(Dies ist eine Geschichte meiner Frau Birgit, die wir in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht haben.)
Schon als Kind konnte ich nicht ruhig auf dem Stuhl sitzen bleiben. Obwohl ich ein zierliches Mädchen war und alle Bekannten mich für ein lebendiges Püppchen hielten, suchte ich ständig nach Abenteuern. Ich war meistens mit den Buben zusammen und kletterte an den gefährlichsten Hängen, Dächern und Bäumen herum. Alle Familien mit gleichaltrigen Kindern kannten mich in der Umgebung, weil ich regelmäßig fast überall zu Gast war. Auch heute noch meine ich, dass ich ein richtige kindliche Streunerin war. Und im Rahmen meiner vielfältigen Aktivitäten ist die Aktion Erdmann eines meiner wichtigsten Kindheitserlebnisse.
Ich war acht Jahre alt, als ich mit meinen Eltern und meinen beiden Geschwistern in dem Block einer Wohnsiedlung lebte. Beamte, Angestellte der Gemeinde und einiger Firmen, Arbeiter, auch Menschen aller Altersstufen wohnten hier friedlich beieinander. Wir Kinder spielten unabhängig von unseren sozialen Herkunft gern und regelmäßig miteinander. Auf der Straße veranstalteten wir Rollschuhwettrennen, weil wir auf der großen Wiese vor dem Haus nicht spielen durften und immer von dem Hausmeister mit wütenden Worten verjagt wurden. Er achtete auch darauf, dass wir keinen Lärm machten und die Mittagsruhe einhielten. Obwohl in unseren Häuserblocks viele Kinder lebten, verhielten sich manche Erwachsene recht kinderfeindlich.
Eines Tages sah ich, wie Roswitha mal wieder mit einem völlig verdreckten Kleid und vom Schweiß verklebten Haaren auf der Straße stand. In der einen Hand hielt sie ein Brot und mit dem Zeigefinger der anderen holte sie sich die Würze dazu aus der Nase.
Das rotweiße Kleid Roswithas war durch die Schmutzflecken mit einer Einheitsfarbmischung getüncht, einer Mischung aus grau und braun, Öl und Straßendreck. Zwei der Knöpfe waren abgerissen, und deshalb konnte ich das schmutzige Unterhemd durch den vorderen Kleiderschlitz blitzen sehen. Die Unterhose hing unter dem Kleid hervor und war so groß, dass sie eigentlich nur von einem der älteren Brüder Roswithas stammen konnte. Abgesehen davon wusste ich, wie diese Unterhose roch, denn Roswitha war noch nicht ganz trocken, trug häufig keine Windel und ließ ihren Bedürfnissen freien Lauf. Schon allein deshalb wollten wir gerade mit ihr nicht gern spielen.
Roswitha gehörte zur Familie Erdmann aus unserem Haus und war drei Jahre alt. Sie hatte zwei ältere Brüder, nämlich Herbert und Franz, und ihre jüngeren Schwestern Angelika und Sabine. Ich wusste, dass auch Erdmanns Wohnung ähnlich aussah und roch wie Roswithas Kleid.
Während ich Roswitha beobachtete, stand ich in unserer Wohnung am Fenster, aß einen knackigen Apfel und spürte plötzlich, wie mir der Apfel fast wieder hochkam. Ich konnte einfach nicht mehr weiteressen.
Mir schoss der Gedanke durch den Kopf: So kann es mit den Kindern nicht weitergehen! Jetzt muss etwas geschehen! Mir war klar, dass die Familie sich offensichtlich nicht selbst helfen konnte. Also überlegte ich, wie ich mit meinen acht Jahren einen Beitrag leisten könnte, um diese Zustände in der Familie Erdmann zu verbessern. Da kam mir eine Idee.
Ich rief meine Freundin an, die direkt über Erdmanns wohnte: „Veronika, ich muss unbedingt mit dir reden! Wir müssen uns sofort am Baum hinterm Haus treffen und etwas Wichtiges besprechen!“
Sie antwortete: „Birgit, ich muss aber für meine Mama einkaufen!“
Ich ließ mich nicht abwimmeln: „Also gut, dann gehe ich mit zum Einkaufen, und wir reden auf dem Weg! Es ist sehr wichtig! Es muss dringend etwas passieren!“
Als wir zum Bäcker und Metzger gingen, besprachen wir meinen Plan. Veronika war sofort begeistert und meinte: „Dazu brauchen aber Wolfgang, Alexander und die Ursula! Die machen bestimmt mit! Wir müssen gleich mit ihnen reden!“
Auf dem Rückweg machten wir einen Umweg über den Spielplatz, weil wir hofften, dass die drei dort sind. Wir hatten Glück und konnten unser Vorhaben tatsächlich bei der Schaukel besprechen.
„Ja, wann machen wir´s denn?“, fragte Wolfgang, als der Plan klar ausgeheckt war. „Um vier Uhr morgen Nachmittag, weil Frau Erdmann dann zur Spätschicht geht!“ war meine Antwort. Alle waren einverstanden, und wir verabredeten uns wie Verschwörer zum nächsten Tag: „Wir machen Aktion Erdmann! Aber das bleibt unser Geheimnis!“
Als wir gerade wieder auseinander gehen wollten, wurde Ursula nachdenklich: „Und wie kommen wir in die Wohnung?“
Ich schlug vor: „Wir müssen es Herbert sagen, der lässt uns rein.“
Am nächsten Nachmittag trafen wir uns pünktlich um vier Uhr vor dem Haus. Als wir sahen, dass Frau Erdmann ums Eck verschwunden war, stürmten wir die Treppe zu ihrer Wohnung hoch und klingelten: Herbert öffnete und fragte verwundert: „Was wollt ihr denn alle?“
„Wir machen Aktion Erdmann!“ flüsterten wir fast wie aus einem Mund -denn im Treppenhaus sollte das natürlich niemand hören- und drängten ihn zur Seite. „Lass uns rein! Wir erklären dir alles!“
Als die Tür hinter uns zu war, überschütteten wir ihn mit unserem Plan. Wir redeten alle gleichzeitig, weil es uns doch so wichtig war. Aber Herbert verstand sofort und war begeistert: „Das ist klasse! Da muss ich schon keine Hausaufgaben machen und nicht alleine spülen! Also los geht´s!“ Er warf seine Hefte in die Schultasche.
Wir wollten uns an den Tisch setzen und besprechen, in welcher Reihenfolge wir vorgehen. Aber da mussten wir erst mal aufräumen, denn auf den Stühlen lagen Kleider und klebten Essensreste. Auf dem Tisch stand noch das schmutzige Geschirr vom Mittagessen, und an den Resten sahen wir, dass es bei Erdmanns nichts Gutes zum Essen gab.
„Was habt ihr denn heute gegessen? fragte ich Herbert. Er murrte: „Nur eine Fertigbrühe und Brot. Ich hab das Essen schnell nach der Schule gemacht, weil Mama noch im Bett lag. Und wir hatten alle Hunger!“
„Wisst ihr was, wir müssen zuerst mal die ganze Wohnung anschauen, und dann überlegen wir, wo wir anfangen!“ Ich übernahm unbewusst die Leitung der Aktion.
In der kleinen Küche stand auf allen möglichen Flächen sehr viel ungespültes Geschirr, an dem die verkrusteten Speisereste festgetrocknet waren. Seit mehreren Tagen hatte hier niemand mehr gespült. Der Herd war von altem Fett verklebt, die Platten waren auch am Rand verschmiert, und ich konnte ihre Abgrenzungen nicht mehr erkennen. Die Vorhänge konnten wir an einem Zipfel ziehen, und sie waren so starr vor Dreck, dass wir nicht einmal eine Vorhangstange brauchten, um den Stoff gerade zur Seite zu bewegen. Die Schränke waren sicherlich schon seit Erdmanns Einzug vor ein paar Jahren nicht mehr gereinigt worden.
Im Wohnzimmer lagen und standen leere Bierflaschen auf dem Boden und auf dem Tisch. In den Ecken hatte sich Müll angesammelt, den wir in diesem Moment noch nicht genau anschauten.
In den beiden Zimmern, in denen die fünf Kinder schliefen, standen zwei Stockbetten und ein Säuglingsbett, in dem Sabine gerade ihre schmutzigen Zehen in den Mund steckte. Die Bettwäsche war verdreckt und lag zerknüllt herum. Ich konnte erkennen, wie die Kinder mit ihren Fetthänden an den Fenstern auf- und abgefahren waren. Wahrscheinlich hingen sie oft am Fensterbrett und warteten auf die Eltern.
In der Badewanne lagen schmutzige Windeln und verbreiteten einen Gestank wie ein volles Toilettenhäuschen in der prallen Sonne. Der Dreck am Wannenrand ließ uns vermuten, dass man bei einem Bad schmutziger herauskommt als man hineinsteigt. Nachdem wir das alles gesehen hatten, getrauten wir uns nicht mehr, die Toilette zu besichtigen.
„Oje! Was hab ich uns da eingebrockt!“ Ich stand mit offenem Mund im Flur und war ratlos: „Das schaffen wir nie!“
Aber Herbert gab uns wieder Mut: „Wir können ja in der Küche anfangen! Das ist doch schon mal was! Wir teilen ein, wer was macht!“
Also bekamen die Jungs die leichteren Aufgaben wie Staub wischen und saugen und Aufräumen im Wohnzimmer. Wir Mädchen gingen in die Küche und übernahmen die Spülarbeiten und das Entfernen der Fettschichten an allen Wänden und Stellflächen.
Am Anfang kostete es uns sehr viel Kraft und Zeit, die festgeklebten Krusten abzukratzen und die Fliesen abzuseifen. Aber schließlich erkannten wir, dass der Erfolg zwar sichtbar, aber doch nicht vollständig sein konnte. Unser Ekel vor dem verschmierten Dreck schwand mit jedem sauberen Zentimeter, den wir der Schmuddelküche abringen konnten.
Zwischendurch schauten wir nach den Jungen und gaben ihnen Ratschläge, wo sie den Müll und die noch brauchbaren Gegenstände hinräumen sollten, die wahllos herumlagen. Und in den Schlafzimmern zogen wir die übel riechende Bettwäsche ab und wechselten sie gegen saubere, so weit wir überhaupt welche fanden.
„Das macht ja richtig Spaß!“ sagte Veronika, als wir langsam sahen, wie unsere Heinzelmännchenarbeit sichtbar wurde.
Nach ein paar Stunden, als wir uns gerade überlegten, wann wir wiederkommen und weiterarbeiten würden, hörten wir, wie Herr Erdmann versuchte, im Flur den Wohnungsschlüssel in das Schloss zu stecken. Nach mehreren Anläufen schaffte er es schließlich und kam herein. Er schwankte auf uns zu und lallte: „Was macht ihr dann da?!“ Wir drückten uns in ein Eck in der Küche, weil wir Angst vor ihm hatten, wenn er betrunken war. Er schimpfte dann oft sehr ungeduldig mit uns.
Herbert kam uns zuvor: „Wir haben aufgeräumt, Papa, schau mal!“ Er zeigte mit Stolz in die Küche und das Wohnzimmer. Herr Erdmann starrte mit glasigen Augen in die Wohnung, verströmte seinen Alkoholatem und brauchte eine ganze Weile, bis er verstand, was hier geschehen war. Dann hellte sich sein hochrotes Gesicht mit der blauen Nase etwas auf, und er murrte schon etwas freundlicher: „Da könnt ihr mal wiederkommen! Aber jetzt müsst ihr zum Abendessen nach Hause!“
Wir verabschiedeten uns und beratschlagten draußen, dass es am besten wäre, die Wohnung nach und nach auf Vordermann zu bringen. Immerhin hatten wir jetzt erlebt, dass wir es doch schaffen könnten, wenn wir zusammenhalten und gezielt vorgehen.
„Wir brauchen schöne Tischdecken, das Plastiktuch war ganz zerrissen, und ich konnte es gar nicht mehr sauber machen,“ klagte Wolfgang. „Ich frag mal meine Mama, ob sie eins hergeben kann.“
„Nein, das machst du nicht!“ widersprach ich. „Wir erzählen zu Hause überhaupt nichts. Die Aktion Erdmann ist unser Geheimnis! Wir fragen, ob manche Sachen, die noch gut sind, weggeworfen werden können, und dann bringen wir sie zu Erdmanns!“
Auf diese Art und Weise sammelten wir in den nächsten Tagen und Wochen aus den verschiedenen Haushalten heimlich zahlreiche Gegenstände, die unsere Muttis dank unserer Überredungskunst reif für den Lumpensack oder den Mülleimer hielten: Handtücher, Servietten, kleine Küchenutensilien, Bettwäsche, Blumenvasen und vieles andere, was wir für Erdmanns nützlich und zu Hause entbehrlich fanden.
Unsere Eltern wussten über Monate nichts von unserer heimlichen Tätigkeit. Sie wunderten sich immer wieder, wo wir Kinder denn seien, und offensichtlich konnten wir sie mit unseren ständig neuen Ausreden zufriedenstellen.
Herbert war unser Verbindungsmann und sagte uns, wann ein neuer Einsatz nötig war. Dann riefen wir die Kinder zusammen und veranstalteten eine neue Aktion Erdmann. So schafften wir es tatsächlich, die Wohnung etwas gemütlicher und sauberer zu gestalten, obwohl sie doch dauernd wieder verschmutzt wurde. Wir stellten kleine Blumensträuße auf und entfernten den Müll, der in so vielen Ecken lag. Dann wuschen wir die Küchenschränke aus. Die Schlafzimmerschränke glichen einem Mülllager. Wir räumten sie aus, sortierten die Wäsche, wuschen und bügelten sie und stapelten sie wieder sorgfältig in die Fächer.
Auch der Balkon war zum Müllplatz umfunktioniert. Ziemlich planmäßig brachten wir bei jeder Säuberungsaktion einigen Müll aus der Wohnung und verteilten ihn auf die Mülleimer der verschiedenen Familien, soweit es dort Platz gab. Und durch die regelmäßigen Sperrmülltransporte der Gemeinde konnten wir erreichen, dass die Wohnung allmählich wieder leerer wurde.
Frau Erdmann wusste natürlich inzwischen von unserer kameradschaftlichen Gemeinschaftsarbeit und ließ uns gewähren. Eines Mittags, als wir wieder zu einer neuen Aktion Erdmann anrückten, lag Herberts Mama wie so oft noch im Bett und stöhnte: „Räumt schon mal auf, ich schaff´ es wirklich nicht alleine. Ich muss jetzt ins Geschäft.“ Sie schob uns die leeren Bierflaschen auf dem Nachttisch entgegen, quälte sich aus dem Bett und verschwand im Badezimmer.
Dann kam Ostern. Wir Nachbarskinder wussten, dass die Familie Erdmann sehr wenig Geld hatte, und wir ahnten, dass die Eltern ihren Kindern sicherlich gar keine Geschenke kaufen konnten. Deshalb überlegten wir heimlich, wie wir gemeinsam für die Kinder ein Osterfest gestalten könnten.
„Das ist klar, wir müssen unser Taschengeld zusammenlegen und was kaufen. Und das meiste müssen wir selbst basteln.“ Ich machte den Vorschlag, und alle waren einverstanden. Also legten wir unsere kleinen Ersparnisse auf den Tisch und kauften davon Pappe, Bast, Papier und noch einige Kleinigkeiten, die wir nicht zu Hause hatten. Vom Wald brachten wir frisches Moos mit.
Dann verwandelten wir Veronikas Zimmer in eine Osterbastelstube. Unsere Wangen müssen geglüht haben, so begeistert waren wir bei der Sache. Plötzlich war es auch mir gar nicht mehr wichtig, draußen zu spielen, und selbst bei schönem Wetter blieb ich gern bei Veronika und bastelte. Wir bemalten hartgekochte Eier mit unseren Wasserfarben, bauten Nestchen aus der Pappe, dem grünen Glanzpapier und dem duftigen Moos und setzten in jedes noch einen Schokoladenhasen.
Am Ostersonntag versteckten wir morgens die Gaben im Garten, ohne dass der Hausmeister uns bemerkte, klingelten dann bei Erdmanns und sagten zu den Kindern, die öffneten: „Der Osterhase hat was versteckt! Jetzt dürft ihr alle Kinder suchen!“
Mit großem Hallo stürmten Herbert, Franz, Angelika und Roswitha hinunter, und wir waren glücklich zu sehen, wie sie eifrig durch den Garten liefen und jubelten, wenn sie ein Osternestchen gefunden hatten.
Herr und Frau Erdmann waren langsam nachgekommen und standen etwas beschämt an der Hauswand: „Das habt ihr aber wirklich sehr lieb gemacht! Vielen Dank!“ Frau Erdmann schaute uns mit feuchten Augen an und verschwand nach oben in die Wohnung. Nach einer Weile kam sie wieder und sagte zu uns: „So, und jetzt dürfen die Kinder was suchen, die Osternestchen gebastelt haben. Kommt mal mit!“
Wir schauten einander verwundert an, denn damit hatten wir wirklich nicht gerechnet. Aber natürlich gingen wir gern mit. Frau Erdmann führte uns in ihre Wohnung und sagte: „Im Wohnzimmer hat der Osterhase etwas versteckt.“ Wir kannten natürlich die Ecken sehr gut von unseren Aufräumarbeiten und fanden schnell zwei Schokoladenhasen. Einen davon bekam ich, und er war für mich ein so wichtiges Andenken an Erdmanns und unsere Aktion, dass ich ihn jahrelang als wertvolle Trophäe aufbewahrte, obwohl mein Bruder regelmäßig drängte, den Hasen endlich zu schlachten.
„Das ist aber toll! Vielen Dank, dass Sie für uns auch was haben!“ Wir bedankten uns herzlich, weil wir spürten, wie Frau Erdmann ihre Dankbarkeit für unsere Einsätze zeigen wollte. Sie nahm uns etwas unbeholfen in ihre Arme: „Es ist schön, dass ihr uns so helft. Ich hab noch was! Wollt ihr zum Essen bleiben?“
Wir waren hin und her gerissen zwischen Verwunderung, Begeisterung und dem Gefühl, eigentlich nach Hause zum Mittagessen gehen zu müssen. „Ja, gern,“ stotterte ich, „aber dann muss ich meiner Mutti Bescheid sagen! – „Ja, ich auch,“ riefen die anderen Kinder.
„Also, dann kommt in ein paar Minuten wieder!“ Frau Erdmann öffnete uns die Tür, und wir rannten davon, um zu Hause unsere frohe Botschaft zu verkünden. Es kostete uns zwar einige Überredungskunst, unsere Eltern davon zu überzeugen, dass wir unbedingt am Ostersonntag mit den Nachbarkindern essen müssen, aber sie sahen es schließlich ein.
Wir deckten bei Erdmanns gemeinsam den Esstisch mit einer unserer mitgebrachten Decken, verteilten die Papierservietten mit den bunten Osterhäschen, die ich mir aus dem Schrank meiner Mutti rasch noch eingeschoben hatte, stellten saubere Saftgläser dazu und holten mehr Stühle aus Veronikas Wohnung.
Wir freuten uns riesig, schon allein die Vorbereitung zu dem Osterfestessen miteinander gestalten zu dürfen.
Frau Erdmann hatte inzwischen eine große Portion Spaghetti in kochendes Wasser geschüttet, und wir rührten eine Tomatensauce aus dem Päckchen an. Herbert verteilte Sprudel und Apfelsaft.
Schließlich saßen wir einträchtig um den großen Tisch, und Frau Erdmann gab jedem von uns Spaghetti auf den Teller und goss Sauce darüber. Ich erinnere mich genau, wie ich mich in diesem Moment zu dieser Familie gehörig fühlte. Und ich sah, wie meine Freude und Freundinnen und sogar Herr Erdmann mit glücklichen Augen am Tisch saßen und aßen.
Veronika sagte: „Jetzt sind wir eine richtige große Familie!“
Und Frau Erdmann erwiderte: „Ja, und das haben wir euch zu verdanken!“
Dieser Ostersonntag war einer der Höhepunkte unserer Aktion Erdmann.
Etwa ein halbes Jahr später kam Herbert eines Tages zu uns und sagte traurig: „Mein Papa ist heute auf der Toilette gestorben. Er hat Schlaftabletten genommen und Alkohol getrunken!“ Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Ich weiß gar nicht, wie das mit uns weitergehen soll!“
Wir behielten unsere Aufräumarbeiten bei und veränderten sie nach Bedarf. Nach und nach hatten die anderen Kinder keine Lust mehr mitzumachen, und eine Zeit lang arbeitete ich allein bei Erdmanns. Aber dann wurde auch meine Belastung in der Schule größer, und ich beendete die Aktion Erdmann.