Die Notarztwageneinsätze im Winter sind oft riskant, denn der Fahrer sollte so rasch wie möglich und sicher sein Ziel erreichen. Das kann zu so komischen Szenen führen wie ich sie einmal erlebt habe, als ich mit dem Frühgeborenen-Rettungswagen mitten in der Nacht vom Olgahospital in Stuttgart nach Leonberg fuhr, um bei der Geburt eines Risikokindes dabeizusein und dieses anschließend zu versorgen. Es schneite so stark auf der breiten Straße, daß wir keine Straßenbegrenzung sehen konnten und mit Blaulicht im Schneckentempo mehr vorwärts rutschten als fuhren und uns mit den Augen im Scheinwerferlicht an der Leitplanke regelrecht entlangtasteten. Wir brauchten über eine Stunde für eine Strecke, die man bei trockener Witterung bequem in zwanzig Minuten hinter sich bringen kann. Glücklicherweise war das Kind bei unserer Ankunft schon vom Frauenarzt versorgt und außer Gefahr. Da es unreif war, nahmen wir es mit in die Kinderklinik und fuhren fast zwei Stunden Rutschpartie zurück.
Die volle Dramatik des Lebens habe ich allerdings bei dem folgendem Erlebnis empfunden. Es war in den frühen Morgenstunden, als unser Notarztwagen alarmiert wurde und ich mit den Rettungssanitätern auf spiegelblankem Glatteis zu einem Autounfall fahren musste. Ich fühlte an dem rutschenden Auto und sah in der konzentrierten Mimik des Fahrers, dass er sich redlich bemühte, auf dem schmalen Grat zwischen kontrolliertem Fahren und gefährlichem Schleudern die Richtung zu halten und zügig vorwärts zu kommen. Unglücklicherweise führte uns der Weg eine steile Straße empor, die wir zwar kannten aber nicht umfahren konnten. Schließlich kamen wir bei der gespenstisch beleuchteten Unfallstelle an und stiegen aus. Obwohl ich an das Eis dachte und mich beim Aussteigen festhielt, rutschte ich aus und wäre beinahe der Länge nach hingefallen.
Am Ende der wirren Reifenspur und hinter den aus dem Schnee gepflügten Grasbüscheln am Straßenrand sah ich das Unfallauto fast senkrecht am Baum stehen. Es war offensichtlich aus der Kurve gerutscht und mit einem ordentlichen Tempo an der stämmigen Tanne emporgeschleudert. Der Baum stand noch, der Schnee war durch den heftigen Aufprall über das Auto herabgefallen und hatte es mit einem weißen Überzug bedeckt. Ein gespenstisch ruhiges und scheinbar groteskes Bild!
Ich schaute nach dem Fahrer des Unfallwagens und entdeckte, dass er im Vordersitz eingeklemmt war. Die vordere Tür ließ sich nicht öffnen, und so kletterte ich durch die hintere Tür auf den Rücksitz und versuchte wiederholt, von hinten unten mit dem über mir liegenden Fahrer zu sprechen. Ich hörte nur ein schmerzverzerrtes Röcheln, keine Antwort. Wahrscheinlich war der Mann bewusstlos. Nach einigen Kletterübungen gelang es mir, die Krawatte des Patienten zu lockern und seinen Hemdkragen zu öffnen. Sein Puls an der Halsschlagader war schwach, über die Stirn rann Blut. Er war nicht angeschnallt. Als ich vorsichtig von hinten seinen Brustkorb abtastete, stöhnte er laut auf. Wahrscheinlich hatte er Rippenbrüche und vielleicht auch innere Brustkorbverletzungen.
Ein gemeinsamer Versuch mit dem inzwischen auf der anderen Seite hinten eingestiegenen Rettungssanitäter, den Patienten nach rechts aus dem Vordersitz zu ziehen, scheiterte. Wir konnten im Schein der Taschenlampe sehen, das das linke Bein demoliert und eingeklemmt war.
Während einer der Rettungssanitäter den Bergungswagen der Feuerwehr alarmierte, konnte ich nicht anderes tun, als dem bewusstlos stöhnenden und sicher schwer verletzten Mann eine rasch aufgezogene Morphium-Spritze von hinten in den einzigen größeren Muskel zu setzen, den ich erreichen konnte, in den Brustmuskel. Ich hoffte, wenigstens die Schmerzen zu lindern, wenn ich schon in dieser beklemmenden und eingeklemmten Lage nichts wirklich Helfendes erreichen konnte. Der Fahrersitz war blockiert und nicht weiter nach hinten zu kippen. Nicht einmal eine Blutdruckmanschette konnte ich benützen, weil wir das Jackett des Fahrers nicht ausziehen konnten. Wir kamen auch nicht an die Hand, sonst hätte ich versucht, dort eine Infusion anzulegen. Auch das Aufschneiden der Kleider hätte uns nicht geholfen.
So waren wir gezwungen, hilflos zu warten, während langsam das Röcheln leiser und die Atmung langsamer und flacher wurden. Ich hatte von hinten mein Stethoskop am Hals entlang auf das Herz geschoben und hörte, wie der letzte Herzschlag sanft im Brustkorb verklang. Da schwiegen auch wir und warteten betroffen auf den Bergungswagen, während der Winterwind leise durch die weißen Äste strich.
Nachdem der Tote nach vielen Bemühungen mit aufwendigem Rettungsgerät aus dem Schrottauto befreit und in den Sarg gebettet war, fuhren wir sehr, sehr langsam und wortlos in der Morgendämmerung durch den glitzernden Tannenwald zurück in die Klinik. Ein neuer Tag begrüßte uns mit der Pracht der strahlenden Winterlandschaft.
Als ich nachdenklich an der Pforte vorbeiging, kam ein freudig-aufgeregter Ehemann mit seiner hochschwangeren Frau vorbei: „Schnell, schnell, das Kind kommt, wo ist der Kreissaal?“ Diese Bemerkung zeigte mir das unveränderbare Gesetz: Kommen und Gehen, Geburt und Tod, Freude und Trauer, Tag und Nacht bestimmen abwechselnd unser Leben. Und so erlebten der Sterbende und das Neugeborene das für sie bestimmte Licht.
Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.