Die Falle

Die Plattensiedlung war der ganze Stolz des „real existierenden Sozialismus“, und sie erfüllt wie alle Massenwohnsiedlungen die besten Bedingungen, dass in der Anonymität der prall gefüllten Mietkaserne tragische Schicksale unbemerkt ihren Lauf nehmen können. Die grauen großflächigen Fassaden mit ihren langweiligen und ungepflegten Fenstern laden niemanden ein, hinter die tristen Kulissen in das pulsierende Leben zu schauen, das wohl verborgen seinen staatlich verordneten Gang trottet.

Jetzt in den ersten sonnigen Frühlingstagen treiben auch hier in der vergammelten Siedlung aus Ulbrichts Glanzzeiten noch einige Bäume neues Grün, und die gelben und blauen Krokusse bieten ein lebendiges Beispiel, dass auch nach kalten Zeiten das warme Leben die Oberhand gewinnt. Keiner gießt die Blumen, und doch treiben sie kräftig ihre frischen Triebe durch die letzten Schneereste in der ehemaligen Erich-Honecker-Straße, die nach der Wende unverfänglich Nelkenstraße heißt. In den rasch wandelnden Tagen wurden die berühmten Namen schnell durch einen Gemeinderatsbeschluss umbenannt. Deshalb ist aus der Staatsratsiedlung mit den Politikernamen die Blumensiedlung geworden, und die Straßen tragen Namen wie Akazienplatz, Tulpenstraße und Rosenweg.

Nur das Schild mit der Nummer 9 vor dem Eingang des Hauses wurde nicht ersetzt. Es fehlt schon lange. Wahrscheinlich konnte es jemand gebrauchen und hat es „weggefunden“. Aber wenn man genau hinschaut, ist der Rostrand auf der schmutzigen Hauswand zu lesen. Die Namen an der großen Klingeltafel neben der grauen Haustür mit dem abgeblätterten Einheitslack lauten immer noch gleich wie vor der Wende und sind mit unterschiedlicher Schrift geschrieben, meist verwischt. Und viele Schilder tragen keine Namen, obwohl alle Wohnungen belegt sind. Man kennt einander und weiß, wer durch welchen Klingelknopf erreichbar ist.

Aber der sorgfältige Beobachter bemerkt, dass auf dem Schild für die Wohnung Nr. 73, das ist die dritte links im sechsten Stock, mit der Schrift eines alten Menschen Rosa Zielinski steht. Sie hat das Schildchen noch im letzten Sommer geschrieben und das alte vom Regen verwaschene Zettelchen ersetzt, als sie sich einmal nachts heimlich aus dem Haus schlich. Damals hat sie lange geprüft, ob ihr auch wirklich niemand folgt. Dann montierte sie das Deckelchen mit einem uralten Schraubenzieher ihres verstorbenen Mannes ab und verschloss das neue Schildchen unter einem durchsichtigen Plastedeckel.

Die Haustür ist immer offen, und jeder kann ins Haus gehen. Man hat ja staatlich befohlenes Vertrauen zueinander und achtet genau darauf, was der Nachbar macht. Neben dieser als sozialistische Brüderlichkeit getarnten Kontrolle entstanden aber auch die echten menschlichen Freundschaften und nachbarschaftlichen Hilfsdienste, ohne die es keiner in diesem Staat ausgehalten hätte.

Jedenfalls scheint sich in der Wohnung Nr. 73 gerade eine solche gute kameradschaftliche Verbindung anzubahnen. Da arbeiten nämlich zwei ältere Herren in den beiden Räumen, die jetzt die Wohnung von Sebastian Schlosser werden sollen. Er ist einer der beiden Männer und hat das Glück, dass er noch auf seine alten Tage in die frisch aber doch nur notdürftig renovierte Wohnung von Rosa Zielinski einziehen darf. Herr Schlosser hat sich schon vor fünf Jahren für eine der billigen Mietwohnungen beim Sozialamt angemeldet, und jetzt kann er endlich sein Hab und Gut in die neuen Zimmer bringen. Einige Möbel aus alten Zeiten stehen neben den Umzugskartons und vielen Kleinigkeiten in den beiden Zimmern.

Hubert Klassinger, der rüstige Hausmeister, hatte Herrn Schlosser geholfen, alle Einrichtungsgegenstände hoch zu tragen. Und jetzt schiebt der hilfsbereite Hausmeister seine Leiter an die Wand, weil er dort eine Lampe anbringen will, die Herr Schlosser mitgebracht hat. Die Leiter knallt leise an die Sockelleiste, Herr Klassinger schaut hinunter und erschrickt: „Oje, nicht schon wieder das!” ruft er aufgeregt und bückt sich rasch zum Boden.

Herr Schlosser, der gerade im zukünftigen Schlafzimmer einen Stuhl zurechtrückt, kommt schnell herüber und fragt: „Was ist los? Ist Ihnen etwas passiert?”

„Nein, nein, nichts,” stottert Herr Klassinger etwas unbeholfen und lässt seine rechte Hand in der Arbeitsmanteltasche verschwinden. „Nein, mir ist nichts passiert, machen Sie sich keine Sorgen!”

Herr Schlosser schaut verdutzt und fragt: „Aber warum sind Sie plötzlich so weiß im Gesicht? Und Sie haben ganz viele Schweißperlen auf der Stirn. Das kommt doch nicht davon, dass Sie die Leiter hochgeklettert sind. Irgend etwas stimmt nicht mit Ihnen.”

Herr Klassinger überlegt einen Moment, schließlich erwidert er langsam: „Es ist doch besser, ich sage es Ihnen gleich, wenn Sie schon in diese Wohnung einziehen. Irgendwann erfahren Sie die Geschichte von jemand anderem und dann vielleicht falsch. Da ist es schon besser, ich erzähle sie Ihnen.”

„Welche Geschichte? Ich verstehe Sie nicht. Gerade haben Sie doch gerufen: ´Oje, nicht schon wieder das!´ Was hat das mit einer Geschichte zu tun?”

„Das war´s,” meint Herr Klassinger, holt seine rechte Hand aus dem Mantel und streckt sie Herrn Schlosser offen hin. Dieser schaut genau drauf und sagt verwundert: „Das ist ein ganz normaler, länglicher schwarzer Knopf. Lag der hier? Er gehört mir nicht. Was regt Sie daran so auf?”

Der Hausmeister zupft nervös an seinem Kittel, und dann dreht er den Knopf zwischen seinen Fingern hin und her: „Eigentlich bin ich wegen zwei Sachen aufgeregt. Ich habe bei dem Knall an die Sockelleiste geschaut und einen schwarzen Punkt gesehen und gedacht, dass Sie hier in der Wohnung Kakerlaken haben. Und dann habe ich den Knopf von Rosa gefunden, und das ist wirklich sehr aufregend.”

„Also, dass Sie Ungeziefer aus der Fassung bringt, kann ich verstehen. Haben wir denn hier im Haus Kakerlaken?” fragt Herr Schlosser erregt und mit weit aufgerissenen Augen und wischt sich mit dem Ärmel über die nasse Stirn. „Nein, nein, Sie können beruhigt sein, Herr Schlosser,” besänftigt Herr Klassinger, „wir hatten Ungeziefer, aber ich habe zusammen mit dem Kammerjäger eine gründliche Reinigung der Wohnung vorgenommen, nachdem wir hier ausgeräumt und bevor wir renoviert haben. Und jetzt dachte ich, das schwarze Ding an der Sockelleiste sei eine Kakerlake.”

„Oje,” ruft Herr Schlosser entsetzt, „ich würde einen Herzschlag bekommen, wenn ich in meiner Wohnung solches Ungeziefer finden würde. Das ist das Schlimmste, was es für mich gibt: Spinnen, Würmer und Kakerlaken! Sind Sie wirklich sicher, dass die Wohnung jetzt ganz frei von Kakerlaken ist?”

„Aber natürlich, Herr Schlosser,” beruhigt Herr Klassinger den aufgeregten Mieter, „der Kammerjäger hat mir garantiert, dass die Wohnung frei ist von Ungeziefer. Sie können beruhigt sein!”

„Das will ich aber hoffen. Ich habe schon einen Schreck bekommen!” Herr Schlosser atmet auf und fragt weiter: „Aber warum haben Sie sich denn über den Knopf aufgeregt?”

„Das ist für mich sehr wichtig,” erklärt Herr Klassinger, „denn genau dieser Knopf ist ein ganz wichtiger Schlüssel zu dem Rätsel, das Rosa uns aufgegeben hat. Die Kripo und die Gerichtsmediziner haben nach zwei solchen Knöpfen gesucht wie nach einer Stecknadel im Heuhaufen. Jetzt haben wir wenigstens einen davon.”

„Das klingt ja wirklich spannend: Kripo, Gerichtsmedizin, Indizien! Ich hatte schon immer eine Vorliebe für Kriminalromane. Erzählen Sie mir die Geschichte! Ich will wissen, was in der Wohnung passiert ist, in der ich jetzt wohnen soll!” Herr Schlosser zieht den grünen Sessel zum Sofa und lädt Herrn Klassinger mit einer freundlichen und drängenden Geste ein, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Dabei wischt er sich die wenigen schweißverklebten weißen Haare aus der runzeligen Stirn und putzt sich kräftig schnaubend die blaurot gefärbte Nase ins bunt karierte Taschentuch, das ihm sein Sohn im Zehnerpack aus dem Westen geschickt hatte.

„Also gut, Herr Schlosser, machen wir Pause. Das ist eine gute Idee. Wir haben ja schon alle Möbel oben,” meint Herr Klassinger freundlich, klopft seinen Mantel ab, um das Sofa nicht staubig zu machen, und zündet sich zitternd eine Zigarette an. Herr Schlosser bemerkt die innere Erregung und wartet geduldig ab, bis Herr Klassinger langsam anfängt zu reden: „Sie müssen wissen, Herr Schlosser, ich bin schon dreißig Jahre hier im Haus und kenne jeden Bewohner genau. Die Stasi wollte immer meine Kontakte ausnützen und mich aushorchen, aber ich bin standhaft geblieben und habe meinen Mund gehalten. Der Rosa, die hier gewohnt hat, habe ich auch immer geholfen, bis zum Schluss.” Dabei wird seine Stimme traurig, und er bricht den Satz ab, als wollte er das angefangene Thema gleich wieder beenden.

Es entsteht eine kurze Pause, und ihre Blicke wandern in dem ungemütlichen Raum umher. Die Wände sind frisch gestrichen, aber die über Putz verlegten Stromleitungen und die Zimmertür mit den vielen übermalten Macken zeigen das Alter der Wohnung, die immer noch muffig riecht. Der stumpf gelaufene Linoleumboden und die durchgedrückten Löcher verraten genau, wo Frau Zielinski den Schrank, den Tisch und die Kommode stehen hatte.

„Ja, ja,” seufzt Herr Klassinger und schaut dem Zigarettenrauch nach, der durch das geöffnete Einfachglasfenster in die Frühlingsluft hinauszieht, „heute haben Sie ja Glück mit dem Wetter für den Umzug gehabt!” Er stockt kurz und mit einem Wink zum Kanonenofen hin ergänzt er bedeutungsvoll: „… nach dem strengen Winter!”

Herr Schlosser versteht nicht ganz, warum Herr Klassinger vom Thema ablenkt, aber er will nicht unhöflich sein und beobachtet deshalb den Hausmeister genau, der unruhig auf dem Sofa hin und her rutscht und sichtlich unsicher ist, wie er die Geschichte beginnen soll. Und Herr Schlosser entschließt sich deshalb dazu, lieber eine Frage zu stellen: „Wissen Sie denn etwa, wie viel Kohle ich brauche, wenn´s richtig kalt wird?”

Er schaut Herrn Klassinger aufmerksam an. Der stämmige Hausmeister streicht sich überlegend den grauen Vollbart und sagt dann langsam und mit einem traurigen Unterton: „Na ja, das hängt natürlich davon ab, wie warm Sie´s haben wollen und wie viel Sie in der Wohnung anziehen.” Er macht eine kleine Pause, und weil er Herrn Schlossers verblüfftes Gesicht sieht, ergänzt er leise und warnend: „Rosa, also Frau Zielinski, hat trotz der Eiseskälte überhaupt nicht geheizt!”

Herr Klassinger gleitet noch etwas tiefer in das Sofa, schaut auf den Boden und wie im Selbstgespräch murmelt er vor sich hin: „Das war ja das Problem.” Aber diesen Satz hört Herr Schlosser nicht, weil er aus lauter Eitelkeit das Hörgerät nicht tragen will, das er jetzt nach der Wende von der Krankenkasse kostenlos bekommen würde. Er fragt weiter: „Das ist ja seltsam. Der Winter war wirklich bitterkalt. Wie hat Frau Zielinski denn das ausgehalten in diesem schlecht isolierten Bau?”

Herr Klassinger zögert einen Moment mit der Antwort und überlegt, wie viel er von Rosa erzählen soll, er weiß ja auch nicht, wie dieser neue Mieter mit Rosas ungewöhnlicher Geschichte zurechtkommen würde. Und so gibt er im Moment nur zwei Sätze preis: „Wissen Sie, die Rosa war in den letzten Jahren schon recht seltsam und eine schrullige Frau. Sie war manchmal nicht so ganz richtig im Kopf.” Er tippt mit dem Zeigefinger leicht an seine Schläfe, um seinen Worten noch mehr erklärenden Nachdruck zu verleihen.

Herr Schlosser drückt seinen Zigarettenrest in einem alten Farbenbecher aus, den die Maler vergessen hatten, und fragt interessiert: „Wie meinen Sie das denn – nicht so ganz richtig im Kopf?”

„Ach,” sagt Herr Klassinger, „sie wurde immer vergesslicher und oft sehr ärgerlich, weil sie glaubte, die Stasi und die Nachbarn würden sie abhören. Dabei wussten doch alle, dass sie völlig alleine lebte und nur sehr selten ihre Wohnung verließ, um das Nötigste einzukaufen. Und besonders schlimm wurde es mit ihr, als sie anfing zu behaupten, die Nachbarn würden ihren Willen mit Röntgenstrahlen zerstören. Da war es sehr schwierig, mit ihr richtig umzugehen.”

Herr Klassinger rutscht nach vorn auf die Sofakante, seine Stimme wird leicht erregt und klingt gepresst: „Und stellen Sie sich vor, mir allein hat Rosa vertraut, nur mir hat sie ihre bösen Ängste erzählt. Am schlimmsten war es, als sie von den vielen Stimmen gepeinigt wurde, die sie drängten, sich zu verstecken, weil sie bald zum Foltern abgeholt werden würde. Das hat sie ganz verrückt gemacht. Sie schlief nicht mehr, verbarrikadierte sich und zog auch tagsüber alle Gardinen zu.”

„Ja aber haben Sie denn nicht versucht, ihr diesen Blödsinn auszureden?” fragt Herr Schlosser erregt. „Das ist es ja gerade,” wirft Herr Klassinger ein: „Eben weil ich ihr immer wieder klar gemacht habe, dass es die Stimmen gar nicht gibt, wurde alles nur noch fürchterlicher. Denn jetzt behauptete sie, ich mache mit den Stimmen gemeinsame Sache, und Rosa beschuldigte mich, ich sei ein Verschwörer. Sie ließ mich ein paar Wochen lang nicht mehr in die Wohnung. Es hat lange gedauert, bis ich wieder ihr Vertrauen bekam.”

Herr Klassinger betont langsam und mit allem Nachdruck: „Ich sag es Ihnen, Herr Schlosser, kein Mensch hat sie verfolgt, wirklich nicht! Und Rosa verlangte von mir, ich solle dafür sorgen, dass diese anderen Leute alle in die Irrenanstalt kommen, weil sie krank seinen. Dabei haben wir hier im Haus wirklich friedliche Bewohner, und wir mochten die Rosa, auch wenn sie manchmal komisch war, denn alle wussten, dass sie im Grunde eine harmlose und gute Frau war. Deshalb hat auch oft einer von uns für sie eingekauft, weil sie doch mit ihrer kranken Hüfte die vielen Treppen nur mit Schmerzen steigen konnte.”

Herr Klassinger zieht eine neue Zigarette aus der Schachtel und ein Billigfeuerzeug aus der Manteltasche. Dabei schaut er den Werbeaufdruck an und knurrt ärgerlich: „Da sehen Sie, auch so eine Gaunerversicherung! Diese Kapitalberater und angeblich menschenfreundlichen Versicherungsagenten haben unser Land nach der Wende wie eine Heuschreckenplage heimgesucht! Sich haben sie gut beraten und zu sich und ihrem Geldbeutel waren sie freundlich. Mich haben sie dabei reingelegt. Jetzt komme ich aus dem Vertrag nicht mehr raus! Es ist ja nur ein kleiner Trost, aber dieses Feuerzeug werde ich bis zum letzten Tropfen Benzin ausbrennen!”

Seine Stimme ist voll Wut, und Herr Schlosser pflichtet ihm bei: „Ja, das glaube ich Ihnen! Wenn mein Sohn aus Düsseldorf mich nicht rechtzeitig gewarnt hätte, wäre ich auch zwei Vertretern aufgesessen, die mir auf meine alten Tage noch eine Lebensversicherung aufreden wollten.”

Er lässt sich von Herrn Klassinger eine Zigarette anzünden und fragt nach einem tiefen Zug: „Und wie ging die Geschichte mit Frau Zielinski weiter?”

Der Hausmeister fährt in seiner Erzählung fort: „Irgendwann kapierte ich, dass sie einen echten Verfolgungswahn hatte und richtig krank war und nicht nur ein bisschen komisch. Ich verstand, dass alles nur schlimmer wird, wenn ich versuchte, ihr den Wahn auszureden. Deshalb ließ ich mich darauf ein, mit Rosa ein Klopfzeichen zu vereinbaren, an dem sie erkennen konnte, dass ich es war, der sie besuchen wollte. Ich musste ihr hoch und heilig und immer wieder versprechen, es niemanden zu verraten. So kam es, dass ich über Wochen der einzige Mensch war, der sie sah. Und ich musste zusehen, wie sie die Wohnung und sich verkommen ließ. Sie aß immer weniger, obwohl ich ihr alles einkaufte, was sie brauchte. Und so nahm sie auch immer mehr ab, und weil sie ohnehin eine zierliche Frau war, bekam ich es mit der Angst zu tun. Denn ich befürchtete, sie würde vielleicht verhungern. Schrecklich unangenehm wurde es, als Rosa auch noch viele Nahrungsmittel in den hintersten Ecken versteckte, denn sie meinte, die Stimmen würden ihr das Essen stehlen.

Zu allem Übel vernachlässigte sie sich selbst auch körperlich und wusch sich nicht mehr, wechselte nur noch selten die Kleider, und die schmutzigen Hemden ihres Mannes, die sie auftrug. Die Socken und Unterhosen lagen in irgend welchen Ecken auf dem Fußboden oder in Schubladen herum. So begann es schließlich im warmen Spätsommer überall schrecklich zu stinken, und Rosa erlaubte nicht, dass ich die Fenster öffne.”

Herr Schlosser zieht die Nase hoch und sagt angewidert: “Das muss ja fürchterlich gerochen haben!” – “Nein,” besteht Herr Klassinger auf seinem Wort, “es hat bestialisch gestunken. Ich habe es schon im Treppenhaus gerochen, wenn ich hoch kam, und die Nachbarn beschwerten sich bei mir. Und das Allerschlimmste war, dass ich eines Tages die Kakerlaken in allen Ecken entdeckte. Da bekam ich wirklich die Panik. Ich versuchte alles, um mit Insektenvertilgungsmitteln dieser Plage Herr zu werden. Es war ein ständiger Kampf mit Rosa, die mir dauernd vorwarf, ich wolle sie gleich mit vergiften, und die Sache mit den Kakerlaken sei nur ein Vorwand, um Gift in die Wohnung zu schleppen. Es wundert mich heute noch, warum sie mich überhaupt noch herein ließ.”

Herr Klassinger wischt seine schweißnassen Hände hektisch am Arbeitsmantel ab und redet schnell weiter: „Schließlich konnte ich Rosa in einer stundenlangen Diskussion endlich dazu bewegen, dass ich unter ihrer Aufsicht aufräumen und lüften durfte. Sie können sich nicht vorstellen, wo ich überall Essen gefunden habe: Unter der Matratze, unter dem Sofa, auf der Gardinenstange, zwischen den verdreckten Wäschestücken, sogar in einem Beutel im Toilettenwasserkasten! Es war wirklich entsetzlich! Und überall dieses Ungeziefer! Mich ekelt heute noch, wenn ich an dieses Gewimmel denke! Und dann musste ich mit Rosa um jede Minute kämpfen, die das Fenster noch länger offen bleiben durfte.”

Herr Schlosser verdreht die Augen, als würde er gerade den alten Gestank riechen und die Kakerlaken durchs Zimmer huschen sehen, aber er drängt weiter: „Ja, haben Sie denn keinen Arzt geholt?” Aber Herr Klassinger schüttelt den Kopf: „So einfach ging das nicht! Ich durfte ja niemandem etwas von Rosa erzählen. Wenn ich wenigstens mit meiner Frau reden und sie um Hilfe fragen hätte können, aber ich lebe ja seit ihrem Tod vor drei Jahren auch allein. Und Rosa hatte zu mir Vertrauen, das wollte ich nach der Zwangspause nicht verspielen, die Rosa mir damals auferlegt hatte, als sie glaubte, ich würde mit den Stimmen gemeinsame Sache machen. Andererseits wusste ich, dass ich ihr nicht wirklich helfen konnte, also ich meine medizinisch. So für den Alltag ging es schon – mit einkaufen, waschen, aufräumen, aber Rosa wurde immer verbohrter, starrsinniger, und oft konnte ich mit ihr kein vernünftiges Wort reden.”

Er fährt sich mit der Hand über den Bart und schüttelt langsam den Kopf: „Eines Tages war ich dann so weit, dass ich auch nicht mehr konnte. Ich war völlig verzweifelt, mein Herz begann ganz unregelmäßig zu schlagen, und ich bekam starke und beklemmende Brustschmerzen. Da ging ich zu Dr. Maschek. Er ist schon viele Jahre mein Hausarzt und hat in dem Block um die Ecke seine Praxis. Ich wusste, dass er auch Rosa betreut hatte, aber sie war schon lange nicht mehr bei ihm gewesen.

Dr. Maschek untersuchte mich gründlich, auch mit dem neuen EKG, das er sich nach der Wende kaufen konnte, und meinte dann, es sei nichts Schlimmes. Aber er kannte mich gut und merkte, dass ich ganz erschöpft aussah und kalte nasse Hände hatte. Ich zitterte, und er spürte meine innere Erregung. Und so fragte er mich ganz gezielt, ob ich Sorgen hätte. Da hielt ich es nicht mehr länger aus und erzählte die Geschichte von Rosa und mir.

Er hörte geduldig zu und erklärte mir dann, dass Rosa eine Psychose habe. Wissen Sie, Herr Schlosser, das ist eine schwere Geisteskrankheit, bei der sie die Wirklichkeit ganz anders erlebt hat als wir, und da hat es gar keinen Wert, wenn man mit Vernunftargumenten kommt. Er hat von einem richtigen Wahnsystem gesprochen, das die Kranken für sich aufbauen und in dem sie leben. Und wenn wir Gesunden der Wirklichkeit dieser Menschen widersprechen, werden sie wütend, weil sie nicht verstanden fühlen. Dann glauben sie, auch wir würden sie verfolgen und bedrohen. Dr. Maschek hat mir das so gut erklärt, dass ich die Zusammenhänge tatsächlich verstanden habe, auch wenn ich immer noch nicht weiß, warum Rosa sich verfolgt fühlte.”

Herr Klassinger hält einen Moment inne und lässt Herrn Schlosser nachdenken. Dann holt Herr Schlosser tief Luft und meint: „Ja aber, was hat Dr. Maschek dann vorgeschlagen?”

„Er sagte sofort, dass Rosas Krankheit so weit fortgeschritten sei, dass man ihr wenn überhaupt nur in einer psychiatrischen Klinik helfen könne. Aber wie sollten wir sie denn freiwillig dorthin bekommen? Da wurde mir plötzlich klar, dass Rosa sich noch mehr verfolgt fühlen würde, wenn wir ihr sagen, dass wir sie in eine Klinik bringen wollen. Das wäre ja Wasser auf ihre Mühlen und würde ihre schlimmsten Ängste bestätigen. Können Sie sich vorstellen, was das für eine verzwickte Situation für mich war, weil ich nicht wusste, wie ich es richtig machen soll?”

Herr Schlosser sieht, wie Herr Klassinger schon wieder nervös seine Schweißperlen auf der Stirn abwischt und hört ihm weiter zu: „Dr. Maschek und ich vereinbarten schließlich, dass wir es bei nächster Gelegenheit so arrangieren mussten, dass er einen Hausbesuch bei Rosa machen durfte, am besten unter einem medizinischen Vorwand, und sie dabei nach längerer Zeit einmal untersuchen konnte.

Tatsächlich hatte Rosa zu jener Zeit immer wieder heftigen Husten. Es war mittlerweile Herbst geworden. Sie erinnern sich bestimmt, dass der Oktober schon recht kalt war. Und Rosa heizte nicht, weil sie von ihren Stimmen gehört hatte, dass die Kohlen vergiftet seien und die Nachbarn sie mit den Dämpfen des Ofens umbringen wollten.”

Herr Klassinger macht eine ausladende Geste mit beiden Armen und zieht die Schultern hoch, und Herr Schlosser erkennt die Ratlosigkeit seines neuen Hausmeisters, der sein ganzes Entsetzen verzweifelt zeigt: „Stellen Sie sich vor, sogar vor den Kohlen hatte sie Angst! Deshalb trug sie im Herbst schon immer zwei oder drei Pullis oder dicke Hemden über der Unterwäsche, weil es in der Wohnung bitterkalt wurde und sie sich nicht getraute zu heizen. Auch ich zog immer einen besonders dicken Pullover an, wenn ich in ihre Wohnung kam. Ich war mir sicher, dass Rosa eine Bronchitis oder vielleicht sogar eine Lungenentzündung hatte. Das wäre ein guter Vorwand gewesen, Dr. Maschek zu ihr zu bringen.

Und so fragte ich sie bei meinem nächsten Besuch an diesem Nachmittag, ob ich denn nicht Dr. Maschek rufen sollte. Er würde sicherlich gern zu ihr kommen. Aber sie war entsetzt über die Idee und verbot mir schroff, mit ihm zu reden. Jetzt wusste ich überhaupt nicht mehr, was ich tun sollte. Ich versuchte, mit ihr zu diskutieren und ihr die Vorteile eines Arztbesuches schmackhaft zu machen. Denn ich wollte ja auf jeden Fall ihr Einverständnis für den Besuch erreichen. Aber ich schaffte es nicht. Sie müssen sich das mal vorstellen: Da lebt man viele Jahre in einem Haus mit einem Menschen und will ihm helfen, weil er krank ist. Und dieser Mensch meint, alle anderen seien krank und wehrt die Hilfe ab. Das ist doch wirklich eine Katastrophe!”

Herr Schlosser drängt: „Das ist ja schlimm, dafür muss es doch eine Lösung geben. Was haben Sie denn da gemacht?” „Es wurde noch viel dramatischer!” meint Herr Klassinger. „In den darauf folgenden Tagen ging es Rosa so schlecht, dass sie kaum mehr aus dem Bett kam und manchmal ganz blau anlief, wenn sie husten musste. Sie konnte mir nur noch unter großen Mühen die Wohnungstür aufmachen. Deshalb überredete ich sie dazu, mir ihren Wohnungsschlüssel zu überlassen. Ich musste ihr versprechen, ihn niemandem zu geben und keinen ihn die Wohnung zu lassen.

Und als sie eines Morgens bei einem Hustenanfall fast erstickt wäre, lief ich zu Dr. Maschek in die Sprechstunde hinüber, ohne es Rosa zu sagen, und bat ihn, sofort zu kommen. Ich war schweißgebadet vor Angst um ihr Leben und machte mir im Moment keine Sorgen mehr um ihre Reaktion mir gegenüber. Ich hatte nur noch im Sinn, wenigstens ihr Leben zu retten. Ich wollte nicht verantwortlich sein dafür, dass sie stirbt, nur weil ich den Doktor nicht rechtzeitig geholt habe. Er kam auch sofort mit und ließ seine Patienten warten. Wir standen auf dem Hausflur, und ich schloss mit heftigem Herzklopfen die Tür auf. Ich spürte plötzlich, wie ich zitterte vor Angst, was Rosa sagen würde, wenn ich einen Fremden mitbringe. Sie kannte Dr. Maschek ja, aber inzwischen waren alle Menschen außer mir Feinde für sie, auch wenn sie diese Leute schon lange kannte.”

Herr Klassinger greift mit zitternden Händen nach der Schachtel in seiner Arbeitsmanteltasche, holt eine neue Zigarette hervor, zündet sie umständlich mit dem Billigfeuerzeug an, nimmt einen hektischen Zug und stößt den Rauch rasch aus dem Fenster. Herr Schlosser atmet schnell: „Das ist ja aufregend!”

Der Hausmeister nickt bestätigend: „Jetzt ging es erst richtig los! Sie können sich nicht vorstellen, wie wütend Rosa war, als sie uns beide sah. Sie beschimpfte mich, ich sei ein Verräter, ich solle sofort verschwinden und den Fremden mitnehmen, er wolle sie nur umbringen. Sie erkannte den Doktor nicht, und als er sich vorstellte, er sei doch ihr Hausarzt, wurde sie noch zorniger und schrie, er habe sich nur verkleidet und maskiert, er sei von der Mörderbande aus dem Nachbarhaus und habe ihre Kohlen vergiftet, er solle sich zum Teufel scheren, da gebe es noch mehr Kohlen, sie werde ihn rauswerfen, wenn er nicht freiwillig gehe. Sie geriet völlig außer sich und lief mit ihrem Geschrei dunkelblau im Gesicht an und schnappte so nach Luft, dass ich noch mehr Angst bekam, sie würde sofort an einem Erstickungsanfall sterben.

Sie wollte aus dem Bett springen und auf den Doktor losgehen, fiel aber dabei auf den Boden, und wir konnten sie gerade noch auffangen, so dass sie sich nicht verletzte. Als wir sie aufheben wollten, packte sie den Doktor am Jackett und versuchte, ihn ins Gesicht zu schlagen. Er konnte gerade noch ausweichen, reagierte aber trotzdem ganz beruhigend auf sie und ließ sich nicht drausbringen. Ich war total aufgeregt. So etwas hatte ich ja noch nie erlebt. Aber er blieb gelassen und redete beruhigend auf sie ein. Zuerst machte das Rosa nur noch wütender, böser, und sie stieß die schlimmsten Schimpfwörter aus. Sie schlug um sich und warf mit dem Hausschuh nach uns, den sie auf dem Boden gerade noch greifen konnte.

Es war ein Riesentumult, und ich dachte daran, was wohl die Nachbarn sagen, wenn es hier am hellichten Tag so zugeht. Aber wir wussten auch, dass Rosa manchmal ihren Wutanfall bekam und dann auf den Boden stampfte, schimpfte und tobte, um die bösen Verfolger zu verjagen. Es ging immer wieder rasch vorbei, und deshalb nahm diesen Krach inzwischen keiner mehr ernst. Aber früher hat sie mich nie angegriffen. Jetzt war das ganz anders, denn wir beide waren die Zielscheibe ihrer Verzweiflung und ihres Zorns.

Ich ging in Deckung, um ihre Schläge nicht abzubekommen, und Dr. Maschek bemühte sich aus angemessener Entfernung, Rosa gut zuzureden. Schließlich beruhigte sie sich und sank erschöpft auf den Boden. Wir wollten ihr ins Bett helfen, aber sie wehrte sich mit Händen und Füßen um sich schlagend und krabbelte schließlich mühsam und hustend mit blauem Gesicht ins Bett zurück und versteckte sich unter der Decke. Dann war endlich Ruhe.”

Herr Klassinger sinkt erleichtert in das Sofa zurück und stöhnt: „Meine Güte, das regt mich heute noch auf, wenn ich daran denke. Die Situation war fürchterlich. Das können Sie sich gar nicht vorstellen!”

Herr Schlosser atmet auf und sagt mit gepresster Stimme: „Es ist ja schon aufregend, wenn ich Ihnen nur zuhöre. Wie schlimm muss es dann erst gewesen sein für Sie, in der Wohnung so bedroht zu werden. Hat sie sich denn dann untersuchen lassen von Dr. Maschek?”

„Nein,” sagt Herr Klassinger, „er hat es gar nicht versucht, sondern zu mir leise gesagt: ´So kommen wir nicht weiter. Wir gehen jetzt, und ich organisiere den Krankenwagen und melde sie in der Klinik an. Dann komme ich nach der Sprechstunde wieder und bringe sie in das Krankenhaus. Wenn es sein muss auch mit Zwang, aber ich werde alles versuchen, um es so friedlich wie möglich zu machen. Sie können sie beobachten, und wenn sie ruhig ist, kann sie schlafen. Sie ist jetzt sowieso ganz erschöpft. Ich lasse Ihnen diese zwei Fläschchen hier.´ Damit stellte er zwei kleine Medikamentenschachteln aus seiner Arzttasche auf den Tisch und sagte: ´Das hier enthält ein Beruhigungsmittel, und das andere ein schleimlösendes Mittel. Wenn Sie Frau Zielinski überreden können, wäre es gut, ihr von beiden Medikamenten zwanzig Tropfen zu geben. Dann hat sie Erleichterung mit dem Husten und wird ruhig gestellt bis zu dem Transport. Vielleicht gelingt es uns dann besser, sie ohne großen Wirbel in die Klinik mitzunehmen.´ Ich kannte die Mittel, weil er sie auch meiner Frau damals gegeben hatte, als sie mit ihrem Lungenkrebs im Bett lag und sich so quälte.

Dann verließ er die Wohnung, und ich setzte mich auf den Stuhl neben das Bett und wartete ab. Ich sah, wie Rosa einen kleinen Schlitz an der Bettdecke freigelassen hatte, um Luft zu holen, und wie sich die Bettdecke in Rosas Atemrhythmus langsam hob und senkte. Erst nach einer ganzen Weile bemerkte ich, wie Rosa sich bewegte, herausschaute und fragte: ´Ist der Verrückte jetzt weg?´ Ich beruhigte sie und riet ihr, ein bisschen zu schlafen. Sie lächelte verschmitzt und verwirrt. Es war so ein richtig irrer Blick. Das wunderte mich nicht, weil ich diese seltsame Mimik kannte. Ich erklärte ihr die Medikamente und bat sie, die Tropfen zu nehmen, aber sie meinte inzwischen wieder ruhig, sie könne auch so schlafen. Ich wollte nicht noch einen Streit mit ihr haben, und so drängte ich sie nicht weiter und ließ die Tropfen auf dem Tisch stehen.

Da fiel mir plötzlich ein, dass ich unbedingt nach einem defekten Lattenverschlag im Keller schauen musste. Die Nachbarn hatten sich schon bei mir beschwert. So vereinbarte ich mit Rosa, dass ich mich jetzt um die Reparatur kümmern würde, während sie schläft. Später würde ich wieder nach ihr schauen. Ich musste ihr noch einmal versprechen, ja diesen Verrückten nicht mehr mitzubringen, überhaupt niemanden dürfe ich in die Wohnung bringen, sonst würde sie mir den Schlüssel abnehmen. Ich versprach es ihr und hatte ein elend schlechtes Gewissen, denn ich wusste ja, dass ich Dr. Maschek später wieder in die Wohnung lassen musste.

Ich ging also in den Keller und versuchte, den Verschlag zu reparieren. Aber mir fehlten ein paar Ersatzteile, und so fuhr ich mit dem Rad zu dem neuen Baumarkt, kaufte die Nägel und Schrauben und Eisenwinkel und konnte schließlich den Verschlag ausbessern. Das Ganze dauerte länger als ich beabsichtigt hatte, da stand auch schon der Rot-Kreuz-Wagen mit Dr. Maschek vor der Tür. Die beiden Sanitäter holten die Trage und ein paar Gurte aus dem Wagen, um im Notfall Rosa festbinden zu können. Dann stiegen wir die Treppen hoch, und ich schloss mit zitternden Händen auf. Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wie schlecht es mir ging! Ich war der helfende Verräter, der Rosa hinterging, um sie ins Krankenhaus einliefern zu lassen. Richtig kotzübel fühlte ich mich. Entschuldigung für das Wort, aber es zeigt am besten, wie es mir ging.”

Herr Klassinger erhebt sich aus dem Sofa und geht langsam zum Fenster, schaut hinaus und deutet hinunter vor das Haus: „Da parkte der Wagen!” Dann dreht er sich um und zeigt an die Wand im Schlafzimmer: „Und hier stand das Bett, wo jetzt Ihr Bett auch steht.” Er macht eine lange Pause, Herr Schlosser hält die Luft an und schaut den Hausmeister erwartungsvoll an, der langsam und leise sagt: “Und was wir dann sahen, war ein totaler Schock für uns!”

Herr Klassinger hält inne, schüttelt langsam den Kopf, als wolle er es immer noch nicht wahrhaben, was er damals gesehen hatte. Erst als Herr Schlosser ungeduldig „Weiter, weiter!” drängt, sagt Herr Klassinger trocken: „Das Bett war leer. Rosa war verschwunden!”

Eine fette Fliege surrt durch das Zimmer, dreht brummend ihre Runde über das Bett und das Sofa und lässt sich auf dem verstaubten Linoleumboden nieder. Sie findet ein winziges Krümelchen, packt es mit ihren Vorderbeinen und hebt wieder zum Flug ab. Mit einer großen Runde durch das Wohnzimmer findet sie das offene Fenster und verschwindet. Die beiden Männer beobachten sie verblüfft, denn diese Unterbrechung lenkt sie von der Erzählung ab. Herr Schlosser kommt zuerst in den Gedankengang von vorhin zurück und wendet sich Herrn Klassinger zu: „Wie bitte? Das Bett war leer? Wo war sie denn?”

Herr Klassinger zuckt mehrfach mit den Schultern und mit der Stirn: „Sie war verschwunden. Ganz einfach weg.”

„Sie wollen mich auf den Arm nehmen, Herr Klassinger!” sagt Herr Schlosser, und sein Gesicht blieb in einer völlig verdutzten Mimik stehen: „Erzählen Sie mir nicht so etwas! Das ist jetzt ein schlechter Witz am falschen Platz. Sie konnte doch nicht einfach verschwinden!”

„Doch!” beharrt Herr Klassinger, „Nachdem wir unseren ersten Schreck überwunden hatten, suchten wir systematisch die Wohnung ab, und das geht ja in diesen zwei Zimmern schnell. Rosa war tatsächlich verschwunden. Wir waren total irritiert und wussten im ersten Moment gar nicht, wie wir ihr Verschwinden erklären sollten. So setzten wir uns hier an den Tisch und auf das Sofa und beratschlagten, was wir tun könnten.

Dabei entdeckte Herr Dr. Maschek, dass das vorher ganz volle Fläschchen mit dem Beruhigungsmittel leer und das andere mit den schleimlösenden Tropfen noch ganz voll war. Erst als ich ihm mehrfach versicherte, dass ich Rosa die Tropfen nicht gegeben hatte, sie sogar strikt alle Medikamente abgelehnt hatte, erklärte Dr. Maschek uns, wie gefährlich es war, wenn Rosa tatsächlich die Flasche leer getrunken hat: ´Dann kommt sie nicht weit,´ sagte er, ´und wenn sie da draußen irgendwo im Wald liegt, erfriert sie.´ Wir fanden auch in der Wohnung keine Spuren, wo sie das Fläschchen ausgekippt haben könnte. Sie muss das Fläschchen mit dem Beruhigungsmittel leer getrunken haben. Dr. Maschek vermutete, dass sie das schleimlösende Mittel nehmen wollte, um Erleichterung zu haben, es aber mit dem Beruhigungsmittel verwechselt hat.

Wir entdeckten auch, dass ihr grauer Wintermantel, die schwarzen Fellstiefel und der braune selbstgestrickte Schal fehlten. Auch ihre Wollmütze und die Fausthandschuhe konnten wir nicht finden. Sie hatte also, wie sie selbst immer sagte, ihr eigenes Heizsystem mitgenommen. Als ich dann feststellte, dass auch ihre große Handtasche verschwunden war, suchte ich in Rosas Versteck ihr gespartes Geld. In einem besonders vertrauensvollen Moment hatte sie mir nämlich einmal vor langer Zeit verraten, dass sie ihre ganze Habe in einem Kuvert im Futter ihres Sessels versteckt und mit einem verdeckten Reißverschluss an der Unterseite des Kissens gesichert hatte. Auch das Geld war verschwunden. Jetzt wussten wir, dass Rosa geflohen war und alles mitgenommen hatte, was sie an Wertvollem tragen konnte.

Da beschlossen wir, eine Suchaktion nach ihr einzuleiten. Dr. Maschek benachrichtigte von seiner Praxis aus die Polizei. Ich lieferte dazu die Personenbeschreibung. Dann fragten wir die Nachbarn, ob jemand Rosa beim Verlassen der Wohnung bemerkt hatte, aber keiner hatte sie gesehen. Zu der fraglichen Zeit hielt sich außer mir und der alten bettlägerigen Frau Steinhauer in der Wohnung direkt hier drunter niemand im Haus auf. Alle anderen waren bei der Arbeit, und ich war im Keller, anschließend beim Baumarkt und kam dann erst zurück. Rosa hatte also genügend Zeit, langsam und unbemerkt von ihrer Wohnung durch das Treppenhaus ins Freie gehen. Um diese Zeit ist draußen nicht viel los. Auch der Kinderspielplatz liegt auf der anderen Seite des Hauses. Und der Wald beginnt gleich dort drüben. Sie hatte es nicht weit, um unbemerkt unterzutauchen.”

„Ja aber, sie war doch schwer krank! Warum hätte sie denn die Wohnung verlassen sollen?” fragt Herr Schlosser verwundert.

„Na klar, weil sie Angst vor dem Verrückten hatte. Aber vielleicht gibt es ja noch einen besseren Grund!” Herr Klassinger hebt den Zeigefinger, als wolle er sich zu Wort melden und auf eine besondere Idee aufmerksam machen: „Mir fiel schließlich ein, dass sie unter der Decke einen Luftschlitz gelassen hat, um atmen zu können, und da hat sie vielleicht gehört, dass der Doktor zu mir gesagt hat, er wolle Rosa später abholen lassen. Das brachte mich auf die Idee, dass sie deshalb geflohen war. Als ich diese Überlegung Dr. Maschek erzählte, meinte er, das sei durchaus möglich. Nur, und das war das Unerklärliche: Rosa blieb verschwunden.”

Herr Schlosser schüttelt den Kopf: „Das glaube ich nicht. Ein Mensch kann doch nicht einfach spurlos verschwinden, und schon gar nicht, wenn er so gehbehindert und körperlich und seelisch krank ist wie Frau Zielinski. Also jetzt geben Sie es zu, Herr Klassinger, an welcher Stelle der Geschichte Sie mich auf den Arm genommen haben. Es ist ja wirklich unerträglich zu glauben, sie sei tatsächlich verschwunden und nicht wieder aufgetaucht.”

Herr Klassinger nickt bekräftigend: „Es war tatsächlich so! Wir haben auch systematisch den ganzen Wald durchgekämmt. Und trotz einer umfangreichen Suchaktion der Polizei und einigen Zeitungsanzeigen mit Bild wurde sie nicht gefunden.” Er steht auf, geht zum Fenster und schaut hinaus, als wolle er sich vergewissern, dass sie auch jetzt nicht draußen auf dem Rasen spazieren geht.

„Erzählen Sie doch, Herr Klassinger! Wie ging die Geschichte weiter?” Herr Schlosser wird ungeduldig, aber der Hausmeister bleibt ruhig: “Langsam, langsam! Ich erzähle Ihnen alles, aber der Reihe nach!”

Herr Klassinger lässt die Worte wie Tropfen langsam fallen und berichtet weiter: „Die Polizei hat diese Wohnung dreimal gründlich durchsucht, um Spuren aufzunehmen und Hinweise zu finden, die uns weiterhelfen könnten bei der Suche nach Rosa. Und die Beamten haben es wirklich gründlich gemacht, das können Sie mir glauben. Der Kriminalkommissar stellte sogar fest, dass Rosa in all den Jahren eigentlich nur einen der drei Stühle benutzt hatte, denn sein abgeschabtes Polster an der Vorderkante und die Eindrücke auf dem Linoleum waren deutlich sichtbar, während die anderen Stühle nur verstaubt aber sonst wie neu wirkten und der Boden darunter nicht verbraucht aussah.

Die Polizei hat auch alle Nachbarn befragt. Aber niemand hat Rosa gesehen. Wie gesagt, keiner außer Frau Steinhauer und mir war hier im Haus, und sie berichtete lediglich, sie habe lange lautes Gepolter gehört, aber dann sei es immer stiller geworden. Eine genaue Zeit konnte Frau Steinhauer nicht angeben, weil sie keine Uhr am Bett hat. Und der Krach war ja nichts Neues. Den Lärm haben wir miterlebt.”

Herr Schlosser rutscht gespannt auf dem Sessel hin und her, sein Mund steht offen, als könne er so besser hören: „Also jetzt raus mit der Sprache! Es muss doch eine Lösung des Rätsels geben!” Er ist jetzt sehr bestimmt, und Herr Klassinger spürt, dass der neue Mieter nicht mehr bereit ist, sich länger auf die Folter spannen zu lassen. Herr Schlosser sinkt in den Sessel zurück und wartet mit angehaltenem Atem auf Herrn Klassingers Antwort.

Dieser schaut Herrn Schlosser ganz ruhig an und sagt bedächtig: „Als die Polizei Rosa als nicht auffindbar erklärt hat und wir auf Anordnung des Sozialamtes die Wohnung ausräumen mussten, damit sie neu vermietet werden konnte, habe ich einen Container besorgt. Dann trugen wir die Einrichtung und den ganzen Ramsch Stück für Stück aus der Wohnung. Das meiste hier war so alt, dass wir es geradewegs zum Müll warfen. Verwandte gab es ja nicht, die Ansprüche auf die Einrichtung hätten anmelden können.

Als wir alle Räume fast leer hatten, blieb noch das letzte Möbelstück übrig. Das war ihr Sofa. Es stand hier, wo auch Ihr Sofa jetzt steht. Rosa hatte dieses Möbel von ihrem Ersparten mit ihrem Mann Ende der Fünfzigerjahre gekauft, es war ihr eine fast heilige Erinnerung an ihn. Wissen Sie, so ein richtig großes altes Stück mit abgewetztem Bezug und kaputten, durchgesessenen Federbälgen, das man kaum heben kann, weil es so unhandlich und schwer ist. Deshalb hatten wir es auch bis zum Schluss stehen gelassen.”

Herr Schlosser erhebt sich, geht nervös auf und ab und schüttelt ungläubig den Kopf. Da klatscht ein heftiger Windstoß den Fensterflügel zu. Die beiden Herren haben nicht bemerkt, dass ein Gewitter aufzieht. Sie schauen unwillkürlich zum Fenster. Die grauschwarzen Wolken bedecken bedrohlich den Himmel, der stürmische Wind peitscht die Bäume und Hecken, und im Laufe des Gespräches war langsam die Dämmerung in das Zimmer gekrochen. Herr Klassinger steht auch auf, schließt das Fenster, geht zum Lichtschalter, und jetzt verbreitet die nackte Glühbirne an der Decke ihr ungemütliches Licht. Die Männer setzen sich wieder, und Herr Schlosser spürt, wie sein Gegenüber die Gedanken sammelt und überlegt, wie er am besten weitererzählen soll.

Nach einer kurzen Pause sagt der Hausmeister: „Stellen Sie sich die Situation vor, wir stehen hier und wollen zu viert das Sofa hochheben. Ich greife mit einer linken Hand vorn an das Polster, mit der rechten hinten an die Lehne. Die drei Männer packen ebenfalls zu, und auf mein Kommando heben wir an. Da splittert plötzlich unter dem Sofa Holz, es kracht entsetzlich, und der Bezug in der unteren Frontverkleidung zerreißt, als ob das ganze Sofa entzwei brechen würde. Wir schauen uns verblüfft an, und ich lache: `Na prima, wenn das olle Ding jetzt schon kaputt geht, können wir die Einzelteile leichter hinuntertragen. Ich kommandiere: Absetzen! Mal sehen, was abgebrochen ist. Dann können wir das Sofa gleich hier auseinander nehmen.`

Wir wollen es gerade wieder erleichtert abstellen, und ich schaue auf den Boden, um meine Finger nicht einzuklemmen, da sehe ich, wie langsam eine weiße Hand aus dem Riss unter der Sitzfläche herausrutscht.”

Herr Klassinger hält inne und sieht, wie Herr Schlosser blass wird, die Augen verdreht und schließt und tief in seinen Sessel sinkt. Sein Kopf fällt auf die Brust. Ein Seufzer des Entsetzens würgt sich zwischen den krampfhaft zusammengepressten blauen Lippen hervor, und die Hände hängen schlaff und blass über die abgeschabte Lehnen. Der Hausmeister springt alarmiert auf: „Herr Schlosser, was ist denn los mit Ihnen? Ist Ihnen nicht gut? Soll ich Dr. Maschek holen?”

Er reißt mit einem Sprung das Fenster auf, und der Regen prasselt ins Zimmer. Herr Klassinger knallt in aller Eile den Flügel wieder zu, holt aus seiner Hose ein Taschentuch und wischt über Herrn Schlossers schweißnasse Stirn. Langsam hebt und senkt sich die Brust des fast bewusstlosen Mannes. Und der Hausmeister ergreift langsam das Handgelenk von Herrn Schlosser, um den Puls zu fühlen, wie er es in der letzten Arztserie gesehen hat. Er erschrickt, denn was er tastet, ist sehr unregelmäßig, und er spürt, dass dieses Stolpern und die Pausen gefährliche Zeichen sein müssen.

Da hört er, wie sich aus den Lippen von Herrn Schlosser ein leiser Satz quält: „Legen Sie mich auf den Boden, dann geht´s gleich wieder!” – „Ja, natürlich, gern!” beeilt sich Herr Klassinger und hilft dem neuen Mieter, langsam von dem Sessel auf den Boden zu rutschen. Ganz vorsichtig nimmt Herr Klassinger schließlich den Kopf von Herrn Schlosser in die Hand, damit er nicht auf dem Linoleum aufschlägt, und er legt seine Beine vorsichtig auf einen kleinen Schemel, der neben dem Sessel steht.

„Danke,” stöhnt Herr Schlosser leise, und Herr Klassinger sieht, wie der erschöpfte Mann am Boden sich entspannt. Dann wartet der Hausmeister einen Moment ab und beobachtet erleichtert, wie langsam die rosa Farbe des Lebens wieder in Herrn Schlossers Gesicht zurückkehrt. Nach ein paar Minuten öffnet er die Augen, und ein gezwungenes Lächeln fliegt über sein Gesicht: “Entschuldigung, aber ich hätte Ihnen sagen sollen, dass ich Aufregungen nicht so gut vertrage. Das war doch ein bisschen viel!”

„Stimmt,” nickt Herr Klassinger und setzt sich neben Herrn Schlosser auf den Boden, „für uns auch!” Die beiden schweigen und schauen einander an. Erst nach einer ganze Weile dreht sich Herr Schlosser langsam auf die Seite, stützt seinen Kopf auf den Ellbogen und sagt mit einem halb ernsten, halb lachenden Ton: “Also, erzählen Sie weiter, ich bleibe vorsorglich liegen! Vielleicht hauen Sie mich ja noch einmal um mit Ihrer Geschichte!”

Herr Klassinger getraut sich nicht: „Wollen Sie wirklich? Ist es nicht zu viel?” Herr Schlosser schüttelt den Kopf: „Nein, nein, jetzt will ich´s wissen! Hat Frau Zielinski tatsächlich die ganze Zeit tot im Sofa gelegen? Wie geht das denn?”

Da setzt Herr Klassinger sich etwas bequemer hin, lehnt sich an das Sofa, zieht seine Beine an und sagt: “Ja, können Sie sich unseren Schock vorstellen: Wir sehen die tote Hand vorn aus dem Sofa ragen! Und wir können ihn gar nicht richtig absetzen, weil wir den Arm sonst in den Spalt einklemmen. Jetzt wird es schwierig, weil drei von uns das unhandliche Möbelstück halten müssen. Ich versuche herauszufinden, wie sie in das Polster hineingekommen war. Erst beim genaueren Hinschauen erkenne ich, dass die Sitzfläche des Sofas beweglich und ein Bettkasten in den unteren Teil eingelassen ist. Ich muss die kalte Hand wieder durch den Schlitz in den Kasten zurück stecken, damit wir das Sofa absetzen können. Dann wollen wir die Sitzfläche hochklappen, aber da sperrt irgendein Widerstand.”

Herr Schlosser hat sich inzwischen in seiner inneren Anspannung aufgerichtet und an seinen Sessel gelehnt. Er kann es einfach nicht fassen, was er hört. Und so sitzen die beiden Männer einander gegenüber auf dem Fußboden.

Herr Klassinger erzählt weiter: „Wir müssen uns hier auf den Boden vor das Sofa legen, um durch einen kleinen Schlitz unter der Sitzfläche in den Kasten hinein schauen zu können. Da erkennen wir, dass es tatsächlich Rosa ist, die in dem engen Gefängnis zusammengequetscht liegt. Sie hat sich mit der linken Hand in dem unteren Futter des Sitzes verkrallt, und ich will hinein fassen, um die starren Finger aus der verkrampften Lage zu lösen. Aber mein Arm reicht nicht so weit. Rosa hält noch im Tod ihr Sofa so fest, dass wir die Sitzfläche schließlich mit roher Gewalt anheben müssen. Dabei ziehen wir Rosa mit hoch, weil sie mit dem Mantel an den Stahlfedern hängt. Erst jetzt kann ich in den Kasten greifen und Rosas Hand mit einiger Mühe aus dem zerrissenen Bezug heraus hebeln. Dann lasse ich Rosa wieder auf den Bettkastenboden sinken, und wir können wir den Sitz ganz hoch klappen und die Lage überblicken.”

Herr Klassinger stöhnt auf, fast so intensiv wie damals, als er Rosa nach vielen Monaten tot wiedersah. Er redet mit geschlossenen Augen weiter und ruft sich dadurch die gespenstische Szene noch einmal deutlich in Erinnerung: „Es ist so gruselig! Ich spüre, wie mein Hemd vom Schweiß an meinen Rücken geklebt wird und ich am ganzen Körper anfange zu zittern. Ich sehe, wie eine Gänsehaut meine Unterarme überzieht. Mir wird übel, mein Bauch rebelliert, ich kann gerade noch den Mageninhalt hinunterschlucken, der plötzlich in meinen Mund hoch geschleudert wird. Ich will raus rennen, aber ich habe das Gefühl, Rosas Hand hält mich hier am Boden. Fest geklammert sitze ich hier am Boden, als hätte sie sich in meinem Hemd verkrallt! Die nackte Angst schüttelt mich! Rosa packt mich noch im Todeskampf und zieht mich zu sich ins erstickende Gefängnis! Sie stiert mit starren und panikgeweiteten Augen in das Unterfutter des Sofas, kann es nicht fassen, dass sie sich selbst in den Sarg gelegt und lebendig begraben hat.

Ich höre, wie sie mich wütend und in höchster Todespanik anschreit: `Warum hilfst du mir nicht?! Du hast mir doch sonst immer geholfen? Warum hast du diesen verdammten Doktor mitgebracht? Warum lässt du mich hier elendig verrecken?!` Dieses Warum! Immer wieder das Warum! Es verfolgt mich bis in meine Träume! Ich wache nachts schweißgebadet auf, weil Rosa mich immer wieder anschreit! Ich hätte ihr helfen sollen! Aber ich habe doch nicht geahnt, dass sie versucht zu fliehen, und schon gar nicht, dass sie sich in das Sofa einsperrt! Ich spüre richtig, wie sie mich zu sich in den Tod reißt, mitnehmen will ins Jenseits!”

Herr Klassinger drückt röchelnd die erstickenden Schreie aus seinem Mund, gestikuliert wild mit seinen Armen. Er rutscht auf dem Boden hin und her, um sich Rosas Griff zu entziehen, die Augen immer noch verkrampft geschlossen, den ganzen Körper in tobender Aufruhr. Herr Schlosser spürt Rosas und Herrn Klassingers totale Verzweiflung und herausbrechende Wut. Er ist gebannt von dem Gefühlsausbruch, der sich vor seinen schreckgeweiteten Augen abspielt. Auch er kann sich der dramatischen Lage in dem erdrückenden und erstickenden Sofaquetschgefängnis nicht entziehen. Er vergisst fast zu atmen, scheint die verzweifelten Schreie der Eingeschlossenen zu hören, er sieht wie sie schwächer wird. Ihr stoßender Atem keucht immer leiser, schon legen die vernichtend überdosierten Beruhigungstropfen besänftigende Schleier über die peitschenden Wogen ihrer Todesangst. Rosa wird müde. Verzweifelt müde. Tödlich müde. Mit allerletzter Kraft packt sie die herausgerissenen Stahlfedern über sich, will sie nach oben stoßen, um vielleicht doch noch den rettenden Atemzug der Freiheit einzusaugen. Aber die übermächtigen Fäuste des schweren Medikamentes entreißen ihr unerbittlich den Lebenswillen und die Körperkraft aus dem geschwächten, bebenden Leib. Da gleitet langsam ihre rechte Hand aus dem Stahlgewirr der Federn, Rosa ist schon bewusstlos, ohnmächtig, ohne Macht über ihr Sterben. Die Luft zum Atmen wird knapper, und Rosas Leben erlischt leise wie eine Kerze. Todesruhe breitet sich endgültig in dem flachen Sofagrab aus.

Ruhe liegt jetzt auch über dem Wohnzimmer. Aber diese Stille ist ganz anders. Es ist ein Moment der lebhaften inneren Anteilnahme, bei der die äußere Bewegungslosigkeit nicht über die intensiven Gefühle hinwegtäuschen darf. Dies sind die Minuten, in denen alle Konzentration nach innen gerichtet ist, und jeder Gedanke, jede Regung, die nach außen gelangen, nur das große innere Geschehen zerstören. Die beiden Männern haben ihre Augen geschlossen und lassen langsam die Bilder des Grauens und des tödlichen Friedens abklingen. Sie kommen wieder in die Wirklichkeit dieses Spätnachmittags in der ungemütlichen Wohnung zurück.

Herr Klassinger richtet sich etwas mühsam wieder auf, lehnt am Sofa, öffnet sich noch einen seiner Hemdknöpfe, und er fragt vorsichtig: „Sagen Sie mal, Herr Schlosser, also bitte, fassen Sie es nicht als unbescheiden auf, aber könnte ich mir mal eine Flasche von dem Bier holen, das in der Küche steht?”

„Aber ja, natürlich, das habe ich in der Spannung Ihrer Erzählung völlig vergessen! Bringen Sie mir eines mit. Mir geht es wieder besser! Wir trinken aus der Flasche, die Gläser sind noch eingepackt.” Herr Schlosser lacht mühsam, und als Herr Klassinger die beiden Flaschen mit dem Kronkorkenöffner an seinem Taschenmesser öffnet, prostet er seinem Hausmeister zu: „Auf eine gute Nachbarschaft, und danke für Ihre Hilfe bis jetzt!” Sie nehmen einen tiefen Zug aus der Flasche, da setzt Herr Klassinger ab und meint nachdenklich: “Eigentlich müssten wir auf Rosa trinken!”

Herr Schlosser überlegt kurz: „Warum hat sie denn keiner gefunden, Sie haben doch erzählt, dass die Wohnung mehrfach sorgfältig durchsucht worden ist?”

Herr Klassinger nickt und zuckt mit den Schultern: „Ganz einfach, wir haben nicht gewusst, dass dieses Sofa einen Bettkasten besitzt, und keiner von uns hatte die Idee, die Sitzfläche hoch zu klappen.”

Herr Schlosser lässt nicht locker: „Der Gedanke, dass sie mehrere Monate tot in diesem Kasten gelegen hat, ist für mich fast unerträglich! Das kann nicht stimmen!”

Herr Klassinger bestätigt ihm: „Aber genau so war es. Erst als die Polizei und ein Gerichtsmediziner die Lage genau untersuchten, stellte sich heraus, dass Rosa, nachdem wir sie verlassen hatten, mehrere Pullover und Mäntel übereinander angezogen hatte. Sie trug alle Kleidungsstücke übereinander, die wir vergeblich gesucht hatten, und noch einige dazu. Auch ihre zweite Armbanduhr fanden wir bei ihr, die sie all die Jahre sicherheitshalber in ihrem Sesselversteck verborgen hatte. Fluchtbereit kletterte sie in den Bettkasten. Offensichtlich wollte sie sich verstecken, damit wir sie nicht finden, wenn wir ein paar Stunden später zurückkommen, um sie zu holen. Wir nehmen an, dass sie in der Nacht das Haus verlassen wollte.

Als sie aber in dem Kasten lag, muss es ihr zu eng geworden sein. Jedenfalls haben die Gerichtsmediziner und die Kripobeamten festgestellt, dass Rosa zusammengequetscht in ihrer eigenen Falle lag, ihre Handtasche neben sich mit dem vollen Geldumschlag. Tiefe Eindruckspuren von den defekten Sprungfedern waren in ihr totes Gesicht und in die Kleider graviert. Bei ihrem Befreiungskampf müssen die Knöpfe, von denen ich vorhin einen gefunden habe, an den Stahlzacken abgerissen sein. Die Polizei hat bemerkt, dass sie am Mantel fehlten und fand sie nicht. Wahrscheinlich sind sie damals im allgemeinen Trubel aus dem Bettkasten herausgerollt und beim Putzen unter die Sockelleiste gerutscht.

Der Lärm, den Frau Steinhauer gehört hat, dieses dauernde Stampfen und Schlagen, muss durch Rosas verzweifelte Versuche entstanden sein, sich aus dem Gefängnis zu befreien. Ich habe es genau angeschaut: Es war schrecklich eng, und sie bekam bestimmt nur kurze Zeit genügend Luft. Der Doktor erklärte mir auch, dass sie ja durch ihre körperliche Anstrengung und Aufregung noch mehr Sauerstoff verbraucht hat als man normalerweise benötigen würde.”

„Das ist ja ein schrecklicher Tod!” stöhnt Herr Schlosser. „Sie ist richtig erstickt!” Er schaut Herrn Klassinger erwartungsvoll an, der zustimmt: „Ja, und sicherlich ist sie durch die Überdosis des Beruhigungsmittels noch rascher gestorben. Deshalb war auch Ruhe in der Wohnung, als wir Rosa holen wollten.”

Herr Schlosser gibt zu bedenken: „Aber es kann doch nicht sein, dass man die ganzen Monate keinen Verwesungsgeruch dieser Leiche gerochen hat!”

Aber Herr Klassinger entgegnet: „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass der Winter so kalt war, und die Wohnung natürlich auch nach Rosas Verschwinden nicht geheizt wurde. Den ganzen Winter über lag sie bei tiefen Minusgraden gut konserviert hier im Sofa. Als wir sie herausholten, war sie wie eine Mumie gut erhalten und stank nicht. So konnte der Gerichtsmediziner sie problemlos sezieren, und er stellte fest, dass sie erstickt war. Außerdem konnte er das Betäubungsmittel nachweisen.”

Herr Klassinger lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander: „So, jetzt kennen Sie die ganze Geschichte. Grausig, nicht wahr?” Herr Schlosser sitzt mit gesenkten Lidern vor seinem Sessel und schweigt. Erst nach einer ganzen Weile und einem Schluck Bier sagt er: „Das muss ich jetzt erst mal verdauen.”

Der Hausmeister erhebt sich langsam und streckt dem neuen Mieter freundlich die Hand hin: „Also dann, eine gute erste Nacht! Und morgen früh komme ich, dann mache ich Ihnen die Lampen und die Gardinen hoch.”

Während er zur Tür geht, dreht er sich noch einmal um, hält Herrn Schlosser den Knopf hin und fragt: „Darf ich den behalten? Als Erinnerung an Rosa? Und Sie erzählen es nicht der Kripo, dass ich ihn gefunden habe? Die Polizei nimmt ihn mir sonst vielleicht weg. Auch wenn der andere noch fehlt.”

„Natürlich behalten Sie ihn. Er gehört mir ja gar nicht!” Herr Schlosser lacht und fügt dann hinzu: „Da fällt mir ein, das Namensschild von Frau Zielinski an der Klingelanlage unten könnten Sie auch haben, wenn Sie wollen. Stecken Sie ein neues für mich rein?” –

„Aber, ja, danke, das mache ich gleich morgen Früh,” sagt Herr Klassinger und verlässt grüßend die Wohnung.

Herr Schlosser geht nachdenklich in die Küche, um noch ein Bier zu holen. Er räumt den Tisch leer, auf dem allerlei Utensilien liegen, die noch ihren Platz in der Küche finden müssen. Die Gläser und Becher liegen in Zeitungspapier eingewickelt in einer kleinen Kiste. Herr Schlosser packt aus und sucht ein Glas. Da fällt ein blauer Plastebecher auf den Boden und rollt ins Eck. Herr Schlosser bückt sich und entdeckt dabei neben dem Ofen einen schwarzen länglichen Fleck. Intuitiv greift er danach, um den zweiten Knopf aufzuheben. Aber die Kakerlake rennt unter den Spülstein.

Nachtrag: Rosa Zielinski hat tatsächlich in der ehemaligen DDR gelebt -natürlich unter ihrem richtigen Namen-, und sie ist nach der Wende so gestorben, wie ich es geschildert habe. Der Fall wurde bei einer Ärztetagung in einem Gerichtsmedizinischen Institut vorgestellt. Die Unterhaltung zwischen Herrn Klassinger und Herrn Schlosser habe ich erfunden, um die Geschichte mit einer Rahmenhandlung erzählen zu können.

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Das Geständnis veöffentlicht

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