Wanderung in die Harmonie

Der strahlende Sommersonntag war schon einige Stunden aus dem Tau erwacht, die kräftigen Sonnenstrahlen hatten bereits das weite Tal um Gstaad erfüllt. Wir saßen im Morgengottesdienst in der kleinen Kirche in Saanen, die den vom Saanenmöser herabschauenden Gast schon von weitem mit ihrem achteckigen Türmchen grüßt. Eine zierliche Kirche mitten im Dorf, umgeben von dem alten Friedhof, eine weltabgeschiedene ruhige Stätte des Friedens und der Einkehr liegt im Tal. Wer es nicht weiß, würde nicht auf die Idee kommen, dass Yehudi Menuhin, der große Geiger und Humanist, gerade hierher seit 1959 seine Freunde und Musikliebhaber einlud zu Festwochen, die in die Welt hinaus leuchten, so wie die Sonne an jenem Morgen das Tal übergoss.

 Als Student hatte ich mehrere Jahre hintereinander die Freude, mit der Familie meines Studienfreundes die Sommerfreien in einem Bauernhaus in Lauenen verbringen zu dürfen, hoch über Gstaad in einem Seitental, fern ab vom Touristentrubel. Wir erlebten täglich die Proben in der Saanener Kirche und oft in den Konzerten am Abend Musik der Weltklasse. Vormittags und nachmittags verwandelte sich das Innere des Gotteshauses in einen Probenraum, in dem mit äußerster Intensität und in entspannter Atmosphäre klassische Musik erarbeitet wurde. Und wir Zuhörer genossen die Unmittelbarkeit des Erlebens: Wir spürten die harten Kirchenbänke nicht mehr, so sehr versanken wir in die angeregte Freude, die sich zwischen den Musikern während des Spiels aufbaute und auf uns übersprang. Uns erschien die Atmosphäre locker, freundlich, kameradschaftlich, und doch fühlten wir, wie hoch konzentriert alle Musiker bei der Sache waren.

Obwohl uns diese Stimmung so vertraut war, wird dieser Vormittag vor über dreißig Jahren immer wieder in meinem Gedächtnis aus den unzähligen Konzerterlebnissen herausragen wie ein leuchtendes Sonnenbild.

Nach dem Gottesdienst reservierten wir unsere Plätze, um bei einem kleinen Spaziergang im Kirchgarten den schönen Morgen genießen und das Eintreffen der Gäste und Musiker beobachten zu können. Da das Kirchlein nur wenige hundert Plätze fasst, war es wichtig, auch für Proben Sitzflächen zu belegen, damit wir wirklich von den vorderen Reihen alles genau sehen und hören konnten, was sich da vor dem Altar und neben dem Taufbecken abspielte. Glücklicherweise liefen diese Vorbereitungen immer sehr unkompliziert ab. Und so hatten wir uns angewöhnt, möglichst oft an den Proben teilzunehmen, weil wir spürten, dass wir bei diesen seltenen Gelegenheiten am besten hautnah erleben konnten, wie große Musiker ihre großartigen Interpretationen schaffen.

Wir wussten, dass an diesem Vormittag das Zürcher Kammerorchester unter seinem langjährigen Leiter Edmond de Stoutz proben würde. Dieses Ensemble war uns sehr vertraut, gehörte es doch seit vielen Jahren zu den regelmäßigen Gästen des Festivals. Auf dem Programm stand noch Hephzibah Menuhin, Yehudis Schwester, die sich als Pianistin einen außergewöhnlichen Ruf erworben hatte. Ich hatte sie schon in Stuttgart an einem unvergesslichen Duo-Abend mit ihrem Bruder zusammen erlebt. Damals ist mir wie nie zuvor klar geworden, in welchem überwältigenden Ausmaß sich die seelische Übereinstimmung zwischen zwei Menschen in einer vollendeten Harmonie im Zusammenspiel spiegeln konnte. Und so war ich natürlich voller Erwartung, sie jetzt als Solistin in Beethovens viertem Klavierkonzert mit diesem großartigen Kammerorchester erleben zu können.

Langsam füllte sich die Kirche mit Menschen, die wir teilweise aus den Jahren zuvor und den vergangenen Tagen kannten. Wir fühlten uns als Teil einer kleinen Gemeinde, die sich regelmäßig im Sommer in diesem weltbekannten Wallfahrtsort für Musiker und Musikliebhaber traf.

Die Orchestermusiker kamen herein, packten ihre Instrumente und Notenständer aus, stimmten und machten sich bereit zu der üblichen Probe. Wir alle konnten nicht wissen, dass uns etwas ganz Besonderes bevorstand.

Eine natürliche Geschäftigkeit ohne Eile und freundliche Stimmung breiteten sich nach dem feierlichen Gottesdienst in dem Kirchenschiff aus. Edmond de Stoutz, der erfahrene und hoch geschätzte Orchesterdirigent, kam in lockerer Freizeitkleidung. Sein weißes gewelltes Haar leuchtete in den Sonnenstrahlen, die durch das bemalte Glas der schlanken Fenster herein schienen. Er begrüßte seine Musiker und einige der Zuhörer in seiner offenherzigen Art.

Da hörte ich ein leises Raunen hinter mir: “Sie kommt!” sagte die Stimme einer älteren Dame. Und Bewunderung und Respekt schwangen mit. Hephzibah Menuhin betrat die Kirche, und die Gäste wurden leiser. Zierlich in der Gestalt, mit ausdrucksvollem Gesicht und offenen, klaren Augen schritt sie langsam zum Altar vor, nickte grüßend in die Reihen, zog ihre einfache hellbraune Anorakjacke aus und hängte sie über die Lehne ihres Klavierstuhles. Sie trug eine Sommerbluse ohne Schmuck über ihrem schlichten beigen Faltenrock und feste Wanderhalbschuhe. Sie fuhr sich einmal mit beiden Händen durch ihre kurz geschnittenen welligen Haare. So wirkte sie jugendlich mit ihren 48 Jahren. Es sah für mich aus, als hätte sie an diesem Vormittag eine Wanderung geplant und sei versehentlich in die Kirche geraten. Sie begrüßte die Musiker und Herrn de Stoutz und drehte sich mit einer fragenden Geste zum Steinway-Flügel, als wollte sie sagen: “Worauf warten wir?”

Sie setzte sich ohne Umschweife vor den Flügel, rückte mit einem Griff den Stuhl zurecht und blickte zu dem Dirigenten. In diesem Moment verstummte auch der Letzte in der Kirche, die Musiker griffen nach ihren Instrumenten, de Stoutz hob mit einem prüfenden Blick in die Runde den Taktstock. Als er sah, dass alle auf ihn konzentriert waren, ließ er langsam den Stock sinken und nickte Hephzibah Menuhin zu mit einem leisen: “Probieren wir mal!”

Wer das Konzert kennt, weiß, dass es mit einem kurzen Solo der Klavierstimme beginnt. Hephzibah Menuhin senkte langsam die Hände zu dem schlichten G-Dur-Akkord, der mit kleinen harmonischen Veränderungen mehrfach wiederholt wird. Diese langsamen Anfangstakte sind auch für einen weniger geübten Klavierspieler einfach.

Als die Pianistin jedoch den ersten Akkord anschlug, begann eine Klangfarbe zu leuchten, wie ich sie nur selten zuvor erlebt hatte. Hier vermischte sich eine bewundernswerte Schlichtheit mit dem Ausdruck einer großer Seele. Piano und dolce hat Beethoven hier vorgeschrieben. Nicht Süßliches, hörte ich, nichts Kitschiges. Nein, eine wohlige Reife des Klanges entströmte leise und doch mit der Stimme einer in sich ruhenden Frau dem Konzertflügel. Es schien mir, als würde eine selbstsichere Musikerin in aller Bescheidenheit und doch ihrer Kraft wohl bewusst ihre Visitenkarte abgeben. Diese Frau strahlte eine wohltuende und souveräne Wärme aus. Sie ließ die ersten Akkorde verklingen, die wie eine Frage an das Orchester gerichtet sind, wie eine Einladung zum Gespräch.

Und die Musiker setzten mit der gleichen Schlichtheit ein wenig leiser ein und begannen auf ihre Art den Dialog. Schon im ersten langsamen Orchesterakkord ist die Spannung vorprogrammiert: Das d, das zum G-Dur-Dreiklang gehören würde, rückt um eine halbe Note zum dis empor und zieht die Melodie, die Stimmung vorwärts, höher, weiter und entwickelt die vom Klavier eingeführte Stimme fort, erzählt das ganze Thema. Die Bläser nehmen es nacheinander auf, spielen damit. Und noch einmal bringt das Klavier ein abgewandeltes Thema in den Dialog, wieder schlicht, und langsam beschleunigend kommt der ganze Klavierpart zur Geltung und vermengt sich zu einem wunderbaren leuchtenden Zwiegespräch, das den ganzen ersten Satz bestimmt.

Ich saß gebannt auf der Kirchenbank und beobachtete, wie Hephzibah Menuhin mit totaler Konzentration, Ruhe und gezügelter Kraft diesen Dialog mit dem Orchester führte. Nein, sie sang ihn mit aller Inbrunst so überzeugend, dass ihre Spielweise, diese Art, Musik zu leben, seit diesem Morgen für mich das Sinnbild für echte und große Schlichtheit und Bescheidenheit darstellen.

Die Sommersonne schickte ihre warmen Strahlen ins kühle Kirchlein, und Hephzibah Menuhins Gesicht wurde beleuchtet wie mit einem großen warmen Scheinwerfer. Sie ließ dieses Licht aus ihren Händen, aus dem Flügel weiter in das Publikum fließen. Tiefer Ernst und herzliche Menschlichkeit zeichneten ihr Gesicht. Ich spürte, wie die Kirche erfüllt wurde von einer würdigen Andacht, wie sie mancher Pfarrer gerne erzeugen würde. Wir erlebten einen wahren Dienst an der Musik, großartige Harmonie aller Spieler, verschmelzende Einheit.

Die Fermate des Orchesters verklang vor der Kadenz, Hephzibah Menuhin setzte mit  verhaltener Kraft ein und steigerte sich mit glitzernder Brillanz in die Läufe und punktierten Rhythmen. Die unscheinbare Wanderin entpuppte sich zur souveränen Virtuosin. Die Hände flogen, die Finger rannten über die Tasten und zauberten glasklare Tonlinien, bis sie sich nach dem erlösenden Triller wieder mit dem Orchesterklang vereinigten und in der Coda zum Schluss des Satzes zielten.

Mein Freund und ich schauten einander wortlos und verblüfft an: Wir hatten eine Probe erwartet mit vielen Unterbrechungen, Wiederholungen, Verbesserungen. Und dieser Satz war in einem großen Fluss ruhig und tief in uns hineingeströmt.

Nach kurzer Pause lächelte de Stoutz Hephzibah Menuhin an, sie nickte freundlich zurück. Die beiden waren sich offensichtlich einig. Der Dirigent hob erneut den Taktstock, um das Orchester zur Aufmerksamkeit für den nächsten Dialog zu führen, der diesmal mit einem kurzen Orchesterthema begann. Es klingt streng punktiert und gibt für den Dialog mit dem Klavier einen langsamen und doch straffen Rhythmus vor. Das Klavier antwortet jedoch mit einer weichen und verhaltenen Melodie in warmen Akkorden. Das Orchester bringt den ersten Gedanken noch einmal, als wolle es die Klavierstimme überzeugen. Zwischen Orchester und Klavier entstehen anfänglich Pausen, die Stimmen sind getrennt. Das Klavier aber bleibt bei seinem verbindlichen Ton, und bei der nächsten Wiederholung setzt schon beim Verklingen des letzten Klavierakkordes das Orchester ein. Und in der Folge nähert sich das Orchester immer mehr der Klaviermelodie und dem weichen Ton an. Nach und nach vereinigen sich die Dialogpartner zu einer verbindlichen und verbindenden Gesprächsführung. Dieser Satz des Konzertes ist für mich ein herrliches Beispiel, wie eine weiche und warme Stimme mit ihrer Sicherheit und inneren Ruhe einen straffen, forsch drängenden Gesprächspartner beeinflussen und den Dialog zu einem einvernehmlichen Ende führen kann. Eine wahre musikalische Wanderung in die Harmonie.

Daraus entfloss am Ende des Satzes die punktierte Orchestermelodie wie am Anfang, aber kürzer, weicher und in wunderbarem Einklang mit der leisen Klavierstimme, die sich am Schluss loslöst vom Orchester und in einem spannungsvoll verzögerten Arpeggio hinüberführt zum Rondo, das fröhlich und vivace mit virtuosen Läufen die verschiedenen musikalischen Gedanken erzählt.

De Stoutz dirigierte einerseits überlegen und ordnete sich andererseits völlig unter, um dieser großartigen Pianistin ein guter Begleiter zu sein. Das Konzert führte die Partner auf großartige Weise weiter, und diese so unscheinbare Frau an dem großen Konzertflügel atmete, sang, brillierte mit der Musik, dass es eine wahre Freude war. Sie steigerte sich und das Orchester in ein großes Finale hinein, und als der letzte Akkord langsam in den kühlen Winkeln der Kirche und den warmen Herzen der Zuhörer verklang, hörte ich ein leises Aufseufzen im Publikum: Die enorme Spannung löste sich langsam.

Wir saßen zuerst eine ganze Weile stumm da. Dann erhob sich aus der Stille ein tosender Beifall, wir alle standen auf und waren glücklich und dankbar über dieses besondere und unerwartete Erlebnis.

Die Orchestermusiker applaudierten der Künstlerin, de Stoutz streckte ihr mit strahlendem Gesicht beide Hände herzlich dankend entgegen. Hephzibah Menuhin nahm sie an und nickte dann zu uns herüber, verbeugte sich einmal, gab den Konzertmeistern kurz und freundlich die Hand, zog ihre Anorakjacke wieder an und verließ mit gezielten Schritten die Kirche.

Nur eine einfache Probe hatten wir erwartet. Und was hatten wir bekommen? Ein vollkommenes Konzert. Wir waren Zeugen einer musikalischen Sternstunde geworden.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Die Geschichte habe ich in meinem Buch Das Geständnis, Betulius Verlag veröffentlicht.

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