Die Flucht

Auf der Flucht

„Nur weg von diesem Tag! Schnell raus aus dieser Katastrophe ins Ferienhaus zu Maria! Gott sei Dank ist sie voraus gefahren!”

Er erinnert sich an den liebevollen Blick seiner Frau heute morgen bei der Verabschiedung, als er in die Klinik fuhr. „Pass gut auf dich auf!” hatte sie ihm zärtlich ins Ohr geflüstert. „Ich freue mich auf dich heute Abend! Ich fahre schon an den See, und du kommst nach, wenn du in der Klinik mit den Operationen fertig bist. Wir werden ein glückliches Wochenende haben!”

Und dann kam alles ganz anders als geplant!

Jetzt jagt er seinen Porsche Carrera rücksichtslos wie bei einem lebensentscheidenden Kampf durch den Wolkenbruch über die Autobahn. Die Scheibenwischer hetzen hinter den herunterprasselnden Regenmassen her. Er sieht nur wenig von der schwarz glänzenden Straße. Grelle Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos blen­den ihn, weil die Trennlamellen auf dem Mittelstreifen fehlen. Trotzdem tritt er das Gaspedal fast bis zum Anschlag durch. Der Sportwagen reißt die Wasserdeck von der Straße. Einen Moment lang tauchen Bilder aus den Sommerwochen am Mittelmeer vor seinem inneren Auge auf. Da zwang er sein getuntes Rennboot auch mit höchster Drehzahl über die Wellen.

Er ist ständig in Hochspannung und sprungbereit. Deshalb fährt er sein Leben schon immer wie den Rennwagen: mit vollem Risiko im roten Bereich.

Bei der Operationsbesprechung gestern hatte er mit seinem Oberarzt, Professor Münchinger, den bevorstehenden Eingriff bei der Frau des Ministerpräsidenten diskutiert. Außerdem erklärte er ihr und ihrem Mann: „Eine Operation der Bauchschlagader an dieser Stelle direkt am Abgang zu den Nieren bei solch einer starken Ausbuchtung der Gefäßwand ist riskant.”

Frau Schreiner zuckte zusammen und wischte sich ihre Tränen aus den Augen: „Aber, Herr Professor Bader, wenn Sie mich nicht operieren, kann es doch sein, dass das Gefäß bei der nächsten Anstrengung platzt und ich verblute!”

Der Professor ließ ihre schwankende Stimme auf sich wirken, und er nickte nachdenklich: „Ja, grundsätzlich ist das möglich. Deshalb schlage ich vor, dass wir den Eingriff unter optimalen Bedingungen vornehmen und eine Kunststoffprothese einsetzen.”

Herr Schreiner legte seine Hand auf den Unterarm des Professors und sagte ernst: „Wenn wir Sie nicht hier an der Uniklinik hätten, würde ich mir große Sorgen machen um meine Frau. Sie haben alles ausführlich mit uns besprochen. Wir vertrauen Ihnen. Nicht wahr, Nina?”

Er schaute seine Frau liebevoll an, und sie nickte mit einem Seufzer: „Hoffentlich geht es gut. Sie werden mich wieder gesund aufwachen lassen! Unsere Kinder sind noch klein!”

Nach einem kurzen Zögern setzte sie hinzu: „Und Michael braucht mich besonders, er ist doch behindert auf die Welt gekommen. Was soll aus ihm werden, wenn ich nicht mehr da bin?” Sie putzte sich auffällig lange die Nase und wischte sich ganz unauffällig noch über die Augen.

„Ja,” bekräftigte Herr Schreiner, „und ich brauche dich auch!” Er streichelte ihr zärtlich über die verweinten Wangen und lächelte sie an. Sie nickte: „Geht schon wieder!”

Er bewunderte seine tapfere Frau, die entschlossen zu dem Kugelschreiber griff und ihre Unterschrift so fest auf die gepunktete Linie des Aufklärungsbogens setzte, dass sie auf der Zeitung darunter noch zu lesen war.

Herr Schreiner bekräftigte: „Das unterschreibe ich auch! Meine Frau soll wissen, dass ich total auf ihrer Seite stehe! Wann wollen Sie operieren, Herr Professor?”

Der Klinikchef war wie immer rasch mit seinen Entscheidungen: „So bald wie möglich. Alle Voruntersuchungen sind erledigt. Von mir aus morgen Früh!”

„Also gut, einverstanden! Morgen früh!” Frau Schreiner nickte und ließ sich auf das Kopfkissen sinken. „Ich bin schon ein bisschen erleichtert, weil wir entschieden haben. Jetzt muss nur noch ER helfen!” Sie deutete mit dem Zeigefinger zum Himmel.

Mit einem charmanten Lächeln zu Professor Bader ergänzte sie: „Und ER wird Ihre Hand führen!”

Der Professor wird aus seinen Gedanken gerissen, weil die peitschenden Windstöße den Regen besonders heftig gegen das Fenster klatschen. Er sieht, wie im Scheinwerferlicht die Wasserwand vor seinem Wagen zerstiebt. Glücklicherweise ist die Autobahn frei, denkt er, aber ich komme einfach nicht so schnell vorwärts wie sonst! Ich rase ohnehin schon zu schnell. Wenn das Maria wüsste! Sie wird verblüfft sein, wenn ich so früh schon bei ihr bin.

Er dreht das Radio lauter, und einen Moment hat er den Eindruck, jetzt besser sehen zu können. „So ein Quatsch! Mit dem Radio kann ich meine Sicht nicht verbessern!” sagte er laut vor sich hin und schlägt bekräftigend gegen das Lenkrad. Sofort schlingert der Wagen. Der Professor packt das Steuerrad fest mit beiden Händen. Er hebt den Fuß vom Gaspedal und schafft es in der letzten Sekunde vor der Leitplanke gerade noch, das rasende Geschoss auf der Straße zu halten. Er weiß, dass ein Bremsversuch auf dieser Wasserpiste bei diesem Tempo sein Todesurteil wäre. Aber wäre das so schlimm? Nach diesem Tag?

Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Das ist ja noch einmal gut gegangen,” sagt er leise vor sich hin und nimmt sich vor, langsamer zu fahren. „Maria wartet. Sie hat nichts davon, wenn ich unterwegs verunglücke,” denkt er. „Ich muss ihr wenigstens erzählen, was los war, bevor es morgen in allen Zeitungen steht! Oje, und was bringen die Nachrichten?” Der Gedanken schießt ihm durch den Kopf. Er schaut mit einem flüchtigen Blick auf die Uhr. Bald kommen die Nachrichten. Vielleicht bringen sie dort schon alles?

Seine Gedanken wandern wieder zurück zum OP-Tisch. Es läuft doch alles prima! Er öffnet den Bauch rasch und routiniert. Professor Münchinger assistiert. Großartig, mit solch einem zuverlässigen Mann arbeiten zu können, denkt Professor Bader, während er sich behutsam in die Tiefe des Bauches vortastet. Wir verstehen uns seit Jahren am Operationstisch schweigend. Wenige Blicke, einige Handzeichen, sehr selten einzelne Wörter genügen uns beiden erfahrenen Chirurgen zur idealen Zusammenarbeit. Das gibt mir zusätzliche Sicherheit, überlegt er. Jetzt bin ich schon so lange Chef in dieser Klinik und habe tausende von Operationen gemacht. Da ist es immer wieder eine Freude, gute Mitarbeiter zu haben.

Eigentlich hätte Herr Münchinger diese OP auch selbst machen können. Aber der Ministerpräsident hatte gesagt: „Herr Professor Bader, versprechen Sie uns, dass Sie selbst meine Frau operieren?” „Ja, klar!” hatte er geantwortet.

Er sieht jetzt wieder, wie er die Darmschlingen aus dem Bauch hebt. Schwester Siglinde bedeckt sie mit einem grünen Tuch, das sie vorher in Kochsalzlösung angefeuchtet hatte. Sie steht auf einem kleinen Podest, um das Operationsfeld besser überblicken zu können.

Dann präpariert er langsam das Gewebe bis zu dem großen Aneurysma zur Seite. Hier liegt die gefährliche Vorwölbung! So oft schon hatte er solche lebensbedrohlichen Gefäßwandausbuchtungen gesehen und operiert.

Mit einem Blick zum Anästhesisten fragt er: „Alles klar? Kann ich?” Professor Habermann, der Ordinarius der Anästhesieabteilung, war selbst gekommen und hatte die prominente Patientin unter seine Obhut genommen. Ruhig antwortet er: „Alles klar, Sie können!”

Professor Bader beginnt konzentriert, die nächste Umgebung des pulsierenden Gefäßes freizulegen. Nur der EKG-Monitor piepst gleichmäßig beruhigend in die Stille. Ab und zu klappert ein Besteck, wenn Schwester Siglinde ein neues Instrument reicht. Sie weiß Bescheid, denkt er, auch so eine treue Seele, ruhig und zuverlässig. Ich brauche ihr nicht einmal in Notfällen zu sagen, welches Besteck ich will. Sie ahnt es schon im Voraus und hat es im richtigen Moment in der Hand. Aber warum gibt sie mir jetzt eine Klemme, wo sie doch sehen muss, dass ich das Skalpell brauche?

Professor Bader stutzt, weil Schwester Siglinde auch langsamer als sonst arbeitet. Er schaut sie an: „Was ist los mit Ihnen, Sie sind so blass?”

Sie zögert mit der Antwort und murmelt dann: „Ach nichts, es geht schon!”

Er lässt sich nicht beirren und sagt noch einmal fürsorglich: „Ich kenne Sie schon so lange. Machen Sie mir nichts vor. Also raus mit der Sprache!”

Obwohl das Gesicht von Schwester Siglinde mit der Haube und dem Mundschutz fast vollständig bedeckt war, sieht Professor Bader, wie sie errötet. Alle warten gespannt auf ihre Antwort.

Dann flüstert sie, so als könne niemand außer ihm es hören: „Ich wollte es Ihnen ja nicht gerade hier sagen.” Sie schaut ihn an und hofft, er würde verstehen.

Aber er sagt: „Was denn?” Die Wanduhr tickt monoton zur nächsten Sekunde.

„Mein Mann und ich haben uns einen großen Wunsch erfüllt!”

Der Professor wird ungeduldig: „Also los jetzt, ich will weiter operieren, was haben Sie?”

Schwester Siglinde hebt den Kopf, wird noch eine Spur verlegener und sagt: „Ich bin schwanger!”

Der Professor lacht: „Na, großartig!” Und nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Wollen Sie sich ablösen lassen?”

Sie erkennt seinen besorgten Ton und strafft ihren Körper: „Nein, nein, ich mache weiter!”

Dann legt sie ihm wie gewohnt das Skalpell mit festem Griff in die Hand. Er präpariert weiter und klemmt die Gefäße ab, so weit es so dicht unter dem Zwerchfell ging.

Schwester Siglinde nimmt eine langstielige Klemme, greift damit einen großen Tupfer und sagt leise: „Herr Professor, Sie schwitzen! Darf ich?” Und während er seine Stirn ihr entgegenhält, wischt sie die Schweißtropfen ab und wirft die Klemme mit dem Tupfer in den Abwurf. Er dreht seinen Kopf wieder zum Operationsfeld, und Schwester Siglinde reicht ihm wortlos das kleine Skalpell, mit dem er seine sorgfältige Arbeit in der Tiefe fortsetzt.

Bei diesen Gedanken wird Professor Bader wieder abgelenkt. Er sieht in der Ferne durch den strömenden Regen Blaulichter blinken und nimmt den Fuß vom Gas. „Wahrscheinlich ein Unfall,” denkt er, „vielleicht ist einer so schnell gefahren wie ich.” In der prasselnden Gischt kann er nur viele verwirrende Reflexe sehen, rote Rücklichter, weiße Lampen von den Entgegenkommenden. Und jetzt auch noch die Polizei! Muss das denn sein? Für heute reicht´s mir mit Notfällen! Vielleicht eine Alkoholprobe?“

Da erkennt er ein schwenkendes Rotlicht mitten auf der Straße. Er spürt, wie plötzlich der Schweiß seinen Rücken hinunter läuft und seine Hände und Füße eiskalt werden! Das Lenkrad klebt in seinen Händen. Er wischt sich mit dem zerrissenen Ärmel seines Arztmantels den Schweiß von der Stirn. Sein Puls schlägt im Hals Alarm. Eine böse Vorahnung schießt in ihm hoch.

Wie ein Blitz den Himmel erhellt, läuft plötzlich die ganze Katastrophe vor seinem inneren Auge ab. Er will an dem Aneurysma direkt am Zwerchfell noch ein kleines Stückchen Lymphgewebe entfernen. In diesem Moment hört er ein seufzendes Geräusch. Schwester Siglinde stöhnt: „Mir wird schlecht!”

Bevor er seine Hand aus dem Bauch ziehen kann, fällt sie von ihrem kleinen Podest auf ihn. Das Skalpell schneidet in die Bauchaorta oberhalb der abgeklemmten Stelle. Die Blutfontäne schießt dem Professor ins Gesicht. Er zuckt zurück. Der pulsierende Blutstrom verwandelt den Tisch und die Umgebung in Sekundenbruchteilen in ein Schlachtfeld.

Jetzt geht alles rasend schnell. Professor Bader greift fast blind mit der ganzen Hand in den Blutsee und versucht, die Aorta zusammenzudrücken. Mit einem kräftigen Schütteln des Kopfes und mehreren Grimassen will er seine blutverschmierten Augen frei bekommen.

Professor Münchinger schaut entsetzt seinen Chef an und stößt leise hervor: „Mein Gott, wie sehen Sie denn aus!” Er nimmt rasch ein paar Tupfer mit einer großen Klemme und fährt dem Kollegen übers Gesicht. Jetzt kann Professor Bader wieder sehen. Und Professor Münchinger sagt nichts über die Schmiererei, die er veranstaltet hat.

Dann hört Professor Bader seinen eigenen unterdrückten Schrei: „Sauger, Klemme, Tupfer, schnell!” Der Strahl pulsiert weiter.

Schwester Siglinde gleitet zu Boden. Ein Pfleger, der hinter ihr gestanden hatte, fängt sie auf, reißt ihr den Mundschutz vom Gesicht und zieht sie vom Tisch weg. In der Ecke erbricht sie heftig.

Der Oberarzt greift geistesgegenwärtig auf den Instrumententisch nach der Klemme und versucht mit Professor Bader zusammen, die Blutungsstelle zu finden. Aber die Bauchhöhle steht voll Blut.

„Sauger höher drehen!” Professor Bades Stimme durchdringt die Spannung des Raumes wie ein Skalpell.

Der Pfleger ist mit Schwester Siglinde beschäftigt und hört den Befehl nicht. Eine zweite Schwester rennt herbei und schaut zum Saugapparat am Boden: „Der ist schon ganz hoch gedreht, Herr Professor!”

„Verdammt!” Der Professor kommandiert weiter: „Zweiten Sauger anschließen!” Die Schwester zögert: „Aber, Herr Professor, der ist draußen, ich muss ihn zuerst holen.”

Der Professor herrscht sie an: „Schnell! Sonst verblutet die Frau auf dem Tisch!”

Professor Habermann reagiert auch blitzschnell. Er zeigt zuerst auf Schwester Monika, dann auf die Tür zum Nebenraum: „Rasch, Dr. Weber!”

Er schließt in Windeseile eine der bereit hängenden Blutkonserven an. Das Blut schießt in die Vene. Sofort legt er einen zweiten Venenzugang und vergewissert sich, dass die Plasmaexpanderflüssigkeit mit maximaler Geschwindigkeit fließt. Der Wert auf dem Blutdruckmonitor beunruhigt ihn. Das EKG-Bild signalisiert einen rasenden Puls.

Dr. Weber rennt herein: „Was ist los?”

Professor Habermann schaut ihn nicht an, sondern beobachtet die EKG-Kurve. Gleichzeitig antwortet er: „Die Aorta ist angeschnitten! Sie suchen die Blutungsstelle. Legen Sie noch einen dritten Zugang! Vielleicht müssen wir noch reanimieren!”

Die Narkoseschwester flüstert erregt in die Hektik hinein: „Mein Gott, der Druck ist nur noch 60 zu 40!”

Professor Bader tastet sich in dem Blutsee an der Aorta entlang und sucht die Verletzungsstelle: „Der Schnitt muss ganz dicht unterm Zwerchfell liegen! Ich finde ihn nicht!” Sein Stimme klingt gepresst. Die Schweißperlen stehen ihm und seinem Oberarzt auf der Stirn.

Professor Münchinger sagt leise: „Vielleicht finden wir das Loch, wenn der Druck noch weiter nachlässt!” Und er schaut nach Schwester Siglinde, die sich langsam auf dem Boden hinsetzt. Dann ruft er Richtung Flur: „Wo bleibt denn der zweite Sauger?”

Seine Aufmerksamkeit wird wieder auf die Straße gezwungen, die im Wasser ertrinkt. Professor Bader lässt das Auto langsam vor das schwenkende Rotlicht rollen und stoppt den Porsche. Dann erkennt er im strömenden Regen einen Polizisten, der ihm ein Zeichen macht, die Scheibe herunterzulassen. Der Professor drückt auf den elektrischen Fensterheber, und schon schlägt ihm der Regen ins Gesicht.

„Guten Tag!” sagt der Polizist. „Sind Sie Professor Bader?”

„Ja, das bin ich, warum fragen Sie?” Er bemüht sich, ganz unauffällig zu reagieren. Der Polizist mustert den Mann in dem Carrera mit den nassen Haaren und den feuchten Kleidern. Am meisten fällt ihm auf, dass dieser ganz in Weiß gekleidet ist und einen Arztkittel mit einem langen Riss im linken Ärmel trägt.

„Steigen Sie bitte aus!” Professor Bader nimmt den betont distanzierten Ton des Polizisten wahr. Dann schüttelt er widerwillig den Kopf: „Ist das Ihr Ernst? Bei diesem Sauwetter? Was ist denn los?”

Der Polizist steht klatschnass in seinem Uniformmantel vor dem Wagen, wischt sich vergeblich das Wasser aus dem Gesicht, zögert einen Moment, ob er den wahren Grund sagen soll und meint dann: „Ja, ich muss Sie bitten aus­zusteigen. Sie sind verhaftet! Sie stehen unter Mordverdacht!”

Der Professor zuckt zusammen. Er lässt den Motor aufheulen und schießt mit dem Wagen davon. Der Polizist springt zur Seite, kramt umständlich seine Pistole unter dem Mantel hervor und zielt in die Regenwand, wo er die Hinterreifen vermutet. Der Schuss geht daneben. Der rasende Porsche ist im Schutz des Wassers verschwunden.

Professor Bader merkt erst nach einiger Zeit, dass das Gewitter immer noch von einem Seitenwind durch das offene Fenster gepeitscht wird und das Wasser über sein Gesicht rinnt. Er versucht, mit einer Hand den Knopf des Fensterhebers zu drücken und mit der anderen den Wagen auf der Straße zu halten.

Er flucht: „Verdammter Regen! Ich seh´ nichts!” Dann schaltet er noch einmal am Hebel für den Scheibenwischer. Aber dieser jagt schon in Höchstgeschwindigkeit über das Glas.

In das hochtourige Surren des Motors hört Professor Bader aus der Ferne seiner Erinnerung den Alarm des EKG-Monitors schrillen. „Nulllinie! Herzmassage!” Mit diesem Kommando reißt Professor Habermann die grünen Tücher von Frau Schreiners Oberkörper und beginnt mit rhythmischen Stößen den Brustkorb zusammenzudrücken. Dr. Weber überwacht die künstliche Beatmung. Die Zeit verfließt in der Hektik unmerklich.

Die beiden Chirurgen schauen einander an. Der Blutstrom lässt nach. Der Sauger entleert die Bauchhöhle mit schlürfenden Geräuschen und entzieht Frau Schreiner das Leben.

Professor Bader sieht jetzt die verheerende Verletzung, die der kleine ungewollte Schnitt angerichtet hat. Der erfahrene Chirurg wird bleich, als er das ganze Ausmaß der Katastrophe einschätzen kann.

Die Anästhesisten sind auf die Reanimation konzentriert. Die Nulllinie bleibt bestehen. Professor Habermann schaut Professor Bader an: „Haben Sie die Schnittstelle?”

„Ja,” sagt dieser langsam und lässt die Hände sinken. „Drei Zentimeter in der Bauchhöhle und durch das Zwerchfell in die Brusthöhle. Ich müsste eine Zweihöhlenoperation machen. Ich kann nicht abklemmen. Aussichtslos! Wir haben verloren!”

Der Monitor zeigt eine waagrechte Gerade. Professor Habermann kann sich nicht mit der Antwort zufrieden geben: „Wollen Sie wirklich aufgeben?” fragt er besorgt, während er weiter den Brustkorb massierte.

Professor Bader hört den eindringlichen Ton des Kollegen. Er schaut auf den Blutbehälter des Saugapparates und sagt: „Fünf Liter! So viel können Sie gar nicht so schnell infundieren. Keine Chance!”

Nach einem Blick auf die Uhr über der Tür ergänzt er: „Schon fünf Minuten Herzstillstand.”

Er holt Luft und überlegt kurz: „Und wir brauchen zu lang, bis wir die Schnittstelle oberhalb des Zwerchfelles frei präpariert haben.”

Seine Stimme wird unheilvoll leise: „Aussichtslos!”

Der Chirurg schüttelt langsam den Kopf. Dann legt Professor Habermann bedächtig das grüne Tuch auf Frau Schreiners Brust zurück, stoppt die Infusionen und schaltet das Beatmungsgerät aus.

Er nimmt seinen Mundschutz ab und sagt langsam in die schreckensvolle Stille: „Die armen Kinder!”

Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Wir müssen es Herrn Schreiner sagen. Er versucht, im Krankenzimmer seiner Frau zu arbeiten, bis wir kommen!”

Sie stehen beide noch eine ganze Weile schweigend am Tisch. Dann gibt sich Professor Bader einen inneren Ruck und sagt zu seinem Oberarzt: „Bitte, schließen Sie den Bauch! Ich gehe mit Herrn Habermann zu Herrn Schreiner.”

Schwester Siglinde sitzt am Boden. Ihr heftiges Schluchzen zerbricht die Stille: „Ich bin an allem schuld!”

Der OP-Pfleger legt ihr ein grünes Tuch um den zitternden Körper und versucht, sie zu trösten: „Du musst dir klar machen, dass du ein Werkzeug des Schicksals bist. Das hast du doch nicht gemacht, um die Frau umzubringen!” Er hilft ihr beim Aufstehen und führt sie hinaus.

Die zwei Professoren verlassen wortlos den OP. Die anderen Mitarbeiter sehen an den schleppenden Schritten, welche Last sie mit sich hinausziehen. Im Umkleideraum erkennt Professor Bader erst im Spiegel, wie blutig sein Gesicht ist. Er wäscht sich sorgfältig und zieht dann wie sein Kollege die weiße Klinikkleidung an. Auf dem Weg durch die Flure und im Aufzug sprechen die Ärzte nicht. Vor dem Krankenzimmer, in dem sie mit Herr Schreiner reden müssen, bleiben sie kurz stehen und schauen einander schweigend an. Jeder ist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Professor Bader spricht seine aus: „Ich werde mich nie daran gewöhnen, eine solche Katastrophennachricht zu überbringen! Das ist die schwärzeste Seite unsere Berufes! Und man kann es drehen und wenden wie man will: Aber ich habe den Schnitt gesetzt und bin dafür verantwortlich. Auch wenn ich eigentlich gar nichts dafür kann.” Er holt tief Luft. Dann nimmt er die Klinke in die Hand. Die Haut verfärbt sich weiß über den Knöcheln, so kräftig ist sein Druck. Sie treten langsam in das Zimmer.

Herr Schreiner schaut auf von seinem Aktenstoß, springt hoch und geht auf die Ärzte zu: Seine leuchtenden Augen und seine geröteten Wangen zeigen die Hoffnung und Freude, mit denen er jetzt die gute Nachricht vom Gelingen der Operation hören will.

„Na, das ging aber viel schneller, als Sie erwartet hatten, meine Herren. Lief die Operation gut? Wie geht´s meiner Frau?” Er fährt sich nervös durch sein weißes Haar.

Da schießt Professor Bader der Gedanke durch den Kopf: Drei gegen einen, das ist unfair. Erst recht bei einer solchen Nachricht!” Aber er kann nicht mehr zurück.

Er tritt noch einen kleinen Schritt auf Herrn Schreiner zu und sagt mit belegter Stimme: „Wir haben eine sehr schlimme Nachricht!” Dann stockt er und beobachtet die Reaktion des Ehemannes.

Der Ministerpräsident steht aufrecht: Ein kurzer Blick fliegt zwischen den beiden Männern hin und her, ein Flackern der Erkenntnis blitzt in den Augen von Herrn Schreiner auf: Nein, das durfte nicht sein!

Und so fragt er betont sachlich: „Sie wollen mir bestimmt sagen, dass Sie vor der OP noch etwas festgestellt haben, was Schwierigkeiten macht. Und deshalb haben Sie gar nicht operiert. Ist es das?”

Professor Bader denkt, o wenn es doch das wäre! „Nein!” sagt er langsam. „Es ist wirklich viel schlimmer!”

Wieder zögert er, schiebt den Stuhl zu Herrn Schreiner und meint: „Setzen Sie sich doch!”

Aber dieser spürt die hochexplosive Spannung im Raum und bleibt stehen. Er fragt: „Also, sagen Sie´s mir! Was ist los?”

Professor Bader räuspert sich: „Herr Schreiner, wir sind gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Ihre Frau durch äußerst unglückliche Umstände auf dem Tisch gestorben ist! Wir haben alles …”

Weiter kommt Professor Bader nicht. Herr Schreiner sinkt wie von einem Fausthieb getroffen im Stuhl zusammen und bricht in hemmungsloses Weinen aus. Seine sonst so große Selbstbeherrschung ist verschwunden. Er schluchzt wie ein Kind und verbirgt sein Gesicht in den Händen. Die zwei Ärzte sehen, wie Tränen zwischen den Fingern auf den Boden tropfen.

Erst nach einer ganzen Weile blickt Herr Schreiner langsam auf. Sein Gesicht ist angeschwollen, seine Augen sind hochrot, und die Tränen laufen über seine Wangen. Er fragt Professor Bader mit gequälter Stimme: „Was ist da passiert? Sie waren doch so zuversichtlich, dass es gut gehen würde!”

Professor Bader antwortet: „Als ich gerade die kritische Gefäßstelle präparierte, kollabierte die OP-Schwester und fiel auf mich. Ich konnte nicht schnell genug reagieren. Das Skalpell rutschte so unglücklich in die Aorta, dass Ihre Frau verblutet ist. Wir haben alles versucht, um …”

In dieser Sekunde schießt Herr Schreiner hoch. Sein zornbebendes Gesicht ist plötzlich hochrot angelaufen. Er packt den Chirurgen am Revers seines weißen Mantels und schreit ihn an: „Sie haben Sie umgebracht! Sie sind ein Mörder! Ich bring Sie auch um!”

Er brüllt und würgt den Chirurgen. Professor Habermann packt Herrn Schreiner und versucht, den völlig außer Kontrolle geratenen Ministerpräsidenten zu bändigen. Professor Bader wehrt sich und reißt sich los. Herr Schreiner schnappt nach dem weißen Mantel. Und während der Chirurg sich aus den Händen des Schreienden windet, bleibt ein Fetzen des Mantelärmels in den Händen von Herrn Schreiner hängen. Professor Bader springt mit einem Satz zur Tür, reißt sie auf und rennt hinaus.

Er stürmt den Flur entlang und hört noch die verzweifelten Wutschreie hinter sich her gellen: „Sie sind ein Mörder! Ich bring Sie um!”

Erst als er durch das Klinikportal hinaus gestürmt ist und im strömenden Regen auf dem Parkplatz steht, wird ihm bewusst, in welcher Situation er sich befindet.

Er sieht schon die Schlagzeilen in den Zeitungen: „Professor tötet Frau des Ministerpräsidenten!” „Professor Bader macht einen tödlichen Kunstfehler bei Frau Schreiner!” „Ministerpräsident will Chirurg ermorden!” „Schwester fällt auf Chirurg – Frau des Ministerpräsidenten stirbt im OP!”

Professor Bader steht wie betäubt und nass vor seinem Auto. Dann spürt er in der Tasche seines weißen Mantels den Schlüsselbund. Er denkt nicht nach, sondern schließt automatisch die Tür auf, setzt sich hinein, dreht den Schlüssel im Zündschloss, fährt aus der Parklücke und gibt Gas.

Er steuert seinen Wagen durch den prasselnden Regen Richtung Autobahn und sieht noch im Vorbeirasen, wie Passanten ihm den Vogel zeigen, weil rechts und links vom Auto die Wasserlachen weg spritzen und die Fußgänger beschmutzen.

An der nächsten Kreuzung blitzt eine Radarfalle, und er erkennt zu spät, dass er bei Rot über die Ampel gerast war. Im letzten Moment kann er einem Wagen ausweichen, der bei Grün auf die Kreuzung fährt. Das kümmert Professor Bader nicht. Er gibt Gas.

Während er jetzt dem Polizisten davon fährt, wird ihm erst richtig bewusst, dass er die Nerven verloren hat. Dabei hätte er doch erklären können, was geschehen war. Er schreit plötzlich: „Ich bin kein Mörder! Ihr Idioten!”

Eine Sekunde zu spät erkennt er auf der Autobahn die Barriere in der Kurve. Es kracht. Scheiben splittern. Der Wagen durchbricht die Leitplanke. Dann überschlägt er sich den Abhang hinunter mehrfach. Professor Bader sieht noch, wie sein Blut über die Lederpolsterung tropft. Dann wird er bewusstlos und empfindet nur noch ein wunderbar gleißendes Licht.

Das nächste, was er wahrnimmt, ist ein Schütteln an seinem Oberarm und eine weibliche Stimme: „Was ist los? Du bist ja schweißnass und hast geschrieen! Hast du geträumt?”

Es dauert eine Weile, bis ihm klar wird, dass die Sonne durchs Fenster seines Ferienhauses in sein vertrautes Bett scheint.

Seine Frau beugt sich über ihn und beobachtet ihn besorgt. Als sie sieht, dass er wach ist und sie ganz erstaunt anschaut, sagt sie: „Übrigens, Professor Münchinger hat gerade angerufen. Ich soll dir berichten, Frau Schreiner hat gut geschlafen, und Herr Schreiner ist sehr froh und dankbar. Er meinte, du hast wie immer prima operiert.”

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht.

 

 

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