Der Kapitänleutnant und sein Soldat

Die tragischste Geschichte, die ich während meiner Zeit als wehrpflichtiger Stabsarzt in Wilhelmshaven erlebte, ereignete sich an einem nieseligen Tag.

Der Spieß, der Chef in der Schreibstube, holte mich ans Telefon, ein Notfall sei passiert, der sofort unsere Hilfe erfordere. Bei einem Manöver an der Nordseeküste sei ein Panzer verunglückt, man brauche einen Suchtrupp und einen Arzt. Mehr erfuhr ich im Moment nicht. Ich wurde abkommandiert, mit einem Hubschrauber in die Nähe der Unfallstelle zu fliegen. Dort empfing mich ein Kapitänleutnant, und er stellte sich als der Kommandeur der Kompanie vor, die das Manöver veranstaltet hatte. Er berichtete mir, was geschehen war:

Mit Marinelandungsbooten hatten die Soldaten das Landemanöver von Leichtpanzern geübt. Mit diesen speziellen Schiffen, die vorn besonders flach waren und sich deshalb ganz nah auf den Strand schieben konnten, waren die Panzer über Laderampen an seichten Stellen an Land gesetzt worden. Mehrfach hatte die Übung im Laufe des Vormittags schon gut geklappt. Die kleinen und wendigen Panzer fuhren ein paarmal am Strand entlang und dann wieder auf das bereit stehende Landungsboot hinauf. Da geschah es.

Während der Panzer langsam gerade auf die herab gesenkte Rampe des Bootes zufuhr, steuerte der Panzerführer stehend von der Luke aus das schwere Gefährt. In dem Moment, als der Panzer unmittelbar vor der Bootsauffahrt stand, kam von hinten eine große Welle auf das Schiff zu, hob es hoch und schob es so weit nach vorn, dass die Stahlrampe an der Front des Panzers entlang nach oben glitt und den Panzerführer mitten im Brustkorb in zwei Hälften spaltete. Mit der Wucht der Wasserwelle wurden der obere und untere Teil des Körpers ins Meer gespült. Alles ging viel schneller, als irgend jemand hätte reagieren können.

Die Besatzung konnte sich aus der plötzlichen Überflutung des Panzerinnenraumes durch die freigewordene Luke retten, und die Männer, der Kapitänleutnant und ich saßen jetzt geschockt in einer nahe gelegenen Unterkunft. Wir sprachen kaum. Was hätten wir sagen sollen? Das Entsetzen stand allen im Gesicht. Und ich war auch ratlos.

Als klar war, dass der Leichnam nicht gefunden werden konnte, faltete der Kapitänleutnant langsam seine Hände, als wollte er beten. Dann schaute er mich an und sagte nach einer langen Pause leise: „Jetzt muss ich das den Eltern des Soldaten sagen! Ich werde sie anrufen.“ Er war blass, ja aschfahl geworden, fast stimmlos, er wirkte um Jahre gealtert. Dann stand er schwerfällig wie ein alter Mann auf und ging mit schleppenden Bewegungen in den Nebenraum, wo das Telefon stand.

Ich fragte noch: „Kann ich Ihnen helfen, indem ich mitgehe?“ Er schaute sich langsam um, blickte mir gerade ins Gesicht und schüttelte bedächtig den Kopf: „Nein, da bin ich allein, auch wenn Sie dabei sind. Das muss ein Kompaniechef allein machen. Danke für das Angebot.“ Seine Stimme war weich und sicher, leise und bestimmt. Er öffnete langsam die Tür, ging hinüber in das Zimmer und schloss ganz sacht wieder die Klinke.

Wir anderen saßen beieinander, und doch hatte jeder sich innerlich abgesondert, war in sich versunken und versuchte, mit dieser katastrophalen Situation ins Reine zu kommen. Wir sprachen nicht, schauten vor uns hin, und obwohl  gut geheizt war in dieser Unterkunft, zitterte auch ich. Die Kameraden des Toten kauerten mit noch teilweise nassen Haaren in warme Decken eingemummt auf den Betten, andere trauerten am Tisch, die Köpfe in den Händen vergraben. Einige Zigaretten waren in den Aschenbechern ungeraucht ausgegangen, manche glimmten noch in den zitternden Händen der erschöpften Soldaten. Ich vermute, dass sie darüber nachdachten, dass alle Männer in dem überschwemmten Panzer hätten ertrinken können. In den Tassen war der Kaffee kalt geworden, kaum einer hatte getrunken. Auf dem nassen Strand draußen spazierten die grauweißen Möven auf und ab, als sei überhaupt nichts geschehen.

Nach einer Zeitspanne, die mir endlos erschien, ging langsam die Tür wieder auf, und der Kapitänleutnant kam zurück. Er hatte sich offensichtlich Zeit gelassen, um sich zu sammeln, bevor er wieder seinen Soldaten gegenüber trat. Und doch sah ich die roten Ränder seiner Lider, hörte seine leicht vibrierende Stimme und bemerkte das feine Zittern der schlanken Hände, als er beim Hinsetzen nach einer Tasse griff und sie mit beiden Händen zum Mund führte und bedächtig trank. Es war so leise in dem Raum, dass wir sein Schlucken hören konnten, und wir beobachteten, wie er vorsichtig die halb volle Tasse auf den Tisch stellte.

Seine Soldaten schauten ihn aufmerksam und regungslos aus den Augenwinkeln an, sie waren traurig, hellwach und wohl auch recht hilflos. Sie erhofften sich vielleicht eine seelische Stütze, ein helfendes und tröstendes Wort von ihm. Erst nach einer langen Zeit des bedrückten und beklemmenden Schweigens sagte der Kapitänleutnant mit noch schwankender Stimme in den karg möblierten Raum hinein, ohne jemanden von uns direkt anzusprechen: „Das war das schwierigste Telefongespräch meines Lebens.“

Eine lähmende Stimmung lag in der verrauchten Luft, lange wagte keiner von uns, etwas zu sagen. Nur das unverminderte Kreischen der Möven draußen auf dem leeren braunen Strand klang gedämpft durch die verschlossenen Fenster. Schließlich stand der Kapitänleutnant auf, schaute seine Männer der Reihe nach an und sagte: „Bitte, richten Sie Ihre Sachen, wir fahren nachher mit dem Auto zurück.“

Er grüßte mich mit einem bedächtigen Nicken, einem festen Händedruck und einem „Danke für die Hilfe!“ und verließ mit festen Schritten den Raum.

Der zweigeteilte Körper des Panzerfahrers wurde meines Wissens nie gefunden.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Die Geschichte habe ich in meinem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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