Wie kann sich der Patient gefühlsmäßig an seine Lage anpassen?

 

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Denn du bist bei uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Dietrich Bonhoeffer (1906-1945), deutscher Theologe, Mitglied des Widerstandes gegen Hitler. Das Gedicht wurde im Konzentrationslager geschrieben.

Dies ist das Ende und gleichzeitig der Anfang.

Letzter Satz von Dietrich Bonhoeffer unmittelbar vor seiner Hinrichtung im KZ Flossenbürg

Im Wesentlichen gibt es vier Quellen, aus denen der schwer kranke und sterbende Patient Kraft bekommt, um seine Einstellung der Situation anpassen zu können.

18.1. Die erste Quelle: Der Glaube 

Für viele ist der religiöse Glaube eine hilfreiche Kraft. Die ganz persönliche Beziehung zu Gott oder / und zur Kirche zeigen Möglichkeiten des Verständnisses und des Trostes auf. Dabei spielt eine gute menschliche Beziehung zu einem Geistlichen eine unterstützende Rolle. Sie ist aber sicherlich nicht unbedingt nötig. Andererseits kann gerade diese menschliche Beziehung Schwierigkeiten des Patienten überbrücken, die er vielleicht mit dem Glauben oder der kirchlichen Organisation hat. Ich denke, es ist hilfreich, davon auszugehen, dass ein rechter Glaube auch ohne die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kirche durchaus möglich ist und für den Menschen besser sein kann als die (v)erzwungene Mitgliedschaft, Maximen und Rituale, die der Patient nicht akzeptieren kann.

Ich kann mich an einige Begegnungen erinnern, in denen es für die Patienten eine segensreiche Hilfe war, dass ein ihnen bekannter Geistlicher zu einem oder mehreren Gesprächen kam und so den Patienten stützte und ihm Mut auf seinem Weg vermitteln konnte. Solche persönlichen Begegnungen hängen meines Erachtens überwiegend mit den zwischenmenschlichen Beziehungen zusammen und weniger mit der Organisation, die dahintersteht. Leider sind die meisten Pfarrer ebenso wie die Ärzte psychologisch für diese letzten Stunden nicht gut genug geschult. Ich denke, es reicht einfach nicht aus, ein Gebet aufzusagen, ein paar mehr oder weniger unverbindliche Floskeln zu sprechen, eine Schmerz- oder Beruhigungsspritze zu geben, sein Bedauern auszudrücken und sich mit einem warmen Händedruck zu verabschieden.

Wichtiger, ja geradezu fundamental entscheidend für alle Beteiligten ist, dabei zu bleiben, sich auf die Situation einzulassen und den Mut zur Nähe zu haben. Und vielen Menschen machen Nähe und Gefühle Angst. Diese gilt es auszuhalten und damit mehr und mehr zu bewältigen.

18.2 Die zweite Quelle: Die Bezugsperson

Großartige Stützen für die emotionale Anpassung in diesem Entwicklungsprozess sind häufig Ehepartner oder andere Familienmitglieder oder gute Freunde. Auch hier bewähren oder entwickeln sich feste Bindungen, um in der letzten großen gemeinsamen Aufgabe auf eine neue Basis hinzuwachsen. Jetzt kann eine Form der Kommunikation gefunden und geübt werden, die weitgehend ohne Worte auskommt und mehr und mehr zu einem Verständnis der Herzen reift. Herr Gruber sagte zu mir kurz vor seinem Tod: „Jetzt geht es nur noch um die Qualität der Herzen.“

„Wir helfen den Patienten, ihr Leben zu verlängern, wenn wir bereit sind, über ihr Sterben und den Tod zu sprechen. Wir sind beschützter als wir denken und geliebter als wir wissen!“ sagte Pfarrer Dr. Steinhilper bei einem Vortrag.

18.3. Die dritte Quelle: Der Patient selbst 

Viele Menschen haben im Laufe ihres Lebens so viel Stärke erworben und ein solch gutes seelisch-geistiges Fundament gebaut, dass sie auf diesem auch und gerade in ihrer letzten Lebensphase sicher und ohne zu wanken standhaft bleiben können. Sie schaffen es, durch ihren Glauben, ihre Lebensweise, ihre Erfahrungen mit sich und anderen einen inneren Schatz an Reichtum zu sammeln, dass sie bewusst und dankbar das Vergangene loslassen und freudig auf die Zukunft zugehen können.

Dem 84-jährigen Herrn Lehmann, der im Laufe der letzten zehn Jahre schon zwei verschiedene schwere Krebserkrankungen mit großen operativen Eingriffen überlebt hatte, musste ich erklären, dass er von der letzten Krebserkrankung eine Lungenmetastase entwickelt hatte. Ich sprach mit ihm über die Konsequenzen, die wir jetzt daraus ziehen sollten. Bei allen anderen Untersuchungen hatten wir keine weiteren Absiedelungen des Tumors gefunden, so wäre grundsätzlich eine Lungenoperation möglich gewesen. Herr Lehmann reagierte ganz ruhig: „Das mit der Metastase habe ich mir gedacht. Jetzt bin ich bereit, meinen Weg ohne Operation zu gehen. Es geht mir ja noch gut. Ich kann meine verbleibende Zeit genießen und dankbar sein für alles, was ich bis jetzt erlebt habe.“ Er sagte das ganz offen und ohne jede Bitterkeit. Und ich bin voller Respekt für diesen Mann.

Ähnlich habe ich es von Herrn Gruber gehört, der einen bösartigen Tumor am Mageneingang hatte. Er konnte kaum mehr essen, weil die Passage fast vollständig verschlossen war. Eine Operation wollte er nicht mehr haben und begründete das mit diesen Sätzen: „Ich weiß schon eine Weile, dass dieser Krebs da wächst und bin absichtlich spät zu Ihnen gekommen. Ich habe meine Aufgaben erfüllt, und eine Ope-ration käme zu spät, denn ich habe nur noch kurze Zeit zu leben. Ich werde es aushalten, wenig zu essen und mir geistige Nahrung zuführen, solange ich kann.“ Er begnügte sich mit ein paar Bechern flüssiger Kost, las gute Literatur, verabschiedete sich überall mit kla-ren Sinnen, legte sich zu Bett und verstarb wenige Tage später. Die Gespräche mit ihm in seinen letzten Tagen werde ich nie vergessen, denn sie gehören zum Kostbarsten, was ich an Begegnung bis jetzt erlebt habe. Herr Gruber strahlte so viel Ruhe und Gelassenheit aus, so viel innere Stärke und Bescheidenheit, dass deutlich wurde, was es bedeutet, sich in Demut und Entschlossenheit mit seinem Leben zu bescheiden. Auch hier spürte ich das große Geschenk, Sterbende begleiten zu dürfen.

18.4 Die vierte Quelle: Der Arzt 

Eine wichtige Quelle der Kraft ist für viele Menschen ihr Arzt, dem sie vertrauen. Meist liegt dieser Beziehung eine langjährige Bindung zugrunde, die reich ist an gemeinsamen Erlebnissen, in denen sich die Basis für den letzten Weg geformt hat. Der Arzt muss offen und ehrlich sein und gleichzeitig bedachtsam und respektvoll genug auf die individuellen Wünsche des Patienten eingehen.

In einer Langzeitstudie seit 1989 bei chronisch Kranken konnte festgestellt werden, dass die Patienten zu 80 Prozent den Trost vom Arzt erwarten. Danach erst folgen Verwandte, Krankenschwestern und Seelsorger.49

Ich bin überaus dankbar und habe es gerne angenommen, dass Patienten mir in solchen Lebenssituationen ihr Vertrauen geschenkt haben. Beide Männer, von denen ich gerade erzählt habe, sagten: „Bei Ihnen bin ich in guten Händen. Ich weiß, dass Sie mir helfen, so weit Sie können.“

18.5. Das Ziel der emotionalen Anpassung

Bei der Sterbephase sollten wir dem Patienten die Einsicht vermitteln, dass der Sinn und Wert der Entwicklung darin liegt, wie jemand mit dem Leiden und Sterben fertig wird, wie die Selbstverwirklichung erreicht und die Selbstbeschränkung gleichzeitig angenommen wird. Deshalb ist es unerlässlich wichtig, bei allen Gesprächen und Beratungen vorrangig auf die individuellen Wünsche und Bedürfnisse des Patienten einzugehen. Das schließt alle körperlichen, seelischen, geistigen und sozialen Belange des Patienten ein. Ich halte es für falsch, aus irgendwelchen Gründen Themen oder Bereiche auszusparen, die der Patient bearbeitet und besprochen haben will.

18.6 Wer kann sich am besten anpassen?

Elisabeth Kübler-Ross50 fand heraus, dass es eine bestimmte Menschengruppe gibt, die besonders geeignet ist, die verschiedenen Stufen des Sterbens nach der Entdeckung ihrer tödlichen Krankheit zu durchschreiten. Diese Menschen haben gemeinsame Merkmale:

Erstens sind sie bereit, sich mit für sie wichtigen Menschen in vollem Umfang über ihre gegenwärtigen Erfahrungen auszutauschen. Zweitens begegnen sie anderen Menschen auf der gleichen Ebene, das bedeutet, sie befinden sich in einem Dialog, der beiden Partnern einen echten und gleichberechtigten Austausch über Gefühle und Denken ermöglicht. Und drittens akzeptieren sie das Gute und das Schlechte, weil sie in ihrem neuen Lebensbezugsrahmen andere Wertvorstellungen entwickelt haben, in denen eine solch wertende Beurteilung keinen Platz mehr hat. Das Gute und das Schlechte haben einen übergeordneten und wertfreien Sinn bekommen.

Elisabeth Kübler-Ross hat nachgewiesen, dass ein solcher Umgang mit dem Sterbensprozess eine Wiederverpflichtung zum Leben und einen optimalen Weg zu höchster Reife darstellt.

49 Besel: Zeitschrift für Allgemeinmedizin 1996, S. 1278-1282

50 „Reif werden zum Tode“, GTB-Sachbücher

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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Was ist eine Palliativstation? Was ist Palliative Care?

Was ist eine Palliativstation?

         Was ist Palliative Care?41

Vorbemerkung:

Bitte beachten Sie, dass dieses Kapitel meines Buchs „Wenn das Licht naht“ schon 1997 geschrieben wurde! Inzwischen hat sich einiges verändert: Die Palliativmedizin wurde politisch wesentlich besser akzeptiert, die Spezielle ambulante Palliativversorgung (SAPV) wurde eingeführt, und die Krankenkassen stehen der Palliativmedizin wesentlich offener gegenüber.

Wie der Mensch als Ganzheit in seinem Lebensraum steht, so wird er als Ganzheit auch von Krankheit betroffen, selbst wenn sie sich nur lokal bemerkbar macht, durch Chronifizierung42 abgeschwächt verläuft oder durch Gewöhnung unterschwellig geworden ist.

Hans Erhard Bock, ehemaliger Direktor der Medizinischen Universitätsklinik Tübingen

Eine gute Sterbebegleitung ist eine ganzheitliche Versorgung, die alle körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Bedürfnisse des Kranken so umfasst, dass der Patient bis zu seinem Tod menschenwürdig leben kann.

17.1. Definition und Zahlen

Das lateinische Wort pallium bedeutet Mantel, Schutzmantel, und so hüllt die Arbeit auf der Palliativstation einen mildernden, liebevollen, schützenden Mantel über die unheilbare Krankheit eines Menschen. Das englische Wort care bedeutet viel mehr als Sorge. Es meint auch Pflege, Obhut, Sorgfalt, ärztliche Behandlung, verantwortlich sein für, aufpassen, achtgeben.

Dies wird sehr gut zusammengefast in der Definition der Weltgesundheitsorganisation:

„Palliative Care ist die wirksame ganzheitliche Care von Patienten, deren Krankheit kurativ43 nicht mehr behandelbar ist. Dabei stehen die erfolgreiche Behandlung der Schmerzen und weiterer Symptome sowie die Hilfe bei psychologischen, sozialen und seelsorgerlichen Problemen an erster Stelle. Das Ziel der Palliative Care ist, die bestmögliche Lebensqualität für Patienten und deren Familien zu erreichen.“

Ich möchte im weiteren Verlauf des Buches ausnahmsweise bei dem englischen Wort Palliative Care bleiben, weil es wesentlich umfassender ist und viel mehr den eigentlichen Charakter der Arbeit beschreibt als unser deutsches Wort Schwerkrankenpflege. Wir verstehen unter Pflege nur die manuelle Arbeit, die von der Krankenschwester am Krankenbett gemacht wird. Das wäre für einen palliativ zu behandelnden Patienten (übrigens auch für jeden anderen Menschen!) aber viel zu wenig. Um es mit einem Schlagwort zu sagen, das in der Krankenpflege abwertend benützt wird: Es wäre nur eine Satt-und-sauber-Pflege, also nur eine Versorgung, bei der äußerliche Dinge ohne Rücksicht auf menschliche Bedürfnisse und Werte „abgehakt“ werden. Eine gute Krankenschwester und ein guter Arzt verstehen unter guter Pflege automatisch eine ganzheitliche Pflege. Das bedeutet, die seelischen, körperlichen, geistigen und sozialen Gesichtspunkte als gleichwertige Ziele in die Versorgung einzubeziehen.

Das entspricht der Definition des Wortes Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation bei deren Gründung 1948:

„Gesundheit ist ein Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheiten.“

In unserer deutschen Sprache benützen wir die Wörter Palliativstation und Palliativeinheit für in sich abgeschlossene Krankenstationen einer Klinik mit klar de-finiertem Arbeitsgebiet und eigenem Personal.

Im Jahre 1900 wurden in Deutschland 10 Prozent der Sterbenden in Krankenhäusern versorgt. Heute sind es etwa 60 Prozent, in Großstädten sogar etwa 80 Prozent. In Deutschland gibt es 28 Palliativstationen in Krankenhäusern, 268 ambulante Hospizdienste, 31 stationäre Hospize mit insgesamt 304 Betten (davon 13 mit Hausbetreuungsdiensten) und 6 Tageshospize.FN In den letzten Jahren wurde ein Förderprogramm des Bundesgesundheitsministeriums begonnen, in dessen Rahmen 11 Palliativstationen im ganzen Bundesgebiet eingerichtet wurden. Ein besonderer Pflegesatz für diese Stationen kommt aus der Sicht der Kostenträger nicht in Frage!

Bis jetzt wurden die Hospize ohne Rechtsgrundlage teilweise von den Krankenkassen mitfinanziert. Da seit dem 1.1.1997 vielen Hospize wegen der unsicheren Finanzierung die Schließung drohte, hat sich die Bundesregierung jetzt entschlossen, die Bezahlung der Hospize über die Krankenkassen gesetzlich zu regeln. Vorschläge gibt es dazu bereits.FN

In Großbritannien als dem Mutterland der Hospizbewegung sind seit 1967 immerhin 207 stationäre Hospize mit rund 3000 Betten eingerichtet worden, und es haben sich inzwischen über 200 Ärzte in der palliativen Behandlung von Patienten ausbilden lassen. 18 Prozent der krebskranken Patienten sterben in Großbritannien in Hospizen, 60 Prozent der Krebskranken werden palliativ zu Hause behandelt.44 In Kanada gibt es sogar an der Universität Alberta schon den weltweit ersten Lehrstuhl für Palliativmedizin.

In den Krankenhäusern macht sich nur sehr zögerlich die Bereitschaft breit, spezielle Stationen für Sterbende einzurichten. Durch die derzeitige Ausbildung der Ärzte und die Glorifizierung der instrumentellen und gerätebezogenen Medizin wird das wohl auch noch lange so bleiben. Die wachsenden Bestrebungen, Medizin menschlicher und Sterben würdiger zu gestalten, gedeihen nur langsam angesichts der großen Widerstände in der Lobby der Pharmaindustrie und der rein schulmedizinisch ausgebildeten Ärzte. Viele Hausärzte würden ihre sterbenden Patienten gerne noch häufiger zu Hause behandeln, wenn sie gut genug ausgebildet wären und angemessen für den enormen zeitlichen und ärztlichen Aufwand bezahlt werden würden.

Hospize sind Pflegeeinrichtungen, die nicht einem Krankenhaus angeschlossen sind, sondern von privaten oder kirchlichen Trägem außerhalb von Krankenhäusern -zum Beispiel in Seniorenheimen- als Pflegeeinheiten eingerichtet werden. Sie arbeiten mit dem Ziel, Palliative Care zu betreiben. Der Hausarzt macht die ärztliche Betreuung, Schwestern und Laienhelfer übernehmen die Pflege, Seelsorger kümmern sich um das geistliche Wohl der Patienten.

Hospize erbringen auch ambulante Versorgung mit dem besprochenen Personal, wo es möglich ist. Eine Versorgung der Patienten in ihrem häuslichen und privaten Bereich der stationären Betreuung wird immer vorgezogen, wenn die Voraussetzungen bestehen.

Die Palliativstationen sind nötig geworden, weil versorgungsbedürftige Patienten, die zum Beispiel nach Operationen „ausbehandelt“ sind, also auf einer sogenannten Akutstation aus Platz- und Personalgründen nicht weiter betreut werden können, trotzdem aus verschiedenen Gründen stationär versorgt werden müssen.

Die Arbeit der Palliative Care unterscheidet sich auch grundlegend von der kurativen, heilenden Versorgung. Die Methoden und Ziele sind völlig verschieden. Bei der kurativen Medizin gehen wir davon aus, dass der Patient nach den therapeutischen Eingriffen wieder gesund, auf jeden Fall soweit wieder hergestellt wird, dass er überleben und nach Hause entlassen werden kann. Ein palliativ behandelter Patient kann manchmal auch nach Hause entlassen werden, aber wir gehen davon aus, dass es ihm im Laufe der Zeit schlechter gehen und er zu Hause oder nach der Wiederaufnahme in der Palliativstation sterben wird.

17.2 Die Aufnahmekriterien für eine Palliativstation

Es sollen Patienten aufgenommen werden, „deren Betreuungsbedarf die Möglichkeiten einer anderen primär behandelnden Abteilung übersteigt.46 Eine „primär behandelnde Abteilung“ ist zum Beispiel ein Altenheim, eine Akutklinik oder eine ambulante medizini-sche Versorgungsstelle wie Arztpraxis oder häusliche Betreuung durch die Sozialstation.

Es geht also darum, Menschen mit erheblich störenden Symptomen aufzunehmen, die woanders nicht ausreichend gemildert werden können. Dazu gehören zum Beispiel Schmerzen, Atemnot, Husten, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Darmverschluss, Verunstaltungen durch geschwürig zerfallene und wachsende Tumore, Lähmungen bis zur kompletten Querschnittslähmung, Verwirrtheit durch Hirnmetastasen oder andere Ursachen, massive Wasseransammlungen in den Extremitäten, in der Lunge, im Rippfellbereich oder im Bauchraum.

Meistens liegen mehrere dieser Symptome vor, und sie beeinträchtigen den Menschen nicht nur körperlich ganz erheblich, sondern setzen seine seelische Verfassung und damit auch seine Lebensqualität drastisch herab.

17.3 Die Einweisung in eine Palliativstation

Der Patient selbst, der Hausarzt und die Angehörigen können um eine Aufnahme bitten. Durch die geringe Bettenzahl bestehen verständlicherweise in den einzelnen Stationen Wartelisten, die Sie aber nicht abschrecken sollte, trotzdem einen Versuch der Einwei-sung zu machen, wenn Sie das für notwendig halten.

17.4 Die medikamentöse Schmerztherapie

Diese Therapie ist eine unverzichtbare Grundlage der Palliativmedizin. Wir haben sie bereits im letzten Kapitel ausführlich besprochen. Deshalb will hier nicht mehr darauf eingehen.

17.5. Die Strahlentherapie

Sie dient zur Verkleinerung von Tumoren, um Schmerzen zu beseitigen oder zu lindern und Frakturen durch wachsende Tumormetastasen zum Beispiel in der Wirbelsäule zu verhindern, damit die Statik des Körpers so lange wie möglich aufrechterhalten bleibt und der Patient sich noch bewegen kann. Die palliative Strahlentherapie hilft auch zur Minderung von einengenden Tumormassen im Bereich der Speiseröhre, der Luftröhre, der Bronchien und im Bauchraum. Damit können lebenswichtige Passagen offen gehalten werden.

17.6 Chirurgische Maßnahmen 

Operative Methoden umfassen künstliche Darm-, Blasen-, Nierenausgänge bei unheilbaren Tumoren, die ein Passagehindernis darstellen, außerdem künstliche Eingänge im Gesichts- und Halsbereich, um Atmung und Nahrungszufuhr sicherzustellen. Die Implantation von vorübergehenden Herzschrittmachern und Drainagen zum Abfluss von Lungen- oder Bauchraumflüssigkeit gehören ebenfalls dazu. Chemotherapie kann palliativ zur Tumorverminderung eingesetzt werden.

17.7. Die grundlegende Bedürfnisse

Die erwähnten Stützen der Palliativmedizin Schmerz-, Strahlen- und chirurgische Therapie sichern die absolut unverzichtbaren menschlichen Lebensbedürfnisse: Schmerzen werden gelindert, die Nahrungsaufnahme gesichert und die Ausscheidung erleichtert.

Dies ist nötig, um dem Patienten auch bei schwerer Erkrankung noch das Gefühl zu vermitteln, als Mensch würdig leben zu können.

17.8 Die pflegerischen Maßnahmen

Die pflegerische Leistung ist bei der Palliativmedizin eine grundlegende und unerlässliche Hilfe, die viele Herausforderungen an die fachliche und menschliche Qualifikation und Kompetenz stellt. Neben der beruflichen Ausbildung über Wissen, medizinische Zusam-menhänge und Therapie- und Pflegeverfahren sind hier ganz vorrangig Eigenschaften gefordert wie:

–     psychologisches Feingefühl
–     ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit
–     Interesse an der Arbeit und Liebe zum Patienten
–     viel Geduld
–     Aushalten unangenehmer, bedrückender und hoffnungslos erscheinender Situationen
–     Mitleid zu haben, ohne mitzuleiden
–     Eigenständigkeit und Entscheidungsfähigkeit
–     Konfliktfähigkeit
–     die Einstellung, dass Teamgeist vor Individualismus steht.

Es ist wichtig, sich als Beteiligter klar zu machen, dass alle pflegerischen Handlungen an einem schwerkranken Menschen auch seelsorgerliche Aspekte haben! „Und dabei ist eine phantasievolle und individuelle Pflege gefordert, bei der die Pflegepersonen den Mut zur intuitiven Entscheidung haben müssen.“47

Ein wichtiger Aspekt der Pflege und der psychosozialen Betreuung besteht auch darin, das Schwinden der Kräfte und Fähigkeiten wahrzunehmen, anzunehmen und zu bearbeiten. Den Verfall der Kräfte und des Körpers zu verleugnen oder zu verharmlosen, heißt den Kranken offen zu belügen, denn er weiß es besser.

Jetzt geht es darum, zu fragen, was der Kranke noch selbst oder mit Hilfe tun kann. Es geht nicht mehr darum, über Vergangenes zu klagen, sondern sich im Sinne einer Trauerarbeit davon zu lösen. Dann kann gemeinsam das Bewusstsein auf das noch Verbleibende gerichtet und der Wert des Daseins darin erkannt werden. Die Wertigkeiten verschieben und begrenzen sich auf das absolut Wichtige.

Da es sich bei der Versorgung von palliativ behandelten Patienten scheinbar um eine dem gewünschten Erfolg entgegen arbeitende Pflege handelt, muss den betreuenden Menschen klar sein, dass das angestrebte Ziel nicht „heilen zur Gesundheit“ heißt, sondern „Hilfe zum schmerzfreien, angstfreien und würdevollen Sterben“.

Die psychologische Herausforderung ist neben der körperlichen Belastung eine schwere Bürde für die pflegenden Schwestern und die Mitarbeiter des psychosozialen Dienstes. Für sie ist es unbedingt wichtig, funktionierende Mechanismen zu entwickeln und stän-dig anzuwenden, damit sie mit den Eindrücken und Gefühlen aus ihrem Dienst zurechtkommen und diese richtig verarbeiten. Die Pflegenden haben zwar nur eine begrenzte Dienstzeit, sind aber rasch verbraucht, wenn sie nicht darauf achten, sich immer wieder zu kräftigen. Noch schwieriger ist es natürlich für Angehörige, die rund um die Uhr zu Hause im Dienst sind. Darüber habe ich im Kapitel „Helfer-Syndrom“ schon gesprochen.

Diese vorhin aufgezählten Eigenschaften sollten eigentlich alle Personen haben, die mit der Betreuung Schwerstkranker etwas zu tun haben.. Man kann sie nicht an der Schule lernen. Sie sind ein Ergebnis menschlicher Entwicklung, die durch eigene Erfahrung, Praxis, Kommunikation mit den Patienten und anderen Pflegenden und die individuelle Lebenseinstellung geprägt werden. Es ist also ein Zeichen der Reife, wie weit wir bei der Beschäftigung mit unseren Mitmenschen gelangen.

17.9 Die psychosoziale Betreuung 

Auch die psychisch und sozial ausgerichtete Hilfe anerkennt den ganzheitlichen Gedanken einer Erkrankung, insbesondere bei den meistens vorliegenden Krebserkrankungen. Das heißt, es gibt einen Zusammenhang zwischen seelischen, geistigen, körperlichen und sozialen Belangen. Um einen Menschen ganzheitlich zu behandeln, müssen wir alle beteiligten Bereiche ansprechen und so weit es geht ausgleichen. Alle Pflegepersonen, Angehörigen und Psychologen, Ärzte und Seelsorger, die sich mit palliativ zu betreuenden Menschen beschäftigen, sollten sich bewusst sein, dass sie in jedem Moment den Patienten psychosozial beeinflussen. Auch wenn Sie sich – in welcher Rolle auch immer! – verweigern, nicht ans Bett kommen, nicht anrufen, nicht antworten, ist das eine Art von Kommunikation, die vom Patienten sehr wach wahrgenommen und gedeutet und bewertet wird.

Auf der Palliativstation übernehmen Psychologen und Theologen den überwiegenden Teil der psychosozialen Betreuung. Es ist sehr wichtig, dass diese Personen eine spezielle Ausbildung für diese außergewöhnliche Tätigkeit haben, um dem Patienten gegenüber angemessen reagieren und mit sich selbst richtig umgehen zu können.

Zur psychosozialen Betreuung gehören stichwortmäßig aufgereiht Themen wie

–     Unterstützung bei der Krankheitsverarbeitung und in der Auseinandersetzung mit
dem Sterben und dem Tod
–     psychotherapeutische Methoden speziell für Tumorpatienten
–     kreativtherapeutischen Methoden, Anleitung zu Entspannungsübungen
–     psychologische Schmerzbehandlungsverfahren wie verschiedene
Hypnosetherapiemethoden
–     Vermittlung weiterführender Hilfsangebote bei der Entlassung
–     Klärungshilfen für Angehörige bei familiären Schwierigkeiten
–     Ermutigung zur Begleitung von Patienten
–     Unterstützung in der Sterbebegleitung.

Krankengymnastik, Ernährungsberatung und religiöse Seelsorge sind andere ebenfalls sehr wichtige Beiträge zur Palliative Care. Sie nehmen auch zeitlich einen großen Raum ein, weil hier grundlegende Bedürfnisse der Patienten angesprochen werden.

Unerlässlich ist eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten mit den anderen Abteilungen des Krankenhauses. Dadurch ist gewährleistet, dass dem Patienten alle Möglichkeiten der medizinischen Versorgung offenstehen, wenn die Situation das erfordert. Der Patient fühlt sich verbunden mit dem Leben draußen, und die Pflegepersonen müssen einen natürlichen Kontakt mit den Kollegen behalten, um sich ebenfalls integriert und nicht isoliert zu fühlen.

Wichtig erscheint mir auch, dass in einer Palliativstation für engste Angehörige die Möglichkeit besteht, über Nacht am Bett des Patienten bleiben zu können. Dadurch ist gewährleistet, dass der Patient sich zum Beispiel in der Nähe des Ehepartners wohl behütet und nicht allein fühlt. Dieses Gefühl der selbstbestimmten sozialen Nähe und Geborgenheit ist entscheidend für die Lebensqualität des Patienten.

17.10. Maximalmedizin und Palliativmedizin 

Es ist ganz wichtig, bei dem Einsatz all der erwähnten Methoden individuell sehr sorgfältig zu überlegen, wie weit eine Therapiemethode angewendet werden darf, soll und muss.

Hier darf es sich nicht um eine Maximalmedizin handeln, die nach dem Grundsatz geht: „Alle Möglichkeiten der Therapie müssen angewandt werden!“

Bei der Palliativmedizin heißt das Motto: „So viel Behandlung wie unbedingt notwendig, so wenige Eingriffe wie möglich und so viel Lebensqualität wie möglich.“

Weil die Lebensqualität vom Patienten definiert wird und nicht von den Angehörigen oder dem Pflegepersonal, muss der Patient bei allen Verrichtungen das entscheidende Mitspracherecht haben. Das setzt eine umfassende, dem Patienten entsprechende Information voraus.

Heinrich Pera sagt dazu: „Ein Weiterbehandeln um jeden Preis ist unärztliches und unehrliches Benehmen.“


41  sprich: pälljeitiw cär

42  Chronifizierung = dadurch, daß die Krankheit langsam und andauernd verläuft.

43 lat. curare = heilen

FN Deutsches Ärzteblatt Nr.4 vom 24.1.1997

FN Deutsches Ärzteblatt Nr.4 vom 24.1.1997

44 Ärzte-Zeitung 12.11.1996

46 Zitat aus dem Förderprogramm des Bundesgesundheitsministeriums

47 Schwester Barbara Kärcher in ihrem Vortrag am 22.11.1996 in Renningen. Frau Kärcher arbeitet auf der Palliativstation im Marienhospital Stuttgart.

48 zum Beispiel die Methode nach Simonton.

Copyright Dr. Dietrich Weller

 

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Die Grundlagen einer guten Schmerzbehandlung

 

Schmerz ist eine grundlegend unangenehme Empfindung, die dem Körper zugeschrieben wird und dem Leiden entspricht, das durch die psychische Wahrnehmung einer realen, drohenden oder phantasierten Verletzung hervorgerufen wird.

Engel (1969)

Schmerz ist nur ein Symptom, dessen Entstehung und Lokalisation immer exakt abgeklärt werden wollen, da seine Ursachen sehr vielfältig sein können.

Bonica (1979)

Vielleicht ist die Hoffnung die letzte Weisheit der Narben.

Siegfried Lenz (*1926), deutscher Schriftsteller

16.1 Schmerz betrifft den ganzen Menschen 

Das ist leicht zu erkennen, wenn wir uns eine schmerz-volle Verletzung zuziehen. Nicht nur die körperliche Unverletztheit, sondern auch die seelische Verfassung verändern sich: Ärger, Wut, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein sind nur einige Gefühle, die sofort auftauchen. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, dass Schmerzen unsere Denkvorgänge erheblich beeinträchtigen. Wer starke Schmerzen hat, kann nicht frei denken und handeln. Deshalb ist es unbedingt wichtig, einen Kranken von seinen Schmerzen sofort und anhaltend zu befreien. Nur so ist er in der Lage, aktiv an seiner Genesung mitzuarbeiten oder, wenn eine Heilung nicht mehr möglich ist, seine geistig-seelische Entwicklung zum Tode hin bewusst zu erleben.

Hermann Hesse formulierte das so:

„Der Schmerz ist ein Meister, der uns klein macht, ein Feuer, das uns ärmer brennt, das uns vom eigenen Leben trennt, das uns umlodert und allein macht.“

16.2 Die Medikamenteneinnahme 

Jede Schmerztherapie muss zum Ziel haben, dass die gute Lebensqualität des Patienten so weit wie irgend möglich erhalten bleibt. Deshalb müssen die Einnahmehäufigkeit und die Dosis der Medikamente nach Rücksprache mit dem Patienten so gewählt werden, dass die Schmerzen nicht wieder auftreten, sondern dauerhaft unterdrückt werden. Das bedeutet, dass die nächste Tablette eingenommen werden muss, bevor die Wirkung der letzten Tablette so weit nachgelassen hat, dass der Schmerz wiederkommt. Eine Einnahme „nach Bedarf“ oder mit dem Hinweise „3 x 1 täglich“ ist deshalb bei chronischen Schmerzen nicht sinnvoll. Denn die neue Tablette hat eine gewisse Anlaufzeit bis zur vollen Wirkung, und so lange hat der Patient wieder Schmerzen und braucht mehr Medikamente.

Bei sterbenden Patienten, die von Schmerzen gequält werden, ist eine Verstärkung der Schmerzen im Laufe der fortschreitenden Krankheit zu erwarten. Deshalb müssen die Dosierung und manchmal auch die Medikamente gewechselt werden. Das oft erwähnte Argument der Suchterzeugung oder drohenden Drogenabhängigkeit entfällt, weil erwiesen ist, dass Morphin in retardierterFN Form nicht süchtig macht.

Es gibt mehrere Arten von Schmerzen, je nachdem wie sie entstehen. Und wir kennen verschiedene Typen von Schmerzmitteln, die bei bestimmten Schmerzarten besser oder weniger gut wirken und die Beschwerden verschieden stark lindern. Die möglichen Nebenwirkungen dieser Medikamente sind zu beachten und bei Bedarf mit zusätzlichen Medikamenten oder anderen Maßnahmen zu mildern.

Besprechen Sie als Angehörige und als Patienten die Schmerztherapie ausführlich mit Ihrem betreuenden Arzt. Lassen Sie sich die Dosierung und die Wirkung genau und klar verständlich erklären. Die Dosierung sollte einfach, exakt und individuell für den Patienten festgelegt und leicht anwendbar sein. Das heißt, eine trinkbare oder leicht schluckbare Tablette ist meist die günstigste Verabreichungsform. Auch stark wirksame Medikamente wie Morphium gibt es als Pflaster, Tropfen oder in Retardkapseln, die man öffnen und in Form von winzigen Kügelchen auf Joghurt gestreut essen kann. Bei den meisten Patienten steigern opiumähnliche Medikamente nach anfänglicher Müdigkeit die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit.

Scheuen Sie sich nicht nachzufragen, wenn Sie etwas nicht verstanden haben. Die Art und die Dosierung der Schmerztherapie müssen regelmäßig überprüft und manchmal angepasst werden, weil sich der Zustand des Patienten jederzeit verändern kann.

Die Schmerzempfindung ist subjektiv sehr unterschiedlich, deshalb sind auch die erforderlichen Dosen von Schmerzmitteln unterschiedlich, nicht nur wegen des verschiedenen Körpergewichtes, das aus pharmakologischen Gründen einen Einfluss auf die Medikamentenauswirkung hat. Der Patient sollte deshalb seine Schmerzmedikamente nach einem individuell vereinbarten Schema selbst einnehmen können, wenn er dazu in der Lage ist.

16.3 Alternative Methoden der Schmerzlinderung

Es gibt außer Medikamenten auch andere wirksame schmerzlindernde Methoden, die alleine oder in Verbindung mit Medikamenten unterstützend helfen können. Ich denke dabei an Akupunktur, Visualisierungsverfahren wie Autogenes Training und Silva mind control, Atemtherapie, physikalische Methoden wie Massagen, Krankengymnastik, Wärme- und Kältebehandlung, pflegerische Maßnahmen wie Einreibungen, Wickel oder passende Lagerung.

Einem geübten Arzt oder einem speziell ausgebildeten Anaesthesisten40 stehen viele moderne schmerzstillende Methoden zur Verfügung von regelmäßigen Spritzen über Katheter, die eingepflanzt werden und als Zufuhrweg für das Schmerzmittel benutzt werden, bis zu Nervenblockaden und operativen Schmerzbekämpfungsmethoden. Für jeden Patienten und jede Situation existieren individuell einsetzbare Techniken, die Schmerzfreiheit ermöglichen.

16.4 Das Trio Schmerz, Sorgen und Schlafentzug

Es besteht eine enge Zusammenwirkung und wechselseitige Verstärkung dieser drei Phänomene! Sie unterhalten einen wahrhaft verheerenden und zermürbenden Teufelskreislauf.

Sorgen in jeder Hinsicht, Frustration, Ärger, das Gefühl der Zurückweisung, Angst und andere negative Empfindungen und Gedanken verstärken die Schmerzen subjektiv. Das heißt der Patient leidet unter den Schmerzen stärker, als wenn er sich seelisch wohl und ausgeglichen fühlen würde. Die Einsamkeit, die der Schmerz bewusst macht, verschärft die Lage zusätzlich. Schmerzen machen natürlich Sorgen und Angst. Wie lange geht der Schmerz noch? Hört er überhaupt wieder auf? Nicht ohne Grund gehören chronische Schmerzen auch zum hoch wirksamen Programm der Folterknechte aller menschlichen Generationen. Sie zermürben auch stärkste Charaktere und stürzen hoffnungsvollste Menschen in tiefste Verzweiflung.

Menschen, die man nach den schlimmsten Erfahrungen ihres Lebens fragt, antworten neben zwischenmenschlichen Konflikten meist mit einem Erlebnis, das ihnen starke körperliche Schmerzen ausgelöst hat. Es ist auch bekannt, dass heftige Schmerzen viel besser ausgehalten werden, wenn man weiß, dass sie mit Sicherheit in Kürze aufhören. Wie verheerend ist es dann, wenn der Mensch erfährt, dass ihm seine Schmerzen nicht geglaubt und nicht gelindert werden!

Wenn der Schmerz den Schlaf raubt, ist die Katastrophe komplett. Schlafentzug ohne Schmerzen ist schon allein eine Foltermethode, macht aggressiv und senkt die Lebens- und Widerstandskraft, weil wir unsere Kräfte nicht auftanken können. Die Angst, Schmerzen zu haben und nicht schlafen zu können, erhöht also den Schmerz, die Angst und die Sorgen vor der nächsten Nacht!

Ganz wichtig ist die Erkenntnis, dass die Schmerz-schwelle angehoben wird, also der Patient weniger Schmerz empfindet, wenn er sich in angenehmer Gesellschaft befindet, aktiv sein kann, sich geborgen fühlt und keine Angst und keine Depression hat. Das be-deutet, dass die soziale Lage des Patienten einen entscheidenden Einfluss darauf hat, wie der Kranke seinen Schmerz erlebt.

Deshalb sind auch Medikamente gegen Angst und Depression wirksame Schmerzmittel, wenn die sozialen Voraussetzungen dafür gegeben sind. Wir müssen also den Patienten eine angemessene emotionale Unterstützung vermitteln und sie zu eigener Aktivität anre-gen, um bei der Linderung der Schmerzen mitzuhelfen. Schlafstörungen müssen konsequent behandelt werden.

Oft hat die Schmerzäußerung des Patienten einen auf-fordernden Charakter: Der Patient will dem Angehörigen oder dem Pflegepersonal etwas ganz anderes mitteilen als den Schmerz, nämlich dass er mehr Zuwendung oder Ruhe haben möchte oder etwas ande-res, was er entweder nicht bewusst erkennt oder nicht klar äußern kann oder will.

Daraus ergibt sich ein Grundsatz der Schmerztherapie:

Wir müssen den Menschen behandeln und nicht den Schmerz.

16.5 Gute Informationen sind wichtig! 

Leider kommt es häufig vor, dass chronisch kranke Patienten trotz all dieser Methoden Schmerzen haben. Untersuchungen haben ergeben, dass im allgemeinen die Dosierung der Schmerzmittel niedrig war, weil die Ärzte entweder nicht genau informiert sind oder Sorge haben, zu hoch zu dosieren.

Und viele Ärzte haben keine Erfahrung mit der Anwendung von Betäubungsmitteln wie Morphium und ähnlichen Präparaten. Oft werden zum Beispiel die stuhlgangfördernden Hilfen bei Morphintherapie vergessen, obwohl bekannt ist, dass Verstopfung eine typische Nebenwirkung der opiumähnlichen Medikamente ist. Außerdem sind die bürokratischen Vorschriften für deren Anwendung kompliziert.

Viele Patienten empfinden ein Betäubungsmittel wie Morphium als Makel, und einige berichten über negative Reaktionen von seiten ihrer Bekannten oder Verwandten, die wegen der angeblichen Gefährdung und Suchtentwicklung Bedenken äußerten.

Gute Schmerztherapie zu machen, ist eine schwierige Aufgabe und eine dauernde Herausforderung für den Arzt und das Pflegepersonal.

Nach übereinstimmender Meinung von Schmerzspezialisten und Ärzten, die in der Betreuung chronisch Kranker Erfahrung haben, stellt es bei den gegebenen Möglichkeiten einen ärztlichen Kunstfehler und eine menschliche Unterlassung dar, Schwerkranke dauerhaft an Schmerzen leiden zu lassen.

Leider wissen die Ärzte sehr wenig über eine gute Schmerzbehandlung. Auch ich hatte während meines Studiums zu diesem Thema keine besondere Ausbildung. In einer Studie über 1,1 Millionen Patienten aus 330 deutschen Hausarztpraxen innerhalb von drei Jahren hat Prof. ZenzFN-1 von der Universität Bochum folgendes festgestellt: Von den in der Studie erfassten 28 000 Krebspatienten erhielten nur 1,9 % innerhalb dieser drei Jahre ein starkes Betäubungsmittel wie Morphium oder ähnliche Medikamente. Rund ein Drittel der Verschreibungen waren falsch, weil der Zeitraum zwischen den Dosierungen zu groß war. Eine verschwindende Minderheit von 0,001 Prozent der Krebskranken wurde gemäß dem Stufenschema der Weltgesundheitsorganisation zur Schmerztherapie behandelt, das seit 1986 ständig verbessert wird und bei den meisten Ärzten unbekannt ist.

In einer Kontrolluntersuchung fand Prof. ZenzFN-2 heraus, dass auch die inzwischen erfolgte Lockerung der Verschreibungsregeln für Betäubungsmittel nur bei zehn Prozent der Ärzte eine Veränderung ihres Verordnungsverhaltens bewirkt hatte. 95 Prozent der Ärzte waren der Meinung, dass keiner ihrer Patienten Morphium-Präparate braucht. Jeder dritte Arzt hatte nicht einmal die für die Verschreibung notwendigen Spezialrezepte in der Praxis.

Außerdem wies Prof. ZenzFN in einem weiteren Artikel nach, dass Morphium-Präparate auch bei schwersten Rückenschmerzen oder Nervenerkrankungen, die von nicht-bösartigen Krankheiten herrühren, nicht mehr Nebenwirkungen haben als bei der Behandlung von Krebsschmerzen.

Es muss auch berücksichtigt werden, dass langsam und anhaltend wirkende Morphinpräparate durch die Schmerzlinderung dem Patienten eine wesentlich bessere Aktivität erlauben und damit seine Unabhängigkeit fördern. Außerdem herrscht international Einigkeit darüber, dass bei vernünftiger Anwendung von Opiaten keine Suchtgefahr besteht.

Viele Gedanken, die ich in diesem Kapitel aufgezählt habe, stehen auch in der sehr aufschlussreichen Broschüre von Dr. med. Thomas Schlunk „Schmerzbehandlung bei Tumorpatienten“, Herausgeber: Interdisziplinäres Tumorzentrum der Eberhard-Karls-Universität, Herrenberger Str. 23, 72070 Tübingen, Tel. 07071 – 29 52 35.

Die Broschüre kann dort angefordert werden und einen kompetenten Ratgeber für das betreuende Team darstellen.

Außerdem gibt es für Ärzte Fachbücher und auch für Patienten eine Fülle von hervorragender Informationsliteratur. Die Mundipharma GmbH z. B. bietet Broschüren zu den Themen Schmerzkontrolle, Tumorschmerz, Schmerztherapie und alternative Therapie-formen bei Schmerzen an; außerdem einen Ratgeber für Betroffene „Der chronische Schmerz“ und einen Video-Film „Palliativmedizin heute“. (Was Palliativ-medizin ist, können Sie ausführlich im nächsten Kapitel lesen.) Dieses Servicematerial können Sie bei Mundipharma GmbH, Postfach 1350, 65533 Limburg/Lahn, oder Mundipharma Str.6, 65549 Limburg, Tel. 0130 – 85 51 11, anfordern.

Außerdem hat die Deutsche Hospizstiftung ein neues Verzeichnis von Schmerztherapeuten in Praxen und Kliniken veröffentlicht. Die Zahl der bei der Stiftung registrierten Mediziner ist inzwischen auf 873 angestiegen. Sie können unter der Telefonnummer 0231 – 73 80-730 Auskünfte über Behandlungsstellen und Rehabilitations- und Kureinrichtungen erfragen.



FN Es wirkt verzögert, anhaltend und zeigt keine raschen Anflutungs- und Abklingverläufe, die für Abhängigkeit sorgen können.

40 Narkosearzt. Viele niedergelassene Anaesthesisten haben sich auf Schmerztherapie spezialisiert.

FN-1 Zenz: Journal of Pain and Symptom Management, 1995,10; 187-191

FN-2 Zenz: Journal of Pain and Symptom Management, 1996,12; 109-111

FN  Zenz, Journal of Pain and Symptom Management 1992, 7; 69-77

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

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Der heimliche Gedanke: Wie lange noch?

 

Die Zukunft hat viele Namen. Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare. Für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte. Für die Tapferen ist sie die Chance.

Victor Hugo (1802-1885), französischer Schriftsteller

Der Mensch fürchtet den Tod nur, weil er noch nicht glücklich genug gewesen ist.

Karl A. Varnhagen (1785-1858), deutscher Kritiker und Schriftsteller

15.1 Die Situation der Angehörigen und Pflegepersonen 

Auch Pflegepersonen leiden oft sehr stark unter dem schlechten Zustand des Patienten, besonders wenn die Lage hoffnungslos erscheint, der Kranke langsam und unaufhaltsam dahinsiecht oder zu allem Elend des Patienten auch noch die Ängste und Ekelgefühle des Helfers bei der Versorgung des Kranken kommen. Wir glauben dann manchmal, ein gnadenvoller Tod sei würdiger und wünschenswerter als der jetzt bestehende und quälende Zustand. Insofern ist es verstehbar, dass Angehörige, Teammitglieder und medizinische Hilfspersonen den Tod des Patienten wünschen.

Als gesundes Familienmitglied wissen Sie, dass Ihr Wunsch sich letztlich gegen den Patienten richtet, und das löst im allgemeinen Schuldgefühle aus. Es ist sicherlich in Ordnung, dem Patienten alles für ihn Gute zu wünschen, auch wenn dies möglicherweise sein Tod ist. Klar muss dabei nur sein, dass wir nicht wissen können, was wirklich für den Patienten gut und richtig ist. Wir sehen die Lage aus unserer Sicht, und selbst wenn wir die Situation des Patienten aus seinem Blickwinkel betrachten wollen, können wir nur mit unseren Gedanken versuchen, seine Gedanken zu überlegen.

Hier müssen wir bedenken, dass der häufigste Denkfehler heißt:

„Ich denke, der andere denkt wie ich denke.“

Dieser Satz ist die Grundlage aller Missverständnisse.

15.2 Die Situation des Patienten 

Wir können auch nicht erkennen, was aus einer übergeordneten Sicht das Schicksal des Patienten ist. Oder, um es religiös zu formulieren: Wir wissen nicht, was Gott mit dem Kranken vorhat. Wir müssen davon ausgehen, dass ein seelisch-geistiger Entwicklungs-prozess in einem Menschen abläuft, solange er noch lebt, auch wenn dieses Leben rein äußerlich betrachtet auf ein absolutes Minimum reduziert ist. Diesen Vorgang dürfen wir meiner Meinung nach nicht aktiv beenden.

Andererseits kann ich verstehen, dass ein Schwerstkranker unter bestimmten Bedingungen nicht mehr leben will und nach klarer Abwägung aller Gesichtspunkte beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Ich respektiere das, wenn ich es auch für sehr tragisch halte. Meines Erachtens müssen wir solchen Menschen unbedingt alle Möglichkeiten anbieten, im Gespräch zu bleiben und Hilfe zu finden, um das als unerträglich empfundene Leben weiter tragen zu können.

Als Außenstehende, auch als Familienmitglieder können wir nur versuchen, dem Kranken sein Leben lebenswert zu gestalten, wobei wir uns bewusst sein müssen, dass er das Wort lebenswert definiert und nicht wir! Das bedeutet, dass wir mit dem Patienten über seinen Sinn und Wert des kranken Lebens sprechen müssen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass wir dem Patienten unsere Sicht nicht aufzwingen dürfen und können. Und der Patient hat sehr wahrscheinlich eine andere Meinung, weil er in einer ganz anderen Lage ist als wir Gesunden. Was wirklich wichtig ist, können wir letztlich wohl gar nicht entscheiden oder behaupten, denn wir kennen die Pläne der Schöpfung für den Patienten nicht. Für mich ist nur klar, dass jeder Mensch die Verantwortung trägt für sein Handeln und sein Unterlassen. Er wird also irgendwann dafür Rechenschaft ablegen und die Konsequenzen aus seinem Tun ziehen müssen.

Ansonsten denke ich, dass der Satz „Ich liebe dich!“ auch bedeutet: „Ich akzeptiere dich so, wie du bist, und wenn du gehen willst, lasse ich dich gehen.“ Jemanden festhalten, heißt ihn zu verlieren. Wir können nur etwas oder jemanden wirklich gewinnen, wenn wir bereit sind loszulassen. Um so größer und schwieriger ist die Aufgabe, auch den Schwerkranken, die nicht mehr gesund werden, eine optimale menschliche und fachliche Pflege zu geben. Das schließt eine individuelle und hervorragende Schmerztherapie ebenso ein wie einen geistigen und geistlichen Beistand.

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Bei Schwerkranken müssen wir an die Gefahr der Selbsttötung denken!


Der Gedanke an Selbstmord 
hilft über manche Nacht hinweg.

Friedrich Nietzsche (1844-1900), deutscher Philosoph

Sie können eine Diagnose nur stellen, wenn Sie an die Diagnose denken!

Hans Erhard Bock, ehemaliger Direktor der Medizinischen Universitätsklinik Tübingen

14.1 Daran denken! 
„>Schon allein die Angst vor einer schweren Krankheit kann beim Patienten in der Panik den Wunsch auslösen, seinem Leben aktiv ein Ende zu setzen. Wir müssen in jeder Phase der Krankheit an eine mögliche Selbstgefährdung des Patienten denken. Gleichzeitig gilt die Tatsache, dass das Suizidrisiko36 bei chronisch Kranken genau so hoch oder genau so niedrig ist wie bei Gesunden!

Im ersten Halbjahr 1996 haben sich in ganz Deutschland 6 164 Menschen selbst getötet, davon mehr als doppelt so viele Männer wie Frauen. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum kamen 4 000 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben. Wie auch im Vorjahr lag der Häufigkeitsgipfel der Selbsttötungen nicht, wie häufig vermutet wird, in den dunklen Monaten des Jahres, sondern im Mai. Im Januar 1996 waren es 887 und im Mai 1 138 Menschen, die sich das Leben nahmen.FN

14.2 Darüber sprechen!

Dabei ist es sehr wichtig, diese Gefahr anzusprechen! Dadurch steigt die Suizidgefahr nicht! Es besteht auch nicht die Gefahr, dass wir einen Menschen durch das Gespräch auf die Idee bringen, er könne jetzt sich selbst töten. Die Psychiater und Suizidforscher sind sich einig, dass es eine Art der Vorsorge darstellt, über Suizidgedanken zu sprechen anstatt den Patienten mit seinen Phantasien allein zu lassen. Wir müssen im Gespräch darauf hinweisen, dass Gedanken an eine Selbsttötung normal sind. Meist äußern Patienten ihre Gedanken deshalb nicht, weil sie Angst haben, als „verrückt“ eingestuft und sofort in die Psychiatrische Klinik eingewiesen zu werden. Diese Angst können wir Ärzte und Sie als Angehörige ihnen zum Beispiel mit den folgenden Sätzen nehmen: „Es ist normal, dass Menschen in Ihrem Zustand darüber nachdenken, ihr Leben selbst zu beenden. Geht es Ihnen auch so?“

Wir sollten das Wort Selbstmord im Gespräch vermeiden, da es in unserer Gesellschaft moralisch sehr negativ belegt ist und bei den Menschen, die darüber nachdenken, sich umzubringen, im allgemeinen große Schuldgefühle auslöst.

14.3 Die Entwicklung kennen! 
Um Menschen mit Suizidgedanken besser zu verstehen, möchte ich kurz darstellen, wie es meistens zu dieser Entwicklung kommt. Im allgemeinen stehen Kränkungen37 des Säuglings ganz am Anfang des Dramas. Das kleine Kind hat zum Beispiel den Wunsch, gefüttert zu werden und wird abgelehnt. Es empfindet diese Ablehnung als Kränkung und wehrt sich mit Geschrei. Wenn die Mutter ihre Art von Aggression beziehungsweise Zurückweisung weiterführt, entsteht eine neue Kränkung. Solche Beispiele reihen sich im Laufe eines Lebens aneinander, und das Kind und der Heranwachsende erleben immer wieder Aggression und Gegenaggression. Dabei ist wichtig, wie jeder ein-zelne Mensch diese Verweigerungen empfindet und ob er lernt, eine gewisse Frustrationstoleranz zu entwickeln, die ihm erlaubt, mit einem normalen Maß an unvermeidlichen und zumutbaren Zurückweisungen umzugehen, ohne daran Schaden zu leiden. Dazu ist ein gesundes Selbstwertgefühl notwendig.

Wenn aber immer mehr Kränkungen empfunden werden, auf die der Mensch nicht angemessen reagieren darf, er also seine eigene Aggression nicht zeigen darf, bleibt seine Aggressionsenergie sozusagen in ihm stecken. Und da Energie nicht verschwinden, sondern sich nur umwandeln kann, richtet sich schließlich die Energie gegen den gekränkten Menschen selbst. Man nennt das eine Aggressionsumkehr. Der Mensch wird „sauer“ und bekommt zum Beispiel ein Magengeschwür, weil auf Grund der inneren Erregung eine vermehrte Menge Magensäure produziert wird. Er „frisst alles in sich hinein“ und wird dabei von der eigenen Säure, dem Symbol für Aggression, aufgefressen und „ärgert sich ein Loch in den Magen“. In diesem sauren Magenmilieu gedeihen die Bakterien besonders gut, von denen wir seit einigen Jahren wissen, dass sie das Geschwür auslösen. Neu daran ist, dass das Magengeschwür eine Infektionskrankheit ist!

Je mehr ein Mensch sich gegen sich selbst wendet, um so mehr wird er alle Signale seiner Umwelt im Sinne einer Ablehnung deuten39 und diese auf Grund seines verminderten Selbstwertgefühles auch als gerechtfertigt empfinden. Weil er sich als nicht mehr lobenswert sieht, glaubt er auch, nicht mehr liebenswert zu sein. Schließlich konzentrieren sich seine Gedanken so sehr auf diese Einschränkungen und Kränkungen, dass er an nichts anderes mehr denken kann. Das bezeichnen wir als Einengung. Die Gedanken drehen sich im Kreis und werden immer enger und auswegloser. Der Mensch kann nur schwer wieder aus dieser Denkspirale herausfinden. Deshalb ist es problema-tisch für ihn, Hilfe zu erbitten, weil er sich selbst für viel zu wertlos hält, um der Hilfe wert zu sein.

Das ist auch der Grund, warum es so wichtig ist, den Menschen auf seine möglichen Suicidgedanken anzusprechen, um ihm sein Schuld- und Minderwertigkeitsgefühl wenigstens zu verringern und eine Gelegenheit zu geben, aus seinem Gedankenkarussell heraus zu finden und einen neuen Weg zu sehen.

Wenn zu der Einengung noch ein akutes Ereignis in Form einer zusätzlichen Kränkung auftritt, kann es zu intensiven Suizidgedanken und deren prompter Umsetzung kommen. Denn der Mensch erlebt sich jetzt nicht nur als nicht lobenswert und nicht liebenswert, sondern auch als nicht lebenswert. Er ist dann bereit, die Aggression, die er immer gespürt hat, gegen sich selbst anzuwenden. Deshalb muss man bei jedem Suizid fragen, wem denn der Mord wirklich gegolten hat. Dabei ist zu berücksichtigen, dass viele Gründe, viele Tropfen sich addieren, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Und dabei ist der erste genau so wichtig wie der letzte.

Der Patient sehnt sich danach, in die absolute Ruhe zurückzukehren, in der er glaubt, sich wohlzufühlen und vor Angriffen und Kränkungen sicher zu sein. Und er stellt sich vor, all das im Tode zu finden. Das ist eine besondere Form der Regression, also des Rückschritts in ein sehr frühes Entwicklungsstadium.

Mir fällt dabei Frau Schneider ein, eine alte Dame, die ich über mehrere Jahre im Altenheim betreut habe. Sie war aus den ehemaligen Ostgebieten geflohen, hatte im Krieg und auf der Flucht ihren Mann und alle fünf Kinder verloren und lebte jetzt mit einer typischen Altersdepression vor sich hin jammernd im Heim. Sie klagte nie über ihre Vergangenheit, sprach nicht über die vielen Verluste, sondern stellte ihre körperlichen Beschwerden wie Gelenkschmerzen, Kopfschmerzen und Schlafstörungen in den Vordergrund. Auch bei mehreren Gesprächen, in denen ich versuchte, an die Ursachen ihrer Depression zu kommen, erzählte sie nie etwas von der Tragik, die sie durchgestanden hatte. Obwohl ich jahrelang ihr Hausarzt war, erfuhr ich ihre Leidensgeschichte erst nach ihrem Tod. Die Depression war eine Möglichkeit für sie, ihre Aggression zu leben, die sie auf natürliche Weise nicht nach außen zeigen konnte, weil sie immer gelernt hatte, Erniedrigungen zu dulden und Kränkungen zu ertragen. Ihr schweres Schicksal lastete auf ihr, und keiner ahnte, welche explosive Kraft sich in ihr angestaut hatte.

Eines Tages sprang Frau Schneider aus dem vierten Stock des Heims in die Tiefe. Erst bei näherem Befragen des Pflegepersonals wurde deutlich, dass für sie die letzte und entscheidende Kränkung darin bestanden hatte, dass die Schwester ihr nicht sofort die Haare waschen konnte, als die Patientin es verlangte, sondern freundlich um einen Moment Geduld bat, weil zuerst eine andere Heimbewohnerin versorgt werden musste. So konnte ein kleiner Funke eine große Bombe zünden, weil sich genügend Sprengstoff angesammelt hatte.

Dieses Ereignis führte dazu, dass die Pflegedienstleiterin des Heimes mich bat, eine Reihe von Fortbildungsveranstaltungen für das Personal zum Thema Suizid und Suizid-Vorsorge abzuhalten.

14.4 Eine grundsätzliche Frage 
Ist es richtig, einen Prozess künstlich zu beenden, der nicht auf natürliche Weise beendet ist? Ich denke, jeder Einzelne muss seine Entscheidung selbst für sich treffen. Unsere Aufgabe als Mitmenschen besteht darin, Hilfe in der Verzweiflung anzubieten. Auch wenn wir die Probleme der schwer kranken Patienten nicht lösen können, stellt ein Gesprächsangebot schon eine Möglichkeit der Erleichterung dar. Dabei sollten wir bedenken, dass wir niemanden zum Gespräch zwingen können und respektieren müssen, wenn wir in einer gut gemeinten Unterhaltung nicht als Partner angenommen werden.

Ganz sicher bewirkt aber ein hoffnungsvolles Gespräch mit einem suizidgefährdeten Menschen eine Minderung der Suizidgefahr. Solange wir im Kontakt bleiben und miteinander reden, besteht Hoffnung, den schwerwiegenden Entschluss zum Suizid abzuwenden und dem Verzweifelten neue Perspektiven zu eröffnen.

Wir müssen uns klar darüber sein, dass wir einen Suizid nicht verhindern können, wenn der Patient wirklich entschlossen ist, seinem Leben ein Ende zu setzen. So tragisch das ist, und so viele Schuldgefühle in den Angehörigen nach solch einer Katastrophe entstehen mögen, müssen wir letztlich akzeptieren, dass wir auch mit modernsten medizinischen und psychotherapeutischen Mitteln nur begrenzte Möglichkeiten der Be-handlung und wirklichen Einschätzung der Gefährdung besitzen.

14.5 Das tragische Beispiel 
Ich habe als Klinikarzt im Notarztwagendienst Herrn Brenner kennengelernt, einen schwer depressiven Mann, der selbst das Rote Kreuz alarmiert und in seiner Verzweiflung um Hilfe gebeten hatte. Als wir in seiner Wohnung ankamen, trafen wir einen tief niedergeschlagenen und hilflosen Mann, der große Messer und eine bereits geknüpfte Schlinge auf den Tisch gelegt hatte. Der schwarze Anzug hing am Schrank. Über der Brust und den Armen von Herrn Brenner bluteten einige oberflächliche Schnitte, die er sich zugefügt hatte. Nach einem längeren Gespräch, das wegen seiner Depression von seiner Seite sehr zäh und langsam ablief, erreichte ich schließlich, dass er freiwillig in die Psychiatrische Klinik mitging, um sich dort behandeln zu lassen. Drei Wochen später sprach mich ein Rettungssanitäter an, der an jenem Sonntag alles miterlebt hatte. Er berichtete, er habe heute Herrn Brenner aus der Klinik abgeholt, weil dieser von den Ärzten als nicht mehr gefährdet eingeschätzt wurde und auch selbst um seine Entlassung gebeten hatte. Eine Stunde nach seiner Ankunft zu Hause stürzte sich Herr Brenner vom Balkon seiner Wohnung und war sofort tot.

14.6 Die Lehre daraus
Es ist ein Fehler zu glauben, wer immer über Suizid redet und ihn androht, begehe ihn nicht. Und es ist ebenso falsch, davon auszugehen, wer nichts rede und nach außen von seinen inneren Kämpfen nichts zeige, sei nicht gefährdet.

Ich denke, jeder Leser kennt die wahren Geschichten von Menschen, die immer so freundlich, völlig unauffällig und ausgeglichen gewirkt haben und deshalb eines Tages um so unerwarteter irgendwo tot aufgefunden wurden. Die nähere Erforschung der Todesursache ergab eine Selbsttötung.

Ich halte es für falsch, solche Menschen für ihre Tat zu verurteilen. Ich kann gut nachvollziehen, dass wir Überlebenden enttäuscht, verbittert, ratlos wütend und traurig über eine solche tödliche Entscheidung eines nahestehenden Menschen sind. Aber ich denke, wir haben kein Recht, weder ein moralisches noch ein religiöses, ihn deshalb menschlich abzulehnen. Aufgrund unserer Eigenverantwortung wird jeder Mensch auch die Konsequenz erleben und erfüllen müssen, gleichgültig, ob es eine Wiedergeburt gibt oder nicht.

Leider ist es auch so, dass wir letztlich einen Suizid nicht verhindern können, wenn ein Mensch fest entschlossen ist, sein Leben wirklich aktiv zu beenden. Wir müssen das akzeptieren, auch wenn es uns noch so schwer fällt und wir alles tun, um eine solche Tat zu verhindern.

Ich denke, es führt nie zu einem guten Ergebnis, wenn wir einem anderen Menschen Schuld aufladen. Die „Motivation“ mit Schuld ist eine der gemeinsten und wirkungsvollsten Methoden, einen Mitmenschen klein und unselbständig zu halten. Er hat keine Chance, aus eigenem Antrieb konstruktiv zu sein. Wenn Sie einen Menschen mit Schuld unterdrücken, machen Sie sich selbst zum Unterdrücker. Wollen Sie, dass das bekannt wird?

Welches Motiv hat ein Beschuldiger, dem Mitmenschen Schuld aufzuladen, die diesen niederdrückt und ganz bestimmt nie aufrichtet? Meiner Meinung nach stellt die Verteilung von Schuld immer eine Machtbestrebung dar, in der ein Beschuldigter der Unterlegene ist und der Beschuldiger sich manchmal sogar unter dem zynischen Vorwand, es ja nur gut zu meinen, über den angeblich Schuldigen stellt.

Aus einer schuldbeladenen Seele können keine freien Gedanken und keine echte Eigeninitiative wachsen. Ich bin in der täglichen Praxis und in privaten Begegnungen immer wieder erschüttert über die katastrophalen Folgen, die eine Schuld aufbürdende Erziehung für das ganze Leben hervorruft. Statt dessen halte ich es für viel angemessener, darüber nachzudenken, welche Qualen und peinigenden Überlegungen in einem Menschen abgelaufen sein müssen, der sein Leben selbst beendet hat. Es steht fest, dass die meisten Menschen, die Suizid begehen, wirklich gerne leben wollen, aber eben nicht unter den Bedingungen, die sie bedrücken.

Ich will nicht darüber diskutieren, ob ein Mensch das Recht hat, sich das Leben zu nehmen. Denn das ist meines Erachtens eine Glaubensfrage, und jeder sollte für sich entscheiden. Ich finde es auch nicht richtig, wenn wir versuchen, unsere eigene Meinung einem anderen Menschen aufzuzwingen, und schon gar nicht mit der Last der Schuldgefühle. Ich glaube, es ist auch unehrlich, einem Menschen Vorwürfe über seine Suizidgedanken oder Suizidversuche zu machen. Diese Vorhaltungen entspringen häufig der eigenen Erschütterung und Hilflosigkeit oder der Betroffenheit, sich selbst für Versäumtes schuldig zu fühlen. Denn ich glaube, es gibt keinen Menschen, der nicht schon darüber nachgedacht hat, wie es denn wäre, wenn er sich selbst das Leben nehmen würde. Das ist normal.

Wichtig ist, wie wir mit diesen Gedanken umgehen, wie wir wieder zum Leben zurückfinden und die Kraft spüren, weiterzuleben und den Mut zu haben, dem nächsten Tag wieder offen zu begegnen. Das können wir schaffen, wenn wir einem gefährdeten Menschen in dem dunkelsten Moment seiner Existenz wenigstens einen kleinen Schimmer vom Licht der Freundschaft, der Liebe oder des Glaubens vermitteln.

Die Chinesen haben das Sprichwort: „Ein Wort, das von Herzen kommt, macht dich für drei Winter warm.“ Dazu genügt es manchmal, einfach da zu sein und nicht zu kritisieren und nicht zu den vielen bereits erlittenen Kränkungen noch die Erniedrigung der Verständnislosigkeit und der Vorwürfe hinzuzufügen.

Es kann hilfreich sein, dem niedergedrückten Menschen zu zeigen, dass wir ihn annehmen mit all seinen Schwächen und Unzulänglichkeiten und versuchen, ihm bedingungslose Liebe zu zeigen. Denn die wahre Liebe kennt keine Bedingungen, sondern nimmt den Menschen, wie er ist.

Gerade in diesen Verzweiflungssituationen kann aus diesem Funken Vertrauen und Zuwendung eine neue Hoffnung erwachsen, dass wir von Mitmenschen angenommen und von einer höheren Macht getragen werden und dass schwierige Lebenslagen immer auch eine Quelle für Neuentwicklungen darstellen.

14.7 Die Entscheidung, die Sichtweise zu wählen 
Das griechische Wort krisis bedeutet Wendepunkt, Höhepunkt, Entscheidung. In der chinesischen Schrift wird das Wort aus den beiden Wörtern Chance und Gefahr zusammengesetzt. Es sieht also aus wie eine Gleichung:

Krise = Chance + Gefahr

Wenn wir darüber nachdenken, stellen wir fest, dass sich dahinter eine einfache und richtige Philosophie verbirgt. In jedem Konflikt stecken immer die Möglichkeiten zur Weiterentwicklung, zum inneren Wachs-tum und zu neuen weiterführenden Erkenntnissen. Im ganzen Universum gibt es keine Entwicklung, die ohne eine Herausforderung, eine Krise, ein Problem entstanden ist. Alle Eigenschaften, die Pflanzen, Tiere und Menschen im Laufe der Jahrtausende entwickelt haben, sind aus Krisen entstanden, zum Beispiel aus der Notwendigkeit zu überleben, sich gegenseitig zu unterstützen, sich zu verteidigen, miteinander zu kommunizieren.

So können wir unter diesem Gesichtspunkt überlegen, dass die Krise, in der wir stecken, mit Sicherheit eine solche Chance birgt. Dann stellt sie eine lösbare Aufgabe, eine lohnende Herausforderung, eine Gelegenheit zum Gewinn dar. Wenn wir aber die Gefahrenseite in unserer Vorstellung überwiegen lassen, sehen wir den drohenden Untergang, die vernichtende Lage, die hoffnungslose Katastrophe.

14.8 Das Gefühl gewinnt!
Wie wir uns einstellen, wird es geschehen. Ich will auch bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, dass Angst eine hervorragend wirksame Beeinflussung des Unterbewusstseins darstellt, dass genau das geschieht, wovor wir uns fürchten. Denn unser Unterbewusstsein speichert die stark gefühlsbeladenen Bilder, die wir uns von der gefürchteten Situation machen und führt uns genau dahin.

Es ist auch eine bekannte Tatsache: Wenn Gefühl und Verstand miteinander streiten, gewinnt letztlich immer das Gefühl. Auch wenn es erst sehr spät und dann zum Beispiel mit körperlichen Symptomen siegt. Es ist also wichtig, dass wir darüber nachdenken, was wir wollen und nicht uns vorstellen, was wir nicht wollen. Auch in der verzweifelten Lage eines Schwerkranken, der mit Suizidgedanken belastet ist, weil er keinen Ausweg sieht, kann es gelingen, Hoffnung aufzuzeigen.

In der täglichen Sprechstunde und am Krankenbett hilft mir immer wieder das Gesetz des Glücks, das ich an den Beginn des Buches gestellt habe. Auch wenn es schwerfällt, etwas zu ändern oder etwas als unveränderbar anzunehmen und die Einstellung zu verändern, sind dies die einzigen wirklichen -wirkenden! – Möglichkeiten, sinnreich und wirkungsvoll mit einer konfliktbeladenen Situation umzugehen.


36 Suizid kommt von lat. sui caedere und bedeutet wörtlich: „sich selbst fällen“

FN Deutsches Ärzteblatt, 21. März 1997, zit. nach Satistisches Bundesamt

37 Beachten Sie bitte die wörtliche Bedeutung: Kränkung heißt Krankmachung!

39 Sie erinnern sich: Unsere Wahrnehmung verändert unsere Wahrnehmung!

Copyright Dr. Dietrich Weller

Dieses Kapitel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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Wie können die Kranken neue Ziel anstreben?

 

Der Weg ist das Ziel.

Lao-tse, chinesischer Philosoph

Suche nicht den Schuldigen. Löse das Problem.

Japanisches Sprichwort

Wissen und nicht danach handeln heißt noch nicht wissen.

Buddhistische Weisheit

13.1 Einleitung 

Jede Krankheit hat auch positive Seiten, wie wir im Kapitel 5 besprochen haben. Dazu kommen noch andere Gesichtspunkte, die entscheidend für den weiteren Verlauf der Krankheit sind. Jede Krankheit stellt eine Chance dar, Bilanz zu machen und neue Prioritäten zu setzen, neue Aktivitäten zu beginnen und andere Dinge zu lassen. Entscheidende Fragen hierzu können weiterhelfen, um Klarheit zu gewinnen. Diese Fragen sind auch sehr aufschlussreich für Schwerkranke, die wieder gesund werden, denn die daraus folgenden Erkenntnisse führen meist zu einem völlig veränderten Lebensstil und neuen Lebensziel nach der Genesung.

Ein Mensch, der sich in einen Herzinfarkt hinein getrieben hat, wird mit großer Wahrscheinlichkeit nach ehrlicher Beantwortung der folgenden Fragen sein Leben nach der Krankheit ändern. Das gilt auch dann, wenn die Änderung nur darin besteht, dass er sich in Zukunft wenigstens seiner Fehler bewusst ist, wenn er sie wieder macht.

13.2 Praktische Übungen 

Wenn Sie Ihre Überzeugungen hinterfragen wollen, die Ihr Denken und Handeln, also Ihr Leben prägen, empfehle ich Ihnen, in einer ruhigen Stunde die folgenden Testfragen zu beantworten. Dr. Simonton hat sie 1992 bei dem Kongress für Holistische33 Medizin in Garmisch-Partenkirchen vorgestellt. Ich habe sie häufig in der Praxis mit Patienten besprochen und bin mit diesen dabei auf sehr interessante, gewichtige und weiterhelfende Erkenntnisse gekommen.

Schreiben Sie sich wesentliche Überzeugungen auf, die Ihr Leben geprägt haben, nach denen Sie in der Vergangenheit gelebt haben und die Sie heute noch haben. Versuchen Sie, möglichst klare und kurze Sätze zu formulieren.

Zum Beispiel:

– Ich bin erfolglos.
– Ich bin hässlich.
– Ich falle in Prüfungssituationen durch.
– Ich bin ein guter Partner.
– Ich bin in Krisen unzuverlässig.
– Ich bin in meinem Beruf sehr gut.
– Meine Partnerin steht auch in der Not zu mir.

Dann gehen Sie jede Überzeugung mit den folgenden Fragen durch.

Testfragen für Patienten über ihre wesentlichen pathologischen34 Überzeugungen

1.    Beruht diese Überzeugung auf Tatsachen?
(nicht bei religiösen und spirituellen Überzeugungen)

2.    Schützt diese Überzeugung mein Leben und meine Gesundheit?

3.    Hilft mir diese Überzeugung, meine Kurz- und Langzeitziele zu erreichen?

4.    Hilft mir diese Überzeugung, meine schlimmsten Konflikte zu lösen oder zu
vermeiden?

5.    Hilft die Überzeugung, mich zu fühlen, wie ich mich fühlen will?

Mindestens 3 Fragen müssen bei jeder Überzeugung mit „ja“ beantwortet werden, sonst ist es eine ungesunde Überzeugung.

Wenn Sie feststellen, dass Sie pathologische Überzeugungen haben, sollten Sie neue, gesunde und positiv formulierte Überzeugungen an deren Stelle entwickeln, aufschreiben und deren Umsetzung mindestens dreimal täglich in entspanntem Bewusstseinszustand visualisieren. Dazu empfehle ich Ihnen die Bücher und Kassetten von Simonton.

Wie solch eine Visualisierungsarbeit praktisch abläuft, habe ich am Beispiel von Achim Krüger in meinem Buch „Wenn der Herbst zum Frühling wird“ ausführlich beschrieben.

Der Begriff positiv formuliert bedeutet, dass Sie sagen, was Sie wollen und nicht, was Sie nicht wollen. Also nicht: „Ich will nicht mehr krank sein!“ sondern „Ich will gesund sein!“ Das setzt voraus, dass Sie wissen, was Sie wollen. Sehr viele Menschen wissen aber nur, was Sie nicht wollen. Das ist ein grundlegender Unterschied der Erziehung und der Denkweise. Wenn Sie wissen, was Sie wollen, sind Sie gewohnt, die Verantwortung für sich zu übernehmen. Wenn Sie wissen, was Sie nicht wollen, haben Sie sich in der Vergangenheit meistens oder immer von Respektpersonen leiten lassen und selten oder nie wirklich die Verantwortung für ihr Leben übernommen. Hilfreich für diesen geistig-seelischen Entwicklungsprozess besonders bei der Bewältigung des Sterbeprozesses sind auch die folgenden Fragen35:

–     Was für ein Gefühl hätte ich über mein Leben, wenn ich heute sterben würde?
–     Was ist mir wirklich wichtig gewesen?
–     Wen habe ich geliebt?
–     Was habe ich erreicht?
–     Was wird von mir bleiben, wenn ich tot bin?
–     Was werde ich ändern, wenn ich gesund werde?

Die ehrliche Beantwortung dieser Fragen ergibt neue Perspektiven, neue Lebensqualität und neues Lebensbewusstsein und Anregungen für Aktivitäten, gleichgültig, wie lange Sie noch zu leben haben. Diese Überlegungen können aber nur konstruktiv sein, wenn der Kranke bereit ist, klare Vorstellungen zu entwickeln, selbst aktiv etwas für sich zu tun und dann erst die letzte Entscheidung zu übergeben.



33 holistisch = ganzheitlich

34 pathologisch = krankhaft, schädlich

35 Simonton: Heilung in der Familie, Rowohlt-Verlag

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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Wie können wir Kranke sinnvoll motivieren?


Damit das Mögliche entsteht, 
muss immer wieder das Unmögliche versucht werden.

Hermann Hesse (1877-1962), deutscher Schriftsteller, 1946 Nobelpreis für Literatur

Hindernisse überwinden ist der Vollgenuss des Daseins.

Arthur Schopenhauer (1788-1860), deutscher Philosoph

Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.

Günther Hörrmann, deutscher Schriftsteller

12.1 Warum ist der Patient nicht motiviert?

Ein Kranker kann nur gesund werden, wenn er weiß, gegen wen oder was er krank geworden ist, und wofür er gesund werden will. Um diese Zusammenhänge zu klären, sind offene Gespräche unerlässlich.

Viele Patienten sind sich nicht klar darüber, dass sie bewusst oder unbewusst in die Krankheit geflüchtet sind, um sich mit bestimmten Menschen und Problemen nicht konfrontieren zu müssen. Dann ist die Krankheit eine Methode einer scheinbaren Lösung, indem der Kranke sich nicht mehr mit dem Konflikt beschäftigt. Das habe ich ausführlich in dem Buch „Wenn der Herbst zum Frühling wird“ über Achim Krüger beschrieben.

12.2 Der natürliche Umgang in der Familie 

Um den Patienten möglichst gut zur Gesundheit und Eigenaktivität zu motivieren, muss der Alltag der Familie so normal wie möglich weitergeführt werden. Deshalb müssen Kranke so natürlich wie möglich in die Familie integriert werden. Sie können auch kleine Aufgaben übernehmen, wenn sie zu Hause sind. Aktiv zu sein, den Tagesablauf weitgehend selbst zu gestalten, Pläne zu machen, mit zu entscheiden, das alles bedeutet, am Leben teilzunehmen. Es verbessert ihr Selbstwertgefühl und damit ihren Heilungsprozess, weil sie erleben, was sie noch leisten können, wofür sie gebraucht werden und wie es besser werden kann. Auch kleine Fortschritte müssen bewusstgemacht und gelobt werden.

Dazu habe ich einmal ein treffendes Beispiel von einer jahrelang bettlägerigen, depressiven Frau gelesen, die nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour von Bekannten gebeten wurde, vom Bett aus ein paar Notrufe zu übernehmen. Sie entwickelte daraus einen kleinen Telefondienst zur Familienzusammenführung und wurde so aktiv dabei, das sie lernte, innerhalb weniger Wochen wieder aufzustehen und die Aufgaben aktiv und in guter Stimmung am Schreibtisch zu erledigen. Die Aktivität war die richtige Therapie der Depression. Deshalb gibt es den Grundsatz bei der Be-handlung Depressiver, sie immer vorsichtig und konstant zu aktivieren. Ständig im Bett zu bleiben, bringt für einen Depressiven eine Verschlechterung seiner Erkrankung! Auch Schwerkranke können und sollen in begrenztem Umfang gefordert werden. Damit kön-nen sie wieder Bestätigung, Erfolgserlebnisse und neuen Lebensmut gewinnen.

12.3 Der Wortschatz und die Beziehung 

Jemandem alles total abzunehmen, heißt ihn zu bevormunden und ihm sein wesentliches Selbstbestimmungsrecht zu nehmen. Das führt im allgemeinen zur Verringerung seines Selbstwertgefühles, zur Selbstaufgabe und nicht zur Heilung. Es bedeutet auch, dass der Patient selbst entscheiden muss, ob und wie er wieder gesund werden will. Ihm das vorzuschreiben oder gar mit Schuldgefühlen dahin zu führen, erniedrigt den Patienten, macht ihn unselbständig und sicherlich eher aggressiv als kooperativ. Und er wird noch kränker werden.

Haben Sie sich schon einmal Gedanken über die Wirkung von verschiedenen Schildern bei uns Deutschen gemacht? „Bitte nicht eintreten!“ – „Eintritt verboten!“ – Spüren Sie den unterschiedlichen Ton, der gleich auch eine bestimmte Beziehung zwischen dem Menschen herstellt, der das Schild aufstellt und dem, der es liest?

Achten Sie auf einen positiven Wortschatz und vermeiden Sie negative, entmutigende Sätze. Wenn Sie bewusst auf Ihre Wortwahl achten, werden Sie wahrscheinlich entdecken, dass Sie völlig unbewusst viele negative Formulierungen benützen. Das beginnt schon bei der Begrüßung: „Wie geht es dir?“ – „Nicht schlecht!“ Das können Sie auch positiv formulieren: „Mir geht es besser als gestern.“ Oder: „Ich wünsche mir, dass es mir besser geht.“

Beachten Sie bitte den Unterschied bei den folgenden Sätzen: „Ich freue mich, dass es dir besser geht.“ Oder: „Ich freue mich, dass es dir nicht mehr so schlecht geht.“

„Ich hoffe, dass du bei der Operation keine Komplikationen hast.“ Oder: „Ich wünsche dir, dass deine Operation gut für dich verläuft.“

Es ist ein grundsätzlicher Unterschied, ob Sie sagen, was Sie nicht wollen, oder ob Sie wissen und sagen, was Sie wollen.

Wenn Sie aber am Stammtisch, im Wartezimmer des Arztes, beim Kaffeeklatsch und beim Einkaufstreff zuhören, werden Sie beobachten, dass es des Deutschen liebster Sport ist, den Nachbarn in der Schwere und Anzahl der Krankheitssymptome und der Menge der verordneten Tabletten zu übertrumpfen. Das Arztgeheimnis wird im Wartezimmer ausgeplaudert.

Hier heißt für den Patienten das Motto: „Wer viele Tabletten isst, muss schwer krank sein, und wer schwer krank ist, braucht mehr Beachtung und ist wichtiger als andere!“ Auch das ist ein Vorteil der Krankheit! Manche Menschen fühlen sich nicht gesund, wenn sie nicht krank sind. Und das meine ich keineswegs ironisch, sondern sehr ernst. Dahinter steckt eine besondere Tragik des Patienten, der diesen Satz auf sich anwendet.

Vermeiden Sie offensichtliche Lügen oder Banalitäten: „Es ist ja halb so schlimm!“ – „Es wird schon wieder werden!“ Solche Sätze sind wohl eher ein Zeichen der eigenen Betroffenheit und Hilflosigkeit als der echten Hilfsbereitschaft und Einfühlung.

Sie können davon ausgehen, dass ein normal empfindender Mensch fühlt, wie es um ihn steht. Wenn er dann mit oberflächlichen und gut gemeinten Schmeicheleien oder barmherzig gedachten Notlügen angesprochen wird, bleibt auch die Beziehung an der Oberfläche. Eine echte Begegnung, die jetzt gerade in dieser Situation so nötig und gewinnbringend sein könnte, wird unmöglich. Ein ehrliches und offenes Gespräch wird ausgeschlossen, weil der Patient merkt, dass er angelogen wird. Und wer will sich schon öffnen für jemanden, der die Unwahrheit sagt oder zeigt, dass er mit den Tatsachen nicht umgehen kann!

12.4 Positives Denken ist gesund! 

Positives Denken bedeutet nicht, wie oft behauptet, Negatives grundsätzlich zu leugnen. Alles hat zwei Seiten. Es liegt an jedem von uns, wie wir etwas bewerten. Positiv denken heißt, sich bewusst für das zu entscheiden, was unserer Meinung nach positiv ist oder / und die positive Seite des Negativen darstellt. Wer positiv denken will, muss in jeder Lage immer noch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Situation auch positive Aspekte hat, auch dann, wenn wir sie im Moment nicht sehen.

Der direkte Zusammenhang zwischen einer positiven Lebenseinstellung und dem rascheren Heilungsprozess ist bewiesen. Der amerikanische Krebsarzt Dr. Carl Simonton hat mit seiner Frau zusammen Patienten betreut und verschiedene Behandlungsmethoden angeboten: Die erste Gruppe von Kranken erhielt eine rein schulmedizinische Betreuung. Die zweite Gruppe wurde zusätzlich psychotherapeutisch versorgt. In der dritten Gruppe erhielten die Patienten die Möglichkeit, außerdem noch als Hilfe ein psychotherapeutisch wirksames Gebet in ihrer eigenen Glaubensrichtung zu erarbeiten. Diese letzte Gruppe hatte mit weitem Abstand die besten Heilungschancen.

Wir wissen bereits aus der Beobachtung der erfahrenen Ärzte und Heiler aus allen Jahrhunderten, was uns die moderne Psychoneuroimmunologie31 beweist: Positive Einflüsse auf die Gedanken und Gefühle des Menschen stärken seine körperlichen Abwehrmechanismen messbar, während die Abwehrkraft durch negative Einflüsse erheblich beeinträchtigt wird.

Jeder von uns weiß aus eigener Erfahrung, dass er leichter krank wird und zum Beispiel einen grippalen Infekt bekommt, wenn er sich seelisch nicht wohlfühlt. Auch die Unfallhäufigkeit ist deutlich gesteigert, wenn wir innerlich unruhig, unausgeglichen und belastet sind. Das geht sogar so weit, dass eine amerikanische Lebensversicherungs-gesellschaft herausgefunden hat, dass die Häufigkeit von Unfällen auf dem Weg zur Arbeit und während der Arbeit deutlich geringer ist bei Menschen, die vom Partner zu Hause liebevoll verabschiedet werden, als bei anderen, die nicht zum Abschied gegrüßt werden oder im Streit mit dem Partner auseinander gehen.

Deshalb ist der Ausdruck der gegenseitigem Liebe auch in der positiven und manchmal strengen Ehrlichkeit hilfreich, wenn wir dem Schwerkranken vermitteln, dass wir ihn annehmen, wie er ist.

12.5 Positiv denken im Sterben – eingelebtes Beispiel 

Dazu erinnere ich mich sehr eindrucksvoll an Herrn Gruber, der bis in seinem letzten Lebensjahr noch zuverlässig die Steuerangelegenheiten in der Firma seines Sohnes erledigt hatte. Als der Sohn einen anderen Steuerberater beauftragte, um den Vater zu „schonen“, brach für den alten Herrn die Welt zusammen. Er fiel nach dieser Nachricht vorübergehend in eine tiefe Depression und sah keinen Sinn mehr in seinem Leben. Es wunderte mich überhaupt nicht, dass er innerhalb von wenigen Monaten aus voller körperlicher Gesundheit heraus Symptome eines Magenkrebses entwickelte. Ich sprach sehr offen über meinen Verdacht, und da Herr Gruber inzwischen wieder klar entscheiden konnte, bat er mich, keinerlei Diagnostik und Therapie zu machen, da er unter den für ihn herrschenden Umständen beschlossen hatte, nicht mehr weiterzuleben. In mehreren informativen Gesprächen über die Folgen der unterlassenen Therapie war er klar, entschieden und konsequent in seiner Haltung. Ich denke heute noch in großer Hochachtung an die Würde und Aufrichtigkeit, mit der er sich von seiner Familie und von mir verabschiedete, bevor er zu Hause starb, von seiner Tochter liebevoll gepflegt und respektiert.

Gerade in solchen Situationen zeigt sich, ob die Liebe wirklich Liebe ist oder nur ein Aneinanderhängen, um den anderen zu einem Verhalten zu verpflichten, das dem pflegenden Partner vordergründig gut tut.

12.6  Besuche und Geschenke

Freundschaften und andere wichtige Beziehungen sollten unbedingt gepflegt werden, auch wenn sie durch krankheitsbedingte Begrenzungen vielleicht nur eingeschränkt gelebt werden können. Der Kranke sollte daran teilnehmen, soweit es ihm möglich ist. Wenn das Verhalten der Freunde und Bekannten den Kranken oder die Familie belastet, sollte das direkt und einfühlsam besprochen werden.

Lange und zu häufige Besuche sind für den Kranken oft eine Last, weil er müde ist und sich vielleicht verpflichtet fühlt, den Besucher zu unterhalten und auf keinen Fall Schwäche oder Erschöpfung zu zeigen. Deshalb sind kurze und positiv wirkende Besuche und ermunternde Gespräche viel hilfreicher als, wie es leider sehr häufig geschieht, dem Kranken ausführlich und dramatisch zu schildern, welche Katastrophen sonst noch bei dieser Krankheit passieren können, und wer schon daran gestorben ist. Bevor Sie das Krankenzimmer betreten, überlegen Sie konkret, wie Sie dem Kranken Trost, Erleichterung und Freude verschaffen können. Bringen Sie sich innerlich in eine aufbauende Stimmung, besonders wenn der Kranke sich in einem sehr schwierigen Stadium seiner Krankheit befindet. In jedem Fall sind Takt und Einfühlungsvermögen unerlässlich. Dem Patienten soll es nach Ihrem Besuch besser gehen als vorher! Wenn Sie sich nicht zutrauen, den Patienten wenigstens ein bisschen aufzumuntern, sollten Sie auf den Besuch verzichten.

Ich bin einmal ins Krankenhauszimmer eines befreundeten Kollegen gegangen, der wenige Tage zuvor einen komplizierten Herzinfarkt mit Herzstillstand erlitten hatte. Manfred lag im Halbdunkel und war noch sehr schläfrig aber wach. Ich sagte nur: „Wir sind alle sehr erleichtert, dass du bei uns bist und die erste Hürde geschafft hast. Wir wünschen dir von Herzen, dass es dir rasch besser geht. Und ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass wir sehr intensiv an dich denken. Ich werde wiederkommen.“ Dann habe ich ihn in den Arm genommen und den Raum wieder verlassen. Der Kollege war zu Tränen gerührt, bedankte sich herzlich für die guten Wünsche, und wir haben uns wortlos verabschiedet. Ich denke, das war ein guter Besuch.

Wenn Sie den Kranken nicht besuchen wollen oder aus irgendwelchen Gründen nicht zu ihm gehen können, schreiben Sie eine Karte oder einen Brief, oder besprechen Sie eine Tonbandkassette. Das hat den Vorteil, dass der Patient sich mit Ihnen und Ihren Gedanken beschäftigen kann, wenn er sich dazu in der Lage fühlt. Den Brief oder die Kassette kann er mehrfach überdenken und „portionsweise“ genießen, wie er will und kann.

Denken Sie bitte auch daran, einem Kranken mit offenen Wunden keine Blumenerde ins Zimmer zu bringen, da diese ein hervorragender Nährboden für Wundstarrkrampf- und andere krankheitserregende Bakterien ist. Das ist der Grund, warum in operativen Stationen nur Schnittblumen erlaubt sind. – Nehmen Sie bitte nachts die stark duftenden Blumen aus dem Zimmer. Sie stören sonst den Schlaf des Patienten.

Was können Sie sonst noch mitbringen, um dem Kranken eine Freude zu machen? Ich möchte Ihnen ein paar Vorschläge machen, die über die üblichen Geschenke wie Blumen, Alkohol, Süßigkeiten und Bücher hinausgehen.

Dabei ist die innere Beziehung zwischen Ihnen und dem Patienten die Grundlage der Geschenkeauswahl. Es geht also nicht darum, viel Geld auszugeben! Fühlen Sie sich in die Person hinein, die Sie besuchen, und empfinden Sie Ihre Beziehung zu ihr. Was macht dem Kranken ein gutes Gefühl? Was trägt zu seiner Genesung bei?

Wenn Sie sich an gemeinsame schöne Erlebnisse erinnern, ist vielleicht ein Bild in einem hübschen Rahmen, ein Videofilm oder ein anderes Andenken daran ein sinnreiches Geschenk. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass ein Freund meines Vaters von einer Wanderung in den Alpen ihm einen wunderschönen großen Stein mitbrachte und diesen mit den Worten überreichte: „Ich hoffe, dass unsere Freundschaft immer so fest und glatt ist wie dieser Stein. Ich habe bei der Wanderung an Dich und unseren gemeinsamen Lebens- und Freundschaftsweg gedacht!“

Versuchen Sie zu verspüren, mit welchem Gegenstand oder mit welcher Geste Sie eine glückliche Situation im Patienten ansprechen können. Wenn Ihr Bekannter oder Ihre Freundin gern anschmiegsame oder warme Gegenstände mag, können Sie eine Freude machen mit einem schönen Kissen, einem feinen Tuch oder weichen Schal. Ein besonderes Taschentuch mit beziehungsreichen Motiven oder kunstvoller Verarbeitung, eine kleine handgestickte Decke für den Nachttisch sind nur wenige Beispiele, die Sie anregen können.

Wenn Sie eine sehr persönliche Beziehung haben, ist es auch in Ordnung, wenn Sie besondere Produkte zur Körperpflege schenken: Ein Waschlappen aus edlem Frottee oder mit besonderen Farbkombinationen, das dazu passende Handtuch, ein ausgefallenes Parfum, eine geschmackvoll ausgesuchte Seife, ein gutes und unaufdringliches Rasierwasser, ein angenehmes Massageöl für den Rücken, eine schöne Serviette können Begeisterung auslösen.

Eine Unterstützung beim Essen und Spielen ist ein Bett-Tablett. Beachten Sie, dass man es auch schräg stellen kann, um ein Buch zum Lesen darauf zu legen. Der Patient wird vielleicht dankbar sein, eine gute Unterlage zum Schreiben oder Malen zu haben.

Gläubigen Menschen machen Sie eine besondere Freude, wenn Sie handschriftlich ein Buch verfassen mit Gebeten, die Sie zum Beispiel täglich mit dem Patienten sprechen. Gestalten Sie ein individuelles Gebetbuch mit passenden Bildern, die Sie aus Zeitschriften zusammenstellen oder selbst malen können. Gepresste Blumen und eine Widmung machen das Buch besonders persönlich und wertvoll. Solch ein Geschenk ist ein kostbares Zeugnis Ihrer Beziehung, das weit über die Krankheit hinaus seinen Wert behält.

Wenn Sie gerne schreiben oder dichten, verfassen Sie doch ein Märchen, ein Gedicht oder eine beziehungsreiche Geschichte für den Patienten, in dem er direkt oder indirekt beschrieben eine Rolle spielt. Sie können so auf manche Weise Ihre Botschaft vermitteln, sogar eine unangenehme, die Sie vielleicht nicht so gerade heraus anbringen wollen. Aber achten Sie immer darauf, dass Sie mit Takt und Anstand die Gefühle des Patienten respektieren!

Eine schöne Kerze ist ein altbekanntes Symbol für das Lebenslicht, die Erleichterung und Erleuchtung im Leid. Sie ist als Geschenk immer richtig.

Legen Sie ein Besucherbuch bereit, in das die Gäste ihre mündlichen Wünsche zur Genesung auch eintragen und das der Patient in stillen Stunden immer wieder für sich allein lesen und die damit verbundene Zuneigung nachempfinden kann. Stellen Sie Farbstifte dazu, dann wird das Buch durch die lebhafte bunte Gestaltung ein lebendiges Kunstwerk. Sie können den Besucher bitten, ein Foto von sich mitzubringen, das sie in das Buch kleben.

Haben Sie zu dem Kranken eine Herzensbindung, nehmen Sie von sich ein wertvolles und geliebtes Schmusetier und bringen es dem Patienten mit der Erklärung, dass dieses Tier jetzt auf sie / ihn aufpasst, bis sie / er genesen ist. In diesen Fällen ist eine Leihgabe möglich.

Für Menschen, die eine innige und intime Beziehung zueinander haben, kann es ein Zeichen besonderer Verbundenheit sein, ein Kleidungsstück des gesunden Partners zu tragen oder sein Kopfkissen zu bekommen. Der vertraute Körperduft an diesem Schlafanzug oder Hemd oder Kissen ist ein wichtiges Signal der Zusammengehörigkeit und des intimen Wohlfühlens. Man sagt nicht ohne Grund: „Ich rieche dich gerne!“

Unter Liebenden kann ein Liebesbrief oder ein anderes Erinnerungsstück aus vergangenen glücklichen Tagen herrliche Gefühle wecken und die momentane schwie-rige Situation emotional stützen und aufbauen.

Selbstgebastelte Geschenke sind immer ein Zeichen besonderer Zuwendung: von einem kleinen Bild über Strick-, Häkel-, Stick- und Näharbeiten bis zu liebe-voll verzierten Holz- und Papierkunststücken.

Denken Sie auch daran, dem Patienten etwas zu kochen oder zu backen, was er gerne mag. Was hat er bei seinem letzten Besuch bei Ihnen als besonders gut gelobt? Erkundigen Sie sich bei den mit ihm lebenden Angehörigen, ob Ihr Essens- oder Backgeschenk in der jetzigen Situation richtig ist und der Patient es auch genießen darf. Wenn Sie einem frisch am Magen operierten Freund seine Lieblingssahnetorte bringen, erkennt er vielleicht Ihre guten Absichten, aber er ist sicherlich sehr frustriert, weil er das gut gemeinte Geschenk ablehnen muss. Und wenn er die Torte isst, geht es ihm schlecht! Beides haben Sie nicht gewollt.

Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein, dass mir Patienten häufig das schenken, was sie selbst nicht essen oder trinken dürfen. Denn das ist für sie wertvoll. Der trockene Alkoholiker schenkt Wein und Schnaps, der Diabetiker Pralinen, Marzipan, Kuchen und Schokolade, der Hochdruck-Patient bringt die salzigen Nüsse, und ein Patient mit hohen Cholesterin-Werten machte mir eine Freude mit zehn frischen Eiern.

Frisches Obst und gute Säfte sind bei den meisten Menschen ein gesundes und erlaubtes Geschenk.

Mit einem Gutschein für einen gemeinsamen Ausflug, einen Theater- oder Kinobesuch nach der Genesung können Sie den Blick des Patienten nach vorn richten, neue Ziele setzen und die Gedanken und Gefühle für die Zukunft motivieren.

Das ist von großer Wirkung, wenn Sie einen Menschen erfreuen wollen, der gerade an einer absehbaren Krankheit leidet oder eine Operation mit guter Prognose hinter sich hat. Es versteht sich von selbst, dass solch ein Geschenk nicht angemessen ist, wenn man davon ausgehen kann, dass der Patient sterben wird. Der Patient weiß es bewusst oder unbewusst, also machen Sie ihm nichts vor!

Denken Sie an die neue Form der Hörbücher auf MC oder CD. Sie sind ein Segen für Kranke, die aus irgendwelchen Gründen nicht sehen, nicht lesen oder kein Buch halten, aber hören können. Diese Patienten schalten sich das Buch selbst ein und aus, wie sie es vertragen und wie sie sich darauf konzentrieren können. Neu auf dem Markt sind Bücher mit besonders großer Schrift für Menschen mit sehr schlechtem Sehvermögen. Auch an Lesegeräte mit extremer Vergrößerung auf einem Bildschirm sollten Sie denken. Außerdem gibt es beleuchtete Leselupen. Eine Leselampe ist ein sehr sinnvolles Geschenk, wenn der Patient gerne liest.

Sie machen vielen Kranken eine Freude mit besonderem Geschirr oder Besteck. Eine Tasse, ein Glas, ein Teller, zu dem der Patient einen persönlichen Bezug hat, verschönern seine Mahlzeiten, und Sie sind indirekt immer dabei!

Sie dürfen den Patienten auch fragen, ob er einen Herzenswunsch hat. Vielleicht bekommen Sie eine völlig unerwartete Bitte, die Sie gern und leicht erfüllen können.


31 Neuer Forschungszweig, der mit modernen psychologischen  und biochemischen Methoden die Wechselwirkungen zwischen seelischen Vorgängen und körperlichen Abwehrmechanismen erforscht.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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Will der Kranke wirklich leben?

 

Gewiss ist es fast noch wichtiger,  wie der Mensch sein Schicksal nimmt, als wie sein Schicksal ist.

Alexander von Humboldt (1769-1859), deutscher Geograph und Naturforscher

Oft trifft man sein Schicksal auf Wegen, die man eingeschlagen hat, um ihm zu entgehen.

Jean de La Fontaine (1621-1695), französischer Dichter und Erneuerer der Fabel

Wir müssen unser Schicksal nehmen, wie es kommt. Aber wir können etwas dafür tun,                                                                                    damit es kommt, wie wir es nehmen möchte

Curt Goetz (1888-1960), deutscher Schriftsteller und Schauspieler

11.1 Grundsätzliche Gedanken

Es muss geklärt werden, ob der Kranke wirklich gesund werden will. Das ist für manche Leser sicherlich eine provozierende Behauptung. Ich stelle sie deshalb auf, weil ich viele Menschen kennen gelernt habe, die nicht wirklich gesund werden wollen, weil sie sonst Verpflichtungen übernehmen müssten, die sie nicht übernehmen wollen oder können.

Es gibt viele Menschen, die einfach müde und erschöpft sind und es als Last empfinden, weiter leben zu müssen. Sie fühlen „Es ist jetzt lang genug!“ oder „Ich will nicht noch älter werden!“ oder „Ich will einfach mich nicht mehr plagen müssen!“ Für diese Men-schen kommt im Allgemeinen eine Selbsttötung nicht in Frage, sie haben aber keinen aktiven, zupackenden Lebenswillen mehr und wären dankbar, wenn sie „möglichst im Schlaf“ oder „ganz schnell und schmerzlos“ sterben dürften. Wenn ihnen dann eine Krankheit die Chance gibt, ihren Wunsch zu erfüllen, sind sie tief in ihrem Herzen froh um die Aussicht, „dass der Kampf endlich ein Ende hat!“ Aber das dürfen viele Patienten nicht zugeben, weil die Angehörigen mit solch einem ehrlichen Geständnis nicht umge-hen können und dann den Patienten zu allen möglichen Therapien zwingen und mit Schuld „motivieren“.

Viele Kranke leben lange und mit beeindruckender Lebenskraft unter dem Schutzschild der schweren Krankheit. Ich kenne Familien, die jahrzehntelang von einer schwer depressiven und bettlägerigen Mutter oder einem asthmakranken Vater in Schach gehalten und unterdrückt worden sind.

Der Lebenswille muss vorhanden sein, damit ein Weiterleben möglich ist. Zum Lebenswillen ist ein Ziel nötig. Ein wesentlicher therapeutischer Akt besteht darin, abzuklären, warum der Mensch von seinem ursprünglichen Lebensziel abkam, und wie er ein neues oder das alte wieder neu finden kann. Diese Therapie kann durchaus von der Familie bewirkt werden, zum Beispiel indem der Kranke für ein neues Ziel interessiert und begeistert wird, das ihm erstrebenswert gemacht wird.

Viele Menschen sterben erst, wenn sie eine bestimmte Aufgabe erledigt oder ein bestimmtes Ereignis noch erlebt haben. Sie haben also eine hohe Motivation wei-terzuleben. Eben diese Motivation kann helfen, aus einer schweren Krankheit wieder gesund zu werden. Hilfreich sind kleine oder größere Ziele, die in absehbarer Zeit liegen: Feste und Aufgaben, für die es sich lohnt zu leben und zu arbeiten oder den Kindern oder dem Partner bei bestimmten Hausarbeiten zu helfen. Diese Ziele muss der Patient selbst setzen. Und die Familie kann ihn unterstützen.

11.2 Praktische Beispiele 

In einer Studie über Menschen in Konzentrationslagern hat der Psychotherapeut Viktor Frankl herausgefunden, dass alle Überlebenden einen besonders klar definierten Lebenssinn hatten! Die Literatur ist voll von überzeugenden Dokumenten für diese Erkenntnis. 

Beispielhaft dafür will ich Ihnen empfehlen, von Martin Gray „Des Lebens Ruf wird niemals enden“ zu lesen, ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Leben trotz tragischer Katastrophen. Das Buch ist vor einigen Jahren unter dem Titel „Schrei nach Leben“ verfilmt worden.

Es gibt keinen Grund dafür, warum wir in einer besonders riskanten Lebenssituation nicht in der Lage sein sollten, trotzdem eine der Situation angemessene gute Lebensqualität aufrechtzuerhalten. Lebensqualität findet letztlich ja in unseren Gefühlen statt und ist, wenn man’s genau betrachtet, nicht wesentlich oder gar nicht von materiellen Dingen abhängig.

Johanna, die ich Ihnen ganz am Anfang des Buches vorgestellt habe, hat durch eine schwere Osteoporose immer wieder sehr starke Schmerzen wegen ihrer neuen Wirbelkörperfrakturen, nimmt aber selten schmerzstillende Medikamente. Dennoch sagt sie: „Es geht mir gut, ich bin zufrieden und dankbar, dass ich geliebt werde und mein Leben wach und bewusst führen und jeden Tag an meinen Büchern schreiben kann.“

Auch eine Krebsdiagnose ist nicht automatisch ein Todesurteil, das den Patienten und die Familie dazu zwingt, dem Leben zu entsagen. Erstens werden viele Krebskrankheiten geheilt. Das erfahren wir nur oft nicht, weil sich diese glücklichen Ereignisse zu Hause, in der Klinik und in der Arztpraxis abspielen und meist nicht publik gemacht werden. Mindestens der Hälfte aller Krebskranken können wir echte Hoffnung auf eine vollständige Heilung durch die richtige Therapie machen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Prognose bei den einzelnen Krebsarten unterschiedlich ist.

Zweitens: Das Schicksal kann uns viel auferlegen, aber es kann uns nicht dazu zwingen, wie wir darauf reagieren! Von meinem eigenen Leben weiß ich, dass die Konflikte, die ich bewältigen musste, obwohl sie mir manchmal unüberwindlich erschienen, immer wieder den Boden für neue und positive Erkenntnisse und Erlebnisse geschaffen haben. Ohne die Ereignisse hätte ich das Glück nicht erlebt und auch ganz sicherlich nicht so zu schätzen gewusst. Warum sollte das beim Schwerkranken oder auch beim Sterbenden anders sein?

Manchmal dachte ich: Der Sterbende hat es leichter als der Überlebende. Wenn es richtig ist, was uns die moderne Forschung vom Sterben und vom Tod vermittelt, ist es gewiss so: Hölle gibt es hier auf Erden, weil wir sie uns selbst machen, und dort, wo der Ste-rbende hingeht, ist Frieden. Auch das ist eine Bestätigung der universell geltenden Gesetzmäßigkeit der Polarität.

Mascha Kaléko, die jüdisch-deutsche Lyrikerin, schrieb in dem Gedicht „Memento“:

Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der anderen muss man leben!

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

 

 

 

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Bilden Sie ein gut informiertes und motiviertes Team

 

Gemeinsam sind wir stark.

ÖTV-Wahlspruch

Organisation ist ein Mittel, die Kräfte des Einzelnen zu vervielfältigen.

Peter F. Drucker (*1909), amerikanischer Unternehmensberater österreichischer Herkunft

Vereinigung ist das Mittel, alles zu können.

Johann Pestalozzi (1746-1827), schweizerischer Pädagoge

10.1 Die Angehörigen informieren

Es genügt nicht, nur den Patienten zu informieren. Wir müssen auch die Angehörigen und die anderen Helfer soweit unterrichten, wie es nötig ist, damit sie kooperativ sein können. Dazu braucht man als Therapeut bei erwachsenen Patienten die Erlaubnis des Kranken.

Offene Gespräche mit den Angehörigen in Anwesenheit des Patienten vermitteln ihnen mehr Vertrauen, Zuversicht und Geborgenheit. Die Angehörigen müssen ausführlich über mögliche Komplikationen und die nötigen Reaktionen informiert werden. Das gilt besonders, wenn sie mit der Pflege und Versorgung des Patienten befasst sind und / oder täglichen Umgang mit ihm haben. Es erzeugt auch mehr Sicherheit, wenn man solche Gespräche richtig führt. Wir können davon ausgehen, dass die Angehörigen menschlich gut und sachlich korrekt mit dem Kranken umgehen wollen und Fehler in der menschlichen und medizinischen Behandlung durch die Angehörigen in erster Linie durch fehlende oder mangelhafte Information auftreten. Wenn Sie als verantwortliche Angehörige nicht zufrieden sind mit den Informationen des Therapeuten, sollten Sie ihn darauf ansprechen.

Lassen Sie sich als Angehörige vom Therapeuten konkrete Vorschläge machen, wie Sie dem Patienten helfen können. Zum Beispiel sollten Sie folgende Fragen eindeutig klären:

–     Wie werden die Medikamente am besten eingegeben?

–     Welche Medikamente müssen wann in welcher Menge eingenommen werden?

–     Gibt es dafür eine eindeutige schriftliche Festlegung des Arztes?

–     Welche Untersuchungen können und sollen die Angehörigen regelmäßig vornehmen?

–     Auf welche Veränderungen müssen sie besonders achten?

–     Welche Notfallmaßnahmen können Angehörige einleiten?

–     Welche Vorschläge über Ernährung sind wichtig?

–     Wie soll das Zimmer des Kranken gestaltet werden?

–     Welches Bett ist am günstigsten?

–     Welche Literatur ist für den Patienten und für die Helfer empfehlenswert?

–     Welche Musik kann dem Kranken helfen, seine Stimmung zu stützen?

–     Ist es ratsam, Spezialinstitutionen einzuschalten und zu nützen wie
Blindenbibliothek, Fachkliniken, Literaturdienste zu bestimmten Themen, Fachge-
schäfte usw.?

–     Sind Buchkassetten zum Hören oder entsprechend aufbauende Videofilme sinnvoll?

–     Ist es gut, die Sozialstation um Hilfe zu bitten?

–     Brauchen Sie Nachbarschaftshilfe?

–     Möchten Sie den zuständigen Geistlichen informieren?

–     Wie viel und welchen Besuch kann der Patient bekommen?

–     Helfen dem Kranken orthopädische Hilfsmittel?

–     Welche Selbsthilfegruppen wissen Bescheid über die Krankheit und bieten Hilfe an?

–     Welches Verhalten dem Kranken gegenüber ist empfehlenswert?

–     Welche Unterstützung bekommen Sie im Rahmen der Pflegeversicherung?

–     Wer bezahlt die Rechnungen?

–     Was kostet die Therapie?

–     Welche Eigenanteile muss ich bezahlen?

–     Wie kann ich durch Aufzahlen bei kassenunüblichen Leistungen eine umfassendere
Behandlung bekommen?

10.2 Vorschläge für die Arbeit im Team 

Eine Gruppe von Menschen, bestehend aus Angehörigen, Nachbarn und anderen, die gerne etwas für den Kranken und die Familie tun möchten, sind eine ideale Zusammenstellung von Helfern für Sie und den Kranken, den Sie gut versorgen wollen. Sammeln Sie gezielt Informationen, und entwickeln Sie gemeinsam eine Strategie, wer was macht, und wer wofür verantwortlich ist. Das zeigt Ihnen Aktionsmöglichkeiten. Sie erkennen, dass Sie etwas Sinnvolles tun können, statt hilflos zuschauen zu müssen, was mit Ihnen und dem Patienten geschieht. Dadurch verbessern Sie Ihre Lage, denn Untätigkeit, Unsicherheit und Angst sind schwieriger zu ertragen als die Gewissheit, mit einer schwierigen Krankheit fertig werden zu müssen und aktiv etwas tun zu können. Zielgerichtete Aktivität macht hoffnungsvoll!

Nehmen Sie sich zu Hause Zeit, um Ihre Fragen an den Arzt zu notieren, bevor Sie in seine Sprechstunde gehen. Vereinbaren Sie mit der Arzthelferin einen etwas längeren Gesprächstermin, sonst bringen Sie den Arzt unter noch mehr Zeitdruck als er ohnehin schon hat. Zeigen Sie ihm den Fragekatalog, und besprechen Sie Punkt für Punkt. Wenn Sie sich auf Ihr Gedächtnis verlassen, wird es Ihnen wahrscheinlich in Ihrer Aufregung einen Streich spielen, und Sie werden sich zu Hause ärgern, was Sie alles von seinen Antworten vergessen oder gar nicht erfragt haben.

Schreiben Sie die Informationen des Arztes wie zum Beispiel die Dosierungen von Medikamenten und Anwendungen genau auf, wenn der Arzt Ihnen nicht von sich aus eine klare schriftliche Verordnung gibt. Oder nehmen Sie die Gespräche mit ihm auf Tonband auf. Wenn Sie etwas nicht verstehen oder beunruhigt sind, ist es unbedingt nötig, den Arzt danach zu fragen. Vielleicht ist ihm gar nicht klar, wie unklar die Zu-sammenhänge für Sie sind.

Untersuchungen haben ergeben, dass Patienten beim Verlassen des Sprechzimmers in der Arztpraxis sich bereits an die Hälfte des Gesprächs nicht mehr erinnern können, und zu Hause wissen sie durchschnittlich noch zehn Prozent davon. Ich erlebe es häufig, dass Patienten, denen ich im Sprechzimmer dreimal hintereinander langsam und mit zählenden Fingern erklärt habe, dass sie das Medikament morgens, mittags und abends je 1 x nehmen sollen, draußen die Arzthelferin an der Rezeption fragen, wie sie denn die Tabletten einnehmen sollten.

Ich habe im Laufe der Jahre die Erfahrung gemacht, dass ich mit solchen Patienten und Angehörigen sehr gut zurechtkomme, die klare Fragen stellen, Notizen machen und sich dann auch an die Antworten halten. Sie sind kompetente Mitarbeiter im besten Sinne, besonders natürlich im Interesse des Patienten. Ich finde es gut, wenn ich eine Frageliste durchsprechen kann. Das gibt auch mir das Gefühl, zielsicher und am Bedarf des Patienten und der Angehörigen zu arbeiten. Übrigens braucht es insgesamt wesentlich weniger Zeit, wenn wichtige Fragen einmal richtig besprochen werden, als immer wieder Fehler nicht zu erkennen oder nur halb zu korrigieren.

Verzetteln Sie sich nicht in Überaktivismus. Es ist sinnvoll und kraftsparend, meist auch kostensparend, wenn einzelne Handlungen sorgfältig überlegt und im Team besprochen werden. Oft wissen die Teammitglieder günstigere Möglichkeiten, das Ziel zu erreichen, wenn in Ruhe überlegt wird und Beziehungen genützt werden können.

Wenn Sie nicht neben dem Kranken schlafen und trotzdem mit ihm auch nachts verbunden sein wollen, hilft Ihnen eine einfach zu installierende Babyphon-Sprechanlage aus dem nächsten Baumarkt oder Kinderfachgeschäft. Sie überträgt auch leise Geräusche wie Husten oder Räuspern und kann bei Bedarf abgeschaltet werden. Diese Anlage können Sie auch kurzzeitig dem Nachbarn geben, wenn Sie nicht erreichbar sind. Ein tragbares Telefon ermöglicht es Ihnen, für Besorgungen außer Haus zu gehen. Kurzwahlnummern und Tasten mit großen Ziffern sichern die leichte Bedienung für den Patienten.

Die Teammitglieder brauchen Bezugspersonen, mit denen sie ihre eigenen Ängste und Sorgen bearbeiten können, zum Beispiel den Hausarzt, Freunde und Familienmitglieder. Deshalb sind regelmäßige Treffen und Gespräche für die Teammitglieder sehr wichtig, um deren Konflikte und Stimmungstiefs, ihre Unsicherheiten und Fragen zu bearbeiten und sie zu stützen. Nur mit Teamarbeit kann eine gute Versorgung des Patienten erfolgreich werden. Deshalb muss klar sein, wer das Team führt. Auch ohne domi-nierend und autoritär zu sein, können Eltern die Kinder führen und Grenzen setzen. Im besten Fall sind Eltern Partner, die einander und die anderen Teammitglieder in ihrer Individualität achten und deshalb sorgsam und verständnisvoll miteinander umgehen.

Die Familie muss gemeinsam eine Lösung finden. Einzelaktionen sind meist nicht so gut. Das Team kann durch Nichtfamilienmitglieder erweitert werden, zum Beispiel durch Nachbarn, Freunde, Helfer von der Sozialstation oder durch Nachbarschaftshilfe oder Be-suchsdienste über die Kirche. Es gibt viele Menschen, die gerne stundenweise Hilfe übernehmen, zum Beispiel auch Rentner, die geistig und körperlich noch gut dazu in der Lage sind und sich damit einen neuen Lebensinhalt verschaffen.

Machen Sie eine Liste der Dinge, die erledigt werden müssen, und um die Sie fremde Menschen bitten können: Einkäufe, Fahrten, Kochen, Vorlesen, Begleitung zum Arzt oder zu Untersuchungen. Ein Ausflug in den nächsten Park oder ein langsamer Spaziergang um den Häuserblock kann von einem Mitglied des Teams be-gleitet werden. Gemeinsame Aktivitäten wie Sport, Vereinstätigkeiten, musizieren, basteln und andere unterstützen den Teamgeist und motivieren auch den Patienten zu neuen Leistungen. Auch hier gilt: Nur wer genau informiert ist, kann helfen und sich eine bestimmte Tätigkeit heraussuchen.

Während einer schweren Krankheit müssen die Aufgaben des Kranken sorgfältig durch einen Stellvertreter erfüllt werden, damit der Kranke Zeit und Ruhe hat, gesund zu werden. Sterbende können besser loslassen und sich auf ihren Weg vorbereiten, wenn sie wissen, dass ihre Verantwortung für die Lebenden von einem anderen Menschen richtig übernommen wurde. Die Finanzen der Familie müssen so organisiert und die Geschäfte des Kranken so geführt werden, dass er sie entweder nach der Genesung in möglichst gutem Zustand wieder übernehmen kann oder sie die Hinterbliebenen nach dem Tod des Kranken in vernünftiger Weise weiterführen können.

Drängen Sie Ihre Hilfe bei Bekannten oder Verwandten nicht auf, sondern bieten Sie an, diese oder jene Hilfe gerne zu übernehmen. Warten Sie ab, ob das Angebot angenommen wird. Wenn Sie eine Aufgabe übertragen bekommen, die Sie gut und gerne erledigen können, setzen Sie sich im Rahmen Ihrer Möglichkeiten beherzt ein. Beachten Sie dabei die Grenzen Ihrer körperlichen und seelischen Kräfte. Sie lernen damit auch einen natürlichen Umgang mit der Krankheit und dem betroffenen Menschen.

Wichtig ist, dass jedes Teammitglied einen klar abgegrenzten Bereich übernimmt. Das bedeutet, dass jeder für seine Aufgaben zuständig ist, selbständig denken und handeln kann und seine Meinung respektiert wird. Wenn jeder im Team seine guten Eigenschaften und Begabungen einbringen kann, hat er die beste Möglichkeit, damit erfolgreich zu sein und dem Kranken optimal zu nützen und für sich selbst ein befrie-digendes Gefühl zu erhalten. Dieses wiederum wird ihn motivieren, seine Aufgabe im Team weiter zu verrichten. Viele Menschen ziehen sich nur deshalb von Schwerkranken zurück, weil sie nicht wissen, was sie konkret tun und wie sie sinnvoll helfen können. Dieser Rückzug wird Ihnen oft von den Patienten oder ihrer Familie als fehlendes Interesse ausgelegt.

Wenn Sie Arbeit an andere Teammitglieder delegieren, müssen Sie gleichzeitig die damit verbundene Verantwortung delegieren! Wenn Sie nur die Arbeit delegieren und für sich selbst das Lob beanspruchen, kommen sich die Mitglieder ihres Teams wie unselbstän-dige, abhängige Handlanger vor, und das reduziert ihre Motivation erheblich! Wenn Sie als Teammitglied aber die Verantwortung für Ihre Tätigkeit, Ihren Beitrag spüren, Mitspracherecht genießen und gelobt und konstruktiv geleitet und sinnvoll kritisiert werden, entwickeln Sie mehr Selbstwertgefühl, Motivation und persönliches Wachstum, während Sie helfen.

10.3 Der Kranke entscheidet mit! 

Wenn Sie in der Familie Entscheidungen treffen und eine Strategie für den Kranken entwickeln, soll der Kranke ein wesentliches Entscheidungsrecht haben. Das setzt voraus, dass er und alle Teammitglieder in die Informations- und Entscheidungsprozesse so weit wie möglich einbezogen werden. Auch das ist ein Grund, ihn über Dinge, die ihn direkt betreffen, richtig und umfassend zu informieren. Wenn Sie das nicht tun, bevormunden oder entmündigen Sie ihn.

Das bedeutet auch, dass der Patient in der Krankheit seine Eigenständigkeit behält, für sich verantwortlich ist und sich nicht wie ein Kleinkind behandeln lassen muss. Je mehr er beschützt wird, je mehr ihm alles abgenommen wird, um so hilfloser und schwächer wird er; um so deutlicher lernt er, dass er abhängig und unfähig ist. Dann fühlt er sich noch kränker als er objektiv ist.

So regrediert der Patient, das heißt er geht bewusst oder unbewusst in frühere Entwicklungsstadien zurück, um wieder hilflos zu sein und damit Hilfe anzufordern. Der Patient reagiert so, weil er es nicht gelernt hat, anders mit seiner Situation umzugehen. Es ist deshalb nicht sinnvoll, ihm Vorwürfe zu machen. Richtig ist es, ihm Wege zu zeigen, wie er sich aus seiner Unselbständigkeit selbst herausholen und damit sein schlechtes Selbstwertgefühl verbessern kann. Bei den Angehörigen wird durch die Regression des Patienten das Helfer-Syndrom aktiviert, das ich schon ausführlich besprochen habe.

10.4 Beispiele für tröstende und natürliche Begleitung durch Kinder

Auch Kinder können ins Team eingebunden werden. Sie können je nach Alter einkaufen, im Haushalt mithelfen, dem Patienten vorlesen, mit ihm spielen, seine Arme massieren oder ihn füttern. Und Kinder können etwas tun, was wir Erwachsenen in solchen schwie-rigen Momenten mit Kranken verlernt haben: Sie können herzlich lachen und fröhlich sein und dem Kranken damit das einfachste Zeichen von Hoffnung und Alltagsleben vermitteln. Kinder gehen mit diesen Aufgaben oft viel natürlicher und unbekümmerter um als Erwachsene. Wir Erwachsenen können von ihrer Unverfälschtheit und ihren klar geäußerten Gefühlen viel lernen, wenn wir sie nicht bereits zu sehr (v)erzogen haben, ihre Gefühle zu verändern und nur noch teilweise oder gar nicht mehr wahrzunehmen.

Herr Basler, von dem ich schon erzählt habe, war durch schwere Schmerzen bei einem bösartigen Tumor mit Knochenmetastasen weitgehend ans Bett gefesselt und erlebte bei vollem Bewusstsein, wie die beiden zweijährigen Zwillingsenkelkinder ihm ihren kindlichen Frohsinn ins Krankenzimmer brachten. Sie spielten und lachten mit ihm, sangen ihm vor und erzählten ihre kindlichen Geschichten. Ich weiß, dass diese Stunden mit den beiden Mädchen eine wunderbare Abwechslung für ihn waren, die er sehr genoss.

Als der Großvater im Sterben lag und unter der großen Sommerhitze litt, beschlossen die beiden Enkelinnen von sich aus, kleine Waschlappen anzufeuchten und ihn regelmäßig abzukühlen. Sie fächelten ihm Luft zu und sangen mit ihren mageren Kinderstimmchen „Wind, Wind, wehe!“ und ruderten mit ihren Armen wie Windmühlenflügel. Vielleicht belächeln Sie diese „Kinderei“, aber der Großvater war dankbar und spürte die Liebe. Als die eine Enkelin ihm am Tag vor seinem Tod einen Kuss auf den Ellbogen gab, konnte er nur noch mit schwacher Stimme sagen: „Reicht nicht!“ Da bedeckte sie seinen ganzen Arm mit Küssen, und ihr Opa schenkte ihr ein letztes Lächeln.

Die älteste Tochter von Herrn Basler, also die Mutter der beiden Enkelinnen, sagte mir in einem Gespräch zweieinhalb Jahre nach dem Tod von Herrn Basler: „Die allerwichtigste Hilfe in der ganzen Krankheitsphase waren die beiden Kinder. Sie haben ihren Opa so sehr motiviert, sich immer wieder aufzuraffen und mit ihnen und dadurch mit dem Leben zu beschäftigen. Er ist ja bis zehn Tage vor seinem Tod aufgestanden, unter Schmerzen zwar und mit erheblichen Mühen, aber es war ihm wichtig, mit den Kindern zu spielen und für sie da zu sein. Und die Kinder haben eine ganze plastische und intensive Erinnerung an diese Zeit, obwohl sie damals noch sehr klein waren. Auch heute reden sie oft von ihrem Opa und wollen ihn auf dem Friedhof besuchen.“

Ein anderes eindrucksvolles Erlebnis mit einem Kind hatte ich während meiner Studentenzeit in Mannheim, als ich regelmäßig Nachtwache in der damals größten Abteilung Deutschlands für Brandverletzte in Ludwigshafen machte. Auf meiner Station lebte schon seit Monaten Hikmet, ein neunjähriger türkischer Junge. Er war auf einen Starkstrommast geklettert und hatte sich schwerste lebensbedrohliche Brandwunden zugezogen. Bei dem Unfall hatte er einen Herzstillstand erlitten und ist glücklicherweise an Ort und Stelle wiederbelebt worden. Als ich ihn kennen lernte, ging es ihm im Vergleich zu seinen schweren Verletzungen und stark bewegungsbehindernden Narben schon sehr gut. In der Klinik war er noch, um die schweren narbigen Veränderungen in den Gelenkbereichen nach und nach operativ zu entfernen und plastisch zu decken, damit er sich wieder normal bewegen konnte.

So hatte er sich hervorragend eingelebt und war mit seiner vergnügten und hilfsbereiten Art eine echte Hilfe für die Schwestern und die Patienten. Hikmet begrüßte jeden Kranken auf der Station, sprach allen gut zu und tröstete sie vor und nach den Operationen. Er fütterte die Kranken, die Handverbände hatten oder aus anderen Gründen nicht selbst essen konnten. Ein neuer Patient, der mit seinen lebensbedrohlichen Verletzungen aufgenommen und ganz verzweifelt war, sagte nach einem Besuch von Hikmet zu mir: „Dieser Junge ist wie eine Sonne auf der Station!“

Ich hatte immer den Eindruck, dass Hikmet auf seine kindlich-weise Art trotz oder gerade wegen seinem eigenen schweren Schicksal ein großartiger Seelsorger war. Er war immer präsent, nie aufdringlich; er konnte zuhören und verhielt sich auf wunderbare Weise klug, natürlich und herzlich. Nur manchmal, wenn er Heimweh nach seiner Familie hatte, die in einer weit entfernten Stadt wohnte und deshalb sehr selten zu Be-such kommen konnte, zog er sich zurück und weinte.

Aber er hatte eine gute Gabe, sich wieder selbst zu motivieren und in eine bessere Stimmung zu versetzen. Auch wenn eine neue Operation anstand, verabschiedete sich Hikmet ganz locker morgens von mir, war guter Dinge und begrüßte mich abends wieder, wenn ich zum Dienst kam. Ich erlebte einige Operationen mit ihm, und jedesmal zeigte er stolz seine neuen Verbände und begann mit neuem Fleiß seine Bewegungsübungen.

So war es für uns alle ganz normal, dass er eines Morgens zu seiner 18. Operation vorbereitet wurde. Als ich abends zur Stationsübergabe kam und mich auf ihn freute, war ich sehr erschrocken, da alle Schwestern weinend um den Tisch saßen. Als ich nach dem Grund fragte, erfuhr ich, dass Hikmet völlig unerwartet auf dem Operationstisch einen Herzstillstand bekommen hatte und trotz sofortiger Wiederbelebungsmaßnahmen verstorben war. Auch ich war zutiefst betroffen von dieser Nachricht. Und ich habe bis heute regelmäßig an ihn gedacht.

Während ich diesen Text schreibe, fällt mir ein Zitat von Albert Schweitzer ein:

„Das schönste Denkmal steht im Herzen der Mitmenschen.“

Für Hikmet steht ein Denkmal in meinem Herzen.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller
Der Artikel stammt aus meinem Buch „Wenn das Licht naht“

 

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Wann sollen wir Patienten informieren und ein ausführliches Gespräch führen?

Kommunikation ist miteinander leben.

Karl Jaspers (1883-1969), Psychologe und Philosoph

Man kann nicht nicht kommunizieren.

1. Gesetz der Kommunikation von Paul Watzlawick (*1921), amerikanischer Philosoph und Psychotherapeut, international bekannter Kommunikationswissenschaftler österreichischer Herkunft

Gute Kommunikation ist mehr als nur Informationen zu übermitteln.

unbekannt

Wie sprechen Menschen mit Menschen? Aneinander vorbei.

Kurt Tucholsky (1890-1935), Schriftsteller

9.1 Der richtige Moment

Ein ganz natürlicher Zeitpunkt zur Information ist gegeben, wenn der Arzt Ihnen eine schwerwiegende Diagnose eröffnen muss. Solch ein Gespräch sollte nach Möglichkeit nicht am Telefon stattfinden, weil der Arzt in diesem Falle kaum einen Einfluss auf Ihre Reaktionen hat und nicht eingreifen kann, wenn Sie eine Panik erleben. Deshalb bitte ich Patienten, denen ich eine ernste Diagnose eröffnen muss, zu dem Gespräch in die Praxis.

Der Patient sollte über die Grundideen der diagnostischen Schritte ruhig informiert werden, dann kann er besser mitarbeiten. Von Erkenntnis zu Erkenntnis ist es auch bei Bedarf richtig, ihm die Ergebnisse zu sagen, wenn er damit vernünftig umgehen kann. Unsicherheit und Angst sind normale Gefühle in diesem Stadium der Ungewissheit. Deshalb müssen auch in dieser Phase Hoffnung und ein Hinweis auf die noch unklare Diagnose ein entscheidender Faktor der Gesprächsführung sein.

Es ist sicherlich sinnvoll, dass der Arzt, der nach der Diagnosestellung auch die Therapie leitet, diese Aufklärungsgespräche führt. Leider ist das nicht immer möglich. Deshalb muss ein enger Kontakt zwischen den betreuenden Ärzten hergestellt und gepflegt werden. Wenn der Patient das erkennt und daran teilhaben kann, fühlt er sich sicherer und besser versorgt.

Es ist durchaus häufig, dass ein Patient jetzt in einem Gespräch verständnisvoll reagiert und scheinbar die Situation verstanden hat, aber beim nächsten Treffen vieles nicht mehr weiß. Dann hat vielleicht etwas verdrängt, was er für bedrohlich hielt, oder er hat die Zusammenhänge tatsächlich nicht verstanden und sich nicht getraut, das zuzugeben. Deshalb sind Fragen zum Verständnis immer wieder wichtig.

Manchmal ist es ratsam, den Ehepartner gleich dazu einzuladen. Damit werden Missverständnisse und Übertragungsfehler weitgehend ausgeschaltet, und der gesunde Partner kann in einer anderen Stimmung und damit in einer konzentrierteren Wahrnehmungsfähigkeit zuhören als der betroffene und emotional stark belastete Patient. Diese Gespräche sollten in einer ruhigen und störungsfreien Atmosphäre stattfinden. Wenn es von vornherein klar ist, dass sich ein längeres und kompliziertes Gespräch ergeben wird, lege ich diese Unterhaltungen entweder an das Ende der Sprechstunde oder mache in Ausnahmen dafür abends einen Hausbesuch. In beiden Fällen kann ich mir so viel Zeit nehmen, wie ich es für nötig halte. Wenn der Patient zu Hause ist, empfindet er das manchmal als einen Heimvorteil, ist weniger gehemmt und im Allgemeinen offener für das Gespräch. Wenn er durch die Unterredung sehr stark emotional durcheinander gebracht wird, ist es auch ein Vorteil, dass er nicht mehr Auto fahren muss.

Eine andere wichtige Gelegenheit für ein Gespräch oder eingehendere Beratungen tritt dann ein, wenn dem Patienten die tödliche Diagnose bewusst wird. In solchen Momenten muss der Arzt ansprechbar und bereit sein, auf die Angst und Sorge des Patienten und seiner Angehörigen einzugehen.

Ähnlich dringend ist es vor und nach einer schwierigen Operation, wenn es um ein weitreichendes Ergebnis mit wichtigen Konsequenzen geht. Das klassische Beispiel stellt die Aufklärungssituation dar, wenn die Patientin oder der Patient mit einem dringenden Verdacht auf einen bösartigen Tumor operiert werden soll. Üblicherweise wird während der Operation eine Gewebeprobe des Tumors ins Pathologische Institut geschickt und dort sofort untersucht. Die Diagnose wird telefonisch persönlich vom Pathologen an den Operateur in den Operationssaal gemeldet. Dann kann der Chirurg sofort in derselben Narkose weiteroperieren. Für alle dann möglichen Vorgehensweisen muss sich der Operateur vor der Operation die Genehmigung einholen. Dazu ist verständlicherweise ein sehr eingehendes Gespräch nötig.

Und nach der Operation, wenn die Patientin oder der Patient ganz wach und aufnahmefähig ist, muss wieder ein gründliches Gespräch erfolgen, wenn klar ist, was der Befund erbracht hat und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Solche Gespräche müssen vom Arzt schon aus juristischen Gründen angeboten, durchgeführt und dokumentiert werden. Sie sollten von der Hoffnung geprägt werden, dass Arzt und Patient etwas tun können, um den Zustand des Patienten zu verbessern. Auch bei sehr ungünstigen Diagnosen und Vorhersagen gibt es vieles, worauf wir Hoffnung vermitteln können.

Richtig sind Gespräche immer, wenn der Patient die Bereitschaft dazu hat und zeigt. Auch wenn er diese nicht zeigt, kann er sie dennoch haben. Wir müssen also sehr aufmerksam sein, die geringsten Anzeichen zu erkennen und angemessen darauf eingehen. Dann ist es unsere Sache, ihm unsere Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Wir müssen allerdings auch respektieren, wenn er gar nicht reden oder nicht mit einer bestimmten Person sprechen will.

9.2 Das richtige Wort 

Die wahre Kunst der Kommunikation besteht darin, nicht nur das Richtige im richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sagen, sondern das Falsche im verlockenden Moment ungesagt zu lassen.

Dorothy Nevel

Zu einer guten Kommunikation ist es auch nötig, dass wir Andeutungen des Gesprächspartners erkennen und richtig bewerten. Es erleichtert das wechselseitige Ver-stehen, wenn der Patient und die Angehörigen klare und echt empfundene Botschaften senden. Wenn sie uns nicht eindeutige Informationen geben, müssen wir danach fragen. Selbst wenn uns die Botschaft klar erscheint, kann der Gesprächspartner es ganz anders gemeint haben.

Zu einer guten Information gehört auch, das Verständnis zu überprüfen. Das lässt sich am besten mit Gegenfragen erzielen. Es genügt nicht, einfach zu fragen: „Hast du das verstanden?“ Das haben Sie am Beispiel von Frau Lehmann erlebt, die ich gefragt habe, ob sie meine Erklärungen zu der Magentherapie verstanden hat. Ich habe ihr „ja“ fälschlicherweise geglaubt.

Selbst wenn der Partner wirklich meint, die Botschaft verstanden zu haben, wird er möglicherweise seinen Irrtum sofort bemerken, wenn er nach seinen Konsequenzen aus der Botschaft gefragt wird. Wenn wir also wirklich wissen wollen, ob der Patient die Informationen verstanden hat, müssen wir oder Sie als Angehöriger eine Frage stellen, die ihn zur Stellungnahme zwingt. Zum Beispiel: „Was wird die nächste Konsequenz sein, die du aus deinem Wissen jetzt ziehst?“ Einfacher: „Was machst du jetzt?“ Und: „Warum?“

Dabei ist es wichtig, die geistige und gefühlsmäßige Dynamik des Patienten zu berücksichtigen. Manche Menschen reagieren mehr mit dem Kopf, andere mehr mit dem Bauch, also mehr verstandesmäßig oder mehr gefühlsmäßig. Die einen sind schneller und spontaner, die anderen langsamer und bedächtiger. Bei den einen braucht es länger, bis die Botschaft mit allen Konsequenzen „angekommen“ ist, bei anderen funktioniert die Umsetzung sehr rasch.

Auf jeden Fall müssen wir dem Patienten vermitteln, dass wir bereit sind zu Gesprächen, die dem Ernst der Situation entsprechen. Es ist eine bekannte, wenn auch oft übersehene Tatsache, dass die Kommunikation zwischen dem Patienten einerseits und Angehörigen und Arzt andererseits um so stärker eingeschränkt wird, je ernster die Diagnose und die Prognose einer Erkrankung sind.

Untersuchungen haben ergeben, dass ab dem Moment, wo eine hoffnungslos erscheinende Diagnose gestellt wird, die Anzahl der Wörter, die mit dem Patienten gesprochen werden, auf ein Drittel sinkt! Die Visiten in den Kliniken werden im allgemeinen kürzer und die besprochenen Themen immer belangloser und ober-flächlicher diskutiert.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Aus meinem Buch „Wenn das Licht naht“

 

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