Die Predigt

Am Adventskranz auf dem alten und mit Büchern übersäten Schreibtisch spendet die eine brennende Kerze ein warmes Licht, und Pfarrer Haslacher muss seine Arbeitslampe einschalten, um bei dem Schneetreiben draußen genügend Helligkeit im Zimmer zu haben. Er sitzt wie immer samstags auf dem abgewetzten Ledersessel über seiner Predigt für den Sonntagsgottesdienst. Morgen, am zweiten Advent will er wieder seiner Gemeinde die frohe Botschaft berichten und die Hoffnung auf ein friedliches Leben vermitteln. Es sollte sein letztes Weihnachtsfest werden, das er noch im Amt verbringt. Denn das Neue Jahr wird er als Rentner begrüßen. Er freut sich schon auf die freie Zeit, in der er sich seinen Liebhabereien widmen kann. Und er will seine letzten Predigten noch einmal neu erdenken und frisch schreiben, nicht auf die wertvolle Sammlung zurückgreifen, die er im Laufe seines langen Dienstes zusammengetragen hat. Aber heute fließen seine Gedanken nicht so leicht auf das Papier wie sonst.

Jetzt steht der Pfarrer auf, legt sein halb volles Blatt mit einer ruckartigen und ärgerlichen Bewegung auf die Seite. Er kann es überhaupt nicht leiden, wenn er nicht sofort die zündende Idee für seine Predigten hat. Also zieht er ungeduldig die Schneestiefel und den Mantel mit dem hohen Kragen an und setzt den schwarzen Hut mit der großen Krempe auf. Der Pfarrer denkt an die alte und kranke Frau Bramberger. Heute morgen war er bei ihr auf dem Bauernhof und hat ihr Trost gespendet. Er will jetzt die zwei Kilometer zum Hof durch den Schnee zu Fuß gehen und schauen, ob sich ihr Zustand verschlechtert hat. Er hofft, dass ihm unterwegs in der klaren Luft, im leisen Schneetreiben die richtigen Gedanken zugetragen werden, mit denen er morgen seine Predigt bereichern kann. Aber er stapft ergebnislos und unbefriedigt in die Hofeinfahrt, schüttelt den Schnee und seine Unzufriedenheit unter dem Vordach des Hauses ab, klopft laut an die schwere Eichentür mit den reichen Verzierungen und wartet. Aber niemand antwortet. Nach nochmaligem Pochen öffnet er schließlich die Tür und betritt den grauen Steinboden im Vorraum des alten Bauernhauses.

Er bleibt stehen, weil er ein lautes Geschrei und Geräusche von eilig hin und her rennenden Menschen hört. Durch die verschlossene Türe im Obergeschoss kann er nur ein heftiges Stimmengewirr wahrnehmen: „Bleib stehen!” – „Jetzt hab ich dich!” – „Verflucht nochmal, schon wieder weg!” Und dazwischen mischen sich viele Sätze, die er gar nicht verstehen kann. Er hört nur noch das gellende Schreien der alten Frau Bramberger: „Nicht zu mir auf´s Sofa, nicht zu mir auf´s Sofa!”

Der Pfarrer zuckt zusammen und überlegt kurz, wie er auf diesen Tumult reagieren soll. Was geht denn da vor? Er entschließt sich, die Treppe hinaufzugehen und nachzuschauen. Deshalb betritt er ohne Klopfen das Wohnzimmer. Es hätte ihn bei diesem Krach ohnehin niemand gehört.

Das Bild, das er sieht, verwirrt ihn noch mehr. Der alte Herr Bramberger und sein Sohn, der den Hof führt, krabbeln schreiend auf den Knien durchs Zimmer: „Halt, bleib doch stehen!” Die junge Frau Bramberger kreischt: „Euch kann man ja überhaupt nichts machen lassen, jetzt haben wir den Salat!”

Und die beiden Kinder rennen von einer Zimmerecke in die andere. Erst als Pfarrer Haslacher genauer hinschaut, sieht er, dass die kleine Franziska und ihr Bruder Peter Salatblätter in der Hand halten und damit in der Luft herumfuchteln und „Wuschel! Wuschel!” rufen.

Automatisch geht der Pfarrer ganz verwirrt von dem hektischen Geschrei und dem lauten Tumult auch auf die Knie und schaut auf dem Boden herum, um endlich zu verstehen, was eigentlich der Grund für die Aufregung ist.

Da huscht plötzlich ein braunes Wollknäuel unter der schwarzen Eichenkommode hervor und hetzt unter die Eckbank. Der junge Herr Bramberger stürzt sich nach vorn, um das flüchtende Tier zu packen, schlägt aber mit der Stirn an die Holzkante, auf der ein hellroter Fleck hängen bleibt. „Verdammt, du Mistvieh!”, flucht er und wischt sich über die schmerzende Stirn. Da sieht er seine blutverschmierte Hand, verdreht die Augen und fällt totenbleich mit einem lauten Poltern auf den Boden.

„Um Gottes Willen, Herbert!”, schreit seine Frau und beugt sich erschrocken über ihn. „Schnell einen Arzt, ich glaub´, er ist ohnmächtig!” Sie tätschelt die Wangen ihres Mannes, der flach atmend und langgestreckt auf dem Teppich liegt. Aus der Platzwunde fließt das Blut langsam über die Schläfe und bildet einen roten Kreis auf den hellgrauen Läufer.

Die alte Frau Bramberger sieht sehr schlecht, und tagsüber liegt sie auf dem Sofa im Wohnzimmer, um am Familienleben teilnehmen zu können. Sie hat nur das Rumpeln gehört und ruft entsetzt in die ruhige Schrecksekunde: „Was ist denn jetzt los?” Da gibt ihr Herr Haslacher die Antwort: „Der Herbert ist ohnmächtig geworden!”

„Oh Gott, der Herr Pfarrer!” ruft da die junge Frau Bramberger ganz erschrocken und fährt herum. „Wie sind Sie denn rein gekommen? Schnell, helfen Sie uns! Herbert hat die Käfigtür offen gelassen, deshalb ist unser Hamster entwischt. Seit einer halben Stunde jagen wir hinter ihm her, und jetzt hat sich Herbert die Stirn angeschlagen!” Sie deutet hilflos auf ihren Mann.

„Lassen Sie mich mal sehen!” sagt Herr Haslacher beruhigend. Er beugt sich über den jungen Bramberger, der stöhnend die Augen aufschlägt: „Oh mein Kopf tut so weh!” Der Pfarrer zieht ein sauberes Taschentuch aus der Hose und legt es mit sanftem Druck auf die Wunde: „Na also, gar nicht so schlimm, Sie sind ja wieder da! Bleiben Sie liegen. Ich schau mal die Wunde an.” Er nimmt langsam das Tuch zur Seite und sieht den klaffenden, blutenden Riss. Während er das Tuch wieder darüber deckt, sagt er ruhig und bestimmt: „Das muss man nähen. Jetzt verbinden wir den Kopf und bringen Ihren Mann nachher zu Dr. Semling.”

Frau Bramberger holt den Verbandskasten aus der Kommode, und der Pfarrer wickelt etwas umständlich die lange weiße Binde so breit um Herberts Kopf, dass jeder Betrachter sofort an eine schwerwiegende Verletzung denkt.

In diese fast andächtige Stille hinein hören und sehen die Brambergers und der Pfarrer plötzlich verblüfft, wie Wuschel zielstrebig aus seinem Versteck heraus quer durch´s Zimmer zu seinem Käfig trippelt und am Futternapf zu fressen beginnt, als sei nichts geschehen. Peter schließt das Türchen und schaut seinem Liebling glücklich zu.

Der Pfarrer unterhält sich noch mit der kranken Frau Bramberger und stellt beruhigt fest, dass es ihr wieder besser geht. Die Aufregung hat ihrem Kreislauf gut getan. Und als die junge Frau Bramberger ihren Mann mit dem Auto zum Arzt bringt, steigt der Pfarrer gern ein und lässt sich vor seinem Haus absetzen. „Danke, dass ich dabei sein durfte!” sagt er zum Abschied, und Frau Bramberger erwidert: „Danke, dass Sie den Verband angelegt haben! Bis morgen!”

Mit ruhigem und sicherem Schritt geht der Pfarrer zufrieden in sein Arbeitszimmer, legt die Winterkleider ab und setzt sich lächelnd an den Schreibtisch. Jetzt hat er seine Idee. Nach kurzer Zeit ist die Predigt notiert und besitzt klare Gestalt.

Am nächsten Morgen sitzen die jungen Brambergers beim Adventsgottesdienst. Herr Bramberger trägt ein kleines Pflaster auf der Stirn. Die Gemeinde und besonders natürlich die Brambergers sind ganz überrascht, als der Pfarrer berichtet, wie er gestern eine Hamsterjagd erlebt und dabei etwas sehr Wichtiges gelernt hat. Herr Haslacher kommt zum wesentlichen Teil seiner Predigt:

„Ich glaube, dass jeder von uns seinem eigenen Hamster nachjagt. Und je mehr wir uns unkontrolliert anstrengen, um so weniger erreichen wir unser Ziel. Wir verlieren in der Hektik den Überblick und vergeuden unsere Energie für Unnützes. In der Eile liegen Fehler. Wer es eilig hat, sollte langsame Schritte machen. Die Energie, die wir einsetzen, um ein Ziel zu erreichen, ist oft das Hindernis auf diesem Weg.

Und wir werden von einer Energie getrieben, die oft ins Unheil führt: Sie heißt bei dem Einen zum Beispiel Neid, bei den anderen Eifersucht, Ärger, Habgier, Angst oder Geltungsdrang. Oder sie wird bei manchen von uns unter dem Deckmäntelchen des Helfenwollens verborgen und heißt in Wirklichkeit Macht ausüben und abhängig machen. Und diejenigen, die vor lauter Arbeit überhaupt keine Zeit mehr haben für sich und andere und für ihren Fleiß auch noch belohnt werden mit Ansehen und Geld, entdecken vielleicht zu spät, dass sie auch süchtig sind. Und das heißt in Wirklichkeit suchend.

Wir alle suchen. Wir werden mehr oder weniger gedrängt und besessen von dieser Energie und verlieren die Kontrolle über unsere Tätigkeit, mit der wir ständig das vermeintliche Glück erhaschen wollen. Dann glauben wir, immer mehr von dieser Aktivität sei richtig und es würde am Ende den gewünschten Erfolg bringen.

Jesaja hat in Kapitel 30, Vers 15 gesagt: ´Durch Umkehr und Ruhe halten werdet ihr gerettet werden, im stille Sein und Vertrauen besteht eure Kraft.´

Denkt daran: Wir haben dem Hamster gezeigt, was wir von ihm wollten, aber er ging von allein in den Käfig, als er wollte und wir nicht mehr auf ihn konzentriert waren.

Das Wesentliche im Gebet liegt darin, dass wir einen Wunsch, eine Bitte äußern und sie dann loslassen. Erst dann kann sie sich erfüllen. Besser gesagt: ER kann sie erfüllen. Das meinen wir mit dem Satz: ´Dein Wille geschehe.´

Deshalb bitte ich euch, jetzt eine Minute in aller Stille darüber nachzudenken, wie euer Hamster heißt. Wie heißt die Energie, die euch in die Hektik, ins Unkontrollierte, in das sprichwörtliche Hamsterrad treibt?

Und ich wünsche euch die Gnade, eure wahre Stärke in der Ruhe zu erkennen und richtig zu nützen. Dann spürt ihr Christi Kraft, seinen Advent, seine Ankunft. Amen.”

 

Diese  Geschichte habe ich in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht.

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