Anfang November verließen wir Hamburg und kreuzten dann von Südengland und den Niederlanden in genau definierten Zickzacklinien durch die gesamte Nordsee bis zu den Orkney-Inseln und den Shetland-Inseln.
Auf der Höhe von Edinburgh wurden wir drei Tage und Nächte lang so von einem Orkan geschüttelt, dass unser kleines Schiff bei Windstärke 10-11 wie im Aufzug ohne Pause viele Meter hoch aufwärts und abwärts geschleudert wurde. Es war ein im doppelten Wortsinn erhebendes Gefühl, von tief unten an der gischtbekränzten Wasserwand empor zu fahren und auf der anderen Seite sofort wieder zehn Meter hinabzurauschen.
Ich spürte bei jeder Bewegung, dass ich einen Magen habe. Glücklicherweise erfuhr ich von erfahrenen Seebären, wie man am besten gegen die Seekrankheit vorbeugt. Man sollte immer wenig im Magen haben, vorzugsweise trockenes Brot, und keine kohlensäurehaltigen Getränke zu sich nehmen, da diese blähen und das Gefühl der Übelkeit verstärken. Auch Alkohol ist zu meiden, da das Gleichgewichtsorgan irritiert und noch empfindsamer wird als es ohnehin schon ist. Das kann man ja leicht feststellen, wenn man zu viel getrunken hat.
Viele der Männer an Bord lagen in ihren Kojen, mehr oder weniger blassgrün und von der Übelkeit geplagt. Ich hatte für mich ausprobiert, welchen Nutzen jetzt das Schwingbett im Lazarett bringen würde und fand heraus, dass es bei diesem Orkan eigentlich keinen hilfreichen Effekt bot. Die Wellen kamen so unregelmäßig von allen Seiten, und das Schiff schwankte und rollte so unkontrolliert in allen Richtungen, dass die lediglich einseitige Ausweichmöglichkeit des Bettes nichts half, um auch nur ein bisschen ruhiger schlafen zu können.
Um den erbrechenden Bordmitgliedern die dringendsten Utensilien zu geben, waren rasch alle verfügbaren Eimer an Bord in den Kammern verschwunden, und wir stellten fest, daß wir zu wenige Eimer dabei hatten. Auch mein Vorrat an Medikamenten gegen Übelkeit schwand ständig. Glücklicherweise kam ich selbst mit einem geringen Unwohlsein davon und konnte mich ohne wesentliche Beeinträchtigung um die Kranken kümmern. Und das einzige wirklich hilfreiche Mittel, nämlich eine ruhige See, hatte auch ich nicht in meinem Medikamentenschrank.
Problematisch war für mich, bei diesem Seegang zu schlafen: eine völlig ungewohnte Aufgabe! Was macht man, wenn das Bett sich ständig auf und ab bewegt und dauernd und ohne festen Rhythmus, auf den man sich einstellen könnte, auch nach den Seiten rollt? Was macht man, wenn der Körper in ständigem Wackeln kopfabwärts, seitlich schräg, dann kopfaufwärts hin- und herpendelt und man zur Abwechslung bei diesem Meerestheater mal gerne schlafen möchte?
Mein Bett in der Koje hatte an der einzigen freien, langen Seite oben und unten eine Leiste, in die ich ein etwa 20 cm hohes und bettlanges Brett einschieben konnte, um beim Seitwärtskippen des Schiffes zu verhindern, dass ich aus dem Bett fiel. Ein erfahrener Matrose hatte mich darauf hingewiesen, ich müsse unbedingt dieses Brett einstecken und es mit einer Decke über die ganze Länge polstern! Ich glaubte ihm nicht so recht, aber ich befolgte trotzdem in der ersten Nacht seinen Rat.
Lange drehte ich mich hin und her und konnte nicht einschlafen, weil ich es natürlich nicht gewohnt war, ausgestreckt zu liegen und ständig auf und ab und hin und her geschüttelt zu werden.
Ich probierte alle möglichen Lagen, Stellungen, Tricks und Kissenpolsterungen aus. Ich hatte festgestellt, dass die beste von allen schlechten Liegepositionen für mich die Bauchlage mit weit ausgestreckten Beinen und Armen war. Also lag ich platt wie eine Flunder mit seitwärts gedrehtem Gesicht auf dem Schüttelbett, versuchte gegen die ständigen Bewegungen meinen Schlaf zu gewinnen und musste doch dauernd mit einem Arm oder einem Bein gegen den Druck wechselnder Kräfte ankämpfen. Damit konnte ich mich noch am ehesten stabilisieren. Nichts half wirklich, und so schlief ich schließlich vor Erschöpfung ein.
Mitten in der Nacht wachte ich schlagartig auf, weil ich im Tiefschlaf wohl so entspannt war, dass ich keine Bewegungsreflexe mehr hatte und deshalb mit dem ganzen Körper und voller Wucht vom seitwärts rollenden Schiff gegen das gepolsterte Sicherheitsbrett geworfen wurde. Da war ich dem Matrosen für seinen Tipp dankbar! Wenn ich das Brett nicht gehabt hätte, wäre ich mit dem Kopf gegen den Schrank geknallt und aus dem Bett gefallen. Und das Bett war ja auch noch einen Meter über dem Fußboden erhöht, um darunter viel Platz für Schubladen zu gewinnen. Man muss sich vorstellen, dass so ein kleines Schiff zwar sehr seetüchtig ist, aber doch bis zu 45 Grad Seitwärtsneigung einnehmen kann, und da fällt alles um.
In dieser Nacht wurde ich zu einem Mann aus der Forschergruppe gerufen, der sein Brett im oberen Stockbett nicht befestigt hatte und herausgeschleudert worden war. Ich rannte zu ihm und war auf schlimmste Verletzungen gefasst. Aber es stellte sich heraus, dass er mit einer harmlosen Prellung des Gesäßes und einem Brummschädel davongekommen war. Auch bei der Beobachtungsphase in den nächsten vierundzwanzig Stunden ergaben sich glücklicherweise keine Komplikationen.
Dieses ständige Rollen des Schiffes und der unaufhörliche Seegang erschwerten natürlich auch jede Form des Essens. Ich lernte bewährte Methoden kennen, wie erfahrene Köche im Orkan kochen und Seeleute bei Windstärke 11 die Suppe essen. Töpfe und Teller wurden nur minimal gefüllt, sodass möglichst nichts herausspritzte, das Tischtuch lag feucht auf dem Tisch, damit die Teller fester standen, und es war auf einer rutschhemmenden Unterlage an der Tischplatte angeklemmt. Sogar das Besteck kullerte manchmal über den Tisch, und trotz aller Vorsichtsmaßnahmen und Balanceakte, die wir mit dem Suppenteller und den anderen Speisen auf der Hand probierten, sah das Tischtuch nach dem Essen aus wie auf einem Schlachtfeld. Beim Weg durch das Schiff erkannte man an den Flecken auf den Hemden und Pullovern, wer gegessen hatte. „Aha, ich sehe, Sie haben schon gegessen?!“ war ein beliebter Gruß.
Wu hatte mehr zu tun als sonst, denn so viel Schmutzwäsche fällt nur beim Orkan an, aber die meisten Besatzungsmitglieder waren nicht so pingelig, und so liefen einige ein paar Tage lang mit Flecken auf dem Hemd herum.
Seltsame Gefühle werden geweckt, wenn man bei solch einem ständigen Wellengang eine Treppe oder gar eine Leiter hoch- oder runterklettern will. Entweder wird man regelrecht hochgeschleudert oder in den Boden gedrückt. Man muß sich dem wechselnden Wellengang anpassen, und es kostete mich einige schmerzhafte Prellungen, bis ich mich so daran gewöhnt hatte, dass ich mich weitgehend gefahrlos im Schiff bewegen konnte. Überall in den engen Gängen gab es harte Gegenstände, gegen die wir geschleudert wurden, wenn wir nicht aufpassten und uns nicht ständig gegen Umfallen sicherten.
Die Stahltüren nach außen auf das Deck waren mit kräftigen Seilen verschlossen, um ein versehentliches Verlassen des Innenraumes und ein Aufreißen der Türen durch den peitschenden Sturm zu verhindern. Es war streng verboten, an Deck zu gehen! Ein Blick auf die tobende See machte mir klar, dass es unmöglich war, einen über Bord gegangenen Menschen von der Brücke aus mit dem Fernglas so kontinuierlich zu verfolgen, daß man ihn bei einem Drehvorgang des Schiffes beobachten konnte. Es war ausgeschlossen, ihn rechtzeitig wieder anzusteuern, einzufangen und an Bord zu holen. Das Schiff war bei diesem meterhohen Wellengang außerdem nur sehr begrenzt manöverierfähig.
Ich erinnerte mich an einen Versuch, den wir im tropischen Atlantik gemacht hatten: Bei spiegelglatter See, wunderbarem Wetter und allgemeiner Vorwarnung warf der Erste Offizier einen Rettungsring, der den Mann über Bord symbolisieren sollte, bei voller Geschwindigkeit des Schiffes ins Wasser. Die Aufgabe bestand darin, den Alarm auszulösen, das Schiff zu drosseln und zu wenden und den Rettungsring wieder an Bord zu holen. Ich war sehr überrascht darüber, wie schnell der Ring und das Schiff sich voneinander entfernten, obwohl doch alles so ruhig aussah. Die Mannschaft hat für das Manöver dreißig Minuten gebraucht. Und das unter besten Bedingungen!
Dreißig Minuten kann ein Mensch im warmen Wasser in der Rettungsweste oder ohne Hilfsmittel ja noch schwimmend gut überleben, wenn er nicht von Haien gefressen wird. Aber hier in der Nordsee hatte das Wasser gerade fünf oder sechs Grad. Das alleine macht schon schwere Herzrhythmusstörungen und kann zum Tod durch Herzstillstand oder Ertrinken führen.
Ein grandioses Schauspiel zauberte uns die Natur mit diesem tosenden Orkan vor die Augen, und die enorme Wucht der ungezähmten Wassermassen und das wilde Chaos beeindruckten mich tief. Auch unsere Machtlosigkeit und das Gefühl, der Spielball dieser Wellen zu sein, ließen mich sehr nachdenklich werden über die Großspurigkeit vieler überheblicher Menschen, die meinen, sie könnten alle Probleme lösen und den Gefahren der Natur erfolgreich Widerstand bieten.
Ich fühlte mich sicher in dem Schiff und hatte keine Angst, aber das Gefühl, dem brodelnden Wasser draußen schutzlos ausgeliefert sein zu können, machte mir Beklemmungen. Ich stellte mir lebhaft vor, welche entsetzlichen Qualen einen Menschen plagen würden, der Angst vor engen und verschlossenen Räumen hat. Seine Panik würde ihn bei dieser unaufhörlichen Orkanschaukelei und dem peinigenden Gefühl, ihr auf unbestimmte Zeit nicht entrinnen zu können, zur Raserei und völligen Verzweiflung treiben können. Nicht einmal ins tosende Meer hätte er springen können, um im Tod die Erlösung zu suchen, denn die Türen waren alle hermetisch verriegelt.
Außerdem dachte ich darüber nach, wie lange wir das noch auszuhalten hätten. Die Wetterprognosen waren schlecht und eine wesentliche Besserung in den nächsten Tagen nicht zu erwarten. Das Forschungsprogramm war vorerst gestrichen, Wasserproben einzuholen wäre ein tödliches Unternehmen gewesen. Und jeder, der es sich an Bord leisten konnte, lag im Bett und kroch nur zu den unbedingt nötigen Verrichtungen oder zum Dienst heraus.
Da es mir relativ gut ging, stand ich oft staunend und mit einer seltsamen Mischung aus grenzenloser Bewunderung der Natur und furchterfülltem Gruseln vor den möglichen Katastrophen neben dem diensthabenden Offizier auf der Brücke. Gigantische Wellenberge mit sprühenden Schaum-kronen rollten auf das Schiff zu, hoben es hoch wie ein kleines Spielzeug und boten auf der anderen Seite eine Riesenrutschbahn, der wir nicht entkommen konnten. Wenn wir im Wellental waren, schlugen die tonnenschweren Wassermassen krachend über dem Schiff zusammen. Manchmal war das ganze Brückenhaus in eiskalte Gischt getaucht.
Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was mit einem Menschen geschehen würde, der sich bei diesem Unwetter an der Reling in eine solche Welle stellen würde. Wir würden nicht einmal sehen, wie er weggespült wird, und schon deshalb könnten wir ihn nicht finden.
Einmal, als ein besonders heftiger Brecher über das Schiff und die Brücke hinweggerollt war, machte ich meinen begeisterten Gefühlen Luft und sagte zu dem Offizier in meiner spontanen Gefühlswallung: „Ist das nicht eine fantastische Natur!“ – Das hätte ich besser nicht gesagt! Er schoß mir einen vernichtenden Blick in die Augen und drehte sich brummend mit einer Bemerkung weg, die ich nicht verstanden habe, aber sie war bestimmt nicht schmeichelhaft für mich. Dann drehte er sich wieder zu mir und fragte mit eisigem Ton: „Haben Sie nicht was anderes zu tun, als hier rumzustehen?“ Das war schlimmer als ein Ohrfeige, und ich spürte diesen Rausschmiß aus seinem Reich der Brücke fast körperlich und verschwand.
In diesem Orkan musste ich auf mein tägliches Wannenbad verzichten, denn das Badezimmer wäre sofort unter Wasser gestanden. Sogar die Nassrasur bei Orkan ist gefährlich! Ich habe mich mehrfach geschnitten, weil der Seegang mich in einem Moment auf die Seite warf, als ich es gerade nicht erwartete. Und dann rutschte mir das Rasiermesser mit einer unkontrollierten Bewegung ins Gesicht.
Der Forschungsleiter und der Kapitän beschlossen wegen des anhaltenden Orkans, den nächsten Hafen anzulaufen und dort zu warten, bis das Wetter besser wird. Das verschaffte uns zwei Tage und Nächte in der Einfahrt nach Edinburgh, wo wir im ruhigen Wasser bei Nieselregen vor Anker lagen und endlich wieder ausschlafen konnten. Ein Landgang war leider nicht möglich. Als es wieder aufklarte, lichteten wir Anker und fuhren zum nächsten genau festgelegten Messplatz.
Copyright Dr. Dietrich Weller
Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht