Hilfreiche Texte: Es ist ein Gesetz im Leben

Es ist ein Gesetz im Leben:

 

Wenn sich eine Türe vor uns schließt, öffnet sich eine andere. Die Tragik ist jedoch, dass man meist nach der geschlossenen Tür blickt und die geöffnete nicht beachtet.

 

André Gide (1869-1951), französischer Schriftsteller, 1947 Nobelpreis für Literatur

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Hilfreiche Texte – Es ist alles umsonst

Es ist alles umsonst

„Es ist alles umsonst!“ sagt der Nihilist und verzweifelt.

„Es ist tatsächlich alles umsonst!“ sagt der Glaubende und freut sich der Gnade, die es umsonst gibt, und hofft auf eine neue Welt, in der alles umsonst zu geben und zu haben ist.

Jürgen Moltmann (*1926), deutscher Theologe, aus „Die Sprache der Befreiung“,
Chr. Kaiser-Verlag, München 1976

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Hilfreiche Texte – Das Gleichnis vom Wandteppich

 

Das Leben gleicht einem schönen Wandteppich. Betrachtet man den Wandteppich von der richtigen Seite, ist er ein fehlerlos gewebtes Kunstwerk. In diesem Kunstwerk sind Fäden verschiedener Farbe und Länge zu einem lebendigen Bild verknüpft. Wendet man ihn aber auf die andere Seite, sieht man ein Gewirr vieler Fäden. Einige sind kurz, andere sind lang, etliche glatt, andere wirr und verknotet.

Dieser Wandteppich gleicht dem Leben. Gott hat für das Leben jedes Menschen ein Muster gewebt, das wie ein Wandteppich zwei Seiten hat. Die Fäden, mit denen das Bild auf dem Teppich geknotet ist, symbolisieren die Lebensstationen. Von der einen Seite aus -also vom Menschen ausgesehen scheint dieses Muster wirr und zusammenhangslos. Von der anderen Seite -also von Gottes Perspektive- hat jeder Knoten und jeder Faden seinen Platz. Es entsteht das Bild eines harmonischen Kunstwerkes, wie Gott unser Le-ben gewoben hat. Was Menschen sinnlos zu sein erscheint, wird für Gott zu einem harmonischen, sinnvollen Bild.

Harold Kushner nach Thornton Wilder,
aus „Wenn guten Menschen Böses widerfährt“, Tomus-Verlag, München 1983

 

Der Teppich

Wunderbar verwebt, der uns erschuf,
In den bunten Teppich uns’res Lebens
Lichten Traum und dunkle Wirklichkeit,
Und wir wissen’s erst beim letzten Ruf:

Keinen dieser Fäden wob vergebens
Seine Hand in diese bunten Streifen,
Die gemach enträtselnd wir begreifen
erst im Lichte Seiner Ewigkeit.

Agnes Miegel

 

 

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Hilfreiche Texte: Stufen (Hermann Hesse)

Stufen
(Hermann Hesse)

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde.

 

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Hilfreiche Texte – Alles hat seine Zeit

Alles hat seine Zeit,
alles hat seine Stunde,
und es gibt eine Zeit für jegliche Sache unter dem Himmel:
Eine Zeit für die Geburt und eine Zeit für das Sterben,
eine Zeit zu pflanzen, und eine Zeit,
das Gepflanzte auszureißen,
eine Zeit zu töten und eine Zeit zu heilen,
eine Zeit einzureißen und eine Zeit aufzubauen,
eine Zeit zu weinen und eine Zeit zu lachen,
eine Zeit zu klagen und eine Zeit zu tanzen,
eine Zeit, Steine wegzuwerfen,
und eine Zeit, Steine zu sammeln,
eine Zeit zu umarmen und eine Zeit,
sich der Umarmung zu enthalten,
eine Zeit zu suchen und eine Zeit zu verlieren,
eine Zeit aufzubewahren und eine Zeit fortzuwerfen,
eine Zeit zu zerreißen und eine Zeit zu nähen,
eine Zeit zu schweigen und eine Zeit zu reden,
eine Zeit zu lieben und eine Zeit zu hassen,
eine Zeit des Krieges und eine Zeit des Friedens.

Ich sah, wie die Menschen sich mühen,
und sah, dass Gott die Mühe über sie verhängt hat.
Er aber tut alles zu seiner Zeit
und lässt ihr Herz sich ängsten,
wie es weitergehen solle in der Welt.
Denn der Mensch kann das Werk, das Gott tut,
doch nicht fassen, weder Anfang noch Ende.

Kohelet 3, 1-11

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Trauer ist Erinnerungsarbeit

 

Wir haben nur die Wahl, ob wir den Schmerz der Trauer rasch und heftig erleben wollen oder langsam und meist auch mit späteren psychosomatischen Beschwerden verbunden, wenn er verdrängt wird. Wir kommen an der Trauer nicht vorbei.

Dr. med. Elisabeth Kübler-Ross

32.1 Gefühle aushalten 

Alle Gedanken und Gefühle, die wir im Angesicht des Sterbens und des Todes haben, sind bereits ein Teil der Trauer- und Trennungsarbeit. Dazu gehören auch die Aktivitäten, die uns und den Sterbenden mehr oder weniger gut darauf vorbereiten. Zu diesen Tätigkeiten gehören sehr alltägliche Verrichtungen wie Waschen, Pflegen, Füttern, Umkleiden, Gespräche, alte Fotoalben anschauen und darüber reden, eine Reise noch einmal machen. Dann gibt es solche, die einmalig sind: das letzte Testament zu machen, unerledigte Geschäfte endgültig -für das Ende gültig!- zu erledigen, mit bestimmten Menschen bewusst das letzte Gespräch zu führen, den letzten irdischen Sonnenstrahl zu sehen, bevor das ganz große Licht naht.

Jede Art der Kommunikation zeigt uns, wie wir mit dem Sterben zurechtkommen, das wir vor uns sehen und in uns spüren, ob wir blockiert sind oder wachsen. Die Trennungsarbeit geht bis zu dem Moment oder der Lebensphase, wo wir den Tod des geliebten Menschen angenommen und so verinnerlicht und verarbeitet haben, dass wir wieder offen sind für neue Gefühle und Handlungen, die ein Leben ohne diesen Menschen frei ermöglichen.

Ich will es noch einmal betonen, weil es so grundlegend wichtig ist: Um wirklich richtig mit einer Trennung umzugehen, müssen wir sie bewusst und geduldig wahrnehmen und aushalten.

Wenn ein Angehöriger eines Verstorbenen zu mir kommt und um eine Beruhigungstablette für den Tag der Beerdigung bittet, versuche ich ihm klar zu machen, dass ein intensiver Schmerz und ein bewusstes Erleben der Trennung hilfreicher und gesünder sind als eine Betäubung, in der die Trauerfeier und die Grabszenen hinter einen Nebelschleier verdrängt werden. Manchmal gebe ich eine Tablette mit und rate den Patienten, sie einfach in der Tasche zu haben, sozusagen „als letzte Sicherheit“. Das Wissen um die bereitliegende Tablette beruhigt die Patienten. Das spricht für den geistig-seelischen Einfluss unserer Gedanken auf unsere Körperfunktionen.

Ich kenne inzwischen viele Menschen, die mit der Beruhigungstablette in der Tasche die Beerdigung gut überstanden haben und hinterher froh waren, diesen Stunden bewusst und ungetrübt erlebt zu haben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass enge Angehörige in diesen Stunden des Abschieds so sehr mit sich und ihrem Schmerz beschäftigt sind, dass sie teilweise oder vollständig blockiert sind, die Reden und Beileidsbekundungen und andere Zeichen aufzunehmen oder gar zu verarbeiten. Deshalb habe ich bei meinen eigenen Trauerreden die schriftliche Fassung so in einen schönen Einband vorbereitet, dass ich sie als Geschenk nach der Rede immer an den engsten Verwandten des Verstorbenen geben konnte. So hatten die Hinterbliebenen die Möglichkeit, die Rede zu Hause in Ruhe zu gegebener Zeit zu lesen und aufzunehmen.

Denn die Erinnerung an alles, was mit dem Verstorbenen zusammenhängt, muss in Gedanken noch einmal „auferstehen“, damit wir ihn schließlich in Liebe endgültig loslassen können. Deshalb ist es so wichtig, möglichst oft und intensiv über den Verstorbenen zu sprechen und sich an viele Einzelheiten aus dem gemeinsamen Leben zu erinnern.

Ein sehr bildliches Beispiel erlebe ich immer wieder, wenn ich auf dem Friedhof an dem Grab von Heiko vorbeikomme. Er lebte im selben Haus wie ich, war mein Patient und verstarb an einem bösartigen Bauchtumor, als er etwa zwei Jahre alt war. Da sein Lieblingsspielzeug ein Bagger war, baten die Eltern meine damals vierjährige Tochter, einen Bagger zu malen, damit der Steinmetz ein Vorbild eines „kindlichen“ Baggers hat, um eben diesen Bagger auf den Grabstein zu meiseln. Und so ist das Gedenken an Heiko für immer an seinen Bagger gebunden, mit dem er viele glückliche Stunden verbracht hatte.

Die Erinnerung an Menschen ist auch für mich ein wichtiger Grund, warum ich dieses Buch schreibe. Ich mache mir sehr genau wieder bewusst, was ich damals im Umgang mit den geschilderten Persönlichkeiten erlebt, gefühlt und gelernt habe. Das erhöht zwar im Moment der akuten Trauer den Schmerz der Trennung, aber es verkürzt die Trauerphase auf natürliche Weise, Denn offensichtlich haben wir nur ein bestimmtes Maß an „Trauerenergie“ zur Verfügung. Wenn sie aufgebraucht ist, können andere Gefühle des alltäglichen Lebens wieder mehr Raum einnehmen, und das Leben kann in normale Bahnen gleiten.

32.2 Entwicklungsmöglichkeiten nach der Trauer 

Dies kann kompliziert werden, wenn zum Beispiel eine Frau ihren ganzen Lebenszweck und -sinn auf die Person des Ehemannes und die von ihm geschaffene soziale Ebene eingestellt hat. Wenn der Mann stirbt und diese Frau kein eigenständiges Persönlichkeitsbild von sich hat, das auch ohne den Mann in der Gesellschaft angenommen ist, wird sie immer dem Mann nachtrauern, weil ihr durch seinen Tod der Boden, auch das gesellschaftliche Parkett, entzogen wurde. Diese Verhältnisse treffen wir besonders bei Frauen an, die keine Berufsausbildung haben und den Sinn ihres Lebens in der Begleitung des Mannes und der Kinder gesehen haben.

Diese Frauen müssen entweder ihren weiteren Weg in der geistig-emotionalen Vergangenheit leben und immer der zunehmend idealisierten Zeit nachtrauern. Sie neigen dazu, zum Beispiel die Kinder zu verpflichten, wenigstens stellvertretend den sozialen Rahmen und die ehemalige Bedeutung für die Mutter zu schaffen. Wobei hier der Konflikt der Eigenständigkeit oder Angebundenheit der Kinder auftritt.

Und die zweite, reife Möglichkeit für diese Frauen besteht darin, ihr Leben jetzt in die eigene Hand zu nehmen und konstruktive Entscheidungen selbst zu treffen. Sie kann sich aufmachen, einen zweiten Lebensabschnitt mit neuen Aufgaben zu führen, in dem der Wert und Sinn des eigenen Lebens an der eigenen Persönlichkeit definiert werden und nicht an der des Ehemannes oder der Familie.

Manche Frauen nützen nach dem Tod ihres Ehemannes diese Gelegenheit, ein völlig neues Leben im Rahmen einer großartigen Entwicklung zu gestalten, das ihnen eine neue Identität und völlig veränderte Sicht ihres Daseins vermittelt. Dies kann für Frauen gelten, die entweder von ihrem Mann stark abhängig waren, unterdrückt lebten oder durch den an ihnen klammernden Mann während der Ehe erheblich beeinträchtigt waren, eine eigenständige Entwicklung zu leben.

Wenn solche Frauen die Freiheit des Alleinseins als Chance erkennen und die damit verbundene Verantwortung annehmen, besteht die Grundlage für eine neue und imponierende Reifung nach der traumatischen Trennung.

32.3 Wie bewältigen wir die Trauer 

Trauer und Angst sind für die meisten Menschen zwei quälende und lebenseinschränkende Gefühle. Sie können teilweise mit ähnlichen Methoden behandelt werden. Beim Umgang mit der krankhaften Angst wurde das Phänomen der Gefühlserschöpfung durch intensive Konfrontation gefunden. Angst ist ja zunächst ein sehr sinnvolles Gefühl, weil es uns vor Gefahren schützt. Aber sie kann so groß werden, dass sie uns im alltäglichen Leben einengt und unfähig macht, die normalen Aufgaben zu bewältigen. Dann sind wir krank vor Angst und leiden daran. Das ist ein behandlungs-bedürftiger Zustand.

Die moderne psychiatrische Forschung hat gezeigt, dass die direkte Konfrontation mit der angstauslösenden Situation, zum Beispiel einer engen Aufzugskabine oder einer belebten Straße, die Angst vorhergehend scheinbar unbewältigbar groß werden lässt. Aber wenn diese panische Angst ausgehalten wird, verschwindet sie und kommt nicht wieder.

In Bezug auf die Trauerarbeit bedeutet das praktisch, dass wir uns intensiv erinnernd mit unseren Gefühlen und unserer Beziehung zu dem Sterbenden oder Verstorbenen beschäftigen müssen. Diese Gefühle können in ihrer intensivsten Form mit ihrer Größe und Tiefe von trauernden Liebenden nicht nur als Vollendung der irdischen Liebe, sondern auch als Ausdruck einer tragischen und lösenden Schönheit erlebt werden.

Ein eindrucksvolles Beispiel habe ich von der Familie Basler gehört. Als Herr Basler im Sterben lag, holte die Familie am Samstagabend den zuständigen Pfarrer ans Krankenbett. Dieser verstand es mit wenigen Sätzen sehr geschickt, die trauernde Ehefrau zum Gespräch mit ihrem Mann zu bringen. Sie erzählte ihm ihr 34 Jahre langes gemeinsames Leben und vermittelte ihm damit noch einmal ihre ganze Liebe und Dank-barkeit. Das war Erinnerungsarbeit und gleichzeitig ein Aufarbeiten der Vergangenheit, eine Zusammenfassung des Lebens, um es abzuschließen. Während dieser Erzählung der Ehefrau entspannte sich Herr Basler zusehends, und als sie in ihrer Schilderung an diesem Abend angekommen war, machte Herr Basler noch zwei letzte sanfte Atemzüge.

In diesen letzten Tagen von Herrn Basler war seine jüngste Tochter nach einem anstrengenden Staatsexamen und der aufopfernden Pflege des Vaters für einige Tage zum Wandern weggefahren, um wieder „aufzutanken“. Sie sagte zu mir: „Beim Wandern kann ich meinen Stress am besten loswerden.“ Als sie weg fuhr, war nicht abzusehen, dass der chronisch kranke Vater in den nächsten Tagen sterben würde. So wanderte sie mit ihrem Lebenspartner über eine Bergroute, die sie mit den Eltern in früheren Jahren begangen und in sehr guter Erinnerung hatte. Von den einzelnen Gipfeln und besonders markanten und erinnerungsträchtigen Stellen brachte sie je einen Stein mit. Als sie wenige Stunden nach dem Tod des Vaters zu Hause eintraf, setzte sie sich zu ihm ans Bett, „erzählte“ ihm von der Wanderung und „zeigte“ ihm die Steine. Sie gab ihm die Steine mit ins Grab. Auch das ist eine besonders individuelle Art von liebevoller Trauerarbeit.

Bei vielen Menschen tauchen während einer Trauerfeier Assoziationen an andere Menschen, andere Trennungen und traurige Erlebnisse auf, die Gefühle wecken und von dem jetzt gerade Betrauerten ablenken. Dies kann zu einer sogenannten Nachtrauer füh-ren, die nichts anderes ist als eine verspätet aufgetauchte und deshalb immer noch nötige Form der Trauerarbeit. Das Unterbewusstsein schickt uns immer im richtigen Moment die richtigen Gedanken in Form von Bildern und Gefühlen. Das haben wir schon be-sprochen. Nehmen Sie es an. Es ist richtig.

Die bei uns üblichste Art der Erinnerungsarbeit sind die Trauerreden mit vielen Erinnerungen an den Verstorbenen. Bei dem „Leichenschmaus“ nach der Trau-erfeier wird in geselliger Runde die Erinnerung an das gemeinsame Leben mit dem Verstorbenen besprochen. Viele Erlebnisse werden noch einmal erzählt, und auf diese Art und Weise kehrt manchmal schon während der Kaffeerunde wieder ein gewisses Maß an Heiterkeit, Frohsinn und „normalem Leben“ in die Gesellschaft zurück.

Bei uns ist es auch üblich, die Toten auf dem Friedhof zu besuchen, am Grab in stillem Gedenken stehen zu bleiben und ihnen Blumen zu schenken und das Grab zu pflegen. Die Erinnerung, die wir mit Andenken an den Toten und seinen Bildern aufbewahren, spielt ebenso eine wichtige Rolle wie Reisen an Orte, die wir mit dem Verstorbenen erlebt haben.

In anderen Kulturen wie zum Beispiel in Japan wird jedes Jahr an einem bestimmten Tag am Grab ein Festessen mit den Lieblingsgerichten des Toten zelebriert. Der Tote wird in einem Ritual herbeigerufen und eingeladen, und es entwickelt sich eine gemeinsame Essenszeremonie.

Diese Erinnerungsarbeit ist auch wichtig, wenn wir uns von einem Lebenden trennen, zum Beispiel im Rahmen einer beendeten Liebesbeziehung, einer Scheidung, nach einer schönen Reise oder wenn wir uns von einer Wohnung, einem Land oder einer anderen wichtigen Gemeinschaft trennen. Die vielen Jahrgangstreffen der zahlreichen Gemeinschaften, die wir durchlaufen haben, sind typische Beispiele dafür.

32.4 Die Selbsthilfegruppen

Ich möchte Sie noch auf zwei Einrichtungen aufmerksam machen, bei der Sie als Patient und als Angehöriger Hilfe, Rat und Ansprache in Selbsthilfegruppen finden können.

Die vielen Selbsthilfegruppen in Deutschland werden organisiert und vernetzt von

NAKOS: Nationale Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen, Otto-Suhr-Allee 115 , 10585 Berlin, Telefon: (030)  31018960.
E-Mail: selbsthilfe@nakos.de
Internet: www.nakos.de. Foren: www.selbsthilfe-interaktiv.de. Junge Seite: www.schon-mal-an-selbsthilfegruppen-gedacht.de

Für die Region Stuttgart wenden Sie sich bitte an

KISS: Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen e.V. Stuttgart, Tübinger Str. 15, 70178 Stutgart, Telefon: (0711)  6 40 61 17. E-Mail: info@kiss-stuttgart.de. Internet: www.kiss-stuttgart.-de

Für fast alle Krankheiten und sozialen Notfälle und Randgruppen der Bevölkerung gibt es Selbsthilfegruppen. Ich zähle nur ein paar Themen auf, die zu unserem Buch passen:

Verschiedene Krebs-Selbsthilfegruppen,
Künstlicher Darmausgang
Patienten mit Transplantationen verschiedener Organe
alle Arten von Suchterkrankungen
Unfallopfer
Eltern von Drogenabhängigen
Co-Abhängigkeit (das ist die Abhängigkeit, einem Abgängigen / Süchtigen helfen zu müssen)
Schmerzpatienten
Telefonkette für alte Menschen
Tod eines Kindes
Tod eines Partners
Trauernde
Trennungskonflikte
Verwaiste Eltern.

Dies ist nur eine kleine Auswahl aus der sehr langen Liste von bestehenden Gruppen. Wenn ich Ihr Thema nicht aufgeführt habe, zögern Sie nicht, eine der beiden Kontaktstellen anzurufen, Ihr Problem zu schildern und nach Hilfe zu fragen.


Copyright Dr. Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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Die letzten Begegnungen

 

Wenn der Mensch nicht beizeiten von der Erde Abschied nimmt, so nimmt sie Abschied von ihm.

Friedrich Hebbel (1813-1863), deutscher Dichter

Ich freue mich auf IHN.

Meine ehemalige Deutschlehrerin im Sterben

Die größte Erfahrung, die wir machen können, ist die des Unfassbaren.

Albert Einstein (1879-1955) amerikanischer Physiker deutscher Abstammung,
1921 Nobelpreis für Physik

31.1 Erlebte Beispiele

Wenn es zu den letzten Tagen und Stunden kommt, bemerken wir oft, dass die Patienten noch einmal alle Kraft zusammennehmen, um ein bestimmtes Ereignis zu erleben: den Besuch eines wichtigen Menschen, einen Geburtstag, einen anderen bedeutenden Jahrestag oder einfach die Ankunft eines Menschen, in dessen Arm der Patient sterben will.

Ich erinnere mich an Herrn Hummel, einen Mann mit einem weit fortgeschrittenen Gehirntumor. Herr Hummel wollte noch seinen Geburtstag erleben, weil er hoffte, dass an diesem Tag alle seine Lieben und seine Geschäftskollegen kommen würden. Als ich am Abend des Festtages der letzte Gratulant in seinem Haus war, strahlte Herr Hummel: „Alle waren da, jetzt kann ich gehen!“ Er hatte den Tag mit aller Kraft außerhalb des Bettes verbracht, um, wie er sagte, „ein guter Gastgeber zu sein“.

An diesem Abend legte er sich erschöpft ins Bett, wurde in dieser Nacht tief bewusstlos und verstarb mit völlig entspannten Gesichtszügen zwei Tage später.

Herr Basler, den Sie schon kennen, hat sich noch den Besuch seiner Schwiegereltern und seiner Schwägerin aus einer weit entfernten Stadt gewünscht. Der Besuch war für das Wochenende angekündigt. Herr Basler konnte diese Begegnung am Freitag noch mit vollem Bewußtsein erleben und letzte Worte wechseln. Nachdem die betagten Schwiegereltern und die Schwägerin abends die Wohnung verlassen hatten, trübte sich das Bewusstsein von Herrn Basler zunehmend ein, und er starb am folgenden Abend.

Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang noch einmal an Frau Münchinger im Altenheim erinnern, die erst sterben konnte, als die Freundin kam und sagte: „Jetzt bin ich da!“

Der Mann meiner Patentante hatte nach einem Leben mit hohem Zigarettenkonsum einen Lungenkrebs entwickelt und sagte zu seiner Frau bei noch relativ gutem Allgemeinzustand vier Wochen vor seinem 77. Geburtstag: „Ich werde meinen Geburtstag nicht erleben, ich spüre das.“

Seine Verfassung verschlechterte sich in den darauf folgenden Wochen sichtbar. Als er schließlich zu Hause bettlägerig war und in seinen letzten beiden Lebenstagen auch nur noch sehr verwaschen sprechen konnte, fragte meine Tante ihn, ob er eine Krankensalbung haben wolle. Er wurde sofort lebhaft und nickte. Während der Pfarrer noch am selben Tag die Zeremonie zelebrierte, nahm mein Onkel emotional intensiv am Geschehen teil. Es war ihm offensichtlich sehr wichtig.

Am nächsten Tag betete die Krankenschwester vom Sozialdienst der Gemeinde nach der Pflege wie immer noch ein Vaterunser für den kaum mehr ansprechbaren Mann. Da sagte dieser plötzlich und völlig unerwartet nach dem „Amen“ ganz deutlich und laut „Ja!“ Amen heißt auf hebräisch so sei es! Das Ja! war sein Einverständnis, und ich gehe davon aus, dass er das Vater-Unser verstanden und mit seinem eigenen Ja! bekräftigt hat. Dieses Ja! war sein letztes Wort.

Als die Schwester die Wohnung des Kranken verließ, riet sie meiner Tante, sie solle sich jetzt doch endlich auch zu Bett legen und ausruhen, sie habe schon zwei Tage und Nächte am Bett ihres Mannes gesessen, er werde jetzt ruhig schlafen. Aber meine Tante fühlte sich magisch in das Krankenzimmer gezogen und setzte sich ans Bett neben ihren schlafenden und sterbenden Mann. Sie bemerkte sein Röcheln und konnte innerhalb der nächsten Minuten bei ihm sein, während er sanft am Tag vor seinem Geburtstag für immer einschlief.

Ich bin sehr sicher, dass all diese Ereignisse keine Zufälle sind. Viele Menschen, mit denen ich über dieses Thema gesprochen habe und die Erfahrung mit Sterbenden haben, kennen solche Zusammenhänge zwischen einer letzten Begegnung und dem endgültigen Loslassen.

Auch umgekehrte Beispiele sind bekannt: Der Patient schickt den geliebten Menschen unter einem Vorwand aus dem Zimmer, um alleine sterben zu können und so diesem Menschen diese letzten Minuten zu ersparen.

Während meiner Zeit als Assistenzarzt in der Kinderklinik habe ich ein sterbendes Kind erlebt, das seine Mutter ein Stockwerk tiefer zum Krankenhauskiosk geschickt hat, um etwas einzukaufen. Als die Mutter nach fünf Minuten zurückkam, war das Kind tot.

Es gibt auch andere Berichte, wo Kinder ihre Eltern zu einem Spaziergang oder ins Bett schicken, sie also bewusst in Sicherheit wiegen, um dann allein hinüberzugehen.

Wenn wir den Ort für diese letzten Begegnungen und den Übergang wählen können, sollten wir darauf achten, möglichst in einer für den Sterbenden beruhigenden und vertrauten Umgebung zu sein. Das Badezimmer oder die Abstellkammer als Sterbeort in der Klinik sind traurige und wirklich vorkommende Beispiele, wie man es nicht machen sollte. Das Wohnzimmer oder Schlafzimmer der eigenen Wohnung sind gute Räume. Aber, bitte, schalten Sie den Fernseher ab!

In der Klinik kann man den Sterbenden mit den Angehörigen im Zimmer lassen. Da ist es angemessener, den Bettnachbarn, dem es besser geht, solange in ein anderes Zimmer zu verlegen, bis der Tote in aller Ruhe und Würde umsorgt, gewaschen, gekleidet, be-trauert, verabschiedet und aus dem Raum gebracht ist.

Ich habe Vorbildliches im Ev. Bethesda-Krankenhaus in Essen gesehen. Dort hat der frühere Ärztliche Direktor und Chefarzt der Frauenklinik, Herr Dr. Pomp, ein besonderes Appartement am Ende eines Flures eingerichtet, das mit Pastellfarben und sehr wohnlich gestaltet ist. Hier dürfen Angehörige mit den Patienten die letzten Stunden verbringen. Die beiden Räume sind ohne Türe so abgeteilt, dass die Angehörigen sich auch zeitweise in den „Wohnraum“ zurückziehen können.

Dr. Pomp hatte ebenfalls die Idee, einen vom Bettenhaus her nicht einsehbaren kleinen Gartenteil vorzusehen, damit Angehörige bei schönem Wetter mit ihrem sterbenden Familienmitglied in der Natur sein können. Dieser Platz ist über eine kleine Rampe mit dem Bett erreichbar, an einem Seitenausgang gelegen und gewährleistet eine sehr private Atmosphäre. Dr. Pomp hat mir erzählt, dass er mehrfach erlebt hat, wie Patienten ganz friedlich unter dem Baum beim Gesang der Vögel verstorben sind. Für unsere sogenannten zivilisierten Verhältnisse ist das ungewöhnlich, aber wenn wir’s genau überlegen, ist der Tod in der Natur ganz natürlich. Ich denke, dass es für naturverbun-dende Menschen kein besseres Symbol unserer Zugehörigkeit zur Natur gibt, als in ihrer Mitte zu sterben.

31.2 Eine empfehlenswerte Grundregel

Bitte nehmen Sie als Leithilfe für den Umgang mit älteren und sterbenden Menschen diesen Satz von Naomi Feil, einer amerikanischen GerontologinFN1, mit in Ihren Alltag:

Akzeptieren Sie, dass betagte Menschen sich bemühen, auf ihre Weise mit ihrem Leben ins Reine kommen. Hören Sie zu, urteilen Sie nicht, und geben Sie keine guten Ratschläge. Zollen Sie ihnen Respekt, bewahren Sie ihnen ihre Würde, und verhelfen Sie dazu, in einem aufgeräumten Haus jedem seinen eigenen Tod zu ermöglichen.FN2


FN1  Gerontologie: Die Wissenschaft vom alten Menschen

FN2 Jahresbericht 1996 der Samariterstiftung

Copyright Dr. Weller

Dieser Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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Die drei seelischen Stadien des Todes

 

Der Tod ist kein schreckliches Ereignis. Wenn wir wissen, was dabei geschieht, können wir uns darauf freuen.

Elisabeth Kübler-Ross, amerikanische Psychiaterin schweizerischer Abstammung, Begründerin der psychologisch-medizinischen Erforschung der Nahtodes-Phänomene

Sollte es drüben nicht auch einen Tod geben,  dessen Resultat irdische Geburt wäre. Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch, wenn der Mensch stirbt, wird er Geist.

Novalis (1772-1801), eigentlich Friedrich von Hardenberg, deutscher Dichter

30.1 Allgemeine Bemerkung

Übereinstimmende und dokumentierte Forschungsergebnisse an über 40.000 reanimierten oder spontan zum Leben zurückgekehrten Menschen aus aller Welt haben bewiesen, dass es drei Stufen des Todes gibt.

In der ersten Stufe ist das Wachbewusstsein nicht mehr vorhanden, aber es bestehen noch Hirnfunktionen. Wenn die Hirnfunktionen durch die starken Hirnschädigungen aufhören, beginnt die zweite Stufe. Die Seele erhebt sich aus der körperlichen Hülle und schwebt über dem körperlichen Geschehen. Der vorher durch Unfall oder Krankheit verletzte Körper wird wieder als vollständig intakt erlebt. Dabei ist auffallend, dass Menschen, die im Leben Glieder amputiert hatten, in dieser Phase des Sterbens wieder alle Extremitäten haben und sich als ganz erleben. Ebenso können Blinde wieder sehen, Stumme sprechen und Taube wieder hören. Der Mensch hat keine Schmerzen mehr.

Die Seele beobachtet und hört alles und kann nach der Reanimation das gesamte Geschehen erzählen, auch die Gedanken und Aussagen der Beteiligten bis hin zur Autonummer des fahrerflüchtigen Autos bei einem Verkehrsunfall. Solche Ereignisse sind sehr zahlreich in der Literatur von betroffenen Opfern beschrieben. Ich verweise nur auf das lesenswerte autobiografische Buch von Stefan von Jankowitsch: „Ich war klinisch tot“ 74, in dem der Autor nachweislich richtig schildert, wie er nach einem Verkehrsunfall auf der Straße wiederbelebt wurde und was er dabei erlebt hat.

In diesem zweiten Stadium ist die Seele in vollständigem Frieden. Wunderschöne Klänge und wohltuendes, absolut helles Licht umfassen den Menschen. Dieses Lichterlebnis wird von vielen Menschen als tunnelartig beschrieben. Sie gehen auf ein immer heller und wärmer leuchtendes Licht zu, als ob sie in ein Tunnel hineingingen.

Das Tibetische Totenbuch sagt dazu: „Fürchte nicht das helle Licht. Verschmilz mit ihm, und erschrick nicht vor seinem Glanz.“

Und der Prophet Jesaja stimmt zu75: „Mache dich auf und werde Licht!  Denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir!“

Besonders beeindruckend sind bei den Berichten der Wiederbelebten, die ein Lichterlebnis hatten, die Intensität und Wärme, die von diesem Licht ausgestrahlt werden. Und fast alle erzählen von einer unfasslich großartigen Liebe, die von diesem Licht ausgeht, einem unvorstellbaren Glücksgefühl. Die damit verbundene Harmonie und Geborgenheit sind in diesem Ausmaß ihren Schilderungen nach im diesseitigen Leben nicht erlebbar.

Das führt auch dazu, dass diese Menschen nicht mehr zurückwollen ins hiesige Leben und meist nur wegen Pflichtgefühlen oder dem Zuspruch der Menschen, die ihnen in dieser Welt begegnen, sich zu einer Rückkehr entschließen. Wenn sie dann wieder ganz am alltäglichen Leben teilnehmen und sich trauen, über ihre Erlebnisse zu sprechen, bekennen sie, dass sie sich auf ihr nächstes und hoffentlich letztes Lichterlebnis freuen. Durch die Begegnung mit dem Licht verlieren die Menschen ihre Angst vor dem Tod, weil sie am eigenen Leibe gespürt haben, was wirklich geschieht. Und nur das ist wirklich gegen alle Glaubens- und Vernunftargumente überzeugend!

Frau Schweizer, eine meiner alten und schwer asthmakranken Patientinnen hatte den ausdrücklichen und testamentarisch festgelegten Wunsch, nicht reanimiert zu werden. Das wussten auch die Klinikärzte, weil ich es ausdrücklich in roter Farbe auf den Einweisungsschein geschrieben und dem behandelnden Arzt gesagt hatte. Als sie in der Klinik beim Gang zur Toilette bewusstlos wurde, löste die Bettnachbarin einen Alarm aus. Die Schwestern rannten herbei und reanimierten Frau Schweizer mit dem Stationsarzt zusammen.

Als ich am darauf folgenden Tag zum Besuch in die Klinik kam, war Frau Schweizer sehr böse auf die Ärzte und erzählte: „Mir wurde schwarz vor Augen, und dann begann ein herrliches Licht zu leuchten, und vor mir tauchte die schönste und größte Treppe auf, die ich je gesehen habe. Ich war eingehüllt in die wunderbarste Musik, die es auf Erden gar nicht gibt, und oben an der Treppe stand eine helle Gestalt, die ich nicht kannte, in einem wallenden Gewand und lud mich mit unendlicher Liebe ein: ‚Komm zu mir!‘ Ich ging langsam und ganz selig die ersten Stufen hinauf. Da krachte es in mir, und ich wachte hier im Bett auf. Warum durfte ich denn diese herrliche Treppe nicht hinaufgehen?“

Ich erkannte rasch, dass das Krachen nichts anderes als die Folgen der Wiederbelebung war, bei der die Ärzte fünf Rippen gebrochen hatten. Es gelang mir nicht, Frau Schweizer zu besänftigen. Ich muss gestehen, dass auch ich wütend war über die Reanimation, wenn ich auch genau weiß, wie rasch eine solche Wiederbelebung begonnen wird, ohne lang zu fragen, ob der Patient das wünscht oder nicht. Es gehört schon sehr viel innere Stärke dazu, bei einer unheilbaren und sehr weit fortgeschrittenen Krankheit und dem ausdrück-lichen Wunsch des Patienten, auf die Reanimation zu verzichten, nicht zu reanimieren und das Sterben dieses Menschen auszuhalten! Vielleicht waren Schwe-stern und Ärzte anwesend, die von Frau Schweizers Wunsch nichts wussten. Und man hätte es ja den Mitpatienten lang erklären müssen, wenn das Pflegepersonal untätig geblieben wäre. Der Vollständigkeit halber will ich berichten, dass Frau Schweizer anschließend in eine Spezialklinik kam, wo sie noch zweimal wiederbelebt wurde, bis sie schließlich ihre Treppe endgültig empor gehen durfte.

Der Sterbende wird in diesem zweiten Stadium von einem oder mehreren Menschen abgeholt, die ihn während des Lebens begleitet haben und ihm besonders lieb waren. Zeit und Raum spielen keine Rolle mehr. Deshalb kann er auch von einem Menschen begrüßt werden, der vor wenigen Minuten auf der anderen Seite der Erde gestorben war und von dessen Tod der Sterbende nichts wusste. Solche Fälle sind sorgfältig erforscht und dokumentiert.

Viele Menschen berichten aus diesem Stadium, dass sie in enormer Klarheit einen kurzen und außergewöhnlich gefühlsintensiven Rückblick über ihr bisheriges Leben erfahren. Dabei erkennen sie die Empfindungen und Gedanken, die sie bei anderen Menschen ausgelöst und die zu deren Verhalten geführt haben.

Das schafft eine neue und sehr verständnisvolle Perspektive für das Leben nach der Wiederbelebung und erklärt, warum diese Menschen anschließend mit völlig verändertem Weltbild und anderer Einstellung sich ihren Mitmenschen gegenüber verhalten. Maßstäbe und Werte werden grundlegend neu geprägt, obwohl das Nahtodes-Erlebnis nur sehr kurz abläuft. Diese Erfahrungen sind so tiefgreifend und überzeugend, dass sie nie wieder verloren gehen oder vergessen werden.

In diesem Stadium ist die Seele noch mit einer silbernen Nabelschnur mit der körperlichen Hülle verbunden. Das ermöglicht eine Rückkehr in den Körper. Die Seele kann sich noch entscheiden, ob sie zum Leben zurückkehren will oder nicht.

Leider sind die meisten Ärzte ausbildungsbedingt blind für solche Nahtodes-Erlebnisse, bis sie selbst das Licht erleben wie der amerikanische Psychiater Ron Smothermon. Er berichtete auf einem Seminar, an dem ich selbst teilnahm, das folgende Erlebnis: Er wurde von einem schizophrenen Patienten im Verfolgungswahn überfallen und mit einem Messer niedergestochen, ehe er sich wehren konnte. In der Bewusstlosigkeit erlebte er in der zweiten Phase seines Todes eben diesen unendlichen Frieden mit der wunderbaren und zeitlosen Sphärenmusik. Dabei hörte er eine ungewöhnlich sanfte Stimme, die ihn fragte, ob er hinübergehen oder noch Aufgaben auf der Erde erledigen wollte. Er entschloss sich zum „Bleiben“, wurde gefunden, operiert und gerettet. Heute schreibt er großartige Bücher76 und veranstaltet beeindruckende Seminare rund um die Welt.

Das Bild der Nabelschnur kennen wir auch von den zahllosen Berichten aus der östlichen Literatur, in denen Menschen von außerkörperlichen Reisen berichten. Dabei können sie in tiefer Meditation absichtlich ihren Körper verlassen und an jeden Punkt des Univer-sums reisen. Sie bleiben mit einer silbernen Nabelschnur mit ihrer körperlichen Hülle verbunden. Bei einer Durchtrennung der Nabelschnur ist eine Rück-kehr nicht mehr möglich. Dann ist die Seele losgelöst von ihrem bisherigen Körper. Das ist die dritte Stufe. Der Patient ist tot.

Vielleicht kann man die Nahtodes-Erlebnisse als Blick ins Jenseits deuten, der uns vorbereiten soll. Ein Beweis für eine Reinkarnation, also eine Wiederkehr der Seele in einem anderen Körper, sind sie nicht.

30.2 Die Forschungsergebnisse von Dr. med. Melvin Morse

Je größer die Ignoranz,  desto größer der Dogmatismus.

Sir William Osler (1849-1919), kanadischer Internist

Der amerikanische Kinderarzt Dr. Melvin Morse hatte eine typische schulmedizinische Ausbildung hinter sich, arbeitete als junger Stationsarzt in einer Kinderklinik und beschäftigte sich mit Studien über die neurologischen Folgen von krebsreduzierenden Medikamenten. Da wurde er durch die Todesnähe-Erfahrung eines wiederbelebten Kindes auf die Phänomene aufmerksam, die im Tod ablaufen. Sein Interesse war ge-weckt, und er begann eine sorgfältige Studie, die grundlegende Beiträge zu unserem Verständnis des Todes lieferte. Ich will im folgenden diese Ergebnisse zusammenfassen, die er in seinem beeindruckenden und spannenden Buch „Zum Licht“77 darstellt.

Er bildete mit einem Gremium von erfahrenen Spezialisten zwei Gruppen von Kindern. In der erstes Gruppe sammelte er über 100 Kinder, die durch einen Herzstillstand „gestorben“ sind und wiederbelebt wurden. In der zweiten Gruppe stellte er 121 Kinder zusammen, die schwer krank aber nicht in akuter Lebensgefahr waren. Er formulierte sorgfältig überlegte und offene Fragen an die Kinder über die Ereignisse, die um die Zeit der Wiederbelebung beziehungsweise bei der anderen Gruppe in einer schwierigen Krankheitsphase geschehen waren. Die Fragen legten seine eigentliche Absicht, genaueres über die Todesnähe-Erfahrungen zu erfahren, nicht offen und beeinflussten die Kinder nicht, in eine bestimmte Richtung zu antworten. Die Studie, die über mehrere Jahre lief, wurde auch unter statistischen Gesichtspunkten äußerst sorgfältig geführt. Die Ergebnisse waren eindeutig.

Von den 121 schwer kranken Kindern hatten 118 überhaupt keine Nahtodes-Erfahrungen! Die restlichen drei Kinder hatten von Monstern in weißen Kleidern ge-träumt. Die schwer kranken Kinder konnten teilweise Phantasien und Visionen erzählen, die sich aber grundlegend von den Todesnähe-Berichten unterschieden. Dagegen berichteten fast 70 Prozent der Kinder mit einem Herzstillstand die Vision, den Körper verlassen zu haben und durch andere Welten zu schweben!

Nur Menschen, die einen Herzstillstand erlebt hatten, also nach unserem herkömmlichen Verständnis tot waren, konnten Todesnähe-Erfahrungen berichten. Die Todesnähe-Erfahrungen haben folgende gemeinsame Merkmale: das Verlassen des Körpers, die Reise durch eine Art Tunnel, das Lichterlebnis, das Zusammen-treffen mit Verstorbenen, die Begegnung mit einem Lichtwesen, die Rückschau auf das eigene Leben und manchmal der bewusste Entschluss, zum Leben zurückzukehren.

Nicht alle Merkmale wurden von jedem Kind berichtet. Zum Beispiel fand Dr. Morse heraus, dass kleine Kinder keinen Lebensrückblick empfinden, wahrscheinlich deshalb, weil sie noch kein langes Leben hinter sich haben.

Fast alle Wiederbelebten konnten detailliert schildern, was im Moment des Todes mit ihnen geschah und was sie sahen und hörten: die Menschen um sie herum, Einrichtungsgegenstände in Räumen, in die sie gebracht wurden, Wortwechsel unter den Ärzten und Schwestern, Farben und Geräte, die sie nur in diesem Zustand erlebt haben konnten. Sie berichteten übereinstimmend, dass sie über der Szene schwebten, in sich ruhten und die Hektik und Panik aller Beteiligten deutlich wahrnehmen konnten. Viele der „toten“ Menschen erlebten auch Szenen außerhalb des Hauses und konnten bei ihrem „Flug“ zum Beispiel Dinge an der Außenfassade entdecken und beschreiben, die bei genauem Nachprüfen als real vorhanden bestätigt wurden.

Eine Patientin berichtete zum Beispiel, dass sie bei Ihrem „Flug“ ums Krankenhaus einen Schuh auf einem ganz genau lokalisierbaren Mauerabsatz hinter einem Eck im fünften Stock gesehen hatte. Die Therapeutin suchte den Schuh und fand ihn nicht vor dem Fenster. Die wiederbelebte Patientin bestand darauf, dass der Schuh ums Eck herum liege und die Therapeutin dort suchen solle. Dann kroch die Therapeutin hinaus und fand den Schuh genau an der beschriebenen Stelle!

Kein einziger Patient machte Fehler bei der Beschreibung der Abläufe während der Wiederbelebung! Und alle Patienten konnten sehr genau viele Einzelheiten richtig schildern, die sie in den Räumen gesehen hatten, in die sie zur Wiederbelebung gebracht worden sind und die sie nie vorher und nicht nachher gesehen hatten.

Auch kleinste Kinder machen diese Nahtodes-Erfahrungen! Ein Junge erlebte im Alter von neun(!) Monaten einen Herzstillstand und wurde wiederbelebt. Im Alter von drei Jahren erzählte er von seinem Lichterlebnis, das er damals hatte. Dieses Kind krabbelte in einen Tunnel, war glücklich im Licht und konnte Riesensprünge machen. Das ist besonders wichtig, weil wir Eltern, die ein kleines Kind verlieren, mit solchen Berichten in ihrer Trauer trösten können. Offensichtlich sind die Nahtodes-Erlebnisse unabhängig vom Alter, in dem sie stattfinden.

Dr. Morse konnte die Theorie widerlegen, nach der die Todeserfahrungen auf Einflüsse von Medikamenten oder Schlafentzug zurückzuführen seien. Die psychischen Empfindungen, Halluzinationen und Phantasien durch Medikamente und Drogen sind grundlegend anders als die Nahtodes-Erlebnisse.

Fast alle Kinder berichteten im Rahmen ihrer Nahtodes-Erlebnisse von dem wunderbaren Licht, während nur ein Viertel der Erwachsenen diesen Eindruck empfand. Die meisten Menschen beschrieben dieses Licht als „reines“ Licht, als „all-wissend“, „all-vergebend“, „all-liebend“.

Die Patienten in der Studie wurden zehn Jahren später noch einmal befragt. Dabei stellte sich heraus, dass diese Licht-Erfahrung offensichtlich ein Schlüsselerlebnis darstellt und von allen Patienten als besonders eindrucksvoll und prägend empfunden wurde. Mit eingehenden Studien, Befragungen und Nachforschungen kam Dr. Morse zu dem Schluß, dass dieses Licht tatsächlich außerhalb unseres Körpers existiert.

Bei dieser zweiten Befragung zeigten die Patienten auch andere auffallende Gemeinsamkeiten: Es gab weder Drogenmissbrauch noch Experimente mit Drogen. Die jungen Patienten lehnen sich selten gegen Autoritäten auf und hatten keine frühen Schwangerschaften. Obwohl sie alle zu der Studie wegen ihres Herzstillstandes ausgesucht worden waren und deshalb mit einer Häufung von neurologischen Schädi-gungen gerechnet wurde, entwickelten sie sich äußerst positiv. Sie bekamen gute Schulnoten und verhielten sich rücksichtsvoll und beherrscht.

Wichtig ist es zu wissen, dass Eltern, die in Kind verloren haben, häufig in den sechs Wochen nach dem Tod des Kindes noch seine Stimme hören. Das ist offensichtlich normal und keine krankhafte Halluzination und kein Zeichen einer Schizophrenie, wie es oft von Ärzten behauptet wird. Wenn man diese Zusammenhänge erklärt, können sie für die Eltern sehr tröstend wirken.

Karlis Ossis und Erlendur Haraldson sind zwei Psychologen, die Erfahrungen von Todesvisionen gesammelt haben. Diese Visionen vom nahenden Tod wer-den vom Sterbenden ohne Herzstillstand in vollem Bewusstsein als äußerst reales Ereignis erlebt. Die beiden Forscher konnten durch eingehende Untersuchungen zeigen, dass die Patienten oft Gott, Engel, verstorbene Verwandte oder Bilder vom Himmel sehen. Die Visionen überlagern die Wirklichkeit unserer Wahrnehmung oder bilden einen Teil der Wirklichkeit am Bett des Kranken. Diese Visionen haben sehr viele Gemeinsamkeiten mit den Todesnähe-Erfahrungen eines „Toten“, der wiederbelebt wird.

Wenn Patienten solche Visionen berichten, unter-drücken Ärzte oft diese Empfindungen mit Medikamenten oder tun sie als „schlechte Träume“ ab, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. In der Ausbildung haben sie es nicht anders gelernt. Diese Visionen haben aber einen erleichternden und tröstenden Effekt, wenn man sie ernst nimmt. Die Familie kann ihre Trauer mildern, denn der Patient zeigt in diesen oft von ihm als sehr befreiend erlebten Momenten, dass er bereit ist zu gehen und Kontakt mit dem Jenseits aufgenommen hat.

Es ist auch deshalb unerlässlich wichtig, als Arzt und Angehörige den Sterbenden zuzuhören und „gefährliche Themen“ nicht zu vermeiden, nur weil wir nicht wissen, wie wir mit unserer Angst und unserem Unwissen umgehen können. Dr. Morse hat festgestellt, dass besonders Kinder es vermeiden, über den Tod zu sprechen, weil sie erkennen, dass sie weniger Besuch bekommen, wenn sie Fragen stellen. Auch er bestätigt in seinem Buch, dass bei einem Menschen, von dem man annimmt, dass er bald sterben wird, die Anzahl der Besuche und der Telefonate abnimmt und die Gespräche kürzer und belangloser werden.

Der amerikanische Neurochirurg Dr. Wilder Penfield konnte bereits in den vierziger Jahren nachweisen, dass an einer bestimmten Stelle in unserem Gehirn der genetisch festgelegte Ort für die Todesnähe-Erfahrungen sitzt. Wenn man bei einer neurochirurgischen Operation mit einer Elektrode die Fissura Sylvii reizt, einen Bereich um den rechten Schläfenlappen, der genau hinter dem rechten Ohr liegt, berichtet der Patient, dass er „aus seinem Körper austritt“.78 Viele Menschen erzählten spontan auch andere Merkmale der beschriebenen Todesnähe-Erfahrungen.

Das sogenannte Ammonshorn ist eine Hirnregion, die unmittelbar mit dieser Fissura Sylvii verbunden ist. An dieser Stelle werden alle Hirnaktivitäten gesammelt, kontrolliert und koordiniert. Hier wird entschieden, welche Informationen zielgerichtet mit Reaktionen beantwortet werden sollen. Das Ammonshorn enthält unsere unbewussten Wünsche und unsere Fähigkeit zu träumen. Der Zusammenbruch der Sehfähigkeit, an den sich die Tunnel-Erfahrung anschließt, erfolgt im Hinterhauptlappen, der ebenfalls eng mit dem Ammonshorn und der Fissura Sylvii verbunden ist. Alle Erfahrungen, die wir als Todesnähe-Erlebnisse bezeichnen, bilden einen Teil unserer genetischen Veran-lagung und sind fest in diesen Hirnstrukturen in uns verankert.

Die Forschungsergebnisse von Dr. Morse und Dr. Penfield wurden weltweit unabhängig voneinander bestätigt. Obwohl die Arbeiten von Dr. Morse nach Bekanntwerden seiner unerwarteten Ergebnisse von der offiziellen Studiengeldvergabestelle nicht weiter unterstützt, sondern erheblich behindert wurden, führte er seine Studien fort und bekam schließlich den National Service Research Award, einen hoch ange-sehenen Forschungspreis.

 


74 Drei Eichen Verlag

75 Kapitel 60, Vers 1

76 Eines der fesselndsten und grundlegenden Bücher von ihm ist für mich „Drehbuch für das Leben“, Context-Verlag.

77 Zweitausendeins-Verlag, Frankfurt am Main

78 Es ist mit speziellen Narkoseverfahren möglich, solche Operationen bei vollem Bewusstsein des Patienten und völliger Schmerzfreiheit durchzuführen, um Reaktionen des Patienten zu testen. Das Gehirn selbst ist nicht schmerzempfindlich.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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Die fünf seelischen Stadien des Sterbens

Wohin gehen wir? Immer nach Hause.

Novalis (1772-1801), eigentlich Friedrich von Hardenberg, deutscher Dichter

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Joseph Eichendorff (1788-1857), deutscher Dichter, in „Mondnacht“

Das Leben ist nur ein Moment. Der Tod ist auch nur einer.

Friedrich Schiller (1757-1805), deutscher Dichter, in „Maria Stuart“

29.1 Einleitung

Wir haben es Elisabeth Kübler-Ross zu verdanken, dass sie in ihrer Arbeit die verschiedenen Stadien beschrieben hat, die sterbende Menschen durchleben. Sie hat in ihren Büchern bewegende Beispiele dafür dokumentiert und erzählt. Ich kann nur eigene Beobachtungen beitragen, die ihre Erkenntnisse bestätigen. Interessant ist, dass auch die Angehörigen diese Stadien mehr oder weniger intensiv durchlaufen, wenn sie einem Sterbenden nahestehen. Lesen Sie also bitte die folgenden Beschreibungen sowohl aus der Sicht des Patienten als auch des Angehörigen, der sich auf seine Rolle als Begleiter und auf den Tod des Patienten einstellen muss. Alle Menschen durchleben diese Stadien, wenn auch in verschiedener Intensität und Geschwindigkeit.

29.2. Das 1. Stadium: Die Verweigerung: „Nein, ich nicht!“

 

Der Furchtsame erschrickt vor der Gefahr, der Feige in ihr, der Mutige nach ihr.

Jean Paul, eigentlich Johann Paul Friedrich Richter, (1763 -1825), Theologe und Philosoph

Die Patienten lehnen die Diagnose für ihre Person ab, indem sie zum Beispiel gar nichts tun oder behaupten, die Gewebebefunde des Krebses oder die Röntgenaufnahmen seien vertauscht worden. Oder sie beschuldigen den Arzt, er sei unqualifiziert und habe eine falsche Diagnose gestellt. Oder sie verhindern auf andere Art und Weise angemessene Konsequenzen auf die Diagnose, indem sie diese zum Beispiel für „unnötig“ halten oder vergessen. Dabei ist wichtig zu wissen, dass Vergessen in solchen Fällen keine Fehlleistung unseres Gehirns darstellt, sondern eine aktive Leistung des Unterbewusstseins ist, die der Patient unbewusst und sehr wirksam im Moment zum eigenen Schutz aufbaut. Andere Patienten verharmlosen den Befund und sagen: „Das kann nicht schlimm sein! Es wird wieder besser.“

Achim Krüger hat nach Tasten seines Tumors in der Kniekehle die Entfernung und Gewebeuntersuchung über ein Jahr lang nicht durchführen lassen, obwohl sein Arzt es ihm dringend angeraten hat. In der therapeutischen Arbeit konnte er erkennen, dass dies ein Verdrängungsmechanismus seines Unterbewusstseins war, um sich einerseits nicht mit seinem Konflikt beschäftigen zu müssen, andererseits um der ersehnten Krankheit genügend Zeit zur tödlichen Entwicklung zu geben.

Alle diese Verhaltensweisen dienen der Verdrängung der Tatsache, die der Patient im Moment nicht wahrhaben will, weil sie schrecklich und für ihn unerträglich erscheint. Das Unterbewusstsein braucht Zeit, sich darauf einzustellen.

29.3 Das 2. Stadium: Zorn und Ärger: „Warum ich?“

Das, was dem Leben Sinn verleiht, gibt auch dem Tod Sinn.

Antoine de Saint-Exupèry (1900-1944), französischer Schriftsteller und Flieger, bei einem Aufklärungsflug abgestürzt

Jetzt hat der Patient die Diagnose akzeptiert und ist wütend, dass es gerade ihn getroffen hat. Sein Überlebenswille rebelliert gegen das Urteil.

Achim Krüger brachte seinen Zorn zum Beispiel in den folgenden Sätzen zum Ausdruck: „Ich will nicht vernichtet werden! Ich hasse den Krebs! Ich lasse es nicht zu, dass der Krebs mich vernichtet! Diese Strafe habe ich nicht verdient! Der Krebs darf mich nicht hindern, meine Aufgaben noch zu erledigen! Ich will diese guten Wünsche nicht mehr hören! Wo bleibt die Gerechtigkeit, die Gott immer zugeschrieben wird?!“

Dazu sagt Elisabeth Kübler-Ross: „Gott kann den Zorn aushalten.“ Deshalb ist es auch nicht nötig, den Patienten zum Beispiel mit Schuldgefühlen davon abzuhalten, mit seinem Herrgott zu rechten. Denn Gott hat den Menschen so geschaffen, wie er lebt, und ER liebt ihn auch so. ER kann ihn so annehmen, wie er ist. Nur uns fällt es oft so schwer, uns selbst anzunehmen.

Dabei erscheint es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass Krankheit keine Strafe ist, sondern die Konsequenz aus Ursache und Wirkung und nichts mit irgendwelchen moralischen oder religiösen Wertvorstellungen zu tun hat. Krankheiten sind keine Zufälle, sondern folgen den Naturgesetzen auch dann, wenn wir diese noch nicht genau genug kennen, um sie detailliert zu beschreiben.

Abgesehen davon bin ich der festen Überzeugung, dass es keine Zufälle gibt. Zufälle fallen uns zu, wenn sie fällig sind. Vielleicht ist der Zufall ein Trick Gottes, um unerkannt zu bleiben. Jede Ursache hat eine Wirkung, und jede Wirkung hat eine Ursache. Das ist auch dann richtig, wenn wir die Ursache nicht kennen oder nicht wahr-haben wollen.

Dr. Edward Bach hat das zusammengefasst:

„Krankheit ist weder Grausamkeit noch Strafe, sondern einzig und allein ein Korrektiv, ein Werkzeug, dessen sich unsere Seele bedient, um uns auf unsere Fehler hinzuweisen, um uns vor größeren Irrtümern zurückzuhalten, um uns daran zu hindern, mehr Schaden anzurichten, und uns auf den Weg der Wahrheit und des Lichtes zurückzubringen, von dem wir nie hätten abkommen sollen.“

Die Krankheit wird nur von denen als Strafe dargestellt und mit Schuldgefühlen verbunden, die daraus Macht gewinnen wollen, um eigene Machtinteressen durchzusetzen. Oder sie leben unbefreit selbst unter dem Diktat der Schuldzuweisung.

Die Patienten können dazu hingeführt werden, hinter der Erkrankung einen Sinn zu erkennen. Wenn sie der Meinung sind, einem Zufall ausgeliefert zu sein, fühlen sie sich viel mehr als Opfer, als wenn sie erkennen, dass sie selbst dafür verantwortlich sind. Wenn ein Mensch seine Verursacherrolle erkennt, lernt er auch, dass er allein etwas zu seiner Heilung tun kann und niemand anders. In der Bibel steht: „Ich will keine Opfer, ich will Barmherzigkeit.“ Wir alle sollten aus unserer Opferrolle heraustreten und gütiger und selbstverantwortlicher mit uns selbst umgehen.

Die psychosomatischen Zusammenhänge können erarbeitet werden, wenn der Patient dazu bereit ist. Dazu gibt es eine Fülle von guter Literatur. Diese Verknüpfungen können taktvoll erfragt und erspürt werden. Es darf dem Patienten nichts aufgedrängt werden. Das würde zu viel Aggression und mangelnde Mitarbeit bewirken. Wir können mit dem Patienten nur so weit gehen, wie er bereit ist. Und um ihn überhaupt ein Stück seines Weges zu begleiten, müssen wir ihn treffen, wo er sich geistig-seelisch befindet. Von dort beginnt der gemeinsame Weg, oder er ist nicht gemeinsam.

Wenn der Patient durch genügend Leidensdruck und reifere Erkenntnis sich intensiver mit den inneren Zusammenhängen seiner Erkrankung beschäftigen will, können Sie ihm helfen, einen kompetenten Gesprächspartner zu finden. Wichtig ist, dass die Initiative vom Patienten ausgeht. Nur so kann die Motivation ausreichen, die nötig ist für eine erfolgreiche Therapie und Reifung.

29.4 Das 3. Stadium: Verhandeln: „Ja, ich, aber …!“ 

Gott kommt nicht, wenn wir es wollen. Aber er kommt rechtzeitig.

Tennessee Williams (1914-1983), amerikanischer Dramatiker

Der Patient versucht, mit Gott oder einer anderen höheren Macht, an die er glaubt, oder mit Menschen darüber zu verhandeln, was er tut, wenn er gesund wird. Er bietet bestimmte Handlungen, Gebete, Veränderungen der Lebensweise und gute Taten als Gegenleistung für seine Gesundheit an. Elisabeth Kübler-Ross sagt dazu: „Diese Versprechen werden nie gehalten.“

Achim Krüger zeigte diese Einstellung so: „Ich will lernen, ohne diese Krankheit zu leben! Ich will mich in Zukunft mehr für meine Familie einsetzen!“ Andere Patienten versprechen, ihr Vermögen einer kirchlichen oder einer sozialen Gemeinschaft zu vermachen.

29.5 Das 4. Stadium: Depression und Isolation: „Ja, ich!“

Wer nicht sterben will, hat auch das Leben nicht gewollt.

Lucius Annaeus Seneca (4 v.Chr.-65 n.Chr.), römischer Philosoph und Dichter

Der Patient erkennt zunehmend, dass sein Kampf um das Leben verloren ist. Er vermeidet neue und anstrengende Aktivitäten. Er wird deprimiert, trauert um Verlorenes und Unerledigtes und zieht sich von der Umwelt zurück. Er bricht nach und nach seine Beziehungen und Kontakte nach außen ab und geht in die innere Isolation. Diese Trennung ist nötig, damit die weitere Entwicklung möglich wird. Dort bereitet er seinen geistigen und körperlichen Übergang vor.

Achim Krüger sagte: „Wenn es mir besser geht, rufe ich dich an.“ Damit hatte er die Entscheidung, wann ein neuer Kontakt zwischen uns entstehen würde. Der Satz bedeutet auch: „Wenn es mir schlechter geht, rufe ich dich nicht an.“ Er wollte keine Besuche mehr und konzentrierte sich zuletzt nur noch auf seine Frau und die Kinder.

Von einem sterbenden Kollegen hörte ich den Satz: „Ich kann nichts mehr tun, als mich auf den Tod vorzubereiten.“ Der Satz „Ich will nur noch meine Ruhe haben!“ ist eine andere typische Aussage, die zu diesem Stadium passt.

Obwohl der Patient die Chancenlosigkeit erkannt hat, kann immer noch die Hoffnung auf eine Heilung für die Familie bestehen. Das ist kein Widerspruch. Achim Krüger wollte für seine Familie gesund werden, für sich selbst hatte er beschlossen zu gehen.

29.6 Das 5. Stadium: „Meine Zeit wird sehr kurz, und das ist in Ordnung!“ 

Wir sollten das Leben verlassen wie ein Bankett: weder durstig noch betrunken.

Aristoteles (384-322 v. Chr.), griechischer Philosoph

Der Patient hat sein Schicksal angenommen und bereitet sich in innerem Einverständnis auf seinen Übergang vor. Dazu gehören zum Beispiel Aussagen wie: „Ich bete für einen friedlichen Tod. Ich bin dankbar für mein Leben und meinen Weg. Ich möchte in deinen Armen sterben. Ich bin ganz ruhig und freue mich, dass ich bald am Ziel bin. Ich bin bereit. Herr, dein Wille geschehe!“

Denken Sie noch einmal an die Geschichte von Frau Münchinger, die bei der Freundin im Pflegeheim ihre letzten Tage erleben durfte und dort ihr Sterben so freudig annahm, oder an meine ehemalige Lehrerin mit ihren fünf großen inneren Stützen, die es ihr leicht gemacht haben zu sterben.

Wer es einmal erlebt hat, welche Ruhe und innere Geborgenheit Menschen in diesem Stadium ausstrahlen können, wird es vielleicht verstehen, wenn ich sage, dass die Momente, Menschen in dieser Phase zu erleben, zu den erhebendsten und intensivsten meines Lebens gehören. Ich bin sehr dankbar, dass ich in der Nähe sein durfte, wenn solche gnadenvollen Augenblicke stattfanden. Hier ist es zum Greifen nahe, welchen Segen ein tiefer Glaube schenkt und welche große Hilfe das Vertrauen in eine höhere Kraft darstellt.

Deshalb ist in dieser Phase auch ein Dankgebet richtig. Ich kenne eine Krankenschwester, die in solchen Momenten mit Patienten den 23. Psalm betet:

„Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte in finsterem Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immer-dar.“

Diesen Moment der Einwilligung und Erfüllung unseres Lebensgesetzes hat Friedhelm Niesporek in seinem Gedicht erfasst:

Am Anfang aller Kreise
Ist immer nur ein Punkt.
Erst durch die scheinbar ungewisse Reise,
Die ihn mit jeweils and´rem Schwung
Und doch auf einzigart´ge Weise
Schließlich zu seinem Ur-Grund führt,
Wird alles rund.

Die letzten Phasen der Sterbeentwicklung können Sie in sprachlich wundervoller und psychologisch äußerst geschickter Form nachlesen in Hermann Hesses kleiner und unterhaltsamer Erzählung „Knulp“. Dort ergibt sich am Ende des Lebens des liebenswert egoistischen Landstreichers Knulp ein Zwiegespräch zwischen Knulp und Gott, in dem Knulp mit Gott über sein Leben und den Sinn darin rechtet und schließlich mit Einsicht und innerem Frieden in sein ganzes Leben einwilligt.

Copyright Dr. Dietrich Weller

De Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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Die Chancen für den Begleiter

 

Der Tod ist ein Kunstgriff der Natur, viel Leben zu haben.

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), deutscher Dichter und Dramatiker

Der Tod ist eine Bruchstelle, kein Ende.

Ernst Jünger (*1895), deutscher Philosoph

28.1 Allgemeine Gedanken

Wir können bei dem Umgang mit Sterbenden und ihren und unseren Gefühlen Erkenntnisse gewinnen, die uns lehren, im Alltag mit einem anderen Bewusstsein zu leben. Im Angesicht des Sterbenden wird uns die Endlichkeit unseres eigenen Lebens klar vor Augen geführt. Und wir werden vor die Wahl gestellt, diese Zeit in Verzweiflung und unbewusst zu verbringen oder bewusst und gut zu gestalten. Es wird mir deutlich, dass in dieser Sekunde der Rest meines Lebens begonnen hat! Das ist nicht nur ein dramatisierender Gedanke, sondern er macht das Geschehen für uns selbst aktuell und plastisch, so dass wir nicht einfach gedankenlos daran vorbeigehen können.

Wir erkennen, dass wir sozusagen alle im gleichen Boot sitzen und für uns dieselben Gesetzmäßigkeiten gelten. Es ist deshalb sinnvoll, dass wir uns damit intensiv und konstruktiv beschäftigen. Wenn wir unsere Gefühle wie Angst, Sorgen und Trauer echt und unverfälscht zeigen, erleichtert uns das, und die Beziehungen zu unseren Mitmenschen werden besser, tiefer und ehrlicher. Sich mit dem Gedanken der Trennung von Gewohntem im Alltag zu beschäftigen, schenkt uns die Möglichkeit, auch endgültige Trennungen besser zu verstehen und gelöster zu erleben.

Elisabeth Kübler Ross formulierte das so:

„Wer seinem endgültigen Tod ins Gesicht sehen kann und ihn versteht, kann vielleicht auch lernen, sich jeder Veränderung, die in seinem Leben auftritt, zu stellen und sie produktiv zu meistem. Dadurch dass einer willens ist, das Unbekannte zu riskieren, und sich auf unbekanntes Gelände zu wagen, begibt er sich auf die Suche nach seinem eigenen Selbst, dem letzten Ziel der Reife. Dadurch dass einer über sich hinausgreift und sich im Dialog den Menschen anvertraut, kann seine individuelle Existenz trans-zendieren73 und mit sich selbst und den anderen eine Einheit bilden. Ein Leben in dieser Hingabe läßt einen dem endgültigen Ende mit Frieden und Freude und in dem Bewusstsein entgegensehen, sein Dasein sinnvoll verbracht zu haben.“FN

Sterben ist ein alltäglicher Vorgang, der in verschiedenen Variationen in jedem Leben mehr oder weniger schwerwiegend dauernd vorkommt und zu meistern ist. Dazu gehören alle Trennungen, Abschiede und Veränderungen. Auch der Schlaf ist eine Form von Trennung vom Gewohnten, vom bewussten Leben. Er wird von manchen Psychologen als der „kleine Tod“ bezeichnet. Sich ihm hinzugeben, erfordert das Ur-vertrauen, im Schlaf während der eigenen Unfähigkeit, eingreifen und handeln zu können, beschützt zu sein und wieder aufzuwachen.

Reifen und sterben sind Vorbedingungen und grundlegende Vorgänge des Lebens. Ihnen eine Grenze zu setzen, bedeutet als ein bedrücktes und beschränktes Wesen zu existieren. Und gerade unter Menschen, die zusammen leben und einander lieben, gehört es zur Liebe, sich immer wieder auch an die natürlichen Grenzen dieses Lebens zu erinnern.

28.2 Ein alter Brauch

Zu den Zeiten, als die Landwirtschaft noch sehr wesentlich zum Broterwerb beigetragen hat und ganze Familien tagsüber auf dem Feld waren, gab es im Hohenlohischen, Fränkischen und teilweise auch im Schwäbischen einen Brauch: Wenn die Familie vom Feld zurück war und die Abendglocken vom Kirchturm klangen, betete das Familienoberhaupt mit der Familie:

Liebster Mensch, was mag’s bedeuten, dieses späte Abendläuten? Es bedeutet abermals deines Lebens Ziel und Zahl. Dieser Tag hat abgenommen, drum, o Mensch, so schicke dich, dass du sterbest seliglich!

Die letzte Zeile könnte auch heißen:

dass du lebest seliglich!

Wichtig an dem Gedicht ist neben dem Inhalt gerade die Tatsache, dass das Gebet nicht an Gott, sondern als Mahnung und Wunsch an die liebsten Menschen im Haus gerichtet war. Ich denke, es ist wichtig, dass wir auch in unserem Alltag einander immer wieder daran erinnern, wie rasch und unvorhergesehen diese Gemeinschaft beendet werden kann.

 


73 transzendieren = sinngemäß „in einen anderen Bereich führen“

FN Kübler-Ross: Reif werden zum Tode. GTB-Sachbuch 1023

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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