Neulich schenkte mir meine Mutter ein altes Bild, das sie einer Kiste gefunden hat. Es zeigt ihren Vater mit mir auf dem Arm an der Eingangstür zu seiner Eisenwarenhandlung. Ich drehe mich etwas argwöhnisch und neugierig um zu einem als Eisbär verkleideten Mann, der mit bleckend weißem und weit aufgerissenem Gebiss neben uns steht. Ich war offensichtlich bereit, mich rasch Schutz suchend wieder zu meinem Opa hinzuwenden, falls der Bär gefährlich wird. So ganz geheuer war mir wohl nicht.
Mein Opa steht da im dunklen Anzug mit Weste und Krawatte, ganz der seriöse Geschäftsmann, die schwarzen Haare an den Seiten hoch rasiert, die restlichen Haare glatt und glänzend nach hinten frisiert. Und da ist heute noch der gütige Blick durch die randlose Brille auf mich, – dieses warme Lächeln, das ein bisschen Stolz und ganz viel Liebe ausstrahlt und in diesem Moment auch sehr viel Sicherheit.
Auf der Rückseite des Bildes hat mein Opa mit seiner klaren Schrift geschrieben: „Meinem lieben Enkel zur Erinnerung an den Weihnachtsmarkt 1950 in Herrenberg. Der Opa am 05.12.1950.“ – Damals war ich schon fast vier Jahre alt!
Ich erinnere mich nicht mehr an diesen Tag, aber zwei andere Erlebnisse sind mir noch gut im Gedächtnis aus der kurzen Zeit, die mein Opa noch leben durfte.
Opas Eisenwarenhandlung war natürlich eine Fundgrube für mich: so viele Nägel, Hämmer, Schraubenzieher, Sägen, Feilen, all die Blechplatten, Schrauben, Stahlstifte, die Stahlträger und das in allen Größen! Und dann erst recht das große Lagerhaus neben dem Wohnhaus, das von unten bis oben voll war mit Ware, die jeden Tag umgeschlagen und auf LKWs verpackt zu den Kunden gebracht wurde. Das war für mich ein tagfüllendes spannendes Erlebnisprogramm! Und Opa freute sich, dass ich mich für all die vielen Einzelheiten interessierte. Und noch mehr freute er sich, dass ich anfing, geschickt mit Hämmern und Nägeln umzugehen.
In Opas Büro gab es dazu eine großartige Übungsmöglichkeit: Die breiten Holzdielen boten mit ihren Ritzen eine vorgegebene Linie für viele, viele Nägel aller Größe! Ich steckte mir die Taschen im Lager voll, holte einen Hammer und legte los. Unter Opas stolzen Augen – wie ist der Bub doch praktisch! – schlug ich einen Nagel nach dem anderen zwischen die Dielen und präsentierte anschließend mein tolles Werk. Opa war begeistert von meiner Nagelstraße und rief einen Lehrling, der die Nägel wieder herausziehen durfte, denn mit der Beißzange konnte ich noch nicht so gut umgehen. Und ich brauchte ja am nächsten Tag wieder eine leere Fuge zum Üben.
Ich war aber bald mit einer solch einfachen Übung nicht mehr zufrieden. Es gab etwas Besseres! Zwischen der Bodendiele und der Seitenleiste, da im Eck, da gab es eine wunderbare Ritze, in die ich die Nägel schräg einschlagen konnte. Ich probierte es und zielte genau! Dann schlug ich siegessicher zu. Von dem plötzlichen Schmerz in meinem Daumen überrascht schrie ich auf. Opa schaute von seinem Schreibtisch auf, erkannte, was passiert war und lächelte sehr verständnisvoll: „Du musst besser aufpassen!“, meinte er lächelnd. Ich wusste eine bessere Lösung und streckte ihm freudig den kleinen Nagel hin: „Opa, du halt, ich klopf!“
Den Vorschlag fand er nicht gut. Stattdessen kam er zu mir und zeigte mir, wie man an einer schwierigen Stelle auf einen Nagel schlägt und nicht auf den Daumen.
Hämmer hatten es mir angetan! Ich hatte immer einen dabei. Denn es gab immer etwas zu beklopfen. Zum Beispiel war da neben der Küchentür eine schöne große Balkontür. Durch sie konnte ich wunderbar in den Hof hinunter schauen, wo die Kunden und die Angestellten aus dem Lager ihre Waren holten. Und ich musste unbedingt ausprobieren, ob der Holzrahmen auch dem Hammer standhält. Also fing ich langsam an, auf den weißen Lack zu hauen. Das klang gut. Und dann schlug ich ein bisschen mehr drauf. Das klang noch besser. Da gab es sogar eine kleine Delle in den Lack, und ich konnte genau sehen, wie groß der Hammereindruck war! Großartig! Das musste ich weiter probieren. Dann sah ich plötzlich beim nächsten Ausholen zu einem noch stärkeren Schlag Opa aus dem Lager kommen. Er schaute hoch, sah mich und riss die Hände hoch und rief etwas! Ich konnte ihn leider nicht hören, denn die Tür war zu. Aber er war sicher ganz begeistert, dass ich fleißig den richtigen Umgang mit dem Hammer übte. Es war ja klar, dass ich Eisenhändler werden wollte!
Ich lächelte ihm zu, toll, dass er gerade jetzt kam! Denn ich wollte ja zeigen, wie prima ich schon hämmern konnte. Und der nächste kräftige Schlag saß!
Dann hörte ich Opas Schrei mitten in dem grellen Klirren der großen Scheibe. Ich stand unverletzt und völlig verblüfft zwischen den Scherben. Wie war das denn passiert?
Opa rannte die Treppe hoch, kam mit kräftigem Schritt auf mich zu, riss mir den Hammer aus der Hand und versuchte, ernst zu bleiben und mich richtig anzufauchen. Aber ich erinnere mich nur an ein sehr kleines Donnerwetterchen, denn seine gütigen Augen konnten nicht mit mir schimpfen.
Viele Jahre später erfuhr ich aus Kindermund, warum das so war. Mein Vater erzählte in seiner Kinderarztpraxis einem vierjährigen Jungen von seinen Enkeln, deren Bilder in seinem Sprechzimmer hingen. Dann hielt er inne und fragte den Kleinen: „Weißt du eigentlich, was ein Enkel ist?“- „Ja,“ war die prompte Antwort, „Enkel ist, wenn man Opas Liebling ist!“
Copyright Dr. Dietrich Weller
Diesen Beitrag habe ich in der öffentlichen Lesung „Kindheitserinnerungen“ des BDSÄ-Kongresses im Juni 2011 in Leonberg vorgetragen und im Almanach deutschsprachiger Schriftstellerärzte 2012 veröffentlicht