Der laute und wütende Mensch

Kennzeichen

Laute Menschen haben in ihrer Kindheit (meist von den Eltern) gelernt, dass dies die übliche Methode des Umgangs ist. Sie verursachen (Schall-)Druck, wenn sie Angst und Wut haben, ihr Ziel möglicherweise nicht zu erreichen oder zu verlieren. Brüllen und Keifen sind Formen von akustischer Vergewaltigung und Umweltverschmutzung.

Es handelt sich um ein Machtspiel, bei dem die Lautstärke und Aufplustern ein naturgegebenes Mittel darstellen und die Qualität der Argumente ersetzen oder beweisen sollen. Verhaltensforscher nennen das Imponiergehabe. Wer am lautesten brüllt, dominiert und darf sich die Partnerin aussuchen. Der Platzhirsch und die Brüllaffen sind typische Beispiele.

Ein Chef, der den Posten des Vorgesetzten verdient, hat es nicht nötig zu brüllen. Ein Chef, der glaubt, es gehöre zu seinen amtsgegebenen Privilegien, andere mit Gebrüll niederzumachen, sitzt meiner Meinung nach auf dem falschen Sessel. Er wurde mindestens eine Stufe zu weit befördert. Vielleicht ist er ein guter Mediziner, sicher aber kein guter Arzt. Und das ist für mich ein großer Unterschied.

Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Mediziner und einem Arzt? Der Mediziner behandelt einen Knochenbruch. Der Arzt behandelt einen Menschen, der an einem Knochenbruch leidet.

Ich habe Chefs erlebt, richtige Professoren, die von den Untergebenen gefürchtet waren, weil sie im Operationssaal in der Wut mit dem Skalpell oder einem anderen Instrument herumwarfen. Einer bezeichnete seine Assistenten und seine Oberärzte regelmäßig als Arschlöcher und Idioten, auch wenn die gemeinten Kollegen anwesend waren. Und wenn etwas im Haus nicht so lief, wie der Herr Professor es wollte, brüllte er so lange, bis er seinen Willen durchgesetzt hatte. Und keiner tat etwas dagegen. Als ich meinen Chef, einen anderen Professor im selben Haus, fragte, warum denn nicht wenigstens einer der Chefärzte sich gegen dieses indiskutable Verhalten wehre, bekam ich zur Antwort: „Er bringt mit seinen aufwändigen Operationen und seinen vielen Privatpatienten den weitaus größten Umsatz im Haus. Da getraut sich keiner, etwas zu sagen.“ Ich war glücklicherweise nicht Assistent des Messerwerfers, mit mir ging er freundlich um.

Menschen, die zum Brüllen und Keifen neigen, haben ein sehr labiles inneres Gleichgewicht und kippen leicht in unbeherrschte Umgangsformen. Viele haben hysterische / histrionische oder cholerische Züge. Außerdem ist dieses Verhalten grob unhöflich und ungezogen. Sie erkennen meist erst in einer therapeutischen Phase, dass sie ein zutiefst unsicheres Selbstwertgefühl haben und sich und anderen mit Lautstärke Sicherheit vorgaukeln müssen. Dieses trügerische Sicherheitsgefühl verselbständigt sich und wird nicht mehr hinterfragt. Deshalb ist es auch sehr unwahrscheinlich, dass sie je in eine Therapie gehen.

Wer laut wird, hat´s nötig und meistens nicht Recht. Wenn er Recht hat, braucht er nicht laut zu werden. Und Argumente werden nicht besser, wenn sie lauter werden. Wer mit Angst regiert, regiert meist nicht lang, allerdings mit großen Verlusten.

Was machen Sie mit einem lauten Menschen?

Sie müssen dem Lauten das Gefühl geben, dass Sie ihn ernst nehmen, denn er hat seit Kindheit das Gefühl, immer zu kurz zu kommen und nur wahrgenommen zu werden, wenn er laut wird.

Setzen Sie sich hin, und laden Sie Ihren Gesprächspartner dazu ein, am besten in einem geschlossenen Raum: „Lassen Sie uns das miteinander besprechen, setzen Sie sich doch.“ Im Sitzen kann man schlechter schreien und agieren, und im geschlossenen Raum nehmen Sie dem Schreier sein Publikum, vor dem er sich möglicherweise darstellen muss. Außerdem steckt er keine anderen Menschen mit dem Ärger-Virus an.

Sie können einen Versuch der Beruhigung machen, aber vermeiden Sie Provokationen. Nennen Sie den Namen Ihres Gesprächspartners. Das beruhigt ihn, weil er sich persönlich angesprochen fühlt:

„Herr Müller, ich verstehe Ihren Ärger / Ich verstehe, dass Sie sauer mit mir sind, ich möchte noch einmal wiederholen, was Sie mir gesagt haben.“

Dann wiederholen Sie seine Kritik in normalem und vernünftigem Ton. Damit bringen Sie das Gespräch auf eine konstruktive Ebene.

Lassen Sie sich von einem lauten Menschen nicht kleinschreien. Er aktiviert sonst in Ihnen Ihr eigenes Minderwertigkeitsgefühl, das Sie in ihm wie in einem Spiegel sehen. Er will sein Minderwertigkeitsgefühl mit Gebrüll loswerden, und sie spüren Ihres!

„Herr Müller, soll ich in gleichem Ton mit Ihnen reden?“

„Soll ich mir Ihr Verhalten zum Vorbild machen, Frau Schulze?“

„Herr Meier, sollen wir uns nicht lieber vernünftig unterhalten?“

Wenn Ihr Gesprächspartner laut wird, sollten Sie leiser werden. Im Allgemeinen sind brüllende Menschen in diesem Augenblick nicht mit vernünftigen und beruhigenden Worten beeinflussbar, weil sich -biologisch gesprochen- das Wutzentrum (der Mandelkern im Gehirn) verselbständigt hat und im Moment nicht willentlich beeinflussbar ist. Beim Computer würde man sagen, „er hat sich aufgehängt“ und kann deshalb nicht gesteuert werden. Manchmal provozieren Sie damit ein noch größeres Gebrüll, weil der Schreiende die Kontrolle verloren hat. Er hat gelernt, dass mehr vom selben (Gebrüll) mehr hilft. Zeigen Sie ihm, dass das bei Ihnen nicht wirkt.

Wenn gar nichts hilft, bitten Sie um eine Pause, schaffen Sie körperliche Distanz: „Ich denke, das Gespräch bringt uns so nicht weiter, lassen Sie uns eine Pause machen.“ Oder „Jetzt habe ich Ihnen zugehört, ich möchte darüber nachdenken.“ Dann verlassen Sie den Raum, und schließen Sie die Tür leise. Das hilft meistens, um das Geschrei zu stoppen.

Wenn Sie innerlich ruhig und stabil sind, können Sie den Brüllenden ausbrüllen lassen, bis sich sein Mandelkern beruhigt hat, dann haben Sie eher die Möglichkeit, das Gespräch langsam auf eine normale Gesprächsebene zu bringen. Meist tut es dem Schreier Leid, dass er sich daneben benommen hat. Unterlassen Sie es dann, Ihren Triumph zu zeigen! Sonst erniedrigen Sie ihn noch weiter, als er sich mit seinem Eingeständnis schon herabgesetzt hat.

Bleiben Sie ruhig, reden Sie langsam, und holen Sie tief Luft. Das entspannt und hält die Gefahr gering, dass auch Ihr Mandelkern „sich aufhängt“. Vertrauen Sie auf Ihre freundliche Gesinnung und die Kraft der „Dopamin-Dusche“.

Von manchen Menschen werden Sie aber gar nicht wahrgenommen, wenn Sie nicht in gleicher Lautstärke antworten. Wenn dies nötig ist, sollten Sie Ihre Stimme sehr kontrolliert heben und langsam und sehr deutlich werden: „Halt, jetzt möchte ich auch mal was sagen!“ Dabei müssen Sie sich emotional strikt zurückhalten. Sie müssen laut sein, ohne wütend zu werden. Auch dann sollten Sie l-a-n-g-s-a-m r-e-d-e-n! Sie dürfen nicht die Kontrolle über sich verlieren, sonst eskaliert das Schreiduell wie auf dem Kampfplatz der rivalisierenden Hirsche. Es ist dann nur noch ein testosterongesteuertes Gebrüll und hat mit guter Erziehung und gepflegter Streitkultur nichts mehr zu tun. Sie begeben sich dann auf die Ebene des Schreiers. Und die lehnen Sie doch ab, oder nicht? Aber zeigen Sie dem Platzhirsch Ihre Grenze, die er einzuhalten hat.

Sie können das Gebrüll des Platzhirsches auch über sich ergehen lassen und abwarten, bis der Lärm vorbei ist. Dafür brauchen Sie eine Imprägnierung für Ihre Seele wie der Mantel gegen den Regen, damit Sie keinen Schaden nehmen durch die akustische Vergewaltigung. Dann sollten Sie eine günstige Gelegenheit unter vier Augen nützen, um bei einer nächsten Begegnung über die Schreiszene zu sprechen und Ihr Befremden darüber ausdrücken, wie er / sie sich Ihnen gegenüber verhalten hat. Auch Brüllaffen haben eine friedliche Ader und sind in Ruhe zugänglich für vernünftige Argumente. Das hindert sie aber wahrscheinlich nicht, bei der nächsten Gelegenheit wieder zu brüllen.

Hysteriker und Choleriker kann man meist nicht ändern. Deshalb müssen Sie für Ihr eigenes Seelenheil etwas anderes überlegen. Wenn Sie ein Problem wirklich nicht lösen können, sollten Sie sich möglichst von dem Problem lösen, bevor Sie daran zugrunde gehen.

Noch ein Gedanke, der mich selbst oft beruhigt: Manche Menschen kann man nur ertragen, wenn man sie als Patient betrachtet, auch wenn sie Nachbarn, Kollegen oder Vorgesetzte sind. Man hat dann mehr innere Distanz und mehr Verständnis für die Entwicklung von unangemessenen Verhaltensweisen und inadäquatem Benehmen. Aber wir müssen uns vor Überheblichkeit und Selbstherrlichkeit hüten! In der St. Paul´s Kathedrale in Baltimore steht in einem längeren Text von 1692 mit der Überschrift „Desiderata“: „Meide laute und aggressive Menschen, denn sie sind eine Plage für die Seele. Wenn du dich mit anderen vergleichst, magst du eitel und bitter werden, denn es gibt größere und geringere Menschen als du.“

 Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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