Sein Bild in meinem Bild

Am Totensonntag wurde ich spät abends zu meiner fünften Leichenschau an diesem Tag in ein Pflegeheim gerufen. Die Pflegefachkraft berichtete: „Das ist eine skurrile Situation. Der Patient ist gerade heute, am Todestag seiner Frau verstorben. Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist. Die beiden hatten eine besonders innige Beziehung. Sie starb vor fünf Jahren. Er war ein liebenswerter Mann und ist uns allen sehr ans Herz gewachsen, seit er hier wohnt. Als ich vorhin in sein Zimmer kam, saß er ganz entspannt in seiner bequemen Lieblingshaltung im Sessel und hatte einfach aufgehört zu atmen. Wir haben ihn dann ins Bett gelegt.“

Ich schaute die Krankenakte des 86-jähringen Mannes an, bevor ich zu ihm ging. Eine Demenz war die Grunderkrankung. Sonst gab es neben dem Diabetes und einer chronischen Niereninsuffizienz keine besonderen Diagnosen oder Vorkommnisse. Die letzten Tage waren ganz unauffällig verlaufen.

Als ich in das Zimmer des Patienten trat, sah ich den Mann auf dem Rücken liegen. Der Oberkörper war durch das schräg gestellte Kopfteil des Bettes erhöht, und ein Kissen unterstützte den Kopf, sodass sein Gesicht auf die Hände gerichtet war. Sie hielten auf der Bettdecke ein Bild in hellem Holzrahmen. Obwohl die Augen geschlossen waren, betrachtete er in aller Ruhe das Bild.

Ich war im ersten Moment sehr verblüfft von dieser ungewöhnlichen Anordnung, die ich so noch nie gesehen hatte. Denn üblicherweise werden die Verstorbenen ganz flach gelagert, und sie bekommen oft ein Kreuz oder ein Blume in die Hände gelegt. Ich zögerte einen Moment und ließ den sanften Eindruck auf mich wirken. Dann schaute ich das Bild an. Es war sein Hochzeitsfoto.

Jetzt an seinem Sterbetag und am Todestag seiner Frau war er mit ihr vereint. Der Lebenskreis war geschlossen.

„Wissen Sie,“, sagte die Pflegefachkraft, „seine Frau war sehr wichtig für ihn, er sprach jeden Tag ganz liebevoll von ihr.“

Ich steckte spontan meine Hand in die Hosentasche, um mein Handy für ein Foto zu zücken. Mein zweiter Gedanke hielt mich aber sofort zurück. Ich spürte, wie ich damit die Stimmung gestört hätte. Deshalb wartete ich nachdenklich eine Weile ab und formte dann langsam mit meinen Daumen und Zeigefingern einen Bilderrahmen: „Dieses Bild möchte ich mir intensiv einprägen, das ist ausdrucksstark! Es war eine würdevolle Idee, dem Mann sein Hochzeitsbild in die Hände zu geben.“

PS: Nachträglich habe ich vom Bestatter erfahren, dass er dem Verstorbenen das Hochzeitsfoto in den Sarg mitgegeben hat.

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