Als ich ankam, hatten sich schon die Besatzungsmitglieder versammelt und waren wie verabredet auf dem Weg zur Professor Wiese, die nur ein paar hundert Meter von uns entfernt lag. Dieses Forschungsschiff war relativ alt und wesentlich größer als die Meteor. An Bord trennten wir uns in zwei Gruppen. Die Tischtennismannschaften begannen das geplante Turnier, das unsere Mannschaft schließlich haushoch verlor, aber die spielerische und menschliche Begegnung hat allen Beteiligten großen Spaß bereitet.
Die sowjetische Mannschaft hatte mit dem bordeigenen Kran ein riesiges Netz mit geraden Seitenwänden über das hintere Oberdeck gespannt, sodass dort Ballspiele aller Art stattfinden konnten, ohne dass der Ball ins Meer flog.
Das Forschungspersonal wurde in den Konferenzraum an gedeckte Tische geführt zu Kaffee und Kuchen. Vladimir, der Chirurg aus Leningrad, begrüßte mich herzlich und setzte sich neben mich in den Konferenzraum. Er war etwa Mitte fünfzig, hatte schütteres graubraunes Haar und eine schlanke Figur, die mit einem weißen kurzärmeligen Hemd und einer mittelbraunen Hose bekleidet war. Seine feingliedrigen Hände fielen mir auf und seine klaren grau-blauen Augen, mit denen er mich immer wieder musterte. Unsere Blicke trafen sich oft, und ich spürte, daß dies eine besondere Begegnung war. Ich war gespannt auf den weiteren Verlauf des Tages. Würden wir die von mir gewünschte Gelegenheit haben, unter vier Augen zu reden?
Der Kapitän hielt eine kurze Begrüßungsansprache auf englisch, der Forschungsleiter der Sowjets berichtete über die bordeigenen Messmethoden und bereits vorliegende Ergebnisse. Dann hatten wir eine Diskussionsmöglichkeit, und ich erfuhr auf meine Frage, dass Professor Wiese ein berühmter sowjetischer Meteorologe war, dem zu Ehren dieses Schiff seinen Namen erhalten hatte.
Nach dem offiziellen Programm wurde das kalte Buffet eröffnet, und ich war sehr überrascht und gleichzeitig erfreut, dass Vladimir mich auf die Seite zog und mir bedeutete, ich solle doch mitkommen, er habe ein separates Essen für mich bestellt. Ich ließ mich von ihm durch das Schiff führen, und er zeigte mir einen bescheidenen medizinisch eingerichteten Raum, sein Sprechzimmer.
Dann führte er mich in seine winzige Kammer, in der zwei Betten übereinander standen. Er als Schiffsarzt durfte diesen Raum luxuriöserweise als Einzelzimmer benutzen. In der Enge des Raumes hatte zwischen Betten und Schrank ein kleiner Tisch Platz, und wir saßen auf Vladimirs Bett. Der Tisch war sauber gedeckt, und auf jedem Teller lag ein paniertes, kaltes Schnitzel, das rundherum über den Tellerrand ragte.
Vladimir, der recht gut englisch mit dem rollenden harten russischen Akzent sprach, öffnete zuerst einmal die große Wodkaflasche, goß die Wassergläser voll und prostete mir zu: „Auf die internationale Kollegialität! Ich bin Vladimir!“ Ich hob das Glas und nickte ihm freundlich zu: „Ja, auf die internationale Kollegialität! Ich heiße Dietrich!“
Dann sagte er sehr ernst: „Ich bin sehr froh, alleine mir dir reden zu können, und ich freue sich sehr, dass ich bei dir auf der Meteor sein durfte. Ich habe es extra so eingerichtet, dass wir jetzt hier sitzen und nicht bei den anderen Gästen, denn dort sind wir nicht frei, weil jeder weit offene Ohren hat.“
Er machte mich auch gleich darauf aufmerksam, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass jeden Moment die Tür aufgeht und ein Offizier hereinkommt, um mich zu begrüßen. Dieser werde mich bestimmt in ein Gespräch verwickeln, um mich auszuhorchen und ihn, Vladimir, zu kontrollieren. Ich solle mich bitte daran nicht stören und gute Miene zum unvermeidlichen Ablauf machen.
Ich höre noch heute, wie Vladimir mich direkt anschaute und eindringlich und leise sagte: „Ich will nicht über Politik mit dir sprechen. Ich will als Arzt mit einem Kollegen und als Mann mit einem Freund sprechen!“ Und er hob wieder das Glas und trank mir zu. Dann bedeutete er mir, dass wir hier nicht so laut sein dürften, „weil alle Wände viele Ohren haben“.
So begannen wir zu essen und zu reden. Die Stunden sind mir trotz der vielen Jahre, die seither vergangen sind, als sehr persönliche Unterredung in lebhafter Erinnerung, und ich spürte, dass wir beide auf der menschlichen Ebene eine gute Übereinstimmung empfanden.
Vladimir erzählte von seiner schwierigen Arbeit unter schlechten Bedingungen in der Klinik als Chirurg und von seiner Abkommandierung auf das Schiff, die ihm gar nicht recht gewesen sei. Denn, und da wurde er noch leiser und sehr traurig, er habe seine Frau in einer psychiatrischen Klinik zurücklassen müssen, weil sie dringend behandlungsbedürftig sei. Immer wieder trank er mir zu, und ich spürte, wie der Wodka mir ins Blut floß und in den Kopf stieg.
Wir waren mitten im vertraulichen Gespräch, da klopfte es, und tatsächlich geschah genau das, was Vladimir vorhergesagt hatte. Ein Offizier trat ein, begrüßte mich freundlich, setzte sich selbstverständlich zu uns, trank auch einen Wodka und noch einen und redete über die wunderbaren Errungenschaften des Kommunismus und die schreckliche Bedrohung der Welt durch den Kapitalismus. Die entscheidende Botschaft war klar: Kommunismus ist gut, Kapitalismus ist schlecht und muss bekämpft werden. Ich wartete bei seiner Glorienscheinrede nur noch darauf, dass er mir erklärte, wie der Kommunismus in Zukunft auch das Wetter bestimmt. Der Offizier riss das Gespräch vollständig an sich und stellte nur eine einzige Frage, die er gleich selbst beantwortete: „Sie kommen von der Meteor, oder nicht?“ Ich nickte, und das auch nur aus Höflichkeit.
Ich hatte den Eindruck, Vladimir und ich dachten gleich: Wir lassen ihn reden und ins Leere laufen und warten einfach, bis er geht. Ich hörte mir die Propaganda an wie eine Wahlkampfrede, dachte mir meinen Teil und sah überhaupt keine Veranlassung, zu diskutieren oder einen konträren Standpunkt zu verteidigen. Das hätte die Zeit mit diesem geistig vernagelten Funktionär nur verlängert. Nach einiger Zeit und einem abgespulten Politmonolog auf die Segnungen des allmächtigen Marxismus-Leninismus verabschiedete sich unser ungeladener Gast, und wir waren wieder allein. Darauf mussten wir gleich natürlich diesen vorzüglichen Wodka trinken und uns zuprosten.
Ich weiß nur noch wenige Einzelheiten aus diesem Gespräch, aber sie sind mir heute nicht mehr so wichtig. Das Entscheidende an der nächtlichen Begegnung war für mich die unerwartete Vertrautheit, die emotionale Ebene, auf der zwei fremde Menschen sich in einem fast geschützten Raum treffen konnten und erlebten, dass trotz so entgegengesetzter politischen Richtungen sehr einfache und lebendige Verständigungsmöglichkeiten existieren und fast wortlose Drähte des wechselseitigen Verstehens harmonisch schwangen.
Obwohl wir uns vorher nie begegnet waren, fühlte ich mich in Vladimirs Gegenwart sofort wohl und hatte keinerlei Bedenken, mit ihm offen zu sprechen. Andererseits hatte ich nichts zu verbergen und empfand mich nicht als Geheimnisträger, obwohl ich wusste, dass ich rein rechtlich gesehen als Soldat automatisch einer war. Ich dachte daran, dass man uns bei der Grundausbildung in der Sanitätsakademie in München eingeschärft hatte, beim Kontakt mit Sowjets äußerst vorsichtig zu sein, um nicht unversehens in eine Spionageaffäre verwickelt zu werden.
Da Vladimir erzählt hatte, dass er aus Leningrad stammt, bot sich für mich sofort das Thema der Musik an und die weltberühmten Leningrader Philharmoniker unter dem damals im Westen schon legendären Jewgenii Mrawinski. Heute weiß ich, dass dieser große Dirigent 50 Jahre lang, nämlich von 1938 bis 1988, der Chef dieses Orchesters war und damit länger als jeder andere Dirigent in der Geschichte der Orchestermusik bei irgend einem Orchester. Er hat die Leningrader zu Weltruhm geführt und unschätzbare Konzerte geleitet und großartige Tondokumente hinterlassen.
Bei dem Stichwort Leningrader Philharmoniker begannen Vladimirs Augen zu leuchten, und wir sprachen lange über seine Konzerterlebnisse und von meinen Plattenaufnahmen der Tschaikowski-Sinfonien mit diesem grandiosen Orchester. Da ich sehr gerne original russische Aufnahmen gehabt hätte, fragte ich ihn schließlich: „Was hältst du davon, wenn wir Schallplatten austauschen? Ich könnte dir doch deutsche Platten schicken und du mir russische?“ Seine Antwort war ernüchternd und bestand aus in einem einzigen traurigen Satz: „Meine und deine Platten werden nie ankommen, weil der sowjetische Zoll und der KGB sie gut gebrauchen können.“
Im Laufe der Stunden genoss ich das frisch gebackene, fast schwarze Vollkornbrot, das Vladimir aufgetischt hatte. Es schmeckte nicht nur kernig, sondern ich versprach mir auch eine verzögerte Aufnahme des Wodkas davon, den Vladimir in seiner herzlichen Gastgeberstimmung immer reichlich nachschenkte. Ich genoss es, mit einem Brocken des Brotes den ganzen Mund voll von diesem kräftigen Geschmack zu haben und herzhaft auf das grob gemahlene Korn beißen zu können.
Als ich Vladimir in meiner spontanen Begeisterung sagte: „So ein knuspriges und würziges Brot habe ich schon lange nicht mehr gegessen. Das ist eine Delikatesse!“ strahlte er, stand auf, verschwand für einen Moment und kam mit einem ganzen Laib zurück, gab ihn mir in die Hand und sagte: „Heute gebacken! Ich habe es vom Koch extra für dich geholt. Nimm es mit, und wenn du isst, denk an mich.“ Ich war gerührt und bedankte mich herzlich.
Schließlich schaute ich auf die Uhr. Es war Mitternacht geworden, die Flasche war leer, und Vladimir wollte eine zweite öffnen. Das konnte ich mit viel Überredungskunst verhindern. Ich musste noch zur Meteor gehen! Ich war mir nicht so sicher, ob ich das schaffen würde, das Schiff schwankte so seltsam. Aber trotzdem fühlte ich mich klar.
Ich erinnere mich noch genau, dass ich Vladimir fragte: „Darf ich dir einen Brief nach Leningrad schreiben, wenn ich wieder zu Hause bin? Gibst du mir deine Adresse?“ Er schüttelte langsam den Kopf und sagte nachdenklich: „Ich würde dich gerne oft wiedersehen und mit dir sprechen. Ich würde mich auch riesig freuen, wenn wir regelmäßig in Briefen einen Gedankenaustausch haben könnten. Aber es würde mich auf jeden Fall in große Probleme bringen, wenn mein Westkontakt bekannt wird. Und er ist nicht zu verbergen.“ Er machte ein kurze Pause, dann erklärte er: „Mit deinem ersten Brief an mich stehe ich automatisch auf der Liste beim KGB und werde lückenlos überwacht, und der KGB liest deinen Brief vor mir, wenn ich ihn überhaupt erhalte.“ Ich war sehr betroffen, nicht nur über seine Ablehnung, die ich bei dieser Begründung sofort einsah, sondern besonders über die menschenverachtenden Umstände, unter denen er lebte.
Vladimir legte seine Hand auf meine und sagte eindringlich: „Lass uns diesen Abend im Gedächtnis bewahren als einmaliges Erlebnis! Lass uns dankbar sein für diese menschliche Begegnung in einer feindlichen Welt und hoffen, dass unsere Völker vielleicht eines Tages wieder friedlich zusammensitzen können wie wir beide heute Abend.“ Er machte eine kleine Pause, ich nehme an, damit seine Worte in meinem Herzen die von ihm beabsichtigte Wirkung entfalten konnten.
Dann sprach er feierlich weiter: „Ich danke dir, dass du gekommen bist, und ich werde dir oft in Gedanken gute Wünsche schicken. Wir werden uns nie wieder treffen. Ich möchte mich hier von dir verabschieden. Draußen kann ich das nicht so tun, wie ich es fühle.“
Er nahm mich in seine Arme, drückte mich kräftig an sich, und ich erwiderte die Umarmung herzlich. Als er mich langsam losließ, sah ich, wie seine Augen feucht waren. Dann hob er andachtsvoll seine rechte Hand, streckte sie langsam zu meinem Kopf und zeichnete mir mit seinem Daumen ein kleines Kreuz auf die Stirn. „Gott segne dich!“ flüsterte er. Wir schauten einander lange in die Augen, und ich spürte, wie eine Träne an meiner Wange abwärts glitt.
Er begleitete mich schweigend durch das Schiff an die Reling und ging mit mir das Fallreep hinunter. Ein paar Meter neben dem genau beobachtenden Wachposten standen wir einander gegenüber. Jetzt war mir klar, warum die Verabschiedung in der Kabine stattfinden musste. Vladimir schaute mich an. Seinen Blick sehe ich noch heute: Wehmut, Trauer, Freundschaft, Leid, Leidenschaft begegneten mir in dieser Sekunde, eine große russische Seele. Er gab mir die Hand, drückte kräftig, verbeugte sich und ließ langsam los. Ich hatte ebenso wortlos seinen Gruß erwidert, und nach einem intensiven Blick drehte ich mich um und ging in Gedanken versunken zur Meteor. Bevor ich um die nächste Ecke bog, schaute ich noch einmal zurück. Vladimir stand noch an derselben Stelle, und wir winkten einander ein letztes Mal zu. Ich hatte nie wieder Kontakt mit ihm.
Copyright Dr. Dietrich Weller
Ich habe die Geschichte in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht