser Notarztwagen musste einsatzbereit bleiben.

Ich war unglaublich erleichtert, dass ich Herrn Schneider hatte dazu bewegen können, freiwillig mit uns zu gehen. Als ich später am Tag beim Dienstarzt der Klinik nachfragte, erhielt ich die Bestätigung, er sei gut angekommen.

Drei Wochen später sprach mich einer der Sanitäter auf dem Krankenhausflur an: „Erinnern Sie sich noch an den Mann, den wir miteinander wegen seiner Suizidabsichten eingewiesen haben?“

Ich erwiderte: „Ja natürlich, wissen Sie, wie es ihm geht?“

„Ja,“ sagte er langsam, „er ist heute morgen entlassen worden. Wir haben ihn aus der Psychiatrie nach Hause gebracht. Eine halbe Stunde später sind wir von den Nachbarn gerufen worden. Er ist vom Balkon gesprungen. Jetzt ist er tot.“

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte habe ich im Almanach deutschsprachiger Schriftstellerärzte 2012 unter dem Titel Hoffnungsschimmer veröffentlicht

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Ähnlich und einzigartig

Wer die Natur betrachtet, wird erfüllt mit Staunen,
denn sie schafft mit bunter Vielfalt große Pracht
und schöpft aus reicher Fantasie und lacht
aus Tier und Pflanze mit geglückten Launen.

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Für einen verliebten Freund

Wenn die bunten Schmetterlinge
ausgelassen Purzelbäume tanzen
und aus Strahle-Augen Glitzerringe
leuchten, die den zarten ganzen
Tag mit Seelenfunkeln übergießen,
hat Klein Amor seinen Pfeil geschnellt.
Er lässt dein Herz rasch überfließen
und verzaubert zärtlich deine Welt.
Wenn das Leuchten dir entgegen scheint,
kleine Fältchen um die Augen lächeln
und ein Mund es gut mit deinem meint,
wird Klein Amor Sonnenstrahlen fächeln,
die ein fragend banges Herz erwärmen,
auch des Lebens Segen freudig spenden
und mit leisem Fühlen wohlig schwärmen:
Der Liebe Ruf an dich wird niemals enden …

Copyright Dr. Dietrich Weller

 

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Genuss mit Muse und Muße – aus schwäbischer Sicht

Lesung „Genuss und Muße / Muse“
zum BDSÄ-Kongress Juni 2011 in Leonberg 

Vorweg eine Bemerkung: Das so genannte scharfe ß nennt man im Schwäbischen wegen seiner Schreibform Dreierles-S. Aus demselben Grund heißt in anderen Bundesländern Rucksack-S.

Und jetzt will ich etwas erklären zu dem Thema

 

Der Genuss und die Muße mit der Muse –
und das Ganze aus schwäbischer Sicht

Diese Überschrift ist beim ersten Lesen für einen Schwaben ein Widerspruch in sich selbst. Denn die wichtigste und einzige legitime Aufgabe des Schwaben besteht im Schaffa (Arbeiten) und nicht im Bassledô. Das kommt aus dem Französischen passe le temps – die Zeit verbringen und meint im Schwäbischen den absolut verbotenen Müßiggang.

Und wenn der Schwabe schon da sitzt und genüsslich sein Viertele schlotzt wie kleine Kinder ihr Eis und mit sichtlichem Behagen seine Pfeif oder Zigarr raucht oder an ordentlicha Roschtbrate verzehrt, hat er immer eine gute Begründung parat, warum er jetzt gerade schafft.

Zum Beispiel muss er jetzt Pause machen, denn Essa ond Trenka hält Leib ond d´Seel z´samma, oder er muss ausprobiera, ob die Wirtschaft emmer noch guat isch. Und das ist natürlich in erster Linie a recht´s Gschäft und erfordert größte Anstrengung und Konzen-tration. Dafür hat man ihm Respekt und Anerkennung zu zollen, weil er sogar beim Essa ond Trenka schafft, wo andre Leut den Herrgott an guata Ma sei lasset..

Ich saß einmal mit einem befreundeten Schwaben in einem sehr guten Lokal in Stuttgart bei einer vorzüglichen Flasche Rotwein. Als die Flasche leer war, sagte der Freund zum Ober: „I wois net, ob uns der Wai wirklich g´schmeckt hat. Deshalb brauchat mr´nômal a Flasch.“ (Ich weiß nicht, ob uns der Wein wirklich geschmeckt hat. Dehalb brauchen wir noch eine Flasche.)

Klar ist, dass der Schwabe immer ein mehr oder weniger schlechtes Gewissen hat, wenn er net schafft. Denn was denkat da d´Leut? Er will ja net faul sein, kein Dagdiab, der dem Herrgott den Tag stielt.

So lässt sich auch der überlieferte Stoßseufzer eines berühmten schwäbischen Fabrikan-ten erklären, der während des Urlaubs im Liegestuhl eines luxuriösen australischen Hotel-gartens stöhnt: „Jetzt muss i hier sitza, ond dahoim sodd´mr d`Beem spritza!“ (Jetzt muss ich hier sitzen, und daheim sollte man die Bäume spritzen!“

Auch wenn eines der schwäbischen Lieblingswörter gmiatlich (gemütlich) heißt, ist es ein großes Lob, wenn er zu seinem Freund sagt: „Du siesch aber abg´schafft aus. (Du siehst aber abgearbeitet aus!)“

Dass der Schwôb fast ausschließlich helenga (heimlich) genießt, wird bei der folgenden Geschichte deutlich.

Mein Vater fragte bei einem Hausbesuch den Hausherrn, den besten Metzger in Leon-berg: „Was machet Se em Urlaub?“„Ach,“ meinte der Metzger, „mir ganget a bissle en Schwarzwald, nix B´sonders?“ – Mein Vater blinzelte ihn an: „Na, Traube Tonbach?“ Das war schon damals das beste und teuerste Ferienhotel im ganzen Schwarzwald. Der Metzger nickte und führte gleichzeitig seinen Zeigefinger an die Lippen: „Pst, des verträgt ´s Schnaufa net! (Das darf man nicht einmal atmen – und schon gar nicht sagen!“)

Das Genießen beim Schaffen hört man aus dem zweiten Wahlspruch des Schwaben bei der Arbeit: „Nô net hudla! Emmer mit dr Ruhe!“ (Nur nicht schlampen! Immer mit der Ruhe!“). Dabei muss klar sein, dass der Schwabe sorgfältig und bedacht zu Werke geht und nichts mehr hasst als Hektik und Schlamperei.

Er ist ein stiller Genießer, der spätestens nach dem zweiten Viertele ins Philosophieren gerät, auch wenn er vielleicht gar nichts spricht, denn er will kein Schwätzer sein. Und die Frauen wollen keine Schwatzbasen sein, auch wenn sie (ganz selten) über die anderen schwätzen.

Das Stammtischgespräch kann also typischerweise so ablaufen: Stille bis zum zweiten Viertele, dann „So so, bisch aô da?“ – Lange Pause – „Ha ja, ao amôl wieder!“ –Pause – „S´isch heiß heut!“ – Pause – „Ja, aber da kannsch nix macha!“ – Pause – „Na drenka m´r no oins! (Dann trinken wir noch eins!“) Und zu Hause erzählt er dann saim Weib (seiner Ehefrau),dass es wieder sehr gmiatlich war.

Und wenn der Schwabe gefragt wird, wie es denn geschmeckt hat, wenn es besonders leckeres Essen gibt, macht er dem verhassten preußischen Militärgrundsatz alle Ehre, indem er deren Grundsatz „Keine Kritik ist Lob!“ abwandelt in den Satz „Mr kann´s essa!“ – Aber dann solltet ihr mal das verschmitzt lächelnde, genießerische Gesicht dazu sehen und den geschleckt sauberen Teller, den der Schwabe hinterlässt! Denn mr derf nix verkomma lassa, ond des schöne Sößle erst recht net!“

Ein richtiger Schwabe hat natürlich auch seine Muse, aber er nennt sie nicht so. Je nach Verwandschafts- oder Freundschafts- oder Erlaubtheitsgrad gibt es viele Namen. Sehr liebe- und respektvoll nennt er sie  offiziell mai Weib oder mai Regierong.

Am beliebtesten und häufigsten sind natürlich die steigernden Verkleinerungsformen Man beachte diese schwäbische Eigenschaft: Die Bedeutung wird hervorgehoben und gesteigert durch das Anhängen der zärtlichen und verkleinernden Silbe –le.

Ganz zärtlich ist mai Amenôschlupferle (bestmögliche, aber schlechte Übersetzung: An-mich-hin-kuschelchen“). Er möchte gern, dass sie an ihn nô schlupft, hin schlüpft, damit er in sie hinein schlüpfen kann. Wenn er sehr verliebt ist, hat sie alles in der –le-Form: a glains Näsle, a süßes Göschle, blaue Äugla, Birnen- oder Apfelbrüschtla ond a gnaggich´s Ärschle. Und er gibt ihr dann keinen Kuss, sondern viele Küssla.

Auch das Bild der Schnecke findet im zärtlichen Miteinander seine übertragene Bedeu-tung: Sie ist sein Schneckle, mit der er sich in seinem (Schnecken-) Häusle z´rickzia und z´samma schneckla (zurückziehen und zusammen schneckeln) will.

Ein Schätzle – oder im Honoratioren-Deutsch ein Schätzchen – ist etwas besonders Kostbares.

Wenn das Schätzle auch gute Spätzla, die köstlichste aller schwäbischen Teigvaritationen, von Hand schaben kann, wird ein richtiger Schwabe ernsthaft in Erwägung ziehen, mit dieser Frau in ein eigenes Häusle zu ziehen. Nach dieser gastronomischen Köstlichkeit nennt er dann auch sein allerliebste Muse Spätzle.

Wenn er zwei Spätzla in zwei verschiedenen Häusern genießt, stellt ihn das vor größere Herausforderungen in logistischer und schauspielerischer Hinsicht. Wenn er aber bloß zwei Spätzla auf em Deller hôt, befindet er sich in einer schlechten Wirtschaft.

Im Idealfall bekommen die jungen Leut´ ein Häußle zur Hochzeit geschenkt, wenn der Schwiegervater reichlich Sach´ hat.

Hier gilt bei der Auswahl der Zukünftigen die pragmatische schwäbische Devise: A Reiche und Scheene frisst ao net meh als a Arme ond Wiaschte. (Eine Reiche und Schöne isst auch nicht mehr als eine Arme und Hässliche.)

Wenn es dann zuhause zu Spannungen kommt und er versucht, sich gegen seine Regierung aufzulehnen, kann es sein, dass dieser emanzipationsbedürftige Ehemann von saim Weib (seiner Ehefrau) als Hausteufel ond Gassenengel bezeichnet wird, denn auf der Gass, also auf der Straße und in der Öffentlichkeit benimmt er sich vorbildlich, leutselig, hilfsbereit und gut erzogen.

Im Schwäbischen gibt es eine sehr differenzierte Benutzung des Wortes Mensch:

Der Mensch ist das bekannte deutsche Substantiv und unterscheidet ihn vom Tier.

Das Mensch ist eine Frau, wobei noch nicht ganz klar ist, ob das positiv oder negativ ist. Da muss man genau auf den Tonfall und die Mimik des Sprechenden achten.

Besonders verächtlich ist es gemeint, wenn Männer über die Menscher sprechen.

Wenn er aber von dem netta Menschle oder dem saubera Menschle spricht, ist es schon fast ein Indiz für Schmetterlinge in seinem Bauch beim Anblick dieser süßen Krott. Hier wird die hässliche Kröte zum Inbegriff desverwandelbaren Schatzes. Sie muss von dem Prinzen geküsst werden!

Dann hat er sich verguggt in sie, er hat sich verschaut. Im Hochdeutschen bedeutet das verliebt. Und manchmal hat diese Silbe die Bedeutung wie bei verlaufen: Es geht in die falsche Richtung.

Und wenn der Vater mit leichtem Glitzern in den Augen über die Angebetete des Sohnes bei der ersten Begegnung anerkennend sagt: Des isch aber a saubers Mädle oder ein saubers Menschle, ist das kein Kommentar über die Reinlichkeit der jungen Frau, sondern fast schon ein sicheres Zeichen dafür, dass die junge Frau große Chancen hat, wegen ihres offen-sichtlich guten Charakters und Aussehens herzlich in die Familie aufgenommen zu werden.

Wer eine köstliche und wahre Beschreibung der schwäbischen Lebensweise lesen und Muße und Muse genießen will, sei auf das köstliche Büchlein unseres Kollegen und verstorbenen BDSÄ-Mitglieds Dr. Gerhard Vescovi hingewiesen: „Der Hippokrates im Heckengäu“. Ich kannte Vescovi schon als Schüler, weil mein Vater, ein Kon-Assistent von ihm, mich zu einer Lesung mitgenommen hatte. Später begegnete ich ihm wieder, und er war mit ein Grund, warum ich in den BDSÄ eingetreten bin. In einem Brief an Gerhard Vescovi habe ich ihn, den schreibenden Kollegen, 1997 so charakterisiert: „Verschmitzt, hinter-gründig, leutselig, menschenliebend, gut beobachtend, genießerisch, mitteilsam, kurz: ein echter, kultivierter Schwabe.“

Zusammenfassung: Mancher Schwabe genießt bis zur Schwelgerei, kann es aber schlecht zugeben, macht es oft heimlich, weil er aus lauter Rücksicht keinen Sozialneid aufkommen lassen will. Und er hat hoffentlich eine Muse, die er mit Muße genießt. Dabei achtet er sorgfältig auf eine finanzielle Optimierung, wie die folgende Geschichte zeigt, die Taddäus Troll in seinem legendären Buch Deutschland deine Schwaben niedergeschrieben hat.

Ein Paar kam in die Sprechstunde eines Psychiaters und bat ihn, ihnen beim Sex zuzuschauen. Er sagte mit einem Wink zur Couch: „Gut!“ – Als das Paar glücklich und ermattet war, meinte er: „Ich habe nichts Auffallendes feststellen können!“ und verlangte 80 € für die Sitzung. Nach drei weiteren Terminen mit dem gleichen Verlauf sagte der Psychiater: „Was wollen Sie eigentlich hier herausfinden?“ – Nichts“, sagte der Mann und deutete auf seine Partnerin, „aber sie ist verheiratet, zu ihr können wir nicht gehen. Ich bin auch verheiratet, bei mir geht´s auch nicht. Hier haben wir ein saugutes Alibi. Das Holiday Inn verlangt 130 €, das Steigenberger sogar 300 €. Bei Ihnen kostet´s 80 €, ônd d´Krankakass erstattet 67,50 €.“

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Schwäbische Anatomie

Beitrag für die Lesung „Ernste Heiterkeit“ beim Jahreskongress des BDSÄ
in Leonberg, Juni 2011

Ich habe den schwäbischen Teil vorgetragen, und ein Kollege aus Mecklenburg-Vorpommern las absatzweise die Übersetzung.

Eine schwäbische Kurzvorlesung mit Übersetzung

Also Leut´, hörat amôl her. I muss euch was aus meiner Praxis verzehla. Ônd weil mir Schwaba ällas kennet bloß koi Hochdeutsch, han i mir an Ibersetzer mitbrocht. Der kommt von do oba ra, wo mr sehr deitlich od sauber schwätzt. Ond er hôt au nô den Vordeil, dass ´r Medizin studiert hôt ônd des varstoht, was i eich verzehl. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, hört bitte einmal her. Ich muss euch etwas aus meiner Praxis berichten. Und weil wir Schwaben ja bekanntlich alles können – nur kein Hochdeutsch, habe ich mir einen Übersetzer mitgebracht. Er kommt aus Norddeutschland, wo man sehr deutlich und reines Hochdeutsch spricht. Und er hat auch noch den Vorteil, dass er Medizin studiert hat und das versteht, was ich berichten will.
So, also en mai Praxis kommt a Mô, so ebbes om die vierzich, a weng blass ôm d´Nas und mit amma zemlicha Rantza. Des isch so oiner, der den schwäbischa Wahlschbruch hat: „Lieber me essa als zwenig drenka.“ So, also in meine Praxis kommt ein Mann, der etwa 40 Jahre alt ist, ein bisschen blass um die Nase ist und eine ziemliche Adipositas mitbringt. Das ist ein Patient, der dem schwäbischen Wahlspruch huldigt: Lieber mehr essen als zu wenig zu trinken.
Nachdem er mir an Batsch gebba hôt und i gsagt han, er soll sich nâhocka, bleibt er standa od sait: „Noi Herr Dokter, i will glei saga, was me plôgt.„Ja, was denn?“, frog i ehn? Nachdem er mich mit Handschlag begrüßt und ich ihm einen Sitzplatz angeboten hatte, bleibt er stehen und sagt: „Nein, Herr Doktor, ich will gleich sagen, was mich plagt!“ – „Ja, was denn?“, frage ich.

 

„Wisset se, do oba an meim Fuas tuts seit a paar Dag so weh, eigentlich saumäßig weh. Kennet se da nix mache?Also sag i zo eam: „Na ziat se mal da Schuh aus, nô guck i mir den Fuß amôl a!“ „Wissen Sie, da oben an meinem Fuß schmerzt es mich seit ein paar Tagen sehr stark. Können Sie da nichts machen?“Also sage ich zu ihm: „Dann ziehen Sie mal den Schuh aus, dann schaue ich mir den Fuß an!“
Ond i wart, dass er sain Stiefel ronter tuat. Aber er sagt: Noi, sisch a bissle weiter oba! S´tuat ao weh beim Nabicka! Und ich warte, dass er seinen Stiefel auszieht. Aber er sagt: „Nein, es ist ein bisschen höher! Es schmerzt auch beim Bücken!“
Also lang nach saim Hosaaufschlag und lupf en hoch, weil i gucka will, was er da hôt.Da zieht der Dubbel d´Hos weg und sagt: „Noi, no weiter oba!“ Also greife ich nach seinem Hosenaufschlag und hebe ihn an, weil ich sehen will, was er da hat.Da zieht der komische Typ die Hose weg und sagt: „Nein, noch weiter oben!“
Da ben e scho a weng konsterniert gwäh, ha was moint denn der? Ônd lehn me ganz commod zrick in maim Sessel: „Ha, nô zaiget se mr´doch amôl, wo´s weh tuat!” Da war ich schon ziemlich verblüfft: Nanu, was meint denn dieser Patient? Und ich lehnte mich bequem in meinen Sessel zurück. „Gut, dann zeigen Sie mir doch mal, wo es schmerzt!“
Od jetzt stellet euch des amôl vor: Da lesst der Kerle oifach sai Hôs nonder ônd ao no sai Onderhôs- Ond nô dreht er sich rom, streckt mir sein Allmachtshendra entgega ond zieht mit saine Hend die Arschbacka ausanander, bickt sich ônd sagt: „Da tuats´weh! Kennet se´s sea?“ Und jetzt stellt euch das mal vor: Dieser Mann lässt einfach seine Hose runter und auch noch seine Unterhose! Und dann dreht er sich um, streckt mir sein überdimensionales Gesäß entgegen, zieht mit seinen Händen die Gesäßbacken auseinander, bückt sich und sagt: „Da schmerzt es! Können Sie es sehen?“
Ja, sapperlott, denk i, ja des kann i mr´lebhaft vorstella, dass des saumäßich weh tuat. Wisset ´r, was der da ôba an saim Fuß g´het hat? Ja, sapperlott, denke ich, ja, das kann ich mir vorstellen, dass das sehr stark schmerzt. Wisst ihr, was der Patient da oben an seinem Fuß hatte?
An riesa Hämoridda-Bobbel! Einen riesigen Hämorrhoidalknoten!
So, ond jetzt lerned ihr aô nô was: Em Schwäbischa gôt der Fuß vom großa Zaia bis zom Hendra nuff! Ônd da dra han i net denkt, obwohl i an echter Schwôb ben! I ben halt durchs Medizinstudium a bissle versaut worda. So, und jetzt lernt ihr auch noch etwas: Im Schwäbischen geht der Fuß vom Großzeh bis zur Analfalte. Und daran hatte ich nicht gedacht, obwohl ich ein echter Schwabe bin. Ich bin halt durch das Medizinstudium ein bisschen verdorben worden.
Aber ihr wisset des jetzt, falls eich amôl so ebbas en ´ra schäbischa Praxis bassiert. Aber ihr wisst das jetzt, falls euch einmal so etwas in einer schwäbischen Praxis passiert.

Copyright Dr. Dietrich Weller

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Erinnerungen an Opa

Dietrich und OpaNeulich schenkte mir meine Mutter ein altes Bild, das sie einer Kiste gefunden hat. Es zeigt ihren Vater mit mir auf dem Arm an der Eingangstür zu seiner Eisenwarenhandlung. Ich drehe mich etwas argwöhnisch und neugierig um zu einem als Eisbär verkleideten Mann, der mit bleckend weißem und weit aufgerissenem Gebiss neben uns steht. Ich war offensichtlich bereit, mich rasch Schutz suchend wieder zu meinem Opa hinzuwenden, falls der Bär gefährlich wird. So ganz geheuer war mir wohl nicht.

Mein Opa steht da im dunklen Anzug mit Weste und Krawatte, ganz der seriöse Geschäftsmann, die schwarzen Haare an den Seiten hoch rasiert, die restlichen Haare glatt und glänzend nach hinten frisiert. Und da ist heute noch der gütige Blick durch die randlose Brille auf mich, – dieses warme Lächeln, das ein bisschen Stolz und ganz viel Liebe ausstrahlt und in diesem Moment auch sehr viel Sicherheit.

Auf der Rückseite des Bildes hat mein Opa mit seiner klaren Schrift geschrieben: „Meinem lieben Enkel zur Erinnerung an den Weihnachtsmarkt 1950 in Herrenberg. Der Opa am 05.12.1950.“ – Damals war ich schon fast vier Jahre alt!

Ich erinnere mich nicht mehr an diesen Tag, aber zwei andere Erlebnisse sind mir noch gut im Gedächtnis aus der kurzen Zeit, die mein Opa noch leben durfte.

Opas Eisenwarenhandlung war natürlich eine Fundgrube für mich: so viele Nägel, Hämmer, Schraubenzieher, Sägen, Feilen, all die Blechplatten, Schrauben, Stahlstifte, die Stahlträger und das in allen Größen! Und dann erst recht das große Lagerhaus neben dem Wohnhaus, das von unten bis oben voll war mit Ware, die jeden Tag umgeschlagen und auf LKWs verpackt zu den Kunden gebracht wurde. Das war für mich ein tagfüllendes spannendes Erlebnisprogramm! Und Opa freute sich, dass ich mich für all die vielen Einzelheiten interessierte. Und noch mehr freute er sich, dass ich anfing, geschickt mit Hämmern und Nägeln umzugehen.

In Opas Büro gab es dazu eine großartige Übungsmöglichkeit: Die breiten Holzdielen boten mit ihren Ritzen eine vorgegebene Linie für viele, viele Nägel aller Größe! Ich steckte mir die Taschen im Lager voll, holte einen Hammer und legte los. Unter Opas stolzen Augen – wie ist der Bub doch praktisch! – schlug ich einen Nagel nach dem anderen zwischen die Dielen und präsentierte anschließend mein tolles Werk. Opa war begeistert von meiner Nagelstraße und rief einen Lehrling, der die Nägel wieder herausziehen durfte, denn mit der Beißzange konnte ich noch nicht so gut umgehen. Und ich brauchte ja am nächsten Tag wieder eine leere Fuge zum Üben.

Ich war aber bald mit einer solch einfachen Übung nicht mehr zufrieden. Es gab etwas Besseres! Zwischen der Bodendiele und der Seitenleiste, da im Eck, da gab es eine wunderbare Ritze, in die ich die Nägel schräg einschlagen konnte. Ich probierte es und zielte genau! Dann schlug ich siegessicher zu. Von dem plötzlichen Schmerz in meinem Daumen überrascht schrie ich auf. Opa schaute von seinem Schreibtisch auf, erkannte, was passiert war und lächelte sehr verständnisvoll: „Du musst besser aufpassen!“, meinte er lächelnd. Ich wusste eine bessere Lösung und streckte ihm freudig den kleinen Nagel hin: „Opa, du halt, ich klopf!“

Den Vorschlag fand er nicht gut. Stattdessen kam er zu mir und zeigte mir, wie man an einer schwierigen Stelle auf einen Nagel schlägt und nicht auf den Daumen.

Hämmer hatten es mir angetan! Ich hatte immer einen dabei. Denn es gab immer etwas zu beklopfen. Zum Beispiel war da neben der Küchentür eine schöne große Balkontür. Durch sie konnte ich wunderbar in den Hof hinunter schauen, wo die Kunden und die Angestellten aus dem Lager ihre Waren holten. Und ich musste unbedingt ausprobieren, ob der Holzrahmen auch dem Hammer standhält. Also fing ich langsam an, auf den weißen Lack zu hauen. Das klang gut. Und dann schlug ich ein bisschen mehr drauf. Das klang noch besser. Da gab es sogar eine kleine Delle in den Lack, und ich konnte genau sehen, wie groß der Hammereindruck war! Großartig! Das musste ich weiter probieren. Dann sah ich plötzlich beim nächsten Ausholen zu einem noch stärkeren Schlag Opa aus dem Lager kommen. Er schaute hoch, sah mich und riss die Hände hoch und rief etwas! Ich konnte ihn leider nicht hören, denn die Tür war zu. Aber er war sicher ganz begeistert, dass ich fleißig den richtigen Umgang mit dem Hammer übte. Es war ja klar, dass ich Eisenhändler werden wollte!

Ich lächelte ihm zu, toll, dass er gerade jetzt kam! Denn ich wollte ja zeigen, wie prima ich schon hämmern konnte. Und der nächste kräftige Schlag saß!

Dann hörte ich Opas Schrei mitten in dem grellen Klirren der großen Scheibe. Ich stand unverletzt und völlig verblüfft zwischen den Scherben. Wie war das denn passiert?

Opa rannte die Treppe hoch, kam mit kräftigem Schritt auf mich zu, riss mir den Hammer aus der Hand und versuchte, ernst zu bleiben und mich richtig anzufauchen. Aber ich erinnere mich nur an ein sehr kleines Donnerwetterchen, denn seine gütigen Augen konnten nicht mit mir schimpfen.

Viele Jahre später erfuhr ich aus Kindermund, warum das so war. Mein Vater erzählte in seiner Kinderarztpraxis einem vierjährigen Jungen von seinen Enkeln, deren Bilder in seinem Sprechzimmer hingen. Dann hielt er inne und fragte den Kleinen: „Weißt du eigentlich, was ein Enkel ist?“- „Ja,“ war die prompte Antwort, „Enkel ist, wenn man Opas Liebling ist!“

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diesen Beitrag habe ich in der öffentlichen Lesung „Kindheitserinnerungen“ des BDSÄ-Kongresses im Juni 2011 in Leonberg vorgetragen und im Almanach deutschsprachiger Schriftstellerärzte 2012 veröffentlicht

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