Beethoven gewinnt gegen Kernspin
Manche Menschen haben Angst, in die Röhre eines Kernspintomografen geschoben zu werden, weil sie die Enge nicht ertragen oder wissen, dass es dort laut wird. Glücklicherweise habe ich keine Platzangst, aber Lärm stört mich. Pfiffige Röntgenärzte haben eine recht gute Methode gefunden, um es ihren Patienten etwas angenehmer zu machen. Das habe ich erst gestern wieder erlebt, als ich mir selbst eine Kernspin-Serie verordnet habe, um etwas über die Ursachen meiner Schulterschmerzen zu erfahren.
Als ich an der Rezeption des Röntgeninstitutes die verschiedenen Aufklärungsformulare unterschrieb, konnte ich wählen, welche Musik ich während der Untersuchung hören wollte. Von Beat bis Klassik, von leichter bis zu schwerer Musik gab es eine recht ansehnliche Auswahl. Sogar ein Kinderprogramm mit Liedern und Hörspielen war im Angebot. Also wählte ich „Beethoven Klavierkonzerte“. Genauer war das nicht angegeben, aber sie sind ja alle großartige Werke. Deshalb war ich gespannt, was ich zu hören bekam.
Nach einer kurzen Wartezeit wurde ich in den Untersuchungsraum gerufen, entsprechend der anzufertigenden Aufnahmen gelagert, und zuletzt setzte mir die Röntgenassistentin den Kopfhörer auf. Die Liege schob mich langsam in die Röhre. Ich schloss die Augen und erkannte sofort die Anfangs-Triolen des 4. Klavierkonzertes, die von der Klavierstimme solo vorgetragen werden. Wie durch Zauber schickte mein Gedächtnis mich sofort auf einer geistigen Rutschbahn in den dazu passenden Erinnerungsfilm. Ich tauchte innerhalb von Sekunden tief ein in ein wunderschönes Erlebnis, das ich vor fünfzig Jahren gehabt habe.
Um den Leser jetzt in die Situation hineinzuführen, in die ich auf der Röntgenliege unmittelbar hinein glitt, will ich kurz erklären, wie und wo das Erlebnis begonnen hatte.
Der strahlende Sommersonntag war schon einige Stunden aus dem Tau erwacht, die kräftigen Sonnenstrahlen hatten bereits das weite Tal um Gstaad im Berner Oberland erfüllt. Wir saßen im Morgengottesdienst in der kleinen Kirche in Saanen, die den vom Saanenmöser herabschauenden Gast schon von weitem mit ihrem achteckigen Türmchen grüßt. Eine zierliche Kirche mitten im Dorf, umgeben von dem alten Friedhof: eine weltabgeschiedene ruhige Stätte des Friedens und der Einkehr liegt im Tal. Wer es nicht weiß, würde nicht auf die Idee kommen, dass Yehudi Menuhin, der große Geiger und Humanist, gerade hierher seit 1959 seine Freunde und Musikliebhaber einlud zu Festwochen, die in die Welt hinaus leuchten, so wie die Sonne an jenem Morgen das Tal übergoss.
Als Student hatte ich mehrere Jahre hintereinander die Freude, mit der Familie meines Studienfreundes die Sommerferien in einem Bauernhaus in Lauenen verbringen zu dürfen, hoch über Gstaad in einem Seitental, fern ab vom Touristentrubel. Wir erlebten täglich die Proben in der Saanener Kirche und oft in den Konzerten am Abend Musik der Weltklasse. Vormittags und nachmittags verwandelte sich das Innere des Gotteshauses in einen Probenraum, in dem mit äußerster Intensität und in entspannter Atmosphäre klassische Musik erarbeitet wurde. Und wir Zuhörer genossen die Unmittelbarkeit des Erlebens: Wir spürten die harten Kirchenbänke nicht mehr, so sehr versanken wir in die angeregte Freude, die sich zwischen den Musikern während des Spiels aufbaute und auf uns übersprang. Uns erschien die Atmosphäre freundlich und kameradschaftlich, und gleichzeitig fühlten wir, wie hoch konzentriert alle Musiker bei der Sache waren.
Obwohl uns diese Stimmung so vertraut war, wird dieser Vormittag immer wieder in meinem Gedächtnis aus den unzähligen Konzerterlebnissen herausragen wie ein leuchtendes Sonnenbild.
Wir wussten, dass an diesem Vormittag das Zürcher Kammerorchester unter seinem langjährigen Leiter Edmond de Stoutz proben würde. Dieses Ensemble war uns sehr vertraut, gehörte es doch seit vielen Jahren zu den regelmäßigen Gästen des Festivals. Auf dem Programm stand Hephzibah Menuhin, Yehudis Schwester, die sich als Pianistin einen außergewöhnlichen Ruf erworben hatte. Ich hatte sie schon in Stuttgart an einem unvergesslichen Duo-Abend mit ihrem Bruder zusammen erlebt. Damals ist mir wie nie zuvor und selten danach klar geworden, in welchem überwältigenden Ausmaß sich die seelische Übereinstimmung zwischen zwei Menschen in einer vollendeten Harmonie im Zusammenspiel spiegeln konnte. Und so war ich natürlich voller Erwartung, sie jetzt als Solistin in Beethovens viertem Klavierkonzert mit diesem großartigen Kammerorchester erleben zu können.
Die Orchestermusiker kamen herein, packten ihre Instrumente und Notenständer aus, stimmten und machten sich bereit zu der üblichen Probe. Wir alle konnten nicht wissen, dass uns etwas ganz Besonderes bevorstand.
Eine natürliche Geschäftigkeit ohne Eile und freundliche Stimmung breiteten sich nach dem feierlichen Gottesdienst in dem Kirchenschiff aus. Edmond de Stoutz, der erfahrene und hoch geschätzte Orchesterdirigent, kam in lockerer Freizeitkleidung. Sein weißes gewelltes Haar leuchtete in den Sonnenstrahlen, die durch das bemalte Glas der schlanken Fenster herein schienen. Er begrüßte seine Musiker und einige der Zuhörer in seiner offenherzigen Art.
Da hörte ich ein leises Raunen hinter mir: „Sie kommt!”, sagte die Stimme einer älteren Dame. Und Bewunderung und Respekt schwangen mit. Hephzibah Menuhin betrat die Kirche, und die Gäste wurden leiser. Zierlich in der Gestalt, mit ausdrucksvollem Gesicht und offenen, klaren Augen schritt sie langsam zum Altar vor, nickte grüßend in die Reihen, zog ihre einfache hellbraune Anorakjacke aus und hängte sie über die Lehne ihres Klavierstuhles. Sie trug eine Sommerbluse ohne Schmuck über ihrem schlichten beigen Faltenrock und feste Wanderhalbschuhe. Sie fuhr sich einmal mit beiden Händen durch ihre kurz geschnittenen welligen Haare. So wirkte sie jugendlich mit ihren 48 Jahren. Es sah für mich aus, als hätte sie an diesem Vormittag eine Wanderung geplant und sei versehentlich in die Kirche geraten. Sie begrüßte die Musiker und Herrn de Stoutz und drehte sich mit einer fragenden Geste zum Steinway-Flügel, als wollte sie sagen: „Worauf warten wir?”
Sie setzte sich ohne Umschweife vor den Flügel, rückte mit einem Griff den Stuhl zurecht und blickte zu dem Dirigenten. In diesem Moment verstummte auch der Letzte in der Kirche, die Musiker griffen nach ihren Instrumenten, de Stoutz hob mit einem prüfenden Blick in die Runde den Taktstock. Als er sah, dass alle auf ihn konzentriert waren, ließ er langsam den Stock sinken und nickte Hephzibah Menuhin zu mit einem leisen: „Probieren wir mal!”
Wer das Konzert kennt, weiß, dass es mit einem kurzen Solo der Klavierstimme beginnt. Hephzibah Menuhin senkte langsam die Hände zu dem schlichten G-Dur-Akkord, der mit kleinen harmonischen Veränderungen mehrfach wiederholt wird. Als die Pianistin jedoch den ersten Akkord anschlug, begann eine Klangfarbe zu leuchten, wie ich sie nur selten zuvor erlebt hatte.
In diesen Moment rutschte ich in meinem Erinnerungsfilm hinein. Das reale Hören und die Erinnerungsstimmung vermischten sich untrennbar. Hephzibah Menuhin spielte noch einmal für mich.
Hier vermischte sich eine bewundernswerte Schlichtheit mit dem Ausdruck einer großen Seele. Piano und dolce hat Beethoven hier vorgeschrieben. Nicht Süßliches, hörte ich, nichts Kitschiges. Nein, wohlige Reife und Sanftheit des Klanges entströmten leise und doch mit der Stimme einer in sich ruhenden Frau dem Flügel. Es schien mir, als würde eine selbstsichere Musikerin in aller Bescheidenheit und doch ihrer Kraft wohl bewusst ihre Visitenkarte abgeben. Diese Frau strahlte eine wohltuende und souveräne Wärme aus. Sie ließ die ersten Akkorde verklingen, die wie eine Frage an das Orchester gerichtet sind, wie eine Einladung zum Gespräch.
Die Musiker setzten mit der gleichen Schlichtheit ein wenig leiser ein und begannen auf ihre Art den Dialog. Schon im ersten langsamen Orchesterakkord ist die Spannung vorprogrammiert: Das d, das zum G-Dur-Dreiklang gehören würde, rückt um eine halbe Note zum dis empor und zieht die Melodie, die Stimmung vorwärts, höher, weiter und entwickelt die vom Klavier eingeführte Stimme fort, erzählt das ganze Thema. Die Bläser nehmen es nacheinander auf, spielen damit. Und noch einmal bringt das Klavier ein abgewandeltes Thema in den Dialog, wieder schlicht, und langsam beschleunigend kommt der ganze Klavierpart zur Geltung und vermengt sich zu einem wunderbaren leuchtenden Zwiegespräch, das den ganzen ersten Satz bestimmt.
Ich fühlte mich auch jetzt gebannt auf der Kirchenbank, obwohl ich in einem nackt-weißen Untersuchungsraum lag, und beobachtete, wie Hephzibah Menuhin mit totaler Konzentration, Ruhe und gezügelter Kraft diesen Dialog mit dem Orchester führte. Nein, sie sang ihn mit aller Inbrunst so überzeugend, dass ihre Spielweise, diese Art, Musik zu leben, seit diesem Morgen für mich das Sinnbild für echte und große Schlichtheit und Bescheidenheit darstellen.
Die Sommersonne schickte ihre warmen Strahlen ins kühle Kirchlein, und Hephzibah Menuhins Gesicht wurde beleuchtet wie mit einem großen warmen Scheinwerfer. Sie ließ dieses Licht aus ihren Händen, aus dem Flügel weiter in das Publikum fließen. Tiefer Ernst und herzliche Menschlichkeit zeichneten ihr Gesicht. Ich spürte, wie die Kirche erfüllt wurde von einer würdigen Andacht, wie sie mancher Pfarrer gerne erzeugen würde. Wir erlebten einen wahren Dienst an der Musik, großartige Harmonie aller Spieler, verschmelzende Einheit.
Die Fermate des Orchesters verklang vor der Kadenz. Jetzt im Untersuchungsraum spielte der Pianist nicht die Kadenz, die Beethoven für sich geschrieben und die Hephzibah Menuhin damals gespielt hatte. Einer anderen, mir unbekannten virtuosen Einlage hörte ich gespannt zu. Aber ich sah Menuhins Hände fliegen, ihre Finger rannten über die Tasten und zauberten glasklare Tonlinien, bis sie sich nach dem erlösenden Triller wieder mit dem Orchesterklang vereinigten und in der Coda zum Schluss des Satzes zielten.
Ich lauschte auf die Pause, die zum zweiten Satz hinführte. Gerade, als die Violinen mit dem Einführungsthema einsetzten und ich mich auf die Fortsetzung des Konzertes freute, zog eine Hand an meiner Hand. Die Liege beförderte mich aus dem Halbdunkel des Kernspintomografen, das Licht blendete mich, als ich aus meinem Kirchenraum in das Untersuchungszimmer blickte. Etwas unsanft empfand ich es, und doch war mir bei dem freundlichen Lächeln der Röntgenassistentin klar, dass sie natürlich nicht wusste, aus welcher Atmosphäre sie mich unabsichtlich herausgeholt hatte.
Noch ziemlich benommen musste ich mich selbst zuerst einstellen auf die neue Situation. Ich setzte mich hin, bedankte mich und ging zur Umkleidekabine.
Und wo war der Lärm, den der Kernspintomograf gemacht hatte? – Ja, ich habe ihn weit weg manchmal während des Konzertes draußen auf dem Kirchhof gehört. Aber das war sehr weit weg.
Und wer die ganze Geschichte lesen will, die ich in der Kirche damals erlebt habe, sollte sich diesen Text aufrufen: https://dietrich-weller.de/prosa/wanderung-in-die-harmonie/.
Das Erlebnis habe ich auch in meinem Buch „Das Geständnis“ erzählt. Es ist zwar vergriffen, findet sich aber manchmal bei E-Bay im Angebot.