Das verzögerte Ja-Wort

Trauungen finden in Bilderbüchern und Illustrierten immer bei Kaiserwetter statt. Es ist meistens Hochsommer, und die Sonne freut sich mit den Hochzeitsgästen und lässt ihre wärmenden Strahlen verschwenderisch über das Rathaus und die Kirche nebenan scheinen.

Stellen Sie sich einen herrlichen Kirchplatz vor, umsäumt mit den sachkundig restaurierten Fachwerkfassaden. Eines der alten Häuser hat man vor Jahren sogar wegen Baufälligkeit abgerissen und nach alten Plänen originalgetreu wieder aufgebaut. Die Geschäfte rund um die Kirche und den Markt sind gepflegt. Doch der genaue Blick zeigt, dass hier wenig Kundschaft kauft. Das nahe gelegene Einkaufszentrum und die verkehrsberuhigende Parkplatzpolitik des Gemeinderats haben dafür gesorgt, dass es erschreckend ruhig um die Kirche und den angrenzenden Marktplatz geworden ist. Diese Postkartenidylle zeigt das Alltagsbild. Hier ist nichts los. Es sei denn, jemand will heiraten wie heute.

Jetzt am Samstag kurz nach dem Mittagessen stehen hier vor der Kirche nur wenige Menschen. Dort drüben vor der Eisdiele versuchen ein paar junge Leute, sich in der prallen Sonne mit einem Eisbecher abzukühlen. Und am unteren Ende des Marktplatzes schauen die Gäste der Krone neugierig zu dem Geschehen vor der Kirche herüber.

Denn hier treffen jetzt nach und nach festlich gekleidete Herrschaften ein. Sie begrüßen einander herzlich und wie alte Bekannte. Die jungen Frauen freuen sich, dass sie die leichten Kleider anziehen dürfen. Louis hat das Trachtenjackett gleich im Wagen gelassen und ziert sein offenes weißes Hemd mit besonders breiten Hosenträgern. Die weiß-blauen Rauten und die eingestanzten Enzianblüten zeigen allen Beobachtern, welches sein Lieblingsbundesland ist. „Da braucht man jetzt bei der Hitz´n ein Weiz´n!“ erklärt er den Umstehenden.

Die Braut des heutigen Tages heißt Patricia und wird jetzt mit ihrem Bräutigam Pierre im blumengeschmückten Auto herangefahren. Sie steigen unter dem Beifall der Hochzeitsgesellschaft würdevoll aus.

Patricia ist im besten Heiratsalter, hat gerade ihre Ausbildung als Erzieherin absolviert und strahlt mit ihren schwarzen Augen ihr ganzes Glück in die Welt. Der Friseur hat heute morgen drei Stunden gezaubert, um das volle Haar der Braut zu zähmen. Unter dem breitkrempigen Hut quellen verschwenderisch schwarze Locken hervor, und das mit Brillanten besetzte Armband am linken Handgelenk blitzt im Sonnenlicht auf.

Sie hat es gestern von ihren Eltern nach der standesamtlichen Trauung feierlich überreicht bekommen: „Du weißt,“ hat ihr Vater in seiner Tischrede betont, „mein Vater hat es meiner Mutter zur Hochzeit geschenkt, und sie haben beide bestimmt, dass du es als ihre einzige Enkelin zur Hochzeit erhalten sollst.“

Das Brautkleid umhüllt Patricias gertenschlanken Körper mit einem hochweißen Kleid, in dem kleine Herzen Ton in Ton den Grund des Festes verkünden. Der runde Halsausschnitt wird durch eine kostbare Perlenkette zum Blickfang, die sie ebenfalls gestern von ihrer Schwiegermutter aus deren Familienschatz umgehängt bekam.

Die Braut hat es sich nicht nehmen lassen, ein Kleid mit einer Schleppe zu kaufen, die mit feinen Spitzen besetzt und nicht wie üblich ein verlängerter Schleier, sondern am Gürtel befestigt ist. Sie wird von ihren kleinen Nichten mit spitzen Fingern überaus gefühlvoll getragen.

Ein niedliches Zwillingspärchen sind die beiden, gerade mal fünf Jahre alt, und in ihren rosa langen Kleidchen mit den Spitzenkragen und den handgeflochtenen Margeritenkränzchen im blonden Haar ziehen sie alle Aufmerksamkeit auf sich. Um ihre zierlichen Handgelenkchen hängen liebevoll geschmückte und mit Blütenblättern gefüllte Bastkörb­chen. Daraus sollen sie nachher, hat Mama gesagt, „wenn Patricia und Pierre richtig verheiratet sind“ dem Braut­paar Blumen auf den Weg streuen, „damit sie glücklich werden.“

„Schau mal, wie süß sie sind!“ Tanta Martha deutet auf die beiden Mädchen, ist ganz entzückt und sagt es jedem, auch denen, die es schon ein paar mal gehört haben. Sie fächelt sich mit ihren durchbrochenen Handschuhen an den feisten Armen Luft in ihr aufgedunsenes und rot glühendes Kugelgesicht und seufzt: „Ach Gottchen, mein Blutdruck! Mein Doktor sagt immer, ich soll nicht in die Wärme stehen. Oje, ist das heute schwül!“

Sie wischt sich den Schweiß ab, der ihre teuren Dauerwellen anklebt und an ihrem wulstigen Nacken herunterläuft. Die Falten im Gesicht hat sie von der Kosmetikerin sorgfältig dekorieren -im Klartext: übertünchen- lassen. Ein triftiger Fall zum Liften ist sie noch nicht, aber ihrer Freundin hat sie neulich einmal anvertraut, dass sie jeden Monat eine bestimmte Summe auf ein Konto legt, um die doch sicher unvermeidliche Schönheitsoperation bezahlen zu können, wenn´s nötig wird. Die schwere Goldkette glänzt auf dem nassen Dekolleté über dem schwer atmenden Busen. Das Brokatkleid stammt aus dem vorigen Jahrhundert, ist viel zu warm und macht sie noch matroniger. Aber sie musste es anziehen! Wann hat man schon die Gelegenheit, der Verwandtschaft zu zeigen, was man besitzt!

„Hat der Doktor dir auch gesagt, dass du abnehmen sollst?“ fragt Florian, das ist Patricias zwölfjähriger Bruder, so von unten herauf, und sein verschmitztes Lächeln erstirbt sofort, als seine Mutter ihn scharf zurechtweißt: „Aber Flori, so was sagt man doch nicht!“

Er fragt in aller gebotenen Harmlosigkeit zurück: „Wieso, Mama, du sagst doch immer, wenn ich etwas wissen will, soll ich fragen!“

Die Mama dreht sich verlegen zur Seite. Immer dieser vorlaute Kerl, denkt sie. Er ist in letzter Zeit so frech! Aber Martha sieht ja auch wirklich schrecklich aufgedonnert aus!

Der Bräutigam steht schüchtern und doch mit bewundernden Blicken für seine junge Frau inmitten der Gesellschaft. Er ist sehr stolz, dass er seine geliebte Patricia heute zum Traualtar führen darf. Bei diesem Gedanken bemerkt er, wie sich seine schmale Brust um Millimeter hebt und die hellblaue Weste, die silbergraue Krawatte mit den hellen Punkten und das dunkelblaue Jackett nach vorn drückt.

Er öffnet den obersten Knopf am Hemd, holt vorsichtig sein weißes Taschentuch aus der Hose und tupft sich verstohlen die Schweißperlen von der Stirn. Es ist so ungewohnt für ihn, einen Anzug zu tragen, denn an seinem Schreibtisch im Finanzamt braucht er nie eine solch formelle Kleidung. Ein leiser Seufzer entfleucht seinen blutleeren Lippen.

Patricias Vater schaut in die Runde und sieht, wie Pfarrer Sebastino aus der Kirche kommt, um das Paar abzuholen. Er begrüßt die Gesellschaft und lädt die Gäste ein, sich in die Kirche zu setzen.

Als der Pfarrer mit dem Brautpaar allein im Portal steht, fasst Patricia ihren Pierre zärtlich an der Hand und flüstert nervös: „Jetzt geht´s los! Hoffentlich fange ich nicht wieder vor Freude an zu weinen wie gestern auf dem Standesamt!“ Sie nestelt nervös an ihrem Ausschnitt und an ihren Haaren und versucht dabei zu verbergen, dass sie vor lauter Aufregung einen Schweißausbruch hat. Dann wechselt sie ständig die weiße bestickte Tasche von einer Hand in die andere, so dass die kunstvollen Handschuhe etwas zerknittert sind. Ihr Atem wird schneller, und ihre Brust hebt sich unregelmäßig. Sie stöhnt: „Oh Gott, wie ist es heiß hier! Lass uns ins Kühle gehen.“

Sie dreht sich vorsichtig zum Portal und achtet darauf, dass die beiden Nichten mit der Schleppe nachkommen. Man könnte glauben, sie schwebe über das Steinpflaster, würden nicht ihre Stöckelabsätze wie leise Pistolenschüsse unter ihrem langen Rock knallen.

Die Orgel beginnt mit dem traditionellen Hochzeitsmarsch „Treulich geführt“, die Gäste erheben sich von den Kirchenbänken, und der Pfarrer schreitet mit dem Brautpaar feierlich den langen Gang zum Altar nach vorn. Patricias Mama wischt sich ein paar Tränen aus den Augen.

Als die beiden glücklichen Menschen nebeneinander vor dem Altar stehen, schauen sie sich verliebt an, und jeder, der diesen Blick sieht, spürt, dass sich das richtige Pärchen gefunden hat. Pierre ist in froher Erwartung, dass sein sehnlichster Wunsch jetzt gleich in Erfüllung geht. Dann beobachtet er, wie sich ein blasser Schatten über Patricias Gesicht legt. Ihre Schweißperlen sind nicht zu übersehen, schon deshalb weil sie feuchte Straßen in das kunstvolle Make-up gravieren. Patricias Halsschlagadern pulsieren so heftig, dass es sogar seinem medizinisch ungeübten Blick auffällt.

„Liebling, was ist mit dir?“ flüstert Pierre besorgt und greift nach der Hand seiner Braut. Er rutscht dabei an ihren verschwitzten und kalten Händen ab. Ihr heißer Atem fließt stoßweise, die Blässe wird durch den  roten Lippenstift noch deutlicher. Ihre Finger verkrampfen sich in seiner Hand.

„Nichts, nichts,“ stößt sie hervor, nur ein bisschen schwindelig!“ Sie sinkt auf den Stuhl und schnappt nach Luft. Und Pierre sieht, wie ihre Augen angstvoll geweitet sind.

„Sie bekommt zu wenig Luft!“ sagt Pierre zu dem Pfarrer, der ebenfalls bemerkt hat, dass es der Braut nicht gut geht. Er nimmt Patricias Hand und redet ihr ruhig zu: „Keine Sorge, wir machen eine kleine Pause. Schließen Sie mal einen Moment Ihre Augen! Atmen Sie ganz ruhig durch.“ Seine wohltuende Stimme wirkt wie Balsam auf Patricias aufgeregte Atmung, und die Farbe kehrt langsam  wieder in ihr Gesicht zurück. Nach einer kleine Weile nickt sie ihm zu: „Ich glaube, jetzt geht´s!“

Pfarrer Sebastino steht vor dem Altar und eröffnet mit feierlicher Stimme den Gottesdienst: „Wir beginnen im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!“

Seine weiteren Worte und die Predigt fließen teilweise an Patricia vorbei. Sie konzentriert sich auf ihren dringenden Wunsch, unbedingt ganz beherrscht zu sein. Und Pierre, der sie immer wieder aus dem Augenwinkel betrachtet, erkennt, wie seine Frau immer schneller atmet. Auch Patricias Mutter, die schräg hinter ihr sitzt, blickt mit sorgenvollem Ausdruck in den Augen zu ihrer Tochter.

Jetzt bemerkt der Pfarrer die wiederkehrende Unruhe der Braut. Er versucht, mit einer beruhigenden Handbewegung auf Patricia einzuwirken und kommt schneller als üblich zu der eigentlichen Trauzeremonie. Er will die belastende Situation für die Braut abkürzen: „Und jetzt bitte ich Sie, zu dem Trauversprechen nach vorn zu treten!“

Patricia will aufstehen, fällt wieder zurück, Pierre stützt sie, lässt sie wieder auf den Stuhl sinken, schaut angstvoll zu seiner Frau und den Eltern dahinter. Jetzt sehen alle, dass die Braut in Not ist und Pierre in großer Sorge.

Patricia stöhnt: „Oje, mir ist so schlecht. Ich bekomm keine Luft!“

„Aber dann müssen wir mehr Luft reinlassen!“ fordert der Bräutigam mit zitternder Stimme. Die Eltern des Brautpaares und einige Gäste eilen nach vorn und stehen unruhig um die Braut herum. Jeder hat einen anderen Rat: „Du musst noch schneller atmen!“ meint Louis und hält sich wichtigtuerisch an seinen Hosenträgern fest. „Nein, nimm doch mein Duftwässerchen!“ widerspricht Tante Martha und nestelt in ihrem Handtäschchen. „Aber nein, das ist doch völlig falsch! Sie braucht eine Spritze!“ – Ihr müsst sie hinlegen!“ – Nein, sie muss sitzen bleiben!“ – „Sie soll herumlaufen!“ – Aber nicht doch, das ist ein Herzinfarkt, da muss man liegen!“ weiß Louis ganz überlegen.

Die hektischen Stimmen schreien durcheinander, und die arme Patricia ist so mit sich und dem verzweifelten Versuch beschäftigt, ihre Fassung zu bewahren, die sie eigentlich schon längst verloren hat, dass sie überhaupt nichts mehr hört, was um sie herum geschieht. Sogar der an Aufregung gewöhnte Pfarrer Sebastino wird etwas ratlos. So viel Trubel hat auch er in den vielen Jahren noch nicht erlebt. Er schaut zuerst unsicher zu und geht nervös hin und her. Dann sagt er sehr bestimmt mit einem Blick zur Festgemeinde: „Ich glaube, wir brauchen einen Notarzt!“

„Mach ich!“ sagt der Mann mit den festlichen Hosenträgern, zieht sein Telefon aus Tasche, hält es so hoch, dass der Pfarrer sieht, wie rasch sein Wunsch befolgt wird, und geht mit schnellen Schritten in den hinteren Teil der Kirche, um zu telefonieren.

Plötzlich ist es ruhig im Raum, aber nur eine Schrecksekunde lang, dann beginnt das Geschnatter um so hektischer wieder von Neuem. Alle Anwesenden sind von einer solchen Aufregung erfasst, dass sie einander beiseite boxen. „Wir müssen jetzt ganz ruhig sein,“ faucht Tante Martha, „damit die arme Patricia sich fangen kann!“

„Dann sei doch mal endlich still!“ entfährt es scharf dem Bräutigam, und am meisten erschrickt er selbst über seinen Mut, dem aufgeplusterten Familienfeldwebel zu widersprechen.

„Also, hör mal, was erlaubst du dir!“ Tante Martha lässt ihre Stimme schrill überschnappen, und sie hebt ihren großen Busen noch ein paar Zentimeter höher, als wolle sie den frechen Bräutigam körperlich in Schranken weisen.

Patricia ist inzwischen in ihrem Stuhl noch weiter nach unten gesunken, sie fällt fast auf den Boden, klammert sich verzweifelt mit rutschenden Handschuhen an die Lehnen und ringt hektisch atmend nach Luft. „Mein Gesicht wird so eng!“ seufzt sie mit einer weinerlichen Stimme. „Es kribbelt so! Ich brauch´ mehr Luft!“

Da kommt Louis mit dem Telefon zurück und verkündet: „Der Not­arzt kommt gleich. Wir sollten ein bisschen Platz für ihn machen.“ Und mit einer freundlich bestimmten Geste deutet er auf die Eingangstür: „Ich denke, wir sollten die Braut in Ruhe lassen. Der Bräutigam und ich bleiben hier.“

Aber die Gäste verstehen die Aufforderung nicht, sie werden nur noch nervöser und schnattern auf die arme Patricia genau so besserwisserisch und hektisch ein wie vorhin. Da hören sie aus der Ferne schon das Martinshorn rasch näherkommen. Der Notarztwagen und ein Krankenwagen stoppen nach kurzer Zeit vor der Kirche, die Gäste rennen aufgeregt ans Portal: „Sie kommen!“ Der Möchtegern-Bayer brummt mit nachgeahmtem Dialekt vor sich hin: „Dös hamma scho´ g´hört!“

Pierre kniet mit Tränen in den Augen neben seiner Patricia: „Was soll ich denn tun, Liebes, du kannst doch jetzt keinen Herzinfarkt haben. Wir wollen doch heiraten! Ich liebe dich doch!“

Mit raschen Schritten stehen die Männer vom Roten Kreuz und der Notarzt bei Patricia, die weinend versucht, sich auf dem Stuhl zu halten.

Der Arzt hat mit einem raschen Blick die schnelle und tiefe Atmung, die verkrampften Hände, das schweißnasse Gesicht und den angstvollen Blick der Braut erfasst. Er beugt sich über sie: „Ich bin Dr. Petersen, guten Tag! Ich weiß, dass Sie sehr aufgeregt sind. Aber es ist nichts Schlimmes! Wenn Sie tun, was ich Ihnen sage, kann ich Ihnen rasch helfen!“

„Aber das ist sehr schlimm, Herr Doktor, wie können Sie so etwas sagen! Sie müssen ihr sofort eine Spritze geben!“ Pierre ist außer sich vor Sorge.

Dr. Petersen bleibt ruhig: „Es geht wahrscheinlich auch ohne Spritze, wenn Ihre Frau langsamer atmet und in diese Tüte bläst.“ Er greift in seine Jackentasche, zieht eine kleine Plastiktüte heraus und erklärt: „Sie haben in der Aufregung viel zu schnell geatmet. Das ist wie wenn Sie ein Luftmatratze oder einen Luftballon zu schnell aufblasen. Dann wird es Ihnen auch schwindelig. Wenn sie in die Tüte atmen und dieselbe Luft wieder einatmen, können sich die Calciumionen wieder aus den Bindung ans Eiweiß in Ihrem Blut freisetzen. Dann geht es Ihnen rasch besser, und ich brauche Ihnen keine Spritze zu geben. Sie müssen nur richtig flach und langsam atmen.“

Er will die Tüte über Patricias Mund und Nase halten. Aber da schreit Patricia auf: „Nein! Dann bekomm´ ich doch gar keine Luft!“ Sie schlägt ihm die Tüte aus der Hand. Dr. Petersen weicht zurück. Er erkennt, dass er mit seinem vernünftigen Vorschlag keinen Erfolg hat. Und seine medizinischen Erklärungen kommen jetzt in dieser hektischen Situation bei Patricia nicht an.

Dr. Petersen wendet sich zu dem Rettungssanitäter und sagt knapp: „Also Calcium i.v.!“ Dieser hat auf das Kommando schon gewartet, und der Koffer mit den Medikamenten und Spritzen steht bereits offen. Mit ein paar geübten Handgriffen zieht der junge Mann die Flüssigkeit aus der Ampulle in die Spritze und setzt eine Kanüle auf. Mittlerweile hat Dr. Petersen den Stauschlauch um den Oberarm der Braut geschlungen und festgezurrt. Die Vene ragt prall in der Ellenbeuge hervor, und Dr. Petersen hält mit einer Hand den Arm fest und sticht mit der Kanüle zielsicher in das Gefäß. Während er langsam injiziert, sagt er zu Patricia: „So das hilft jetzt gleich. Wenn es warm wird, sagen Sie es mir, dann kann ich etwas langsamer spritzen.“

Er beobachtet die Patientin. Pierre hält sie liebevoll fest, und die meisten anderen Hochzeitsgäste sind inzwischen ruhig geworden und schauen gespannt zu, was hier geschieht. Eine Notfallbehandlung am Traualtar erlebt man schließlich nicht bei jeder Hochzeit!

Und Tante Martha hat sich auf die Bank in der dritten Reihe zurückgezogen, fächelt sich frische Luft und Mut zu und stöhnt vor sich hin: „Nein, so was! Dass ich das auf meine alten Tage noch erleben muss!“

Tatsächlich! Patricia wird wieder etwas rosiger im Gesicht und sagt: „Ich glaube, es geht ein bisschen besser!“ Dr. Petersen drückt den Rest der Spritze vollends in die Vene, zieht die Kanüle heraus, beobachtet die Braut und sagt lächelnd: „Na, können Sie jetzt heiraten?“

Pierre streichelt liebevoll Patricias Gesicht: „Liebling, meinst du, das geht jetzt?“ Sie überlegt und flüstert zaghaft: „Ich will´s versuchen!“

Pierre spürt nicht sehr viel Überzeugung in ihren Worten, aber er spielt mit in der Hoffnung, dass es klappt: „Also, Herr Pfarrer, bitte helfen Sie uns!“ Und zu Dr. Petersen gewandt sagt er: „Bitte, bleiben Sie da! Für alle Fälle! Es dauert ja nicht lang!“

Dr. Petersen nickt, gibt seinen vier Rettungssanitätern ein Zeichen mit der Hand in Richtung Kirchenbank, und die fünf Herren setzen sich in die erste Reihe. Keiner von ihnen hat je eine Hochzeit im Notdienst miterlebt.

Pfarrer Sebastino klatscht in die Hände und sagt mit erhobener Stimme: „Liebe Hochzeitsgemeinde, bitte kommen Sie zu Ihren Plätzen zurück. Wir wollen die Zeremonie fortsetzen.“

Während die Gäste aus der ganzen Kirche zusammeneilen und der Mann mit den Hosenträgern rasch seine Zigarette ausdrückt, bevor er die Kirche betritt, sieht Dr. Petersen, wie Patricia wieder anfängt, schneller und tiefer zu atmen. Er beugt sich vor und flüstert ihr zu: „Langsam und flach! Das ist wichtig!“

Sie schaut zu ihm herüber, nickt mit ängstlichem Blick und merkt nicht, wie ihre Atmung noch rascher wird. Pfarrer Sebastino beginnt: „Bitte, liebes Brautpaar, erheben Sie sich. Ich werde Sie jetzt fragen, ob Sie die Ehe miteinander eingehen wollen!“

Das Brautpaar steht langsam auf, und Patricia stöhnt: „Mir ist so eng im Gesicht! Es geht wieder los!“ Sie klammert sich an Pierre, der erschrocken zu Dr. Petersen schaut.

Da steht der Arzt auf und sagt freundlich zu Pfarrer Sebastino: „Ich glaube, das wird heute nichts. Ich möchte die Braut mit in die Klinik nehmen, damit sie zur Ruhe kommen kann. Sie sollten die kirchliche Hochzeit verschieben.“

„O nein!“ weint Patricia los und zittert am ganzen Leib. „Ich will nicht in die Klinik. Ich will doch heiraten!“ Sie verdreht die Augen, und Pierre und Dr. Petersen könne sie gerade noch auffangen, bevor sie gebremst von den starken Männerarmen auf den roten Teppich vor dem Altar gleitet. Sie atmet tief und schnell, ihre Hände sind krampfartig gestreckt.

Dr. Petersen kommandiert leise und bestimmt seine Sanitäter: „Trage und Calcium mit Braunüle!“ Zwei Rettungssanitäter rennen hinaus, um die Trage aus dem Wagen zu holen, der dritte zieht noch einmal eine Ampulle auf. Innerhalb von Sekunden sitzt auch diese Injektion mit einer Kanüle, die Dr. Petersen in der Vene liegen lassen kann. Er beobachtet, wie das Medikament langsam hineinfließt.

Die Trage rattert durch den Kirchengang. Die Sanitäter heben Patricia hinauf, schlagen die Gurten um sie herum, um sie zu sichern. Und die Gäste schauen zu, wie die Braut mit nachgeschleifter Schleppe aus der Kirche gefahren wird. Einer der Rettungssanitäter tritt versehentlich darauf, und der Stoff reißt krachend vom Kleid.

In dem engen Gang rennt Pierre hinter seiner Braut her und ruft: „Liebling, ich fahr euch sofort nach! Hörst du mich?“

Sie antwortet nicht, weil sie weinend die Hände vors Gesicht geschlagen hat. Mit wenigen Griffen wird sie in den Notarztwagen geschoben. Die Türen klappen zu. Der Wagen fährt ab.

Pierre und die anderen Hochzeitsgäste rennen zu ihren Wagen, steigen in aller Hektik ein, die Motoren springen an, und die Kolonne setzt sich in Bewegung. Voraus rast der Notarztwagen mit Martinshorn und Blaulicht. Dann folgt der Krankenwagen.

Dahinter sitzt Pierre im Hochzeitsauto. Schon beim Anfahren hört er ein schreckliches Geklapper. Zuerst denkt er, der Motor sei kaputt, dann hat er den Geistesblitz: „Dosen an der Stoßstange!“

Tatsächlich sitzt im nachfolgenden Wagen Florian und weiß nicht so recht, ob seine Idee wirklich gut war, zwanzig Dosen an das Auto zu binden. Aber er freut sich wenigstens über das Schild, das er kunstvoll mit „Just married“ gemalt hat. Es klebt auf der Heckscheibe.

Die Passanten drehen sich um, als sie den ungewöhnlichen Konvoi an sich vorbeirasen sehen. Florian erschrickt: Die Dosen überschlagen sich wild in den Kurven und reißen sich durch die schneller Fahrt los. Eine Dose knallt einem Kind auf dem Bürgersteig an den Kopf. Die Platzwunde blutet sofort. Das Kind schreit.

Weiter geht die Jagd ins Krankenhaus. Im Notarztwagen liegt Patricia mit ihrem zerrissenen Hochzeitskleid auf der Trage und weint. Der Rettungssanitäter reißt ein Heftpflaster von einer Halterung ab und klebt den klaffenden Schlitz an der Seite einfach zu: „Sieht nicht schön aus, aber hält!“ sagt er mehr für sich als zu Patricia.

Sie ist inzwischen durch die beiden Spitzen wieder so weit hergestellt, dass sie Dr. Petersen zuhören kann, der beruhigend auf sie einredet: „Bitte, glauben Sie mir doch. Sie Sache mit der Tüte sieht zwar komisch aus, aber sie hilft wirklich. Probieren Sie es wenigstens!“

„Also gut!“ Patricia gibt nach und greift nach der Tüte. Dr. Petersen lässt die selbst die Tüte über Mund und Nase halten, und zuerst sehr ungläubig atmet sie langsam in die Tüte und zieht die Luft wieder ein. „Prima!“ lobt Dr. Petersen, „und jetzt ganz langsam weiter!“ Patricia spürt, dass sie genügend Luft bekommt und dass sie sich sogar von Atemzug zu Atemzug wohler fühlt. Sie schaut den Arzt mit verwunderten Augen an, und er sieht, dass sie zuversichtlicher wird.

Er versucht noch einen nächsten Schritt: „Und jetzt halten sie mal kurz die Luft an, dann steigt der Kohlendioxidspiegel in ihrem Blut, und sie bekommen noch mehr Calciumionen frei!“ Er weiß nicht, ob sie diese Erklärung versteht, aber Patricia stoppt tatsächlich ihre Atmung für kurze Zeit, beobachtet Dr. Petersen dabei, und als er nickt, atmet sie langsam wieder aus. „Na also, klappt doch!“ ermuntert er sie, und Patricia kann sogar schon ein bisschen lächeln.

Der Notarztwagen biegt in die Krankenwageneinfahrt der Klinik, die Tür schließt sich automatisch. Die Rettungssanitäter steigen aus und ziehen die Trage mit der Patientin heraus. Sie fahren gemeinsam zur Ambulanz, wo Patricia rasch in eine leere Kabine geschoben wird.

Pierre ist inzwischen mit den anderen Hochzeitsgästen auch auf dem Klinikparkplatz eingetroffen. Sie rennen zur Pforte: „Ich bin der Bräutigam! Wo ist meine Frau?“ ruft er angstvoll der Pförtnerin zu. Diese deutet zum Lift: „Zweiter Stock, Innere Ambulanz! Und alles Gute!“ Die Verwandten zwängen sich in den Aufzug, fahren hoch, klingeln an der Anmeldung und werden freundlich zurückgewiesen: „Bitte, warten Sie noch einen Moment, bis die Patientin sprechbereit ist!“ Pierre ist entsetzt: „Aber meine Frau braucht mich! Lassen Sie mich hinein, nur wenigstens mich!“ bittet er inständig! „Also gut, kommen Sie rein,“ gibt die Schwester nach und öffnet die Tür.

Patricia liegt jetzt ruhiger auf der Trage, und Dr. Petersen hält ihre Hand: „Na schauen Sie mal, da ist ja Ihr Mann!“ – Pierre stößt einen Seufzer der Erleichterung aus, als er sieht, das es seiner Patricia wieder besser geht. Aber Patricia bricht in Tränen aus und umarmt ihren Pierre: „Liebling, was für eine Schande! Ich hab dir die ganze Hochzeit verdorben. Wie kann ich das wieder gut machen!“

Pierre nimmt sie herzlich in seine Arme: „Indem du mich bei der allernächsten Gelegenheit nochmal heiratest!“ Er macht ein kurze Pause und fügt lachend hinzu: „Wir sind doch seit gestern schon verheiratet, falls du das in deiner Aufregung vergessen hast.“

Und mit einem schelmischen Blick zu Dr. Petersen sagt er: „Das nächste Mal heiraten wir in der Krankenhauskapelle, und Sie sind herzlich dazu eingeladen. Einverstanden?“

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht.

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