Gespräch über die Wahrheit

 

Vertragen Sie die Wahrheit, die Sie vermitteln sollten?

Die Wahrheit ist rätselhaft und hat manchmal nichts mit der Realität zu tun.

Oliver Sacks (*1933), amerikanischer Neurologe

Mit der Hoffnungslosigkeit beginnt der wahre Optimismus.

Jean-Paul Sartre (1905-1980), französischer Philosoph und Schriftsteller

Ein Mensch ist immer das Opfer seiner Wahrheit.

Albert Camus (1913-1960), französischer Schriftsteller und Philosoph

8.1. Ein negatives Beispiel 

Die Frage, ob wir einem Kranken und besonders einem Schwerkranken die Wahrheit über seine Diagnose und ihren Schweregrad sagen sollen, ist eine uralte Konfliktsituation. Ich habe in meinem beruflichen Alltag viele Momente erlebt, in denen ich für mich die Frage klar und eindeutig beantworten musste. Ich erinnere mich an manches komplizierte Gespräch, in dem ich gerne gekniffen hätte. Ein typisches und für mich immer noch bedrückendes Beispiel will ich gleich zu Beginn berichten.

Als Assistent in der Kinderklinik hatte ich auch die Aufgabe, mit dem Frühgeborenen-Rettungswagen zu Risikogeburten in benachbarte Krankenhäuser zu fahren, um dort das Neugeborene sofort nach der Geburt zu versorgen und bei Bedarf mit in die Kinderklinik zu nehmen. Eines Nachts wurde ich mit der diensthabenden Schwester von der Frühgeborenen-Intensivstation zu der Geburt eines Kindes in der 28. Schwanger-schaftswoche gerufen. Per Telefon waren wir schon informiert, dass mehrere schwere Risikofaktoren für die Mutter und das Kind bestanden.

Kurz nach unserem Eintreffen im Kreissaal wurde das Kind mit einer schweren Schädel- und Hirnmissbildung und mit 900 g Gewicht geboren. Es war sehr lebensschwach, atmete kaum, hatte einen viel zu langsamen Puls, bewegte sich nicht und war schwer zyanotisch17. Ich konnte für das Kind nicht mehr tun, als ihm Sauerstoff zu geben und zu hoffen, dass es bald sterben darf. Selbst bei intensivster Therapie mit allen Segnungen der modernen Medizin hätte das Kind keine Lebenschance gehabt. Auch wenn es kurze Zeit überlebt hätte, wäre eine normale Entwicklung durch die Missbildung ausgeschlossen gewesen. Wenige Minuten nach der Geburt verstarb das Kind. Ich war froh, dass es schnell gegangen war.

Da die Mutter von den Frauenärzten stark mit Medikamenten beruhigt worden war, konnte ich nicht mit ihr sprechen. Auch darüber war ich froh. Die Schwester und ich packten unsere Instrumente zusammen und fuhren mit dem leeren Säuglingswärmekasten auf den spärlich erleuchteten Klinikgang hinaus. Ich er-innere mich noch genau, dass ich möglichst schnell in die Kinderklinik zurückkehren wollte, um von dem beklemmenden Erlebnis wegzukommen. Da sah ich auf einer Bank vor dem Kreissaal einen jungen Mann sitzen, der erwartungsvoll zu uns hinschaute aber uns nicht ansprach. Es konnte eigentlich nur der Vater des verstorbenen Kindes sein, der hören wollte, wie es seiner Frau und seinem Kind ging. Ich spürte intuitiv seine sorgenvolle Erwartungshaltung und meine Angst vor diesem Gespräch. Ich war damals noch nicht so weit, mich in diesen Situationen sicher zu fühlen. Deshalb grüßte ich beiläufig und schob den Wagen mit dem Wärmekasten rasch vorbei zum Aufzug, der glücklicherweise schon offen stand.

Heute bereue ich meine damalige Reaktion, und wenn ich jetzt eine Möglichkeit hätte, mit dem Vater über mein unprofessionelles Verhalten zu sprechen, würde ich es tun. Es war mir eine Lehre, und ich habe wissentlich mich in Zukunft jedem Gespräch gestellt, weil ich mich nach dieser nächtlichen Begegnung oft mit einem sehr schlechten Gewissen an meine Flucht erinnert habe.

Ich denke heute noch oft an Situationen, mit denen ich nicht richtig umgehen konnte und nur teilweise die Wahrheit gesagt habe, weil ich mir nicht zugetraut habe, mich mit den Folgen einer wahren Antwort auseinanderzusetzen. Meine Gespräche mit Kollegen in all den Jahren haben mir gezeigt, dass auch sie solche Konflikte hatten und haben. Es ist sicherlich normal, einen Ausweg aus unangenehmen Situationen zu suchen. Ich meine aber, dass es zu unserem Beruf als Arzt gehört, eben gerade in diesen berufsbedingten Schwierigkeiten sicher und standhaft, einfühlsam und klar reagieren zu können. Leider wird solch ein Verhalten weder an den Universitäten noch in den Klini-ken gelehrt. Es handelt sich eigentlich ja auch um ein rein menschliches Problem und nicht um ein medizinisches, wie man mit zwischenmenschlichen Konflikten umgeht. Wir Ärzte können froh und dankbar sein, wenn wir ältere Kollegen und Vorgesetzte finden, die uns im Alltagsleben der Klinik zeigen, wie wir sprechen und zuhören müssen, um dem Patienten das Gefühl zu geben, verstanden zu sein.

8.2. Die positive Lösung

Kurz vor meiner Niederlassung als Allgemeinarzt fragte ich einen bei Kollegen und Patienten sehr hoch geschätzten Oberarzt, der in einer chirurgischen Klinik jahrelang eine Sprechstunde für Brustkrebspatientinnen abhielt, ob er allen Frauen die Wahrheit sage. Er antwortete:

„Ich sage allen Frauen die Wahrheit. Denn ich bin erstens Christ und meine schon deshalb, dass man nicht lügen sollte. Und zweitens habe ich solch ein schlechtes Gedächtnis, dass ich morgen nicht mehr wüsste, welcher Frau ich die Wahrheit gesagt und welche ich angelogen habe. Das würde mich sehr schnell in eine schlimme Situation bringen.“

Was hätten Sie geantwortet? Mir hat diese schlichte und klare Antwort sehr zu denken gegeben, und seither verfahre ich sicher und innerlich ruhig in dieser Weise. Die meisten Patienten wissen ohnehin intuitiv, was mit ihnen los ist. Mehrere umfangreiche Unter-suchungen haben ergeben, dass mindestens 90 Prozent aller Patienten mit bösartigen Krankheiten im Verlauf der Erkrankung auch ohne Aufklärung ihre Diagnose erfahren. Sie verhalten sich häufig zurückhaltend und geben an, sie wüssten die Diagnose nicht, um niemanden in der Umgebung zu belasten. Das bedrückt aber den Patienten und alle Beteiligten noch viel mehr. Dieses Verhalten führt zu Scheingefechten und hinterlässt am Schluss das schlechte Gewissen, nicht ehrlich gewesen zu sein und wirklich wichtige Dinge nicht abgeschlossen und besprochen zu haben.

Durch umfassende Studien konnte festgestellt werden: Der Arzt kann davon ausgehen, dass 80 Prozent der Krankenhauspatienten eine offene Information über die Diagnose und Prognose der Krankheit wünschen, lediglich drei bis fünf Prozent nicht über die Art der Erkrankung und die übrigen nicht über deren Unheilbarkeit informiert werden möchten. Werden informierte Patienten mit bösartigen Krankheiten im weiteren Verlauf der Krankheit befragt, so begrüßen 90 Prozent dieser Kranken auch im Rückblick die offene Information.

Die Patienten sind durch ihre Gefährdung besonders empfindsam und holen ihr Wissen überwiegend aus drei Quellen:

Erstens nehmen sie kleinste Verhaltensveränderungen der Umwelt wahr und schließen daraus auf ihre Diagnose und Prognose. Das besorgte Gesicht des Arztes bei der entscheidenden Untersuchung oder die ausweichende Antwort der Schwester oder das betont beschwichtigende Verhalten von Angehörigen sind für den beunruhigten und verunsicherten Patienten ein Beweis für eine schwerwiegende Diagnose.

Zweitens schließen sie aus der angewendeten Therapie auf die Ernsthaftigkeit oder Bösartigkeit der Krankheit. Inzwischen wissen alle Patienten, dass eine Bestrahlung oder eine Chemotherapie etwas mit Krebs zu tun hat. Dass dies durchaus nicht immer so ist und deshalb eine solche Schlussfolgerung zu verhängnisvollen Missverständnissen führen kann, wissen allerdings wenige.

Drittens fühlen sich viele Patienten in ihrer Vermutung, eine bösartige Krankheit zu haben, dadurch bestätigt, dass sie sich nicht gut oder ausdrücklich genug informiert fühlen. Dagegen gibt es eine ebenso banale wie selten angewandte Methode: Wenn wir eine klare Antwort haben wollen, müssen wir eine klare Frage stellen und auf eine Antwort bestehen. Viele Patienten fragen nicht oder geben sich mit einer halben Antwort zufrieden.

Dieses Vorwissen der Patienten (im Amerikanischen ganz treffend als middle knowledge -mittleres Wissen- bezeichnet) kann als Möglichkeit zur weiteren Information einerseits und als Abwehr gegen das Bewusstwerden der Bedrohung andererseits aufgefasst werden. Dabei müssen die aktiven Abwehrvorgänge und die innerseelischen Mechanismen gegen das Bewusstwerden der Gefahr berücksichtigt werden.

Hier gilt der Grundsatz: Nur ein informierter Patient kann kooperativ sein.

Wenn nicht offen über die Wahrheit geredet wird, gibt es auch keine Chance für eine angemessene Therapie und schon gar nicht für einen gangbaren Weg für einen zielbewussten und aufgeklärten Patienten.

8.3 Der positive AIDS-Test

Eine dramatische und vielseitig beleuchtbare Geschichte betrifft Herrn Moser, den ich seit Jahren kenne. Er war verheiratet, Vater von 2 Kindern, leitender Angestellter, erfolgreich, und nach außen schien alles gut und üblich, bis er bemerkte, dass er seine homosexuellen Neigungen immer unterdrückt hatte. Er gab ihnen schließlich nach, gestand es auch seiner Frau, die anfänglich Verständnis zu zeigen versuchte, dann aber immer hilfloser und aggressiver wurde. Nach einigen schweren Konflikten kam es zur sehr komplizierten Scheidung. Herr Moser fand schließlich nach vielen Krisen, die ihn auch in Alkoholprobleme brachten, seinen Weg, zu der Homosexualität offen zu stehen. Er lebt seither mit einem festen Lebenspartner zusammen. Das gab ihm so viel Stabilität, eine Alkoholentziehungskur zu machen, und seither ist er trocken. Unter großen inneren Kämpfen und mit erheblichen und ständigen Auseinandersetzungen mit der geschie-denen Ehefrau meisterte er seine anspruchsvolle Arbeitsstelle, stieg in seinem Betrieb auch zum Prokuristen auf und kümmert sich intensiv um seine Kinder. Dies war unter anderem auch deshalb nötig, weil die Ex-Ehefrau viele Monate in der Psychiatrischen Klinik zubrachte.

Eines Tages fand ich im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung bei ihm einen positiven AIDS-Test und musste ihm natürlich diese Diagnose mitteilen. Im ersten Moment war er völlig entsetzt, vor den Kopf geschlagen und fassungslos. Aber nach wenigen Au-genblicken glättete sich sein schreckverzerrtes Gesicht, und er sagte ganz ruhig: „Eigentlich bin ich froh darüber!“ Jetzt war ich verblüfft und fragte nach dem Grund. Er meinte ganz schlicht: „Jetzt kann das ganze Versteckspielen, die Heimlichkeit aufhören, und hoffentlich bringt mich diese Krankheit endlich von dem Konflikt mit meiner Ex-Frau weg. Ich kann es oft nicht mehr ertragen.“ – Eine Woche später hatten wir auch das positive Ergebnis von Herrn Mosers Partner.

Ein Jahr später fragte ich Herrn Moser wieder einmal nach seinem Befinden. Er war sehr gefasst und positiv und hoffnungsvoll gestimmt trotz aller massiven finanziellen und psychischen Bedrohungen, die seine Ex-Frau immer noch mit Hilfe eines Anwaltes gegen ihn richtet. Herr Moser meinte in dem Gespräch auch ganz klar: „Ich kann gut sehen, dass die Krankheit mir wesentliche gute Seiten gebracht hat. Ich bin viel ruhiger geworden und gelassener. Vieles ist nicht mehr so wichtig, und ich erkenne, was wirklich entscheidend ist. Und unsere Partnerschaft hält uns zusammen und aufrecht.“

Hier haben ständige und offene Gespräche zwischen Herrn Moser und seinen engsten Vertrauten ihn unterstützt, mit seiner Krankheit und seinen Lebenskrisen bewusster, besser und hoffnungsvoller umzugehen.

8.4 Die Notlüge 

Andererseits gibt es auch Umstände, wo eine barmherzige Lüge vorübergehend weitreichende positive Folgen hatte. Eines der berühmtesten Beispiele aus der Literaturgeschichte stellt das Leiden von Theodor Storm dar. Er erkrankte in seinem 69. Lebensjahr mit schweren Magenschmerzen und schrieb das folgende Gedicht:

Ein Punkt ist es nur, kaum ein Schmerz,
Nur ein Gefühl, empfunden eben.
Und dennoch spricht es stets darein,
Und dennoch stört es dich zu leben.
Wenn du es andern klagen willst,
So kannst du’s nicht in Worte fassen.
Du sagst dir selber: „Es ist nichts!“
Und dennoch will es dich nicht lassen.
So seltsam fremd wird dir die Welt,
Und leis verlässt dich alles Hoffen.
Bis du es endlich, endlich weißt,
Dass dich des Todes Pfeil getroffen.

Da Storm offensichtlich Bescheid wusste und stark genug wirkte, mit der Wahrheit umzugehen, sah sein Hausarzt keinen Grund, ihm die Diagnose eines Magenkrebses zu verschweigen. Wider Erwarten wurde Storm aber tief depressiv und eine Last für seine Familie. Diese wiederum wusste keinen anderen Ausweg aus der hoffnungslos erscheinenden Lage, als einen anderen Arzt zu bitten, die Diagnose zu wider-rufen und als Irrtum darzustellen.

Storm fasste neuen Mut, entwickelte seine alte Schaffenskraft und war dadurch imstande, die abgebrochene Arbeit an der Novelle „Der Schimmelreiter“ fortzusetzen und das Werk zu beenden. Er feierte noch seinen 70. Geburtstag unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und verstarb schließlich ein paar Monate später.

Dieses Beispiel kann zweierlei zeigen. Es stellt die ärztliche Fähigkeit in Frage, die wirkliche Belastbarkeit eines Patienten zu erkennen. Außerdem könnte die Illusion, gesund zu sein, im Unterbewusstsein eine kreative Leistungsfähigkeit stimulieren, die an der Realität der Krankheit vorbei Reserven mobilisiert, die möglicherweise unter anderen Bedingungen nicht aktiviert werden würden.

 8.5   Falsch verstandenes Mitlied und seine Folgen

Das häufig zitierte Mitleid ist oft nichts anderes als eine peinliche Betroffenheit von einem Zustand oder einem Schicksal, mit dem wir schlecht umgehen können. Deshalb vermeiden wir solche Situationen am liebsten oder wollen sie unter dem Vorwand, anderen zu helfen, rasch für uns beseitigen. Wenn wir den Patienten im Unklaren lassen, um ihn angeblich zu schonen, müssen wir bedenken, dass ungewisse Situationen für viele Menschen viel schlechter zu ertragen sind als eine eindeutige und schlechte Nachricht.

Wie sollte ein Patient all die Therapieschritte verstehen und aktiv mitmachen und die vielen Medikamente mit den möglicherweise unangenehmen Nebenwirkungen einnehmen, wenn er doch angeblich gar nicht so krank ist? Hier entsteht eine sehr schwierige Misstrauenssituation zwischen Arzt und informierten Angehörigen einerseits und Patienten andererseits, die mit Sicherheit die Genesung des Patienten und die menschliche Qualität seiner Betreuung hemmt.

Wenn Sie einem Freund oder Familienmitglied bei einer wichtigen Kaufentscheidung raten sollten und Sie mehr und negative Informationen über das Kaufobjekt haben als der potentielle Käufer, würden Sie ihm doch alle Informationen geben, die zu der Ent-scheidung „kaufen oder nicht kaufen?“ wertvolles beitragen könnten! Und welchen Grund haben Sie dann noch, bei einer Situation wichtige Information vorzuenthalten, die das Allerwichtigste, nämlich das Leben des Patienten entscheiden soll?

Außerdem müssen wir bedenken, dass jede emotionale Lüge das Selbstwertgefühl vermindert. Wenn wir also aus rein emotionalen Gründen etwas anderes sagen als wir denken, werden wir uns bewusst, dass wir nicht zu unserer Meinung stehen. Und was halten Sie von einem Menschen, der etwas anderes sagt als er weiß, fühlt und denkt?

Wer anderen etwas vorspielt, begibt sich der Chance, an dieser Krankheit und in dieser Beziehung mit dem Kranken etwas zu lernen und sich selbst weiterzuentwickeln. Gerade eine schwere Krankheit ist auch eine Bewährungsprobe für eine Beziehung und birgt die große Gelegenheit, durch die Krankheit die Partnerschaft auf eine neue Ebene hin zu entwickeln. Wenn die letzten Monate einer schweren Krankheit damit verbracht werden, einander wechselseitig eine heile Welt vorzuspielen, fühlt der Kranke sich verlassen und belogen. Er merkt, dass er gerade in einer Lebenskrise vom Partner nicht ehrlich behandelt wird, sich also in tatsächlich entscheidenden und scheidenden(!) Momenten nicht auf ihn verlassen kann.

Herr Schwer, der im Sterben lag, sagte zu mir: „Es war so schlimm, dass wir uns beim Sterben meiner Frau bis zuletzt angelogen haben, nur um einander zu schonen, und heute quält’s mich!“

8.6. Die ideale Lösung

Ich fragte die Ehefrau von Herrn Basler, einem schwerkranken Patienten, von dem wir wussten, dass er sterben würde, ob sie denn die letzten Dinge mit ihrem Mann bereits besprochen habe und ob sie beide auf die Trennung vorbereitet seien. Sie verneinte und brachte ihre Bedenken zum Ausdruck, ihrem Mann weh zu tun, wenn sie seinen bevorstehenden Tod ansprechen würde. Ich riet ihr, diese letzten Tage zu einem oder mehreren Gesprächen in günstigen Momenten zu nützen, weil gerade diese Sterbephase eine äußerst wichtige Gelegenheit sei, in der sich die Partnerschaft bewähren und einer Wandlung und Entwicklung unterziehen könne.

Bereits am nächsten Tag berichtete die älteste Tochter von Herrn Basler ganz erleichtert, dass ihre Eltern in den frühen Morgenstunden ein sehr vertrauensvolles und intensives Gespräch über den bevorstehenden Tod des Vaters geführt hatten. Frau Basler erzählte mir bei meinem Besuch am selben Tag, wie erleichtert sie sei. Ihr Mann habe mit ihr alles ganz offen und liebevoll besprochen, und sie seien beide sehr befreit. Er wäre zu solch einem ausführlichen Gespräch bereits am nachfolgenden Tag nicht mehr fähig gewesen. Eine Woche später starb Herr Basler.

In der Unsicherheit und Unklarheit über die Diagnose oder die Chancen für eine Gesundung kann man nichts unternehmen, und damit sind der Fantasie für Angst und Panik Tür und Tor geöffnet. Auch diese Umstände stehen einer Heilung oder einer guten seelischen Entwicklung zum Sterben hin entgegen. Wer die Krankheit kennt, kann sich wappnen, vorbereiten und aktiv werden. Wer sich mit der Krankheit intensiver auseinandersetzt, kann seine tiefsten Motive besser erkennen und im idealen Fall den Helfer für die Erfüllung des eigenen Schicksals entdecken. Das ist Erlösung in dieser Lage. Auch ein schwerst kranker Mensch kann in der Stille seines Bettes seelisch und geistig so sehr aktiv sein, wie wir es uns kaum vorstellen können.

8.7 Mein Vorschlag 

Ich denke, in Bezug auf die „Wahrheitsfrage“ ist dieser Grundsatz eine annehmbare Lösung:

„Alles was wir sagen, muss wahr sein, aber nicht alles, was wahr ist, müssen wir sagen. Wir müssen alles sagen, was der andere wissen muss, um verständnisvoll und in voller Verantwortung für sein Leben handeln zu können.“

Das ist sicherlich das Äußerste, was wir uns bei einem Schwerkranken erlauben können und müssen. Sollen wir ihm zu seiner ausgesprochenen Krebsdiagnose auch noch erzählen, dass er Lebermetastasen hat? Es ist sicherlich nötig, wenn daraus Konsequenzen zu ziehen sind wie eine Veränderung der Therapie oder eine Vorbereitung auf das Sterben. Und ich denke, wir sollten es ihm sagen, wenn er gezielt danach fragt. Vielleicht ist es ja für ihn eine Testfrage an uns, um zu erfahren, wie ehrlich und offen wir sind und wie ernst wir ihn, den Patienten, als mündigen Menschen nehmen, der Informationen haben will, um sein Leben richtig einzuschätzen und zu planen.

Wir müssen uns bewusst sein: Wenn wir einem Menschen eine wichtige oder gar lebensentscheidende Information vorenthalten, entmündigen wir ihn. Das gilt auch dann, wenn wir es im guten Vorsatz tun, ihm Aufregung und Kummer zu ersparen.

Ich denke, es kommt darauf an, wie und wann wir etwas sagen. Wir müssen uns auf die Bedürfnisse des Patienten einstellen und den Patienten „dort abholen, wo er steht“. Es hat möglicherweise verheerende Folgen, wenn wir ihm eine Information aufzwingen, nur damit wir unseren eigenen inneren Druck loshaben. Manche Menschen wollen die Wahrheit hören und gleich darüber diskutieren. Andere brauchen an-schließend Zeit, um in Ruhe darüber nachdenken und dann erst nach außen reagieren zu können. Gerade bei Kranken, die gelernt haben, dass sie nur „schöne und angenehme“ Gefühle zeigen dürfen, sollten wir Rücksicht nehmen und ihnen für kurze Zeit die Möglichkeit eines Rückzugs geben. Dabei ist es sehr wichtig, ständige Gesprächsbereitschaft und Anteilnahme zu sig-nalisieren, um den Patienten zur Rückkehr in die Gemeinschaft zu ermuntern. Dadurch können wir weitgehend vermeiden, dass der Patient sich zu sehr allein gelassen fühlt. Das ist ganz besonders wichtig, wenn die schwerwiegende Diagnose dem Patienten ohnehin das Gefühl vermittelt, in seiner Hilflosigkeit aus dem gewohnten Alltagsleben und seinem sozialen Netz von Beziehungen und Kontakten verstoßen zu sein.

Wir müssen auch die individuelle Bedeutung einer Diagnose für den einzelnen Patienten beachten. Wenn eine Frau einen Knoten in ihrer Brust spürt und den Sterbeprozess der eigenen Mutter mit einem Brustkrebs erlebt und durchlitten hat, wird sie ihren eigenen Tastbefund ganz anders erleben, als wenn sie keine persönliche Erfahrung mit dieser Diagnose hat. Damit ist für sie als „erfahrene“ Patientin der Verlauf bereits in ihrer Vorstellung festgelegt. Es wird schwierig sein, sie für ein neues Erleben zu öffnen, das möglicherweise ganz anders verläuft.

8.8. Die Verdrängungsmechanismen

Wenn wir dem Kranken eine ernste Diagnose und / oder Therapiemethode eröffnen und erklären müssen, sollten wir unbedingt auf seine spontane Reaktion achten. Ich habe sehr häufig bemerkt, dass unmittelbar nach dem entscheidenden Wort „Operation“ oder „Krebs“ oder „Spritze“ bei den Patienten die weitere Wahrnehmung blockiert war und sie in ihrem Schock überhaupt nicht mehr aufnehmen konnten, was anschließend gesprochen wurde. Das hat sehr viel mit der Erwartung zu tun, die in den Patienten vor dem Gespräch besteht. Dabei ist zu bedenken, dass die häufigste Erwartung mit Angst beladen ist. Sie ist mit sehr intensivem Gefühl über lange Zeit enorm stark in unser Unterbewusstsein eingeprägt worden. Deshalb ist sie auch so kraftvoll und stellt eine sehr mächtige Beeinflussung des Unterbewusstseins dar, durch die genau das geschieht, wovor wir uns ängstigen.

Wenn die befürchtete Erwartung der Krebsdiagnose eintritt, wird eben die Gefühlslawine ausgelöst, die in all der vorangegangenen Zeit im Unterbewußtsein gespeichert worden ist. Sie überwältigt den Patienten und verschließt ihn gegenüber verstandesmäßigen Botschaften und Reaktionen und bewirkt dadurch oft überschießende gefühlsgesteuerte Handlungen. Das können deutlich sichtbare Gefühlsäußerungen wie Verzweiflung, Tränen oder Klagen sein. Oder es tritt nach außen eine Blockade zutage, die es dem Pati-enten unmöglich macht, seine in ihm tobenden Gefühle zu zeigen. Diese Menschen wirken seltsam unbeteiligt, als habe sie die Botschaft gar nicht erreicht. Der Ver-drängungsmechanismus schützt sie sozusagen gegen das Überborden der Gefühle nach außen.

Und die dritte Gruppe der Patienten baut sofort eine aktive Abwehr gegen die ängstigende Diagnose auf, indem sie die Diagnose als falsch, harmlos oder verwechselt ablehnen. So gibt es Patienten, die es trotz jahrelanger Therapie und Operationen nicht wahrhaben wollen, dass sie zum Beispiel krebskrank sind. Ich kenne eine Frau, die drei Jahre lang mehrere Brust- und Metastasenoperationen und eine Chemotherapie durchgemacht hatte und kurz vor dem Tod entsetzt behauptete, die Ärzte hätten ihr erst jetzt erzählt, sie habe Krebs.

Frau Weiler, eine andere Patientin, kam mit einem großen, geschwürig zerfallenen Brustkrebsknoten und einem massiven Lymphknotenpaket in der Achselhöhle in die Praxis und fragte mich, was das sei. Als ich wissen wollte, wie lange sie denn das schon beobachte, meinte sie, das habe schon vor acht (!) Jahren begonnen. Aber sie sei sich immer sicher gewesen, dass das gutartig sei, deshalb habe sie nichts unternommen. Und die Hausärztin habe ihr bei der Vorsorgeuntersuchung so in den Ohren gelegen, sie solle das genau im Krankenhaus untersuchen und operieren lassen, dass es ihr auf die Nerven gegangen sei. Seither war sie schon lange nicht mehr beim Arzt gewesen. Auch mein vorsichtiger Versuch, ihr die Ernsthaftigkeit der Lage zu verdeutlichen, prallte an ihrem „sicheren Wissen über die Gutartigkeit“ ab. Sie kam nicht wieder zu mir in die Praxis. Wenige Monate später hörte ich von der Hausärztin, Frau Weiler sei verstorben.

Wer weiß, vielleicht war es für Frau Weiler nur mit diesem massiven Verdrängungsmechanismus über all die Jahre zu ertragen, mit dem wachsenden Knoten zu leben. Es ist eine Art Totstellreflex, den wir bei Hasen erleben, wenn sie sich bedroht fühlen und sich ducken und reglos verharren.

Ich denke, es ist falsch, in solchen Situationen den Patienten mit Gewalt die Maske oder den Schutzschild herunterzureißen, denn sie können möglicherweise mit der Wahrheit und ihren Konsequenzen nicht umgehen. Aber wir müssen bereit sein, uns einem solchen Gespräch immer wieder zu stellen und Fragen der Patienten sorgfältig zu hören und besonders die eigentlichen Fragen zwischen den Zeilen zu verstehen und richtig zu beantworten. Eine große Schwierigkeit in solchen Konfliktsituationen besteht darin, mit unserer auf uns begrenzten Vorstellungs- und Erfahrungskraft zu erkennen, was unser Gegenüber wirklich weiß und sich überlegt.

Wenn wir in der Absicht, es wieder einmal ganz richtig zu machen und „weil man da doch etwas tun muss!“ dem Patienten die Diagnose voll ins Gesicht schleudern, ist das eine gefährliche Situation, da sich der Gefühlsstau unkontrolliert entladen und in heftigen und selbstzerstörerischen Aktionen äußern kann.

Eine andere Form von Verdrängungsmechanismus verschließt dem Patienten die Öffnung gegenüber der tatsächlichen und erfreulichen Botschaft. Denn das Unterbewusstsein ist schon so sehr auf die erwartete und angstbeladene Nachricht fixiert, dass das Bewusstsein gar nicht mehr erkennen kann, dass die eigentliche Information viel besser ist als die befürchtete.

Ein Beispiel aus meiner Zeit als Klinikarzt soll das veranschaulichen. Die 65-jährige Frau Lehmann lag auf meiner Station zur Abklärung von Oberbauchschmerzen. Mit einer Magenspiegelung hatten wir ein Magengeschwür und mit der Ultraschalluntersuchung einen großen Gallenblasenstein gefunden. Das Magengeschwür hatte in den letzten Monaten zunehmende Schmerzen gemacht. Der Gallenstein war bis zu diesem Zeitpunkt nicht bemerkt worden, weil er nie Beschwerden verursacht hatte.

Ich setzte mich zu Frau Lehmann ans Bett, zückte einen Notizblock und zeichnete eine kleine Skizze, um ihr zu zeigen, wo das Geschwür saß. Frau Lehmann unterbrach mich nach meinem ersten Satz und fragte, ob wir Gallensteine gefunden hätten. Ich bejahte die Frage und erklärte ihr, dasnicht die Gallensteine ihre Beschwerden verursacht hätten, sondern das Geschwür im Magen. Es sei deshalb notwendig, das Geschwür mit Medikamenten zu behandeln. Dann wollte sie wissen, wann wir die Gallenblase entfernen würden. Ich beschrieb ihr mehrfach ganz geduldig, dass es überhaupt nicht um eine Gallenblasenoperation gehe und dass sie mit diesem einen großen Stein sicherlich ohne Schmerzen sehr alt werden könne. 

Immer wieder kam sie auf die Gallenblasenoperation zurück, und ich hatte große Mühe, ihre Aufmerksamkeit auf die medikamentöse Magentherapie zu lenken. Deshalb fragte ich Frau Lehmann sicherheitshalber am Schluss der etwa zwanzigminütigen Unterredung, ob sie noch Fragen habe. Sie verneinte, und ich verließ zufrieden über meine gelungene Aufklärungsarbeit das Krankenzimmer.

Kurze Zeit später kam die Tochter von Frau Lehmann ganz aufgeregt zu mir und fragte mich, was ich denn um Himmels willen mit ihrer Mutter gemacht habe. Sie sitze in Tränen aufgelöst im Bett, weil sie eben von mir erfahren habe, dass sie morgen an der Gallenblase operiert werden würde.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen, denn ich war ja überzeugt, dass ich die Gallenblasenoperation sorgfältig ausgeschlossen und ausführlich von der medika-mentösen Magentherapie gesprochen hatte. Die Patientin allerdings war angstvoll auf die Operation fixiert gewesen, und mit meiner Bemerkung, dass in der Gallenblase ein Stein sei, war für sie die Operation besiegelt. Ich hatte gar keine Chance mehr, mit meiner wei-teren Erklärung zu ihr durchzudringen. Aber das hatte ich nicht bemerkt. Erst ein nochmaliges Gespräch mit Vermittlung der Tochter konnte die Lage schließlich für Frau Lehmann klären.

8.9 Die Missverständniskette 

Bei informativen Gesprächen müssen Sie als Angehöriger auf ein schrittweises Vorgehen achten und den Patienten nicht auf einmal überschütten mit dem, was Sie für wichtig halten. So wie es eine bedrohliche Medikamentenüberdosis gibt, ist auch eine Informationsüberdosis gefährlich. Glücklicherweise halten die Menschen eine Menge Medikamente aus. Sie haben ebenso Mechanismen entwickelt, damit umzugehen, wie sie zu viele, unnötige, gefährliche oder als bedrohlich empfundene Informationen einfach nicht wahrnehmen oder auf andere Weise verdrängen.

Das Beispiel von Frau Lehmann zeigt auch für Sie als Patient oder Angehörigen eines Patienten einen Grundsatz der Kommunikation:

Wahr ist nicht, was A zu B sagt, sondern was B wahrnimmt.

Konrad Lorenz, der Verhaltensforscher und Medizin-Nobelpreisträger, fasste die Missverständnisse in einer Kette von möglichen und häufigen Trugschlüssen zu-sammen:

Gesagt                  bedeutet nicht            gehört.
Gehört                 bedeutet nicht             verstanden.
Verstanden         bedeutet nicht             einverstanden.
Einverstanden   bedeutet nicht             gemacht.
Gemacht             bedeutet nicht             beibehalten.
Beibehalten        bedeutet nicht             Erfolg gehabt

Deshalb ist es so wichtig, Ihre Stimmungen und Aufnahmemöglichkeiten als Patient oder Angehöriger zu beachten. Dazu gehören eben auch Ihre Erwartungen, Ängste und Hoffnungen, die Ihre Wahrnehmung prägen. Wenn Sie etwas Bestimmtes wahrgenommen haben oder auf eine spezielle Sache aufmerksam gemacht wurden, werden Sie beim nächsten Mal anders beobachten und werten. Das erklärt den Satz:

Unsere Wahrnehmung verändert unsere Wahrnehmung.

Dazu ein Beispiel. Wenn Sie ein Mensch sind, der sehr besorgt um seine Gesundheit ist und dazu hin Angst vor einem Herzinfarkt haben und dann hören, dass ein Schmerz über dem Herzen ein Zeichen für einen Herzinfarkt sein kann, werden Sie mit großer Angst jedes Ziehen im Brustmuskel über dem Herzen beachten und vielleicht als sicheres Zeichen für Ihren befürchteten Infarkt ansehen. Bei Ihnen schreibe ich ein EKG mit den Worten: „Ich will Ihnen zeigen, dass das Herz gesund ist.“ Das ist wesentlich besser formuliert als „Ich schreibe ein EKG, um Ihnen zu zeigen, dass das Herz nicht krank ist.“

Der amerikanische Krebsarzt Dr. Simonton sagt:

„Es ist einfach gesünder, über Gesundheit zu reden als über Krankheit, weil damit die Gedanken auf Gesundheit gerichtet werden statt auf Krankheit.“

Anders formuliert: Negative Gedanken an Krankheit machen auf die Dauer hilflos, angstvoll und lähmen auch noch die gesunden Anteile im Kranken. Gerade diese gesunden Eigenschaften, Möglichkeiten und Kraftquellen müssen aber in der Krankheit entdeckt, gepflegt und bestärkt werden. Sie sind sozusagen die Strickleiter, an der sich der Kranke wieder aus seiner Notlage heraus hangeln kann.

Wenn ich Ihnen als Patienten anschließend mit einem tastenden Finger die schmerzhaften Punkte auf der Brustmuskulatur aufzeige und damit klarmache, dass der Schmerz außerhalb des Brustkorbes auslösbar ist, erkennen Sie auch, dass das kein Herzschmerz ist. Ihre Wahrnehmung wird also verändert, Ihre Angst wird nachlassen, weil Sie durch die praktische Aufklärung die Zusammenhänge verstanden haben und selbst etwas klären können. Beim nächsten Schmerz werden Sie versuchen, selbst zu testen, ob der Schmerz von einer verspannten Brustmuskulatur herrührt oder un-beeinflussbar innerhalb des Brustkorbs sticht.

Im Alltag gibt es viele andere Beispiele für den zitierten Satz. Wenn Sie ein neues Auto kaufen wollen, sehen Sie nur noch neue Autos. Wenn Sie in den Urlaub fahren wollen, entdecken Sie plötzlich besonders viele Berichte über Ihr Ziel und Menschen, die auch dort waren. Wenn Sie schwanger sind, sehen Sie auf den Straßen viele schwangeren Frauen.

8.10 Der unterschiedliche Wortgebrauch bei Arzt und Patient 

Natürlich müssen wir Ärzte bei einem aufklärenden und informierenden Gespräch auch auf den Wortschatz des Patienten achten. Es kann sein, dass Sie die Bedeutung einiger Wörter nicht kennen und es nicht äußern. Dann werden Sie den Rest der Unterhaltung nicht verstehen, und das wird Ihre Angst erhöhen, dass etwas mit Ihnen geschieht, was Sie nicht beeinflussen können. Sie werden sich möglicherweise ausgeliefert oder nicht ernst genommen fühlen. Deshalb habe ich mir weitgehend Fremdwörter im Umgang mit Patienten abgewöhnt, und wenn welche auftauchen, erkläre ich sie so einfach wie möglich.

Ein häufiger Grund für ein Missverständnis ist der für Mediziner übliche Satz: „Der Befund war negativ.“ Für uns Ärzte ist klar, dass das ein normales Ergebnis darstellt. Wenn etwas Krankhaftes bei dem Labortest oder der Gewebeprobe herausgekommen ist, gilt der Befund für uns Ärzte als „positiv“. Das widerspricht unserem im Alltag üblichen Wortgebrauch und bringt deshalb oft erhebliche und weitreichende Missverständnisse. Oder um es am Beispiel zu sagen: Der positive AIDS-Test ist ein sehr negatives Ergebnis, denn der Patient ist infiziert. Der negative Krebsabstrich ist ein sehr positives Ergebnis, denn die Frau ist gesund.

Ähnlich schwierig ist die Situation, wenn der Arzt Ihren sehr stark schmerzenden Bauch untersucht und sagt: „Da ist nichts!“ Er meint damit, dass er nichts Krankhaftes gefunden hat. Sie fühlen sich aber dann möglicherweise nicht ernst genommen oder gar als Simulant hingestellt, denn für Sie ist da ja „etwas“, nämlich ein quälender Schmerz. Viel besser wäre es zu sagen: „Ich kann jetzt nichts Krankhaftes finden, der Tastbefund ist normal. Deshalb muss ich weiter nach der Ursache Ihrer Schmerzen suchen.“

Auch wenn der Arzt Ihre Laborwerte anschaut und sagt: „Da ist nichts!“ hat er objektiv etwas Falsches und etwas sprachlich Ungeschicktes dazu hin gesagt. Denn er hat in Wirklichkeit normale Befunde festgestellt, und das ist doch etwas sehr Wichtiges für Sie und eine durchaus bedeutende Erkenntnis, die Sie beruhigen würde, wenn man sie Ihnen richtig erklärt. Eigentlich müsste der Arzt sagen: „Die Befunde sind normal.“ Ich habe mir aus diesem Grund angewöhnt, den Patienten die Laborkarte zu zeigen und die Werte und die dazugehörigen Normwerte zu erklären. Das kostet nur wenig mehr Zeit und gibt Ihnen als Patienten das Gefühl, gut beraten worden zu sein.

Wenn wir Patienten und Angehörige informieren, werden wir Ärzte oft nach Einzelheiten gefragt. Dabei hat sich mir die Regel bewährt:

Beantworten Sie die Frage, nicht mehr und nicht weniger. Sagen Sie alles, was der Patient braucht, um verständnisvoll mitarbeiten zu können.

Dann kann ich immer noch fragen: „Möchten Sie noch etwas wissen?“ oder „Haben Sie Angst?“ oder „Fühlen Sie sich ausreichend informiert?“ Auch wenn wir aus der Vermutung heraus, der Patient habe Angst vor der Diagnose, ihn nicht informieren, ist noch lange nicht gesagt, dass er wirklich Angst hat und mit der Diagnose nicht umgehen kann. Vielleicht haben Sie als Angehöriger Angst vor dem Gespräch und projizieren Ihre Angst auf den Patienten. Angst ist kein guter Ratgeber und macht in jeder Beziehung eng und hilflos. Das Wort Angst kommt vom lateinischen angustus = eng. Eine angemessene Konfrontation mit den Tatsachen stellt eine Chance dar, an der Aufgabe zu wachsen, indem wir uns der Angst stellen.

8.11 Wir müssen Hoffnung vermitteln! 

Wir sollten berücksichtigen, dass die Patienten seelisch oft stärker sind als die Angehörigen und besser mit den Diagnosen umgehen können als vermutet. Dann bewährt sich, dass wir die Patienten richtig und umfassend informiert haben. Entscheidend ist die Hoffnung, die mit der Diagnose vermittelt wird.

Der bekannte Krebsspezialist Dr. Bernie Siegel sagt in seinem lesenswerten Buch „Prognose Hoffnung“ (ECON-Verlag):

 „Im Zweifelsfall ist Hoffnung immer richtig.“

8.12. Wie lange noch?

Grundsätzlich falsch finde ich es, wenn wir die oft gestellte Frage, wie lange denn der Kranke noch zu leben habe, mit einer klaren Zahl von Tagen, Wochen oder Monaten beantworten. Ich habe so viele Fehler bei den Antworten erlebt, bei mir selbst und den Kollegen, dass ich es wirklich für unverantwortlich halte, wesentlich mehr zu sagen als „Ich weiß es nicht!“

Es gibt viele Beispiele, wo die Frist wesentlich zu kurz oder zu lang vom Arzt bestimmt wurde. In beiden Fällen stellen sich Patient und Angehörige darauf ein, und dann kommt mit Sicherheit die Ent-Täuschung. Das ist eine Wegnahme der Täuschung, der sich alle bis dahin sicher waren. Die Enttäuschung klärt die Lage, und das tut oft sehr weh. Eine Enttäuschung kann es nur geben, wenn eine Erwartung besteht.

Wer etwas Richtiges erwartet, ist klug. Wer nichts erwartet, ist weise. Wer das Falsche erwartet, wird enttäuscht.

Auch wenn wir nach medizinischem Ermessen davon ausgehen können, dass der Patient in den nächsten Tagen sterben wird, kann das falsch sein. Er kann in den nächsten Minuten zum Beispiel an einer Lungenembolie sterben oder noch wesentlich länger als vorhergesagt leben. Nicht ohne Grund sagt der Volksmund: „Totgesagte leben länger“.

Ich will gerne gestehen, dass es für einen Arzt so etwas wie eine verlockende Machtfunktion darstellt, wenn er etwas über den Todeszeitpunkt aussagt. Deshalb will ich Ihnen mein Schlüsselerlebnis berichten, bei dem ich endgültig gelernt habe, mich bei dieser Frage nicht mehr festzulegen.

Kurz vor meiner Niederlassung als Allgemeinarzt wurde mir Frau Seiler, eine über 80-jährige Dame aus dem Altenheim wegen akuter Herzschwäche auf die Station gelegt. Wir behandelten sie mit den üblichen Mitteln und sahen, dass es ihr zunehmend schlechter ging. Eine Komplikation nach der anderen kam dazu und damit auch ein Medikament nach dem anderen. Schließlich war Frau Seiler tief bewusstlos, und nach allen medizi-nischen Befunden, die wir erheben konnten, war mir klar, dass sie in den nächsten Tagen sterben würde.

Im Olgahospital hatte ich gelernt, über Patienten, bei denen wir keine Hoffnung auf Weiterleben hatten, mit dem Oberarzt und dem Chefarzt zu sprechen, ob wir die Medikation und Intensivmaßnahmen absetzen und nur noch Flüssigkeit in die Vene geben, um den Menschen einen ruhigen und friedlichen Tod zu ermöglichen. Da meine Meinung über Frau Seiler klar war, bat ich den Oberarzt und den Chefarzt zu einem Ge-spräch und erklärte die Situation und meine Vorstellung. Dann gingen wir gemeinsam zu Frau Seiler, waren uns über ihre unrettbare Lage einig und beschlossen schließlich einstimmig, alle Medikamente abzusetzen und sie nur noch mit Flüssigkeit intravenös zu ernähren. Ich machte eine entsprechende Bemerkung in die Karteikarte und war der Meinung, ein gutes Werk getan zu haben. So war es dann auch wirklich, nur ganz anders, als ich es gedacht hatte.

Von diesem Moment an ging es Frau Seiler von Stunde zu Stunde besser! Die Nierenfunktion setzte wieder ein, die Lunge atmete besser, das Herz schlug kräftiger. Schließlich wachte Frau Seiler wieder auf und war klar bei Bewusstsein. Nach einigen regelmäßigen Bewegungsübungen verließ sie zwei Wochen später auf eigenen Beinen die Klinik in Richtung Altenheim!

Die richtige Therapie hatte darin bestanden, unsere Therapie abzusetzen! Und ich hatte das Gefühl, ich hätte den Todeszeitpunkt von Frau Seiler erkannt und richtig entschieden, und dann hat ER entschieden und mir meine fehlende Entscheidungsbefugnis bewiesen. Aber ich habe den Trost, dass ich letztlich doch für das Leben von Frau Seiler gehandelt habe, nur sehr unwissend.

Liebe Angehörige und liebe Patienten, bitte verlangen Sie von Ihrem Arzt keine genaue Aussage zu der Frage des voraussichtlichen Sterbemoments, so sehr ich verstehe, dass die Antwort für Sie ganz entscheidend wichtig ist. Ihr Arzt weiß es nicht. Die Bemerkung, dass ein Mensch sehr wahrscheinlich demnächst sterben wird, ist schon genug, um Vorbereitungen zu treffen. Und es gibt sehr wenige Situationen, in denen absolut klar ist, dass der Mensch jetzt in der nächsten Stunde sterben wird.

 


121  middle knowledge, wörtlich übersetzt: mittleres Wissen,

sinngemäß: Halbwissen

FN das heißt: der Patient ist mit AIDS-Viren infiziert.

22  Illusion ist die verfälschte Wahrnehmung wirklicher Gege-

benheiten. Halluzination ist die Sinnestäuschung, bei der die

Wahrnehmung kein reales Objekt hat.

23  Daher kommt das Wort Angsthase.

24  das Wort Angst kommt von lat. angustus: eng

25  Spezialist für Tumorerkrankungen

26  ECON-Verlag

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Die Mahlzeiten


Liebe geht durch den Magen.

Das Auge isst mit.

7.1 Allgemeine Bemerkungen 

Beobachtungen im täglichen Krankenhausalltag, im Altenheim und bei der häuslichen Pflege zeigen, dass das Essen eine überragende Rolle für die Lebensqualität des Patienten spielt. Die Besuchszeit, die Arztvisite und die Mahlzeiten sind die Höhepunkte im Alltag des Kranken. Das ist unter anderem deshalb so, weil viele Patienten den ganzen Tag nichts anderes zu tun haben, als auf das Essen zu warten.

Der Ruf eines Krankenhauses wird oft an der Qualität seiner Küche und des Service gemessen und dann grob verallgemeinert. Ich will dazu ein Extrembeispiel aus der Praxis schildern. Als Frau Unsanft nach einer Operation aus der Klinik entlassen war und in die Sprechstunde kam, schimpfte sie: „Das ist doch ein Mistkrankenhaus!“ Auf meine Frage nach dem Grund meinte sie: „Da hat doch tatsächlich die Schwester mir einmal morgens mein Joghurt ohne Löffel gebracht!“

Meist sind die Wünsche des Patienten wirklich lebens- und krankheitserleichternd und leicht zu erfüllen. Ein aufmunterndes und nicht aufdrängendes Wort kann den Kranken motivieren zu essen und zu trinken. Aber vorrangig wichtig ist, dass der Kranke entscheiden darf, wann, was und wie viel er isst und trinkt.

Schwerkranke haben meist einen erheblich geringeren Bedarf an Nahrung als Gesunde, und ein Unerfahrener kann sich schlecht vorstellen, dass es dem Kranken genügt, nur wenige Happen zu essen. Das kommt daher, weil Gesunde im Allgemeinen mehr essen, als sie wirklich brauchen und dieses Maß auf den Kranken anwenden, der sich auf das Notwendige beschränkt. Viel wichtiger ist meist eine regelmäßige und ausreichende Flüssigkeitszufuhr, die bei vielen Kranken nur durch geduldig und sehr häufig verabreichte kleinste Mengen erzielt werden kann.

Die gesündeste Kost, die wir kennen und die für nahezu alle Kranken bestens geeignet ist, bekommt der Diabetiker, der Zuckerkranke. Ich möchte absichtlich das Wort Diät nicht benützen, weil es den Beigeschmack des Verzichts, des Selbstkasteiens und der verminderten Lebensqualität hat. Es handelt sich aber um ein in Bezug auf Kohlenhydrate (Zucker), Fett und Eiweiß ausgeglichenes Essen, das frisch, vitamin- und mineralstoffreich, gut verdaulich, mit vielen Abwechslungen, schmackhaft, und sehr lecker angerichtet werden kann.

Eine wichtige und gesunde Regel empfiehlt, möglichst kleine Mahlzeiten zu essen, im Idealfall beim Diabetiker sechs pro Tag. Dabei geht man von drei Hauptmahlzeiten und drei Zwischenmahlzeiten aus. Wobei eine Mahlzeit auch aus einem Stück Obst oder einem Becher Joghurt oder einer Scheibe Brot bestehen kann. Das belastet den Verdauungstrakt bei weitem nicht so sehr wie zwei oder drei große Mahlzeiten.

Ich verspreche Ihnen, wenn eine gute Köchin Ihnen eine Diabetikermahlzeit geschickt zubereitet, merken Sie nicht, dass es sich hier um Diät handelt, sondern Sie werden genussvoll essen. Wenn Ihr Patient in Bezug auf rasch im Darm resorbierbaren Zucker (Honig, Traubenzucker, Kochzucker) keine Einschränkung machen muss, sind die Variationsmöglichkeiten noch viel größer.

Lassen Sie sich von Ihrem Hausarzt ein paar Broschüren mit Vorschlägen geben, die er von der Pharmaindustrie kostenlos bekommt. Oder kaufen Sie sich ein gutes Buch über leichte und gesunde Ernährung. Beschäftigen Sie sich damit, und Sie werden staunen, was der Patient alles essen darf.

Leichte Kost heißt nicht langweilige Kost! Selbst wenn ein Patient nicht mehr kauen kann, nimmt er immer noch mit Genuss wahr, dass Sie sein Essen mit Kräutern und Gewürzen rezent abgeschmeckt haben. Das sollten Sie besonders bedenken, wenn der Patient wegen seines hohen Blutdrucks auf Salz möglichst verzichten sollte. Schauen Sie sich einmal in einem Reformhaus oder der Gewürzbar eines Supermarktes um. Dann erkennen Sie, welche Vielfalt Ihnen an Geschmacksrichtungen zur Verfügung steht.

Am besten ist es natürlich, wenn Sie Ihren eigenen Kräutergarten oder in der Küche oder auf dem Balkon einige Töpfe mit heranwachsenden Kräuter- und Gewürzpflanzen ziehen und dadurch immer über frische Zutaten verfügen. Ein guter Trick, auch außerhalb der Saison frische Kräuter verwenden zu können, besteht darin, die Kräuter zerkleinert anwendungsfertig tiefzufrieren und bei Bedarf auf das Essen zu streuen. Im „Notfall“ verwenden Sie getrocknete Kräuter, die beim Nasswerden am Salat ihr Aroma wieder entfalten.

Obst und Speiseeis sind gut verträglich, erfrischend und können als vollwertige Mahlzeit, auf jeden Fall aber als Zwischenmahlzeit verarbeitet und köstlich serviert werden. Schneiden Sie das Obst auf, und legen Sie die Scheiben oder Stücke malerisch auf einen schönen Teller, verzieren Sie das Ganze mit einer Kugel Eis und vielleicht mit ein bisschen  Puderzucker, Mandelstückchen oder geraspelter Schokolade, dann haben Sie schon wieder etwas Gutes für die Stimmung Ihres Patienten getan. Wenn Sie nur einfach einen ganzen Apfel anbieten, sieht es nicht so appetitlich und einladend aus, und der Patient hat möglicherweise Probleme mit dem Abbeißen und Kauen.

Wenn Sie sich dann noch mit den unzähligen Salatkombinationen und den dazu möglichen Saucen beschäftigen, haben Sie auch in dieser Beziehung wieder eine Mahlzeit. Aus Rohkost, Blattsalaten, Gemüse, Fleisch, Wurst, Käse, Fisch, Teigwaren und Obst können Sie Salate zubereiten. Die Dressings lassen Ihrer Phantasie alle Möglichkeiten offen. Es muss nicht immer Essig und Öl sein! Auch Joghurt, Kräuter, Sahne, Senf, Gewürze, Meerrettich können verwendet werden, um den Salat anzumachen. Reste aus dem Kühlschrank sind ebenfalls mögliche Zutaten für einen leckeren Salat. Sie können einen Salat aufwerten mit Shrimps, ein paar Scheiben Avocado, ein bisschen Obst, ausgelassenen Speck-, gerösteten Brotwürfelchen oder Nüssen. Weil Kranke nicht viel, sondern gutes Essen brauchen, reicht ihnen oft ein frischer Salat, um mit Freude satt zu werden.

Aus Obst und Rohkost gibt es hervorragende Mischungsmöglichkeiten. Wenn Sie einen Apfel und eine Karotte klein schneiden oder reiben und untereinander rühren, mit ein paar Nussstückchen verzieren und frisch servieren, haben Sie schon wieder eine Zwi-schenmahlzeit oder eine Vorspeise, die lecker und gut verdaulich ist.

Denken Sie bitte auch an den herrlichen und gesunden Genuss von frischen Obstsäften und Teesorten. Das Angebot ist sehr groß, und Sie brauchen nur wenig Phantasie, um jeden Tag einen anderen Saft oder eine neue Mischung Tee anzubieten. Vergessen Sie den Eiswürfel im Saft nicht, wenn Ihr Patient das gern mag, und legen Sie bei Bedarf einen Strohhalm zum Trinken bei. Setzen Sie zur Zierde und Geschmacksintensivierung eine Scheibe Zitrone, Kiwi oder Orange auf den Glasrand. Fragen Sie Ihren Patienten, ob er den Tee warm oder gekühlt serviert haben will.

Säurehaltige Obst- und Saftsorten sollten Sie nicht Kranken anbieten, die wie Masern- und Windpockenpatienten einen Ausschlag auf der Mundschleimhaut haben. Denn die Säure brennt. In diesen Fällen bieten sich milde Getränke wie Wasser und Tee an.

Lassen Sie den Patienten trinken, was er mag. Achten Sie auf genügend Flüssigkeitszufuhr. Sprechen Sie die Menge mit dem betreuenden Arzt ab, denn bei Nieren- und Herzerkrankungen gelten besondere Regeln. Außer bei ganz bestimmten Krankheiten ist gegen eine kleine Menge Alkohol zum Essen nichts einzuwenden. Ein Gläschen Sekt, wenn Besuch kommt, kann die Stimmung entspannen und verbessern. Sie sollten nur die Kohlensäure vorher herausrühren, weil sie möglicherweise bläht. Ein Piccolo-Fläschchen im Kühlschrank bereit zu haben, ist manchmal eine gute Über-raschung, und oft reicht die Menge für zwei Personen aus.

Verwenden Sie blähende Speisen und kohlensäurehaltige Getränke nur so, wie sie der Patient verträgt. Denn es ist schon sehr unangenehm, einen Blähbauch zu haben, wenn man gesund ist. Stellen Sie sich vor, Sie liegen krank im Bett und werden Ihre Darmgase nicht los! Das ist noch schlimmer, wenn Sie eine frische Operationsnarbe am Bauch haben.

Braun geröstete Zwiebeln schmecken auch sehr gut und wirken bei weitem nicht so blähend wie glasig gedünstete! Mit Kümmel können Sie Rohkost bekömmlicher machen, wenn Ihr Patient das gerne isst. Verwenden Sie statt Hefeteig Mürbeteig mit wenig Back–pulver oder Blätterteig. Fenchel- oder Kamillentee nach blähenden Speisen erleichtert meist die Situation und den Darm bei Säuglingen und den Erwachsenen.

Wenn es mit den Blähungen schlimmer wird, lassen Sie sich in der Apotheke ein entschäumendes Medikament geben, das die Oberflächenspannung der Gasblasen senkt und sie in sich zusammenfallen lässt. Die Wirkung können Sie sehr gut überprüfen und für sich anschaulich machen, indem Sie ein paar Tropfen dieser Lösung in einen Seifenschaum fallen lassen und dann zusehen, wie rasch die Blasen verschwinden.

Signalisieren Sie Ihrem Patienten auf jeden Fall, dass es in Ordnung ist, wenn er seinen Darmgasen freien Lauf lässßt. Sorgen Sie für frische Luft. Der Patient wird es Ihnen danken, erst recht, wenn es ihm peinlich ist.

Ein Glas gekühlter Sprudel, dem sie eine Prise Kochsalz zusetzen, um die Kohlensäure entweichen zu lassen, schmeckt schon gut. Außerdem können Sie auch ein paar Tropfen frische Zitrone oder ein kleines Stück Zitrone zugeben, um den Geschmack zu verfeinern.. Oder Sie verwenden einfach stilles Wasser oder rühren die Kohlensäure heraus.

7.2  Richten Sie das Essen hübsch an! 

Es spielt eine wichtige Rolle, ob die kleine Mahlzeit zum Essen einladend angerichtet und liebevoll auf normalem Geschirr serviert wird. Ich kenne Familien, die ihren Krebskranken das Essen im Einmalgeschirr mit Wegwerfbesteck serviert haben, weil sie dachten, der Krebs sei ansteckend. Solch ein Verhalten ist nicht nur medizinisch unbegründet, sondern die Kranken empfinden es als einen sichtbaren Beweis, wie sie eingeschätzt und abgeschoben werden.

Es gibt so viele kleine und mühelos anzuwendende Möglichkeiten, das Essen mit einer leckeren und essbaren Zierde einladend zu gestalten. Wenn Sie auf einen Erdbeerquark auch nur eine einzige ganze Erdbeere legen oder einen Rand oder ein Herz aus Erd-beeren gestalten, wird aus der gleichförmig aussehenden Masse ein schönes Bild.

Selbst wenn Sie zur leichteren Verdaulichkeit oder weil der Patient nicht mehr beißen kann auf die pürrierte und immer noch würzige und sehr schmackhafte Rindsroulade ein kleines Stückchen Fleisch legen, das Sie vor dem Pürrieren abgeschnitten haben, kann der Patient es entweder in den Mund nehmen und den Geschmack genießen oder einfach sich an dem leckeren Bild erfreuen. Er sieht auf jeden Fall, womit Sie die Roulade gefüllt haben.

Wichtig ist zu überlegen, dass ein Patient mit einem kranken und wenig belastbaren Darm trotzdem immer noch einen würzigen Geschmack lieben und vertragen kann. Das heißt, das Essen sollte gut verdaulich und schmackhaft zubereitet werden. Sie können also von  der Mahlzeit, die Sie für sich und den Rest der Familie richten, einfach die Portion für den Patienten wegnehmen und pürrieren. Voraussetzung ist natürlich, dass die Bestandteile des Essens zur Verdauungstätigkeit des Patienten passen. Das können Sie im Zweifelsfall ja mit Ihrem Arzt besprechen.

Ein kleiner Klecks Sahne oder ein frisch gepflücktes Basilikumblatt am Tellerrand schaffen den Eindruck ein Festessens.

Was halten Sie davon, den Kartoffelbrei, die Sahne oder die Quarknachspeise in eine Spritztülle zu füllen und dann als Figur auf dem Teller zu servieren?

Sie können das Essen unüblich zubereiten und anrichten, zum Beispiel das Brot in kleine Stückchen schneiden und in der Pfanne rösten, zerkleinerte Gewürze wie Petersilie oder Melisse oder Schnittlauch auf die Speisen streuen. Das aus der Frucht entnommene, zerkleinerte und mit anderen Zutaten vermischte Fruchtfleisch können Sie in den dafür ausgehöhlten Früchten servieren.

Verwenden Sie besondere Gefäße zum Anrichten. Das gilt auch für Gläser! Viele Menschen haben Lieblingsgläser oder -becher. Von meinem Vater habe ich gelernt, Kindern Medikamente in besonderen, sonst für sie nicht erlaubten Gefäßen anzubieten. In meiner eigenen Praxis habe ich oft leuchtende Kinderaugen gesehen, wenn ich die dringend notwendige Teemenge bei Durchfallerkrankungen im Schnapsglas des Vaters verordnet habe! Das hat den Vorteil, dass häufig kleine Mengen getrunken werden und das Kind sich freut, dieses Glas zu bekommen und oft daraus zu trinken.

Wenn wir schon bei diesem Thema sind: Bei Brechdurchfall ist die Therapie mit Cola (Kohlensäure heraus rühren!) und Salzletten oder Brezeln immer noch eine gut wirksame und sehr beliebte Behandlung, auch für die Kinder.

Wenn Sie zum leckeren Essen auch noch eine kleine Blume auf den Tisch oder das Tablett im Bett stellen und eine saubere Serviette auf das Tischtuch legen, sieht es aus wie im guten Restaurant.

Der Kranke wird mit mehr Appetit essen und sich geliebt und geschätzt fühlen. Deshalb lohnt es sich, auf die Zubereitung und das appetitliche Anrichten der Speisen besonders dann Wert zu legen, wenn der Patient nur wenig isst. Er soll auf jeden Fall spüren, dass für ihn mit Liebe gesorgt wird. Es trägt zu seiner Genesung bei, wenn er merkt, dass die Köchin oder der Koch sich phantasievolle Gedanken über den Speiseplan machen.

Wenn Sie für den Patienten kochen, überlegen Sie einfach, was Ihnen gefallen würde, oder was Sie neulich in einem guten Restaurant oder einem einfallsreichen Kochbuch gesehen haben.

Aber wo kann man mit so viel auch zeitaufwendiger und individueller Sorgfalt rechnen? Im Krankenhaus geht es wegen der Personalknappheit nicht, am ehesten kann solch eine Zubereitung noch zu Hause angeboten werden, wenn die Angehörigen sich Mühe geben und den Wert einer liebevollen Betreuung kennen.

7.3 Essen Sie möglichst gemeinsam! 

Viele Patienten freuen sich, wenn sie am Familientisch mitessen können oder Familienmitglieder sich ans Bett setzen, um dem Kranken beim Essen Gesellschaft zu leisten. Gerade bei Kranken hat das gemeinsame Mahl eine enorm wichtige soziale Funktion. Auch dabei zeigt sich, ob der Kranke noch zur Familie gehört oder schon abgesondert wird. Deshalb sollten die Angehörigen oder Besucher auch in dieser Beziehung so natürlich und unkompliziert wie möglich reagieren.

Es hat eine große psychologische Bedeutung, ob wir mit dem Kranken „das Brot und den Wein teilen“. Diese Geste ist nicht nur eine religiös belegte Zeremonie. Hier geht es keineswegs um eine letzte Mahlzeit oder eine heilige Handlung wie beim Abendmahl, sondern um das Feiern eines gemeinsamen Essens. Auch das ist ein wichtiges Ritual in unserer Gesellschaft. Dadurch wird eine Beziehung hergestellt, die besänftigt, verbindet, befreit und tröstet. Und dabei darf wie bei jedem normalen Essen auch gelacht und geredet werden.

7.4 Die Qualität des Essens

Abgesehen davon, dass Sie niemandem, also auch keinem Kranken etwas Schlechtes vorsetzen sollten, müssen wir bei der Kost für Kranke ganz besonders auf eine gute Qualität achten. Hier gilt wie bei bei jedem Essen der Grundsatz: Nur mit guten Zutaten kann ein Essen ernährungswissenschaftlich wertvoll werden.

Ich meine mit Qualität nicht den Luxus exklusiver Zutaten wie Kaviar und Champagner, sondern die sorgfältige und schmackhafte Zubereitung auch ein-facher und frischer, vitamin- und mineralstoffreicher Bestandteile. Eine Tomatensuppe kann eine langwei-lige Brühe aus der Dose oder eine köstliche Delikatesse aus frischen Zutaten sein.

7.5 Wie weit müssen Diätvorschriften eingehalten werden? 

Wenn es irgend möglich ist, sollten Essenswünsche berücksichtigt und erfüllt werden. Bei schweren Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) muss mit dem betreuenden Arzt beraten und klar beschlossen werden, welche Mahlzeiten in welcher Menge verabreicht werden dürfen. Aber solange der Patient über die Folgen eines Diätfehlers genau Bescheid weiß und sie trotzdem absichtlich macht, müssen wir respektieren, dass er seiner Gesundheit schadet. Das ist genau das gleiche, wie wenn unser Lebenspartner oder Nachbar im vollen Bewusstsein der Gefährlichkeit weiterraucht oder der Leberzirrhosepatient Alkohol trinkt.

Und welchen Sinn hat es, wenn wir zum Beispiel einem zuckerkranken Patienten, der seine letzten Wochen erlebt, das Stück Schokolade oder das ersehnte Honigbrot verweigern? Wichtig ist doch, dass der Patient, wenn er schwer krank ist, immer noch ein Optimum an Lebensfreude erhält. Jeder Patient hat dafür seine eigene Definition und kann sie im Allgemeinen auch äußern.

7.6 Sonderernährungen

Manche Patienten brauchen eine sogenannte parenterale Ernährung, das heißt, die Ernährung läuft „neben dem Darm“. Wir Ärzte meinen damit eine Zufuhr der Nährstoffe mit einer Infusion in die Vene. Dafür gibt es spezielle Lösungen, die allen Erforder-nissen der ausreichenden Ernährung gerecht werden. Das ist in der Regel nur in der Klinik möglich.

Wenn ein Mensch nicht schlucken kann, ist es unter bestimmten Bedingungen möglich, ihn mit einer Sonde in den Magen zu ernähren. Dafür gibt es flüssige Lösungen, die man mit einer Spritze in diese Sonde füllen kann. Dann läuft die Verdauung auf dem nor-malen Weg. Da diese Flüssigkeiten sehr wenig Ballaststoffe enthalten und fast alle Bestandteile der Lösung im Darm aufgenommen werden, macht der Patient sehr wenig Stuhlgang.

Dann gibt es noch die sogenannte Astronautenkost. Das ist eine außerordentlich leicht verdauliche Kost mit speziellen Geschmacksbeimischungen, zum Beispiel Mango, Schokolade, Erdbeer und Vanille für Patienten, deren Darm nur minimal belastet werden darf. Man hat diese Kost unter anderem für Astronauten entwickelt, um eine vollwertige Ernährung zu gewährleisten, die möglichst wenig Abfall produziert, also die Anzahl und die Menge der Stuhlentleerungen reduziert. Da die kranken Menschen normal schmecken und kauen können und die Kost trinken, wird ihnen diese immer gleich schmeckende Kost oft sehr langweilig, und es kostet viel Überzeugungsarbeit, die Patienten bei dieser Ernährungsweise zu halten.

7.7 Vorschläge für Mahlzeiten 

Ich kann Ihnen natürlich hier kein Kochbuch liefern, aber ich möchte gerne ein paar Beispiele aufzeigen für verschiedene Mahlzeiten.

Zum abwechlungsreichen Frühstück sind neben den üblichen Brotaufstrichen auch Marmelade mit Magerquark, Obstauflagen wie halbierte Bananen oder Trauben lecker und gut bekömmlich. Dabei können Sie zwischen verschiedenen Brotsorten und Brötchen variieren. Zur Geschmacksintensivierung dienen geröstete Nüsse und ein paar Tropfen Honig. Selbst zubereitetes Müsli aus Frischobst, verschiedenen Flocken, Nüssen, Rosinen und Milch sind ballastreich und sorgen ganz nebenbei für eine regelmäßige Verdauung. Das kann gesteigert werden mit dem Zusatz von Kleie, Leinsamen und Sesam.

Wer gern ein herzhaftes, kräftiges Frühstück mag, kann mageren Käse, Schinken, frische Rohkost oder Salatstücke zu sich nehmen.

Zwischen den Hauptmahlzeiten denken Sie bitte immer an Obst in allen Variationen. Das schmeckt nicht nur gut und erfrischend, sondern enthält auch viel Wasser und Vitamine. Flüssigkeit ist zur Verdauung unerlässlich, besonders weil Kranke häufig zu wenig trinken und dann über Verstopfung klagen. Das Obst kann als Obstmark zubereitet werden, wenn Patienten Kauprobleme haben. Sie müssen nur darauf achten, dass die im Obst enthaltene Säure bei Entzündungen im Mund sehr unangenehm brennt. Zitrus-früchte können eine Darmentzündung verstärken.

Ein Brot, belegt mit Radieschen, Gurke oder Tomate, bestreut mit Kräutern, verfeinert mit Frischkäse oder Joghurtsauce, kann ebenfalls als Zwischenmahlzeit serviert werden.

Eine lecker angerichtete Schale mit Quark und Joghurt in allen erdenklichen Variationen, verziert mit einem Löffelbisquit bei süßen und Schnittlauch oder Petersilie bei salzigen Speisen, sind ideale Zwischenmahlzeiten.

Bevorzugt werden von Kranken oft Suppen, die schmackhaft, reichhaltig und gut bekömmlich sind. Klare Suppen können mit verschiedenen Einlagen sehr gut variiert werden. Bitte achten Sie darauf, dass nicht zu viel Fett enthalten ist. Um eine Sättigung des Patienten zu erreichen, können Sie der Suppe auch Weißbrot oder mitgekochte Bestandteile pürriert unterrühren und dadurch die Suppe anreichern.

Eine frisch zubereitete Fleischbrühe ist wegen ihres hohen Anteils an Natrium, Kalium, Magnesium und Spurenelementen eine altbewährte Therapie gegen den sogenannten Strahlenkater nach therapeutischer Bestrahlung, zum Beispiel nach oder anstatt Krebsoperationen.

Leicht verdauliche und schmackhafte Bestandteile für ein Hauptgericht sind zum Beispiel Puten-, Kalb-, Rind- und Hähnchenfleisch. Dabei sollten Sie immer die mageren Anteile bevorzugen. Auch Wild wird von vielen Patienten sehr gerne gegessen.

In Brühe gekochtes Fleisch ist bekömmlicher und leichter zu verdauen, weil kein Fett dazu benützt wird. Außerdem bekommen Sie bei dieser Zubereitung eine großartige Brühe für die Suppe, die Sie zum Beispiel für weitere Mahlzeiten oder Salatsaucen verwenden können.

Um eine bekömmliche und kräftige Sauce zu erhalten, können Sie im Backofen eine Saucengrundlage herstellen, indem Sie in einem Bräter Knochen- und Fleischreste und Suppengemüse etwa neunzig Minuten garen, zwischendurch immer wieder mit Wasser ablöschen und das Ganze durch ein Sieb abgießen. Mit Fischresten können Sie auf diesem Weg auch eine Grundlage für Fischsaucen herstellen. Allerdings brauchen Sie einen Fischsud nur eine Garzeit von etwa dreißig Minuten.

Pflanzliche Fette und Öle sind frei von Cholesterin und deshalb beim Braten und Kochen den Butterprodukten vorzuziehen.

Es ist keineswegs erforderlich, eine Hauptmahlzeit immer mit Fleisch zuzubereiten. Die vegetarischen Möglichkeiten sind unendlich vielfältig, sehr geschmacksintensiv und im allgemeinen vitamin- und mineralstoffreich. Einschlägige Kochbücher werden Ihnen ein neues und genussvolles Betätigungsfeld eröffnen.

Ganz nebenbei bemerkt: Unsere Gebissstruktur, unser Verdauungstrakt und unsere Herkunft beweisen, dass wir von der Entwicklung her Pflanzenfresser sind und nicht Fleischfresser! Das zeigt sich besonders, wenn unser Körper krank ist und auf pflanzliche Nahrung eingestellt wird: Es geht viel besser und leichter!

Es gibt nirgends einen Beweis -außer unsere Gewohnheit!-, dass wir Fleisch brauchen, um gesund und kräftig zu sein oder zu werden. Das lässt sich an Hochleistungssportlern zeigen, die Vegetarier sind. Das pflanzliche Eiweiß aus Soja ist dem tierischen Eiweiß im Fleisch ernährungswissenschaftlich gesehen ebenbürtig, und außerdem brauchen wir bei Weitem nicht so viel Eiweiß, wie die meisten Menschen glauben.

Schauen Sie in der Natur nach Beispielen: Welche Tiere sind die stärksten? Elefanten und Menschenaffen. Wo holen sie ihre Kraft her? Aus Pflanzen! Harvey Diamond hat diese Zusammenhänge sehr anschaulich in seinem praktischen und lesenswerten Buch „Fit fürs Leben“ beschrieben.

Wenn Sie zum Hauptgericht ein Gemüse oder einen Salat reichen, nutzen Sie den Vorteil der leichteren Verdaulichkeit, weil in diesen Pflanzen Wasser enthalten ist, das die Verdauung anregt und den Transport der Nahrung fördert. Am allerbesten funktioniert es, wenn Sie den Salat und das Obst vor dem Hauptgang servieren!

Zum Dessert erinnere ich Sie wieder an Obst und Eis. Alternativ sind Süßspeisen wie Grießschnitten oder dünne Eierpfannkuchen (Crêpes) mit verschiedenen Beilagen empfehlenswert. Diabetiker sollten Süßstoff verwenden. Alle anderen Patienten dürfen über das Süßen mit Honig nachdenken.

Obstcremes, Grützen, Beerenmischungen, Puddingsorten, Quarkspeisen und Joghurt mit Früchten der Saison sind wertvolle Bereicherungen der Speisekarte.

Aber probieren Sie selbst aus, was Ihnen und dem Patienten schmeckt. Denn ein erzähltes Mittagessen ist wie ein Fest, von dem Sie hören, aber nichts erlebt haben.

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Sollen wir alle Wünsche des Patienten erfüllen?

 

Verwöhnen bedeutet, jemandem etwas zu geben, was er gar nicht braucht.

Alice Miller (*1923),Philosophin und Psychoanalytikerin

Die Tatsache, dass ein Mensch einen Wunsch äußert,  ist noch lange kein Grund,die Erfüllung des Wunsches zu verweigern.

nach Prof. Dr. Reinhardt Lempp, ehemaliger Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tübingen

6.1 Die persönliche Hygiene

Oft sind es ganz einfache und alltägliche Wünsche, deren Erfüllung aber den Patienten sehr viel bedeutet. Bei einem Hausbesuch bei Herrn Bayer, der zu diesem Zeitpunkt wegen seiner Hirnmetastasen nicht mehr allein sicher gehen konnte, erzählte mir seine Frau, er wolle so gerne baden und sich wieder richtig frisch fühlen. Sie könne ihn aber nicht alleine zur und in die Badewanne bringen und schon gar nicht mehr heraus. Da ich gerade Zeit hatte, bot ich meine Hilfe an. Ich rasierte Herrn Bayer, während seine Frau das Bad richtete. Wir brachten Herrn Bayer gemeinsam in die Wanne, wo Frau Bayer ihrem Mann beim Waschen half. Dann führten wir ihn zurück in das frisch gemachte Bett. Herr Bayer war sehr dankbar, sich wieder ganz wohlfühlen zu können.

Die persönliche Hygiene ist für den Patienten sehr wichtig. Sie sollten in dieser Hinsicht den Patienten so lange wie möglich sich selbst versorgen lassen, besonders im Intimbereich. Für viele Menschen ist es sehr schwierig, dabei Hilfe anzunehmen. Wenn der Patient es schafft, sich selbst zu waschen und zu richten, steigert er damit sein Gefühl der Eigenständigkeit und dadurch sein Selbstwertgefühl. Auch wenn es wesent-lich länger dauert, als wenn Sie ihn rasch waschen würden.

Wenn ein Mensch keinen Wert mehr auf seine persönliche Hygiene legt, hat er entweder aufgegeben zu leben, oder er ist verwahrlost oder schwer depressiv, oder er hat eine Erkrankung, bei der er solche Bedürfnisse nicht mehr empfinden kann.16

Auch im Bett gibt es Lieblingskleider, und wenn sie nicht allzu hinderlich für die Therapie sind, sollten Sie dem Patienten gönnen, dass er anziehen darf, worin er sich wohlfühlt.

6.2 Sexualität

Ein wichtiger, wenn auch oft verschwiegener Punkt ist die Sexualität. Ein schwer krebskranker Patient kann sehr wohl noch sexuelle Bedürfnisse haben und sich zu seiner Partnerin körperlich hingezogen fühlen. Es gibt keinen medizinischen Grund, sich diese Freude und Form der Liebe zu versagen. Natürlich müssen die beiden Partner auf körperliche Einschränkungen und schmerzvolle Bewegungen Rücksicht nehmen. Aber eine liebende Frau wird wissen, wie sie ihren kranken Mann glücklich machen kann und umgekehrt.

Ich denke zum Beispiel an das Ehepaar Bayer, das eine sehr lebendige und intensive Ehe führte, als der Ehemann seine metastasierende Krebserkrankung entwickelte. Herr Bayer hatte unverändert den Wunsch nach körperlicher Vereinigung mit seiner Frau. Nach einem vertraulichen Gespräch mit mir hatten sie die Gewißheit, dass die Erkrankung nicht ansteckend war. So konnten sie ihre gemeinsamen Wünsche und Be-dürfnisse noch bis kurz vor dem Tod des Mannes leben. Frau Bayer hat mir später berichtet, dass diese Intimität eine wesentliche Hilfe für beide Partner war, mit der schweren Erkrankung und der unvermeidlichen Trennung fertig zu werden.

6.3 Die Raumgestaltung und Beschäftigung 

Bitte beachten Sie, dass der Patient, den Sie betreuen, eine angenehme Raumtemperatur, frische Luft und nicht zu viel Lärm hat. Die Kranken sollten nicht abgeschlossen von der Welt im Bett liegen, sondern wie ich es schon erwähnt habe, immer auch den Kontakt zum alltäglichen Leben bekommen. Jeder Mensch hat bestimmte Lieblingspflanzen und -farben. Sie schaffen es bestimmt, seine Umgebung mit einfachen Mitteln danach zu gestalten. Überlegen Sie einfach, was der Patient von seinem Bett aus sieht, hört und fühlt. Dann wissen Sie, was Sie eventuell ändern soll-ten.

Andere Wünsche können zum Beispiel einen Ausflug in die nähere Umgebung oder gar eine größere Reise betreffen, die der Patient noch erleben will, solange er dazu in der Lage ist. Lehnen Sie einem Patienten solche Ansinnen nicht unbedacht ab. Viele dieser Wünsche sind mit einigem Nachdenken und Einsatz durchaus zu ermöglichen. Inzwischen gibt es sogar Reiseunternehmen, die sich darauf spezialisiert haben, ältere und / oder kranke Menschen beim Reisen zu begleiten. Es gibt sogar Reisegruppen, die nach bestimmten Diagnosen zusammengestellt sind und einen Arzt für die Betreuung mitbekommen.

Die Erfüllung kleinerer Wünsche wie bestimmte Menschen noch sehen zu können oder einmal ins Kino zu gehen, ist sicherlich leicht zu organisieren. Den Gehbehinderten hilft ein Rollstuhl vom nächsten Sanitätshaus, wieder an die frische Luft fahren und an der Natur teilhaben zu können. Sie sollten daran denken, zum Beispiel in Sanitätshäusern nach Erleichterungen für den Patienten zu suchen. Ein Beratungsgespräch kann dem Patienten helfen, seine Lebensqualität bei täglichen Verrichtungen mit Hilfe von Geräten, Vorrichtungen oder anderen Erleichterungen zu verbessern.

Denken Sie bitte auch an gute Rundfunksendungen, die dem Kranken helfen, seine Zeit sinnerfüllt und an die Welt angeschlossen zu verbringen. Mit ein wenig Ironie sei dazugefügt: Es soll ja auch in unserem hochtechnisierten Zeitalter noch Menschen geben, die glücklich sind mit einem guten Buch! Ein Freund von mir sagt oft: „Der Trend zum Zweitbuch hält an!“ Und wenn Ihr Patient nicht mehr lesen kann, könnten Sie ihm vorlesen oder Hörbücher besorgen, also auf Kassette oder CD gesprochene Bücher.

Ich selbst lag als neunjähriger Schüler für neun Monate zu Hause im Bett wegen einer schweren Knochenvereiterung am Bein. Mein Schulfreund Günther brachte mir über die ganze Zeit treu jeden Tag die Hausaufgaben, die ich bis zum nächsten Tag erledigte. Und meine Mutter ging jeden zweiten Tag in die benachbarte Stadtbibliothek, weil ich einen großen „Bücherhunger“ entwickelte, und versorgte mich mit spannender Literatur. Diese Zeit hat mein Verhältnis zu schriftlichen Texten und Büchern sehr positiv geprägt.

6.4 Die Beweglichkeit

Sehr bedenklich ist es, wenn Kranke im Bett fixiert oder / und mit starken Beruhigungsmitteln stillgelegt werden, nur weil sie unruhig sind und sich gegen die Therapie wehren. Eine Bekannte erzählte mir noch Jahre nach dem Tod ihres Großvaters sehr bewegt, wie sie als Kind sein Sterben erlebt hat: „Opa ist mit angebundenen Händen gestorben. Das war würdelos, und er hatte sein Leben lang Würde. Er hatte sich alle Schläuche gezogen, weil er einfach nicht mehr leben wollte! Und es war niemand bei ihm, der ihn hätte beruhigen können.“

6.5 Der Rückzug

Wir sollten den Kranken auch die Möglichkeit des Rückzugs geben: zum Trauern, Weinen, Nachdenken oder Alleinsein. In der anthroposophischen Klinik in Filderstadt habe ich gesehen, dass auch in den Drei-Bett-Zimmern alle drei Betten an der Wand standen. Der Kollege, der uns die Klinik zeigte, erklärte das so: „Wenn ein Patient weint oder einfach mal für sich sein will, kann er das in einem normalen Klinikzimmer im mittleren von drei Betten nicht tun, weil er immer einem Nachbarn ins Gesicht schauen muss. Bei uns kann er sich wenigstens an die Wand drehen.“

Besonders schwierig ist die Situation im Krankenhaus, wenn die Bettnachbarn viele Besucher bekommen, die zwischen den Betten stehen und meistens aus lauter Neugier den Weinenden oder Verzweifelten beobachten. Dann hat der Kranke im mittleren Bett überhaupt keine Chance mehr auf seine Privatsphäre! In diesem Fall rate ich Ihnen als Patienten und als verantwortungsbewusste Angehörige dringend, mit den benachbarten Patienten und der zuständigen Schwester eine Lösung zu suchen, damit der Besucherstrom strikt begrenzt oder zeitweise ganz gestoppt wird.

 


16  Dazu gehören zum Beispiel fortgeschrittene Stadien der Alzheimer-Krankheit.

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Auch Krankheiten haben Vorteile – Der sekundäre Krankheitsgewinn

 

Alles hat zwei Seiten. Das ist das Gute am Schlechten und das Schlechte am Guten.

Paul Watzlawick (*1921), amerikanischer Psychiater und Kommunikationsforscher österreichischer Herkunft

Ich habe keine Zeit, müde zu sein.

Kaiser Wilhelm I., am 8.3.1888, im Alter von 89 Jahren, einen Tag vor seinem Tod

Beim richtigen Umgang mit Kranken müssen wir die wichtigsten Vorteile kennen, die bei jeder Krankheit auftreten und mehr oder weniger bewusst von den Patienten genossen und als Wünsche oder Forderungen geäußert oder ausgespielt werden. Ich will dabei ausdrücklich betonen, dass es prinzipiell nichts Schlechtes ist, wenn der Kranke Vorteile aus seiner Krankheit wahrnimmt und genießt. Entscheidend ist in Bezug auf den richtigen Umgang mit ihm, dass er die ihn betreuenden Menschen nicht überfordert oder gar im Extremfall terrorisiert. Wir können davon ausgehen, dass unser Unterbewusstsein uns dann krank werden lässt, wenn es eine Warnung an uns für notwendig -die Not wendend!- hält. Wir erhalten die Vorteile im Rahmen der Krankheit, weil wir es nicht geschafft haben, sie auf gesunde und erwachsene Art und Weise zu erreichen oder gar auf sie zu verzichten.14 Diese Krankheitsgewinne lassen sich in vier Gruppen einteilen:

5.1. Die Zuwendung

Die meisten Menschen sehnen sich nach Aufmerksamkeit, Geselligkeit, Zuneigung, Zärtlichkeit, Nähe, Wärme und Geborgenheit und bekommen sie bei einer Krankheit in erheblich stärkerem Maß als sonst. Das ist normal, weil wir Mitgefühl mit einem Kranken haben und wollen, dass er schnell wieder gesund wird. Wichtig ist auch, dem Patienten die Chancen bewusst zu machen, dass er sich in der Krankheit mit anderen Dingen beschäftigen kann, für die er vorher keine Zeit oder kein Interesse hatte wie zum Beispiel mit Lesen, Basteln, Meditation, Beten, Musik und vielen anderen Dingen.

Also geben Sie dem Patienten, was er möchte, wenn es Ihrer Einstellung entspricht und es Ihnen und dem Kranken gut tut. Die Kehrseite des Vorteiles kann den Helfer in die Situation bringen, dass der Patient so viel Zuwendung verlangt, dass der Helfer keine Zeit mehr bekommt, um für sich aufzutanken und seine eigenen Bedürfnisse zu stillen. Dann wird aus der ursprünglich gern gegebenen Zuwendung stille Aggression der Helfer, die von diesen meist nicht ausgedrückt wird. Denn sie haben ein schlechtes Gewissen, eigene Interessen und Wünsche anzumelden und den Kranken in gewissem Sinne zurückzuweisen, indem sie Zuneigung verweigern oder wenigstens begrenzen. Dazu sollten Sie das Kapitel über das Helfer-Syndrom noch einmal lesen.

Davon sorgfältig zu unterscheiden ist eine seltene Entwicklung, die wir bei Menschen beobachten, die in den Jahren vor der Krankheit nach außen sehr hart geworden sind und keinen oder nur sehr spröden und distanzierten Kontakt mit anderen Menschen hatten und jetzt im Rahmen der Krankheit wieder weicher und empfänglicher für Gefühle und körperliche Nähe werden. Hier handelt es sich um einen Reifeprozess, der unbedingt erkannt und unterstützt werden muss. Dazu gehören auch Menschen, die ein Leben lang nur gegeben und für andere gesorgt haben und nie Nähe und Hilfe von anderen annehmen konnten.

Diese Menschen sind im allgemeinen gewohnt gewesen, sich selbst als unterlegen, nicht liebenswert und minderwertig einzustufen. Sie hatten Schwierigkeiten, Liebe, Zärtlichkeit und Nähe anzunehmen und haben deshalb in ablehnender Form darauf reagiert, wenn ihnen diese Gefühle entgegengebracht wurden. Die Krankheit bringt sie als Bettlägerige oder in anderer Weise Abhängige in die Lage, Hilfe annehmen zu müssen.

Bei diesen Kranken ist es wesentlich, ein natürliches Verhältnis zu körperlicher Nähe und zu Zärtlichkeiten zu empfinden und zu zeigen. Ein leichtes Streicheln über den Arm, ein Halten der Hand, eine liebevolle Umarmung, ein freundlicher Blick und ein ehrliches „bitte“ und „danke“ sind Zeichen einer sich wandeln-den Einstellung und Persönlichkeit. Für die Patienten ist dies oft eine Wohltat, und sie können sich innerlich öffnen für einen Lebensbereich, dem sie sich aus verschiedenen Gründen in der Vergangenheit verschlossen haben und den sie jetzt wieder oder zum ersten Mal in ihrem Leben genießen können.

Hier können eine neue Herzlichkeit und ein stilles Einverständnis entstehen. In dieser Phase werden oft Gespräche möglich, die vorher undenkbar waren und jetzt eine wohltuende Klärung in die Beziehung bringen und lange unausgesprochene Konflikte lösen können. Deshalb sollten die Angehörigen und die Besucher diese Zeichen wahrnehmen und frei und offen beantworten. Diese Einstellung und Verhaltensweise können zu einer völlig neuen Beziehung zwischen den Betroffenen führen und stellen eine echte Bereicherung und ein sehr wichtiges Geschenk für alle Beteiligten dar.

Wenn der Schwerkranke sterben wird, sind damit bedeutende Lasten und unerledigte Geschäfte sinnvoll und gültig beseitigt. Wenn der Patient gesund wird, kann er befreiter und mit einer neu gestalteten Beziehung leben. Dann war die Krise ein wahrer Gewinn, weil sie die Beteiligten zu einer Klärung des Konfliktes geführt hat.

Hier bedeutet der Krankheitsgewinn der Zuwendung einen Zuwachs an Reife und Menschlichkeit im besten Sinne, eine neu erworbene Fähigkeit, Nähe zu geben und zu empfangen. Solche Entwicklungen sind eine Gnade, die der Kranke auf seinem schweren Weg als Trost und Segen erleben darf. Und nicht zu vergessen: Es ist ein kostbares Geschenk, solche Ereignisse und Begegnungen als Angehöriger oder Freund, Pfleger oder Therapeut mit wachem Auge und offenem Herzen wahrnehmen zu dürfen.

5.2 Schonung 

Durch die Krankheit kann sich der Patient schonen. Er muss weniger oder nicht mehr arbeiten. Er kann seine häuslichen, beruflichen und sozialen Pflichten an andere abgeben, ohne dabei eine mögliche Überforderung, Frustration oder / und Aggression zeigen zu müssen. Der Patient braucht kein Alibi für seine Bettlägerigkeit, denn die Krankheit wird vom Arzt bescheinigt und ist damit nicht anzuzweifeln und wird auch von missgünstigen Familienangehörigen und Arbeitgebern meistens akzeptiert. Das beginnt beim einfachen Schnupfen, der einen Tag „Kurzurlaub“ bringt, bis zu schweren Krankheiten, die eine längere Arbeitsunfähigkeit bewirken.

Ein klassisches Beispiel dazu habe ich in meinem Buch „Wenn der Herbst zum Frühling wird“15 ausführlich beschrieben. Es handelt sich dabei um den leitenden Angestellten Achim Krüger, der in seiner Position überfordert war, dadurch zusätzliche Konflikte in der Familie bekam und diese Überbelastung nicht zugeben und angemessen verändern konnte. Schließlich ersehnte er sich eine schwere Erkrankung, die ihn aus seiner ausweglosen Lage herausholen würde, damit er selbst nicht um eine Veränderung seiner Situation kämpfen musste. Er bekam eine Krebserkrankung, an der er auch starb.

5.3      Macht

Einige Kranke benützen ihre Krankheit bis zum Tod, um auf andere Menschen, besonders auf Familienmitglieder Macht auszuüben und eigene Interessen „im Auftrag der Krankheit“ durchzusetzen. Die Methode hat System und wird nicht selten in Form eines Familienterrors von den Angehörigen erlebt. Helfer mit Schuldgefühlen zu „motivieren“ und zu beeinflussen, stellt eine besonders wirksame Möglichkeit dar, Macht über Krankheit auszuüben. Sie führt deshalb häufig zu schweren Zerwürfnissen zwischen dem Kranken und den Helfern. In diesen Fällen wird die Krankheit als Waffe verwendet. Oft werden diese Krisen nicht ausgetragen und nicht geklärt, da „der Kranke nicht verärgert, aufgeregt oder zurechtgewiesen werden darf, denn sonst geht es ihm ja noch schlechter!“

Solche Machtspielkonstellationen sind nach meiner Beobachtung leider häufig anzutreffen und ein Ausdruck ungelöster Beziehungskonflikte in der Partnerschaft und Familie. Die unbewusste oder absichtliche Flucht in die Krankheit ist hier ein Zeichen dafür, dass der Patient keine bessere Möglichkeit hat, Dominanz und / oder direkte Abwehr in der Familie zu erreichen. Sowohl die Angehörigen als auch der Therapeut müssen diese Mechanismen kennen und wenn irgend möglich mit dem Patienten erörtern und nach Lösungen für diesen Konflikt suchen.

Der Asthma- oder Schmerzanfall, der gerade „zufällig“ dann auftritt, wenn jemand von den Angehörigen das Zimmer des Patienten verlassen will, um eigenen Interessen nachzugehen, ist ein typisches Beispiel, wie durch Krankheit Macht ausgeübt und die Verantwortung dafür auf die Krankheit geschoben wird. Die Lösung des Konfliktes könnte darin bestehen, dass der Patient lernt, seinen Wunsch klar zu äußern, dass der Helfer dableiben soll. Dann kann der Helfer auch seine Gedanken mitteilen. Damit würde jeder der beiden Beteiligten die Verantwortung für sein Verhalten übernehmen, und der Konflikt könnte auf einer erwachsenen Ebene und nicht auf einer Ersatzebene der Krankheit ausgetragen werden.

5.4    Geld

In unserem Sozialsystem spielt das Geld eine große Rolle, das der Kranke vom Arbeitgeber und von Versicherungs- und Rentenanstalten erhält. Häufig ist es noch so viel, dass manche Arbeitnehmer lieber den etwas geringeren Lohn akzeptieren und dafür den Vorteil haben, nicht arbeiten zu müssen.

Als in Schweden die Lohnkürzung bei Krankheit eingeführt wurde, weil das Gesundheitssystem nicht mehr bezahlbar war, verwandelte sich die schwedische Be-völkerung rein statistisch über Nacht vom Land mit den meisten Kranken zu einem der gesündesten Völker der Welt: Die Zahl der Krankmeldungen sank drastisch. Auch in Deutschland erkennen wir zur Zeit den Trend, dass viele Arbeitnehmer sich wegen der gekürzten Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall nicht mehr so leicht krankschreiben lassen. Ich habe die Beobachtung gemacht, dass ganz überwiegend die wirklich Kranken trotz meiner Einwände weiter arbeiten wollen, während viele Menschen mit Baga-tellerkrankungen eine Krankmeldung regelrecht verlangen. Aber nicht alle Ärzte geben solchen Ansinnen nach, sondern sie fühlen sich verpflichtet, so weit wie möglich objektive Kriterien der Arbeitsunfähigkeit zu berücksichtigen und einen Missbrauch dieser Bescheinigung einzudämmen.

Nahezu alle ärztlichen Gutachten und Atteste haben das Ziel, für den Kranken in irgendeiner Form Geld oder geldwerte Vorteile zu beschaffen. Zu den geldwerten Vorteilen gehören Vergünstigungen wie Fahrpreisermäßigungen, Erlass der Rundfunkgebühr, reduzierte Eintrittspreise, Kuren, Sonderbehandlungen, Gebührenerlass oder frühzeitige Rente. Die Konsequenz und Energie, mit der viele Kranke um diese Vorteile kämpfen, sind in der Alltagspraxis beeindruckend. Das zeigt, wie wichtig diese Vorteile sind und wie viel Energie der Kranke immer noch hat.

Es klingt schlimm, aber es ist so: Manche Menschen haben die Krankheit als Lebenszweck gewählt, beschäftigen sich nur damit und verdienen dadurch auch ihren Lebensunterhalt. Ich kenne Rentner, die mit erheblicher Beschwerdeintensität ihre Rentenanträge durchgesetzt haben und schlagartig gesund und beschwerdefrei waren, als sie den gültigen Rentenbescheid auf dem Tisch hatten.

Es ist tragisch, dass unser im Grunde sehr sinnvolles Gesundheitssystem von denen, die daran teilhaben können, in manchen Fällen ausgebeutet und zum Selbstbedienungsladen degradiert wird. Es verlangt aber gerade von allen ein solidarisches Verhalten, weil es auf dem Solidaritätsprinzip aufgebaut ist.

5.5  Die Helfer müssen Kräfte tanken! 

Die Interessen der Familienmitglieder sind genauso wichtig wie die Motive des Kranken! Deshalb muss geklärt werden, wie die verschiedenen Interessen gewahrt werden können. Wenn die Wünsche der Gesunden ganz zurückgestellt werden, führt dieses Verhalten letztlich zur Ablehnung des Patienten durch diese Helfenden, die ihre Interessen wegen des Kranken nicht mehr verfolgen können. Es ist aber grundlegend wichtig, dass in der Familie weiterhin eine lebensbejahende Stimmung den Alltag prägt.

Ich möchte es wiederholen: Da ein guter Helfer stark sein muss, ist es nötig, dass er für sich und seine eigene Stabilisierung und Kräftigung regelmäßig etwas tut. Es ist also in Ordnung, wenn er zum Beispiel sich Zeit für Sport oder Musik oder Besuche bei Freunden nimmt. Diese Aktivitäten müssen mit dem Kranken und dem betreuenden Team offen besprochen werden, damit sie von allen unterstützt werden können. Nur ein in sich ruhender und starker Helfer kann ein guter Helfer sein! Nur ein Helfer, der aktiv am vollen Leben teilnimmt, kann Hoffnung und Lebenswillen verbreiten und vermitteln. Es gibt sicherlich nur sehr wenige Menschen, die sich bewusst und gerne vollständig aufopfern, gar keine eigenen Interessen mehr verfolgen und dabei gesund und leistungsfähig bleiben. Das setzt eine übermenschliche Motivation und weit überdurchschnittliche geistige Einstellung voraus.


 

 

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Wie können wir besser mit Gefühlen umgehen?

 

Der Mensch, der zu jeder Zeit, an jedem Ort,
unter allen Bedingungen freien Zugang zu seinen Gefühlen hat,
ist als psychisch gesund zu bezeichnen.

Alice Miller (*1923), Philosophin und Psychotherapeutin

  

Alle mystischen Erfahrungen stehen im Gegensatz zur realen Welt.

Dr. Melvin Morse, amerikanischer Kinderarzt

4.1. Das Ziel 

Je besser die gefühlsmäßige Verständigung und das wechselseitige Einfühlungsvermögen in einer Familie sind, um so konstruktiver kann die Familie mit einer schwerwiegenden Diagnose umgehen. Die Diagnose offen anzunehmen und bewusst zu leben ermöglicht auch, die damit verbundenen Gefühle zu spüren und zu zeigen.

Gefühle der Enttäuschung, Traurigkeit und Wut im Patienten sind wesentlich besser zu bearbeiten, wenn sie noch nicht voll entwickelt sind. Deshalb ist es gut, solche Regungen im Keime zu erkennen und anzusprechen. Das können wir machen, indem wir zum Beispiel dem Patienten sagen:

„Ich kann mir gut vorstellen, dass ich an deiner Stelle jetzt sehr wütend (ängstlich, enttäuscht, deprimiert traurig …) wäre. Wie geht es denn dir dabei?“

Wenn der Patient erkennt, dass Sie als Angehöriger auch solche Gefühle haben wie er, kann er seine eigenen besser zugeben und besprechen, weil er sie eher als normal und einfühlbar erlebt. Es ist auch leichter, diese Gefühle zu bearbeiten und günstig zu beein-flussen, wenn der Patient noch stark ist. Er fühlt sich dann nicht vollständig im Griff seiner überwältigenden Emotionen, sondern eher fähig, etwas dagegen zu unternehmen beziehungsweise sie aktiv zu gestalten.

4.2 Die Mittel, um das Ziel zu erreichen

Eine gute Kommunikation zeichnet sich dadurch aus, dass jeder seine Gefühle zeigen und äußern darf und nur für sich selbst spricht. Damit ist eine authentische Informationsvermittlung möglich. Dann kann sich der Gesprächspartner darauf einstellen.

In der Kommunikationstheorie nennt man diese Mitteilungen Ich-Botschaften. Das heißt, ich spreche da-rüber, wie ich etwas empfinde und erlebe, was ich denke, was ich mir wünsche, oder was mir nicht ge-fällt. Das setzt ein ausgeprägtes Maß an Selbst-beobachtung und -wahrnehmung voraus und die Erkenntnis, dass ich mich für meine Gefühle und Gedanken verantwortlich fühle. Verantwortung übernehmen heißt, sich als Verursacher seines Erlebens zu erkennen. Das bedeutet: Ich bin verantwortlich, wie ich mein Leben erlebe. Dadurch erhält der Gesprächspartner ein echtes Bild von meinen Gedanken und Gefühlen und kann sich dann entscheiden, wie er reagieren will. Das schließt also aus, dem anderen meine Gefühle und meine Situation zur Last zu legen. Ich-Botschaften führen zu einem authentischen Empfinden und Verhalten. Dadurch werden die Verständigung und das wechselseitige Verstehen gefördert und die Situation entspannt.

Im Gegensatz richtet die Du-Botschaft ihre Wahrnehmung darauf, was der andere denkt, fühlt, macht oder unterlässt. Sie schiebt also die Verantwortung für die Situation ab, verwehrt damit Einblicke in eigene Vorgänge und eskaliert somit die Kommunikation. Denn der Angesprochene hat keine Chance, verstanden zu werden oder sich authentisch zu äußern, bevor er be- und verurteilt wird. Die Du-Botschaften sind im all-gemeinen deutliche Signale der Projektion, mit denen der Sprecher seine eigenen Gefühle und Gedanken auf den Angesprochenen überträgt. Er behauptet, der andere denke und fühle so und so. Diese Du-Botschaften haben oft einen verallgemeinernden Charakter: „Du machst das …. schon wieder!“ oder „…noch nie …!“ oder „… immer schon …!“ Das ist ein sicheres Mittel, um eine Unterhaltung in kürzester Zeit auf den Siedepunkt zu bringen oder eiskalt abzukühlen, je nachdem wie die Gesprächspartner zu reagieren gewohnt sind.

Beachten Sie bitte Ihre Reaktion, wenn Ihr Partner sagt: „Ich habe den Eindruck, du verstehst mich nicht!“ Oder wenn er sagt: „Du verstehst mich nicht!“ Erkennen Sie den Unterschied zwischen einer authentischen Gefühlsäußerung, die in der Ich-Botschaft steckt, und der anschuldigenden und verurteilenden Du-Botschaft?

„Du lügst!“ bedeutet etwas völlig anderes als „Ich habe den Eindruck, du lügst!“ oder „Es fällt mir schwer, dir zu glauben!“ „Du lügst!“ ist eine Behauptung, die möglicherweise falsch ist und Ihnen eine Beleidigungsklage einbringen kann, wenn es sich her-ausstellt, das es eben keine Lüge war sondern die Wahrheit. „Ich habe den Eindruck, dass …!“ bedeutet immer meine persönliche Meinung, und das darf ich sagen, auch wenn es sich später herausstellt, dass mein Eindruck falsch war. „Es fällt mir schwer, dir zu glauben!“ schildert mein Gefühl in Form einer Ich-Botschaft, und das sagt nichts darüber aus, ob der andere gelogen hat oder nicht.

 4.3 Die Verdrängung von Gefühlsäußerungen und ihre Folgen

Gefühle und Gedanken zu verdrängen, mag zwar nach außen hin ratsam erscheinen, weil Sie vordergründig Auseinandersetzungen damit vermeiden, aber Sie bewirken eine irreführende Verschleierung tatsächlicher Empfindungen und Überlegungen. Die Gefühlsenergie bleibt blockiert stecken, sammelt sich an und explodiert irgendwann in einem Moment, wo nur noch ein kleiner Tropfen genügt, um den Damm bersten zu lassen. Sie verschlechtern mit der Verdrängung von Gefühlen Ihre Immunsituation und dadurch den Heilungsprozeß. Die Beziehung zu den Angehörigen leidet ebenfalls, weil die fehlende Offenheit und Echtheit ständig das Gefühl der Unehrlichkeit hinterlassen. Verdrängte oder nicht bewältigte Probleme kommen immer wieder und zwar in zunehmend verschärfter Form, bis wir uns damit endgültig auseinandersetzen und sie bewältigen. Das ist eine sehr unangenehme und wahre Tatsache.

Es ist in Ordnung, Ängste und Phasen der Niedergeschlagenheit zu haben und zu zeigen. Darüber zu sprechen erleichtert! Gefühle authentisch zeigen zu dürfen, verbessert das Selbstwertgefühl und den Respekt, den Menschen voreinander haben. Damit werden die Beziehungen und die Heilungschancen besser.

Außerdem kann es sehr tröstlich für die Beteiligten sein, auch in den traurigen Stunden Gemeinsamkeit zu spüren und zu leben. Wenn ein Kranker seine Wohnung verlassen muss, um in die Klinik zu gehen oder in ein Pflegeheim zu ziehen, sollte er einen Menschen haben, mit dem er seine Trauer und Verzweiflung teilen kann. Miteinander zu weinen ist sicherlich in diesem Moment mehr Trost als jedes gesprochene Wort. Es befreit, erleichtert und verbindet.

Beim Umgang mit einem weinenden Menschen sollten Sie sich überlegen, wie Sie mit Ihren eigenen Tränen umgehen. Lassen Sie Ihre Tränen zu, und können Sie deshalb auch besser die Tränen anderer Menschen ertragen? Oder vermeiden Sie Ihre eigenen Tränen und versuchen Sie deshalb auch um so stärker, Weinende zu stoppen?

Wenn Sie einem weinenden Menschen ein Taschentuch reichen, kann es sein, dass er diese gut gemeinte Geste als Aufforderung sieht, mit dem Weinen aufzuhören. Besser wäre es, Ihre Einfühlung und Geduld zu zeigen, indem Sie ruhig abwarten, wenig oder nichts sagen. Geben Sie ein Taschentuch erst, wenn der oder die Weinende es verlangt.

Wenn Sie spüren, dass ein trauriger Mensch die Tränen zurückhält, können Sie helfen, seine Schleusen zu öffnen, indem Sie sagen: „Lassen Sie Ihre Tränen doch zu!“ Aber auch hier macht der Ton die Musik: Es sollte keine Anordnung, sondern eine freundliche Ermutigung sein, die diesem Menschen signalisiert, dass Sie mit seinen Tränen umgehen können und es richtig finden, wenn er sich weinend erleichtert.

Wenn der gesunde Ehepartner eines Krebskranken so tut, als hätte er keine Angst vor dem weiteren Verlauf der Krankheit, glaubt der Kranke das nicht und hält seine eigene Angst zurück, weil er Angst hat, nicht ernst genommen zu werden. Und damit ist das Vertrauensverhältnis gestört. Wenn Angehörige ihre Angst zugeben, kann der Patient sie auch zeigen. Das verbindet! Dann erst kann eine gemeinsame Strategie entwickelt werden.

Es gibt eine typische Reaktionskette: Fehlende Information verursacht das Gefühl der Hilflosigkeit und Unsicherheit. Wer damit nicht richtig umgehen kann, bekommt Angst. Wenn diese nicht angemessen gelebt und geäußert werden kann, wird sie im allgemeinen in eine Form der Aggression umgewandelt. Entweder entstehen offen Aggression, Hass, Hohn, Nörgeln, Zynismus, Ironie, Psychoterror, schlechte Laune oder eine Regression, d. h. ein Rückzug in unreifes Flucht-verhalten wie viel Schlaf, dauernde Müdigkeit, Her-aushalten aus Gesprächen und gesellschaftlichen Kon-takten. Beide Mechanismen zeigen, dass der Betroffene keine reife, keine erwachsene Möglichkeit hat, seinen Konflikt auszutragen und konstruktiv zu lösen.9

Wenn Sie am Patienten ein solches Verhaltensmuster erkennen, brauchen Sie diese negativen Äußerungen nicht auf sich persönlich zu beziehen und entsprechend aggressiv oder mit Rückzug zu reagieren, sondern Sie können dem Kranken signalisieren, dass Sie seine Notlage erkannt haben. Sie können ihn auf seine Angst an-sprechen und sich und ihn damit entlasten. Die Situation wird dadurch entspannter. Dann können Sie gemeinsam überlegen, welche Information dem Patienten fehlt, die ihn unsicher und hilflos macht.

Es ist naheliegend, dass die fehlende Information sich auf den unklaren weiteren Verlauf der Erkrankung bezieht. Selbst wenn eindeutig ist, dass der Patient sterben wird, ist immer noch unklar, wie dieser Vor-gang ablaufen wird. Deshalb ist es unerlässlich wichtig, dass wir dem Sterbenden ein Höchstmaß an Geborgenheit im vertrauten Familienrahmen und damit Sicherheit vermitteln, so weit wir es eben können, um seinen inneren Prozess möglichst positiv zu beeinflussen.

Auch Wut, Zorn und Verzweiflung sind typisch und normal. Machen Sie sich bewusst, dass der Patient seine eigenen Gefühle ausdrückt und Sie mit großer Wahrscheinlichkeit gar nichts damit zu tun haben. Identifizieren Sie sich nicht damit!

Unterscheiden Sie seine Verzweiflung und Ihre eigene als zwei unterschiedliche Gefühle, die auch verschieden gelöst werden müssen.

Lassen Sie sich keine Schuldgefühle aufdrücken! Sprechen Sie mit dem Patienten darüber, welche Gefühle Sie dabei haben, und zeigen Sie klar auch hier den Unterschied zwischen seinen und Ihren Gefühlen! Es ist ebenso üblich wie falsch, seine eigenen Gefühle zu verdrängen, denn im Unterbewusstsein wirken sie um so stärker und beeinflussen das Immunsystem negativ.

Aus einem Kind, dem man das Weinen verboten hat, wird oft ein Erwachsener, der niemandem zur Last fallen will. Der Heranwachsende lernt deshalb, es den anderen immer recht zu machen. Er spürt selbst gar nicht mehr seine eigenen Gefühle, lässt diese auch nicht zu. Dieser Mensch erkennt nicht mehr, wie sehr er sich selbst schadet. Abgesehen davon kann niemand das Ziel erreichen, es allen recht zu machen. Wem also ist mit diesem Verhalten gedient?

Wut und Trauer verschwinden, wenn wir sie zulassen. Lassen Sie deshalb den Patienten ausweinen und schimpfen. Nehmen Sie ihn in den Arm, wenn das für Sie und den Patienten in Ordnung ist, oder legen Sie Ihre Hand auf seine Hand. Fragen Sie: „Wollen Sie darüber sprechen?“ Respektieren Sie, wenn er es nicht will. Bieten Sie Ihre Gesprächsbereitschaft an, und drängen Sie sich nicht auf, schon gar nicht aus Neugier!

Die geschilderte Reaktionskette mangelnde Information –> Hilflosigkeit –> Angst –> Ablehnung bildet auch die Erklärung, warum wir am einfachsten das ablehnen können, wovon wir am wenigsten verstehen. Je mehr wir über Zusammenhänge lernen, umso mehr müssen wir darüber nachdenken, welche der möglichen Meinungen wir am besten begründen können. Das kompliziert die Situation. Viele Menschen sind sich über die Stadien zwischen dem Anfang und dem Ende der Kette nicht bewusst. Wenn wir viel Information über bestimmte Dinge, Zusammenhänge, sachliche und emotionale Ebenen sammeln und verstehen, können wir möglicherweise in Konflikte bei der Ent-scheidungsfindung und deren Umsetzung kommen. Bitte bedenken Sie die Reaktionskette, wenn andere oder gar Sie selbst irgend etwas ablehnen. Besteht der Grund der Ablehnung in mangelnder Information oder kam sie durch wohl informierte und gut nachvollziehbare Meinungsbildung zustande?

 

Krebspatienten glauben, sie müßten sich anpassen, um angenommen zu werden. Sie sind daher im allge-meinen aggressionsgehemmt oder zeigen ihre Aggres-sion versteckt, heimlich und manchmal hinterhältig. Diese verdrängte Aggressionsenergie kann sich auch im Sinne einer Aggressionsumkehr gegen den Patien-ten richten und in einer massiven Autoaggression12 äußern.

Die eigenen Körperzellen vermehren sich bösartig und nehmen nicht einmal Rücksicht darauf, daß sie sich, beziehungsweise den Körper, der sie ernährt, letztlich zerstören. Dahlke hat diese psychosomatischen Zu-sammenhäönge und Vorgänge sehr eindrucksvoll be-schrieben.13 Diese Sicht der Psychologie der Krebs-patienten ist natürlich umstritten wie nahezu alles im Bereich der Psychologie, aber ich habe häufig Men-schen kennengelernt, auf die dieses Bild genau zutrifft.

 

Letztlich ist der Patient mit sich und seinen Empfin-dungen allein und muß seinen Konflikt und seine Ge-fühle allein bewältigen. Aber wir können versuchen, ihm soweit es eben geht, ein Gefühl der Nähe und Liebe zu schenken. Gläubigen Menschen hilft in dieser Lage das Bewußtsein, in Gottes Hand zu sein.

 

Rainer Maria Rilke hat das am Ende seines Gedichtes „Herbst“ wunderbar formuliert:

 

            Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.

            Und sieh dir andre an. Es ist in allen.

            Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen

            unendlich sanft in seinen Händen hält.

 

 


FN authentisch = echt

9  Bitte lesen Sie hierzu auch im Anhang den Text „Die Kenn-

zeichen einer psychisch gesunden Persönlichkeit“.

10 nach LeShan: Psychotherapie gegen den Krebs. Klett-Cotta-

Verlag, S. 71

11 LeShan: Psychotherapie gegen den Krebs. Klett-Cotta-Verlag

12 Aggression gegen sich selbst

13 Dahlke: Krankheit als Sprache der Seele. Bertelsmann-

Verlag

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Das Helfer-Syndrom

 

Wer sich nicht selbst helfen will, dem kann niemand helfen.

Hans A. Pestalozzi (*1929), schweizerischer Soziologe, ehemaliger Migros-Topmanager

Es gibt für unzählige nur ein Heilmittel: die Katastrophe.

Martin Held (*1908), Schauspieler

Jeder muss dem anderen helfen. Das ist die einzige Freiheit, die wir haben.

Yehudi Menuhin (* 1916), amerikanischer Geiger, 1979 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

 

Wer sich mit Hilfsbedürftigen und besonders mit Schwerkranken beschäftigt, muss sich selbst gut kennen und besonders seine Motivation und Grenzen scharf und selbstkritisch beobachten. Deshalb will ich gleich an den Anfang des Buches ein nachdenkenswertes und für viele Leser besonders wichtiges Kapitel setzen.

 3.1       Die Entstehung

Das Helfer-Syndrom entsteht beim Kind aus der Erfahrung, durch Leistung Zuwendung und Anerkennung zu bekommen. Dies führt zu einer Idealisierung der Höchstleistungen weit über die gesunde Leistungsgrenze hinaus und stellt eine große Gefahr der Über-forderung dar, weil durch die Zurückstellung persönlicher Interessen und Maskierung eigener Gefühle eine authentische Reaktion nicht mehr möglich wird. Das Helfer-Syndrom verursacht in den Betroffenen Ersatzgefühle wie den Drang zu helfen und Schuldgefühle, wenn sie glauben, nicht genügend geholfen zu haben und neue Hilfe angefordert wird. Oder der Helfer glaubt, helfen zu müssen, auch wenn die Hilfe gar nicht erbeten wird.

3.2  Die Kennzeichen

Mensch mit einem Helfer-Syndrom erhält seine Befriedigung aus der Leistung, die wiederum nie erfüllend ausgeübt wird, sondern immer nach neuer Leistung strebt. Hier wird aus der Not des Anerkennungsdefizits die Tugend des Helfers gemacht. Der Helfer bleibt erpressbar mit Schuldgefühlen und noch größerer Anerkennung. Er kann den Ärger über die Überforderung und den Wunsch nach Lob meist nicht mehr als seine originalen Gefühle erkennen. Er lächelt noch bei massiver Überforderung und kann seiner Aggression keinen Ausdruck verleihen und deshalb keine Grenzen zum eigenen Schutz setzen.

Der Mensch mit dem Helfer-Syndrom gibt unaufgefordert und gegen den Willen der anderen Rat-Schläge aus dem Bewusstsein heraus zu wissen, was der Part-ner richtigerweise tun muss. Diese Ratschläge werden meist mehr als Schlag denn als Rat aufgefasst, besonders weil sie häufig auf dieselbe wunde Stelle treffen. Entsprechend fällt die Reaktion des Beratenen, des Geschlagenen, aus: Er schlägt zurück. Noch einmal: Auch ein Rückzug, eine Regression, ist eine Form von Aggression.

Der Helfer übernimmt bereitwillig die Verantwortung für das Schicksal der anderen Menschen, für die er sich engagiert. Viele Menschen mit Helfer-Syndrom versuchen immer wieder, es allen Leuten recht zu machen. Wenn sie es nicht schaffen, verdoppeln sie ihre Anstrengungen. Sie kommen erst nach langer Leidens-zeit in der therapeutischen Phase auf die Idee, dass das Motto „Mehr vom selben!“ alles nur schlimmer macht. So werden sie als die berufenen Helfer immer hilfloser und von den Hilfesuchenden ausgesaugt. Der Mensch mit einem Helfer-Syndrom ist hervorragend mit Schuldgefühlen „motivierbar“ und wird gnadenlos ausgenutzt, wenn er nicht lernt, im richtigen Moment das Wort NEIN auszusprechen und dazu zu stehen.

Es gibt eine paradoxe Verhaltensweise bei sehr vielen Menschen: Was sie tun, um ein Problem zu mindern oder scheinbar (!) auszuschalten, verstärkt genau diesen Konflikt.

Das lässt sich an einigen Beispielen anschaulich zeigen. Ein gestresster Mensch merkt, dass er mit einem Gläschen Alkohol nicht so angespannt ist und trinkt deshalb regelmäßig. Damit schafft er sich und seiner Umgebung erhebliche neue Probleme am Arbeitsplatz und im Privatleben, nämlich seine daraus entstehende Alkoholkrankheit.

Der Helfer, der eine für ihn problematische Situation beseitigen will, beschäftigt sich intensiv mit der Hilfe und erkennt nicht, dass er selbst immer hilfsbedürftiger und damit zum Problem wird.

Wenn ein Mensch sich immer den offensichtlichen oder vermuteten Wünschen seiner Mitmenschen anpasst und seine eigenen Wünsche und Aggressionen unterdrückt, sammeln sich in ihm sehr viel Frustration und Aggression an, die irgendwann durch Zorn und Wut nach außen oder Krankheiten nach innen ihren Ausdruck finden.

3.3 Die Folgen für die Partnerschaft

So entsteht eine Symbiose zwischen Helfer und Hilfe-suchendem: Jeder erlebt in dem Partner seine Erleichterung beziehungsweise seine Aufgabe und Anerkennung. Wenn der Hilflose das Wechselspiel bewusst durchschaut und eine Nachreifung durchmacht, also selbständiger wird und auf die Aktionen gegenüber dem Helfer verzichtet, gerät die Partnerschaft aus dem Gleichgewicht, weil der Helfer sich zurückgewiesen und damit seines bisherigen Lebensinhaltes beraubt fühlt.

Deshalb gehen Partnerschaften, die auf einer solchen Helfer-Syndrom-Symbiose beruhen, häufig in die Brüche, wenn der anfänglich Hilflose eine Therapie erfolg-reich durchlebt und auf seine Hilflosigkeit zu verzichten lernt.

Dabei ist zu bedenken, dass der Hilflose vor der Therapie seine Hilflosigkeit meist unbewusst oder absichtlich als Machtmittel gegenüber dem Helfer einzusetzen ge-lernt hat. Außerdem weiß der Hilflose, dass er den Helfer mit seiner Hilflosigkeit an sich ketten kann. Das ist der spezifische Reiz, um das Helfer-Syndrom auszulösen.

Andererseits gelten die beiden bedenkenswerten Sätze: Wer nichts zur Lösung eines Problems beiträgt, ist wahrscheinlich ein Teil des Problems. Suche nicht den Schuldigen; löse das Problem!

Wir haben das Recht, selbst zu entscheiden, ob wir für die Lösung der Probleme anderer Menschen mitverantwortlich sein wollen oder nicht. Wenn wir immer glauben, ein Problem gleich lösen zu müssen, das vor uns ausgebreitet wird oder das wir vermuten, laden wir uns nicht nur unbewältigbare Lasten auf, sondern wir dringen als ungebetene Helfer auch in private Angelegenheiten ein, die nur der Betroffene lösen kann.

Wir müssen also mit reifer Selbstkritik über unsere Verantwortung und unsere Pflichten nachdenken und dann konsequent entscheiden, was wir tun und was wir lassen. Das ist eine grundsätzlich andere Haltung als die Einstellung, das zu tun, was andere von uns erwarten, oder was wir vermuten, was sie von uns wollen.

3.4 Der Wert der Empathie

Hier zeigt sich der Wert einer empathischen Haltung. Empathie bedeutet, dass wir uns vollständig in den Bezugsrahmen einer anderen Person einfühlen, als ob wir in ihrer Situation wären. Dabei müssen wir uns aber gleichzeitig klar sein, dass wir eben nicht in dieser Lage sind, also auch nicht so handeln und fühlen müssen. Wir schaffen eine gleiche Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsebene, und dennoch haben wir genügend innere Distanz, als unabhängige Person zu reagieren.

Der Gegensatz zur empathischen Reaktion ist eine sympathische Reaktion, bei der wir die Werte, Ge-danken und Gefühle des anderen übernehmen und so reagieren, als ob wir in seiner Situation wären.

Wenn zum Beispiel der Vater wütend auf die Tochter ist und Ihnen das erzählt, können Sie sich vorstellen, wie Sie sich selbst in seiner oder ihrer Situation fühlen würden. Wenn Sie empathisch reagieren, haben sie Verständnis für beide, reagieren aber nicht wie einer von beiden, weil Sie selbst ja gar nicht in der Situation sind. Wenn Sie sympathisch reagieren, entwickeln Sie für einen der beiden Sympathie und nehmen seine oder ihre Position ein, reagieren also wie der Vater oder die Tochter, je nachdem, mit wem Sie sich identifiziert haben. Deshalb ist es unbedingt notwendig -die Not wendend-, dass wir uns über diese Zusammenhänge bewusst sind, wenn wir uns mit unserem Helfer-Syndrom engagieren und „motivieren“ lassen, aktiv einzugreifen, wo eine distanziert beratende Haltung besser wäre.

In der Medizin könnte das Motto lauten:

Helfende Nähe – heilende Distanz.

(Titel des Vortrages von Schwester Barbara Kärcher am  22.11.1996 in Renningen).

Das gilt besonders beim Umgang mit Gefühlen wie Ärger, Wut und Verzweiflung, wenn sie sehr heftig sind. Es ist ohnehin eine äußerste Herausforderung für einen Therapeuten oder Angehörigen, den Zorn eines Patienten über seine Krankheit zu ertragen, ohne sich selbst aus der Fassung bringen zu lassen. Solche durchaus verstehbaren Reaktionen können nur erfolgreich bearbeitet werden mit Hilfe eines Außenstehenden, der Erfahrung hat im Umgang mit der Bewältigung von Lebenskrisen.

Der Rundfunkpfarrer Dr. Steinhilper hat das in einem Vortrag sehr bildreich und verständlich sinngemäß erklärt: „Angst, die ein Mitglied der Familie, meist den Kranken selbst, beherrscht, wirkt oft wie eine Infektionskrankheit, an der sich alle anstecken. Dann bricht die Panik aus. Wenn der Patient in seinem kleinen Boot allein auf dem reißenden Gewässer seiner Gefühle hin- und hergeschüttelt wird und Angst um sein Leben hat, kann ich zu ihm ins Boot steigen und versuchen zu helfen. Dann werden wir mit Sicherheit beide untergehen. Wenn ich aber am Ufer in Sicherheit auf meinen beiden Füßen fest stehe und mich festhalte, kann der Patient mir ein Seil zu-werfen, das ich bei mir und meinem Halt befestige. Dann hat der Patient eine echte Chance, mit meiner Hilfe und seiner Aktivität in ruhigere Gewässer zu gelangen und in Sicherheit zu kommen.“

3.5 Voraussetzungen für erfolgreiche Hilfe 

Wir müssen vor einer solchen Hilfsaktion zuerst klären, ob die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Hilfe gegeben sind: Der Hilfsbedürftige muss erkannt haben, dass er Hilfe braucht. Er muss zu seiner Hilfsbedürftigkeit stehen und bereit sein, Hilfe anzunehmen. Seine Eigeninitiative ist unerlässlich, um sich selbst aus seiner Lage herauszuführen beziehungsweise sie optimal zu gestalten.

Ich bin mir bewusst, dass diese Meinung so formuliert sehr hart klingt im Angesicht eines Schwerkranken oder gar Sterbenden. Es ist natürlich klar, dass die Eigeninitiative nach den Möglichkeiten des Kranken angemessen beurteilt werden muss. Wir werden im weiteren Verlauf des Buches viele Beispiele finden, wie auch schwerkranken und sterbenden Menschen geringe Eigenaktivitäten erhebliche Hilfe und wach-sendes Selbstwertgefühl vermitteln.

Der Hilfsbedürftige wird erst dann etwas an seiner Situation ändern, wenn sein Leidensdruck größer ist als seine Angst vor der Veränderung der Lage. Die Richtigkeit dieses Satzes können Sie leicht überprüfen, indem Sie beobachten, wie Sie selbst handeln oder nicht handeln in Situationen, unter denen Sie leiden.

Wenn diese Bedingungen für die Hilfe nicht erfüllt sind, können Sie nur vorsichtig (!) versuchen, dem Kranken seine Hilfsbedürftigkeit bewusst zu machen. Dies wird durch eigenes Erleben der Symptome wesentlich nachhaltiger erreicht als durch Ihre gut ge-meinten und ständig wiederholten Rat-Schläge. Deshalb haben Sie zum Beispiel bei einem Nikotinabhängigen oder einem anderen Kranken keine Chance mit Ihrer Hilfe, solange es ihm noch nicht schlecht genug geht und er deshalb noch nicht zur Selbsthilfe greifen will. Ich gehe davon aus, dass Sie dieser harte Satz schockiert. Dieser Schock ist ein klarer Hinweis, dass Sie das Helfer-Syndrom haben.

3.6 Der hilfsbedürftige, abhängige Helfer 

Warten Sie ab, und lassen Sie Ihr Hilfsangebot bestehen für den Zeitpunkt, wo der Kranke etwas ändern will. Solange nur Sie etwas ändern sollen, sind Sie unter der Leitung des Kranken tätig. Das nennt man Co-Abhängigkeit. Sie brauchen den Kranken, um Ihren eigenen Wert durch die Aktivitäten zu definieren, zu denen er Sie veranlasst. Dies ist ein eigenes Krankheitsbild der Abhängigkeit und bedarf genauso einer Therapie wie eine andere Art von Sucht. Das gilt auch und gerade dann, wenn Sie es nur aus guter Absicht machen und nicht lassen können. Genau das nützt der Kranke aus, und Sie beide hängen in einer unglückseligen Symbiose zusammen.

Das bedeutet, dass Sie beide Hilfe brauchen. Denn Sie sind genauso abhängig wie der Kranke. Das merken Sie an Ihren Entzugserscheinungen, wenn Sie aufhören wollen zu helfen. Sie können nicht zuschauen, wie es dem Suchtkranken schlecht geht. Sie können nicht eingestehen, dass nur er selbst sich helfen kann.

Deshalb wird die Ehefrau eines Alkoholkranken so lange das Bier herbeischaffen, sich schlagen und demütigen lassen und versuchen, den Ehemann vor An-griffen von außen zu schützen, bis sie erkannt hat, dass der Kranke nur selbst aufhören kann und sie mit ihrer Hilfe die Situation „am Kochen“ hält. Sie muss schmerzvoll zuschauen, wie er sich und sie und die Kinder zugrunde richtet und dadurch noch mehr Hilfe nötig wird. Ihre Versuche, die Tragödie zu mäßigen, indem sie den Kranken in Schutz nimmt, verschlechtern die allgemeine Lage.

Erst wenn einer der beiden aus diesem Teufelskreis aussteigt und sie zum Beispiel aufhört zu helfen, kann der andere Partner aufhören zu trinken. Meist kann er erst jetzt erkennen, dass er das Problem selbst lösen muss. Dann ist sein Leidensdruck groß genug. Vorher hat echte Hilfe keinen wirklich heilenden Effekt, weil richtige Hilfe immer nur Hilfe zur Selbsthilfe sein kann.

Achten Sie einmal darauf, wie viel Energie viele Patienten haben, um zu klagen, zu jammern, um Hilfe zu rufen, andere zu kritisieren und auf vielfältige Weise zum Aktivismus anzustacheln. Stellen Sie sich vor, was geschehen würde, wenn diese Patienten ihre Energie einsetzen würden, um sich selbst zu helfen.

Vorher ist die Hilfe meist nur ein Versuch, unser eigenes Leiden des Zuschauens zu vermindern. Da ist Mitleid oft nur ein peinliches Betroffensein von einer Situation, mit der wir selbst schlecht umgehen können und sie deshalb rasch beenden wollen. Hier wird aus der Not der Hilflosigkeit die erschöpfende Tugend der fleißigen und unermüdlichen Hilfsaktivität geboren. Dadurch wird eine gute Miene zum selbstzerstörerischen Spiel gemacht, für das man wenigstens Anerkennung erhofft und meist nicht bekommt. Denn Menschen, die alles mit sich machen lassen, werden nicht geschätzt, sondern ausgenützt.

3.7 Die rettende Selbstkritik 

Deshalb ist es auch so wichtig, dass Sie als Helfer sich Ihre eigene Angst, Wut und Ablehnung bewusst machen und daran arbeiten, richtig mit diesen Gefühlen umzugehen. Wenn Sie das nicht tun, kommen Ihnen angesichts der Gefühlsäußerungen des Patienten immer wieder Ihre eigenen Gefühle hoch.

Denn der Patient wirkt für Sie wie ein Spiegel, der Ihnen reflektiert, was Sie ausstrahlen. Verwechseln Sie diese Wahrnehmungen nicht mit Gefühlen des Patienten. Wenn Sie selbst in Ruhe sind, können Sie die Gefühle des Patienten als seine annehmen und brauchen sich nicht damit zu identifizieren.

Helfer müssen stark bleiben, um wirklich helfen zu können. Eine Batterie muss auch regelmäßig aufgeladen werden, bevor sie leer ist. Sonst kann man keinen Motor damit betreiben! Wir müssen also genügend Distanz wahren, um unsere Reserven immer wie-der auffüllen zu können.

Ich halte es für unerlässlich, dass Menschen in sozialen Berufen und Tätigkeiten regelmäßig für ausreichend Entspannung und Ausgleich sorgen. Setzen Sie Ihre Mußestunden durch!

Sie wissen ganz genau, was Ihnen wirklich gut tut. Wenn Sie nicht mehr wissen, was Ihnen Freude und Entspannung schafft, sind Sie in einer akuten Notsituation und brauchen dringend qualifizierte und therapeutische Hilfe!

Heinrich Pera, ein Pastor aus Halle, der sich intensiv mit Schwerkranken beschäftigt, hat dazu gesagt:

„Die Sorge um das eigene Rückgrat ist nicht Recht, sondern Pflicht!“


 

 

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Wie können wir menschenwürdig mit Schwerkranken umgehen?

 Liebe deinen Nächsten als dich selbst.

Galater 5, 14 und Matthäus 22, 39

 Konsequenzen:

1. Dein Nächster ist ein Teil von dir.

2. Du kannst deinen Nächsten erst lieben, wenn du dich liebst.

 2.1. Allgemeine Gedanken

Besonders wichtig erscheint es mir, gleich am Anfang dieses Buches darauf hinzuweisen, dass schwerkrank nicht mit sterbend gleichzusetzen ist. Es gibt viele Beispiele von Schwerkranken in äußerst gefährlichen und lebensbedrohlichen Situationen, die wieder ganz gesund geworden sind. Ich gehe also im folgenden davon aus, dass wir immer eine Heilung mit in Betracht ziehen müssen, wenn wir über einen Schwerkranken sprechen. Deshalb werde ich auch von Menschen berichten, die nach schwerer Krankheit wieder gesund geworden sind.

Wichtig ist auch diese Klarstellung: Schwerkrank heißt nicht gleichzeitig schwerpflege-bedürftig. Ein Krebskranker im weit fortgeschrittenen Stadium kann durchaus noch in der Lage sein, sich weitgehend selbst zu versorgen.

In welcher Beziehung wir zu einem Schwerkranken auch stehen, ob wir der Lebens-partner, das Kind, der Nachbar, ein Verwandter sind oder zu den Hilfsberufen gehören, die dem Schwerkranken als Schwester, Pfleger, Arzt sein Leiden lindern sollen: Immer stellt sich die Frage, wie wir mit dieser schwierigen Aufgabe und dem betroffenen Menschen richtig umgehen sollen. Und bei näherer Betrachtung sind die Grundregeln einfach zu formulieren.

 2.2. Praktische Beispiele

Dazu möchte ich Johanna, eine liebe Freundin und ältere Dame zitieren, die sich jahrelang im Rahmen der Nachbarschaftshilfe intensiv mit der Versorgung und Betreuung Schwerkranker beschäftigt und darin eine sehr befriedigende Aufgabe in ihrem Alter erlebt hat. Durch ein Leben mit vielen schweren Schicksalsschlägen und eigenen Krankheiten bis hin zu einer längeren Blindheitsphase hatte sie reiche eigene Erfahrungen mit schweren Krankheiten. Sie kümmerte sich um so bewusster um andere Menschen, die sich in komplizierten Situationen befanden. Als ich sie einmal fragte, welche Vorschläge sie für den Umgang mit Schwerkranken empfehlen würde, antwortete sie spontan:

–     Du musst die Wahrheit sagen.

–     Du musst die Angehörigen informieren.

–     Du solltest dem Kranken seine Wünsche möglichst weitgehend erfüllen.

–     Du musst klären, ob er sein Testament gemacht hat.

–    Du darfst nicht empfindlich sein bei Anschuldigungen, die der Kranke macht, weil er
sich nicht anders zu helfen weiß.

–     Du musst also dein eigenes Ego und deine Interessen hintenanstellen.

–     Du sollst dem Kranken deine Liebe geben. Ich habe die alte Patientin oft stundenlang
einfach im Arm gehalten und ihr gesagt, wie sehr ich sie liebe. Das ist so tröstend.

–     Zwinge Schwerkranke nicht zu Essen oder Trinken!

–     Eine innere Ausgeglichenheit und der feste Glaube an Gott, Christus und die geistige
Welt sind unbedingt wichtig. Ich habe damals, als die Patientin starb, an ihrem Ohr
immer wieder das Vaterunser gebetet.

 Mit einem Menschen würdig umzugehen, bedeutet, seine Eigenverantwortlichkeit, Eigenständigkeit, Entscheidungsfähigkeit und damit sein Selbstwertgefühl so lange wie irgend möglich zu respektieren und zu unterstützen. Wir müssen also ihm die Möglichkeit geben oder ihm trotz Schwächung zumuten, dass er für sich aktiv handelt und entscheidet. Das stärkt sein Selbstwertgefühl. Gute Nachrichten und die Tatsache, dass wir ihn richtig informieren, bestärken ihn in dem Gefühl, als wichtiger und vollwertiger Mensch in unserer Gemeinschaft angenommen zu werden.

Wenn wir uns um ihn kümmern, ihn nicht oder nur kurz warten lassen und medizinisch-therapeutische Anordnungen begründen, zeigt ihm dieses Verhalten, dass wir seine Individualität achten und seine Unabhängigkeit möglichst weit bewahren möchten. Er wird sich wesentlich wohler fühlen, als wenn wir ihn warten und im Ungewissen lassen, nicht oder schlecht informieren, befehlen, anordnen und uns nicht um ihn kümmern. Das senkt nämlich sein Selbstwertgefühl, und er wird hilflos, ängstlich und aggressiv oder regressiv, d.h. er zieht sich zurück. Auch das kann eine Ausdrucksweise der Aggression sein!

Das Personal in der Klinik und die Ärzte in der Praxis sind im allgemeinen nicht auf eine Sterbebegleitung vorbereitet. Weder während des Studiums noch in den Krankenhäusern gibt es eine gezielte Ausbildung zum psychologisch richtigen Umgang mit Sterbenden. Das wäre nicht nur für die Patienten und ihre Angehörigen wichtig. Sondern es würde auch für das Personal eine erhebliche Hilfe darstellen, um mit diesen Situationen besser umgehen zu können. Wegen der Ungeübtheit und der eigenen Angst gehen viele Schwestern, Pfle-ger und Ärzte diesen emotional schwierigen Momenten aus dem Weg oder versachlichen sie durch reine Fach- und Medikamentendiskussion, um sich selbst nicht mit ihren Gefühlen auseinandersetzen zu müssen.

Ich erlebe immer wieder, dass Schwestern und andere Menschen, die Kranke betreuen, größte Probleme haben, mit ihren eigenen Gefühlen richtig umzugehen oder darüber verarbeitend zu reden.

 

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Der Erfolgreiche und der Erfolglose. Ein plakativer Vergleich

Der Erfolgreiche übernimmt die Verantwortung für seine Situation und sein Handeln.

Der Erfolgslose verteilt Schuld an andere wegen seiner Situation und deren Handeln.

Der Erfolgreiche weiß, dass er der Verursacher seiner Lage ist.

Der Erfolgslose hält sich für das Opfer seiner Lage.

Der Erfolgreiche hat ein klar definiertes Ziel, das er unbeirrt verfolgt.

Der Erfolglose hat viele einander widersprechende Wunschvorstellungen, die er abwechselnd verfolgt.

Der Erfolgreiche weiß genau, was er will.

Der Erfolglose weiß genau, was er nicht will.

Deshalb visualisiert der Erfolgreiche seine Ziele häufig und intensiv,

während der Erfolgslose seine Angst Übermacht gewinnen lässt.

Der Erfolgreiche hat beruhigende Vorstellungen von seinen guten Eigenschaften und vertraut darauf.

Der Erfolglose hat beängstigende Vorstellungen von seinen Unzulänglichkeiten und wird davon überwältigt.

Der Erfolgreiche glaubt an sich.

Der Erfolglose glaubt an andere.

Der Erfolgreiche verteidigt andere, weil er in sich ruht und deshalb stark ist.

Der Erfolglose verteidigt sich, weil es nicht in sich ruht und durch die Verteidigung Stärke vortäuschen kann.

Der Erfolgreiche weiß, dass er eine Situation selbst bewerten kann. Das ist für ihn eine Gelegenheit zur Selbstbestimmung, die er mit konkreten und realitätsbezogenen Visionen und Freude zu seiner individuellen Freiheit entwickelt.

Der Erfolglose richtet sich nach der Bewertung anderer. Das ist für ihn ein geistiges Gefängnis, das er mit unkritischem Glauben und Illusionen schmückt.

Der Erfolgreiche sucht die Herausforderung, weil sie ihn fördert.

Der Erfolglose flieht vor der Anforderung, weil er sich überfordert fühlt.

Der Erfolgreiche weiß, dass in einem Chaos alle Möglichkeiten enthalten sind.

Der Erfolglose sieht vor lauter Chaos keine Möglichkeiten.

Der Erfolgreiche weiß, dass er etwas verändern muss, wenn etwas Neues geschehen soll. Also sucht er aktiv nach immer besseren Möglichkeiten und ist offen für neue Ideen.

Der Erfolglose sieht in jeder Veränderung eine Bedrohung der Gewohnheiten. Deshalb geht er Neuerungen mit vielen Argumenten aus dem Weg.

Der Erfolgreiche ist ein Vordenker.

Der Erfolglose ist ein Bedenkenträger.

Der Erfolgreiche denkt direkt auf die Krise zu und erlebt sie als Herausforderung.

Der Erfolglose läuft vor der Krise davon, weil sie eine Gefahr für ihn darstellt.

Deshalb meistert der Erfolgreiche die Krise und ist der Gewinner,

während der Erfolglose von der Krise eingeholt wird und sie ihn als Verlierer hinterlässt.

Der Erfolgreiche sieht auf der Bergwiese die herrlich duftenden Blumen und das saftige Gras und ist dankbar für das Geschenk.

Der Erfolglose riecht die stinkenden Kuhfladen, wehrt die lästigen Mücken ab und beklagt sich über die Zumutung.

Der Erfolgreiche steht morgens fröhlich auf, weil es Neues zu entdecken und zu bewältigen gibt.

Der Erfolglose verkriecht sich lieber unter der Bettdecke, damit der Tag ihn ja nicht findet und fordert.

Der Erfolgreiche trennt Wesentliches von Unwesentlichem und geht deshalb gerade Wege. Er kann sich Umwege leisten, weil er sein Ziel kennt.

Der Erfolglose kann sich nie entscheiden und läuft deshalb ein Zick-Zack oder im Kreis. Er merkt nicht, dass er Umwege macht, weil er sein Ziel nicht kennt.

Der Erfolgreiche trifft klare Entscheidungen und ist ein Meister im Weglassen von Unwichtigem.

Der Erfolglose trifft keine Entscheidungen und ist ein Meister im Sammeln von Argumenten, warum etwas nicht geht.

Der Erfolgreiche setzt sich nur für das Wesentliche ein,

während der Erfolglose nicht erkennt, was für ihn wesentlich ist.

Der Erfolgreiche ist konstruktiv, besonders in Krisen. Für ihn ist das ganze Leben eine einzige große Chance.

Der Erfolglose ist destruktiv, besonders in Krisen. Für ihn ist das ganze Leben eine einzige große Gefahr.

Der Erfolgreiche sagt: „Ja, ich finde den Weg, und wenn ich ihn machen muss!“

Der Erfolglose widerspricht: „Nein, das geht nicht, weil es gar keinen Weg gibt!“ oder „Das haben wir noch nie so gemacht!“ oder „Bei uns funktioniert das nicht!“

Wenn der Wind der Veränderung weht, baut der Erfolgreiche Windmühlen, der Erfolglose Schutzmauern.

Der Erfolgreiche liebt Menschen und sucht echte Begegnungen. Er freut sich, wenn er als erfolgreich erkannt wird.

Der Erfolglose meidet Menschen oder bleibt bei vielen Kontakten an der Oberfläche, um echte Begegnungen zu vermeiden. Er hat Angst, als erfolglos erkannt zu werden.

Der Erfolgreiche sieht in seinen Mitmenschen Möglichkeiten der Freude und des Vertrauens, während der Erfolglose Mitmenschen als Quelle der Ärgers und Misstrauens erlebt.

Der Erfolgreiche diskutiert konstruktiv, wenn Probleme zu lösen sind, weil er wieder eine Gelegenheit zur Verbesserung ahnt.

Der Erfolglose bleibt destruktiv und nörgelt, wenn er Probleme lösen soll, weil er schon wieder eine Niederlage befürchtet.

Der Erfolgreiche bekennt sich zu seinen Fehlern sofort, weil er zu sich steht.

Der Erfolglose versucht, seine Fehler zu vertuschen, weil er nicht zu sich stehen kann.

Der Erfolgreiche analysiert seine Fehler und Misserfolge genau und lernt daraus.

Der Erfolglose ist auf seine Fehler fixiert, kann sie also nicht analysieren und macht sie deshalb wieder.

Der Erfolgreiche verbessert kontinuierlich seine Ausbildung.

Der Erfolglose beklagt sich über seine schlechte Ausbildung.

Der Erfolgreiche bekennt sich zu seinen Misserfolgen und holt sich selbst aus dem Tief heraus.

Der Erfolglose gibt den anderen die Schuld an seinem Misserfolg und verlangt, dass sie ihn aus seinem Tief herausholen.

Der Erfolgreiche weiß, dass in jeder Kritik positive Aspekte enthalten sind. Er kritisiert deshalb bewusst konstruktiv und nützt die positiven Aspekte, wenn er kritisiert wird.

Der Erfolglose sieht in jeder Kritik nur Negatives und verträgt deshalb keine Kritik. Er kritisiert andere destruktiv, weil er nur die negativen Aspekte kennt.

Der Erfolgreiche liebt die Wahrheit, auch wenn sie unangenehm ist.

Der Erfolglose sieht nur seine Wahrheit, und die ist immer unangenehm.

Der Erfolgreiche kann ein Lob aufrichtig annehmen, weil er weiß, dass er etwas dazu beigetragen hat. Er sagt: „Danke!“

Der Erfolglose sehnt sich sehr nach Lob und programmiert seine Frustration selbst mit dem Satz: „Ich bin nicht wert, gelobt zu werden!“ Er kann deshalb ein Lob nicht annehmen.

Der Erfolgreiche vergleicht sich oft mit anderen, um seinen eigenen Maßstab in sich zu finden und zu prägen.

Der Erfolglose vergleicht oft, um viele Maßstäbe bei anderen zu finden und in sich zu prägen, auch wenn sie einander widersprechen.

Der Erfolgreiche schafft Leitlinien und führt.

Der Erfolglose sucht Leitlinien und folgt.

Der Erfolgreiche macht sich immer wieder lebhaft die Vorteile seines Ziels klar und gewinnt daraus Kraft spendende Motivation.

Der Erfolglose schreckt vor vielen Hindernissen zurück, die er auf dem Weg vor sich sieht. Weil er kein klares Ziel hat und keine Fehler machen will, bleibt er lieber stehen oder läuft hektisch in dem vertrauten Kreis herum. Er verliert so die Motivation für neue Wege und im fortgeschrittenen Stadium auch für den gewohnten Weg.

Der Erfolgreiche umgibt sich mit Erfolgreichen, tauscht neue Ideen aus und führt neue Aktivitäten aus.

Der Erfolglose umgibt sich mit Erfolglosen und tauscht Argumente aus, warum es wieder einmal nicht geklappt hat. Daraus können keine guten Aktivitäten entstehen.

Der Erfolgreiche hat diesen Aufsatz mit Begeisterung gelesen und wieder neue Bestätigung und Ansporn erfahren für sein Verhalten,

während der Erfolglose dabei immer deprimierter oder aggressiver geworden ist und sich in einem Teufelskreis bestätigt fühlt. Er hat sehr wahrscheinlich nicht bis hierher gelesen.

Copyright Dr. Dietrich Weller

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Gerichtsmedizin

In manchen Vorlesungen gibt es mehr zu bemerken und zu lernen an der Art, wie ein Dozent vorträgt, als an dem Inhalt, den er sachlich vermittelt.

Besonders eindrucksvoll und schrecklich habe ich die Szenen aus meiner Wiener Studienzeit im Gedächtnis, als ich in der Gerichtsmedizin saß und zuhörte, wie Verbrechen begangen und aufgeklärt werden. Es war oft spannend wie im Kriminalfilm, den detaillierten Ausführungen zu folgen und gedanklich den medizinischen, chemischen und kriminologischen Schlüssen nachzugehen, die vor uns mit Tatsachenberichten ausgebreitet wurden. Ich las zu dieser Zeit auch einige gute Bücher von berühmten Gerichtsmedizinern, die fesselnd über die vielseitigen Detektivarbeiten und oft schauerlichen Ereignisse und ihre manchmal völlig verblüffende Aufklärung berichteten.

Aber so packend diese Schilderungen waren, so sehr haben mich die unübertrefflich zynischen Bemerkungen eines Dozenten angewidert, die sehr deutlich werden ließen, wie er die Grausamkeit und eiskalte Berechnung einiger entsetzlicher Verbrecher nur durch eine groteske Berichterstattung ausgleichen und ertragen konnte.

Ich erinnere mich, wie der Dozent großformatige Dias auf die Leinwand warf von einem Säuglingsmord, den ein Metzgerlehrling begangen hatte. In Nahaufnahmen waren die kleinen Leichenteile aufgenommen, und der Dozent sagte mit einer klirrenden Stimme zynisch-bewundernd: „Beachten Sie bitte, wie fantastisch genau er das Kind zerlegt hat. Also hier hat er wirklich ein hervorragendes Gesellenstück hingelegt. Gezielte Schnitte genau in den Gelenkspalten! Und vollständige Arbeit hat er geleistet, er hat alle Extremitäten einzeln und seitengleich zerlegt, richtig exakt symmetrisch! Deshalb habe ich das auch so schön drapiert und fotografiert, damit sie die anatomische Kunst unseres Helden auch angemessen bewundern können. Ist das nicht großartig?“

Bei allem Verständnis für geistige Abwehrmechanismen, aber dieser Zynismus war wirklich entwürdigend und geschmacklos! Mir wurde schlecht, und ich war so mit mir beschäftigt, dass ich gar nicht bemerkte, wie es meinen Kollegen im Hörsaal erging.

In derselben Vorlesung folgte danach eine Bilderserie von einem Mann, der sich selbst mit einer Axt so lange auf einem Hackblock in der Werkstatt auf den Hinterkopf geschlagen hatte, bis er tot war. Geradezu genüsslich genaue Detailfotos von dem zertrümmerten Schädel und dem blutbespritzten Raum brachten den Dozenten zu der Bemerkung: „Ja, da möchte ich doch mal die Kolleginnen hier im Hörsaal fragen, welches Putzmittel sie hier empfehlen würden.“

Das war meine letzte Gerichtsmedizinvorlesung, die ich in Wien besuchte. Als ich wieder in Tübingen war, machte ich in der Vorlesung von Professor Mallach noch einen Versuch und erlebte eine angenehme Überraschung. Er konnte mit der schwierigen Problematik überlegen umgehen, und seine Erklärungen und Schilderungen waren dem Ernst der Lage und des hochinteressanten Faches und der Würde des Menschen angepasst.

Ihm verdanke ich auch eine sehr sympathische Begegnung. Beim mündlichen Staatsexamen mussten wir uns von ihm prüfen lassen. Wir hatten am frühen Nachmittag den Termin, und der Sommer war sehr heiß. Wie sich das damals gehörte, traten wir vier Prüflinge aus der Gruppe 13 (das war unsere Glückszahl!) natürlich im dunklen Anzug mit Krawatte an und hofften sehr, dass wir rasch wieder ins Freie kommen würden, um uns umzuziehen und Erleichterung in der Kleidung zu haben.

So standen wir pünktlich dem Herrn Professor gegenüber, und sicherlich hatte auch die Prüfungssituation und nicht nur die abgestandene Sommerhitze in der Innenstadt etwas damit zu tun, dass uns Schweißperlen auf der Stirn standen. Uns war in mehrerlei Hinsicht heiß, denn wir wussten aus Erzählungen von Kollegen, dass Professor Mallach ein sehr scharfer Prüfer sein konnte.

Ich war sehr überrascht, dass er uns mit weit offenem, bunt geblümtem Freizeithemd, lockerer heller Hose und barfuß auf ausgetretenen Sandalen entgegenkam. Er begrüßte uns freundlich, und in seinem ersten Satz hörten wir den gespielt ernsten Befehlston: „Also zuerst mal Jackett aus, Krawatte runter, Ärmel hoch und Hemd auf! Hier gibt´s was zu trinken!“ Mit diesen Worten stellte er Apfelsaft und Sprudel und große Gläser auf den Tisch, lachte und setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen zu uns an den Tisch.

Die Spannung war verflogen, und die Prüfung verlief sachlich, freundlich und unkompliziert.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht

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Uns hat der Schlag getroffen

Der folgende Vortrag beantwortet folgende Fragen:

  • Was können Laien machen, wenn jemand Zeichen eines Schlaganfalls aufweist?
  • Welches sind die wesentlichen Zeichen eines Schlaganfalls?
  • Wie begleiten wir Patienten in die Klinik, in der Klinik und zuhause richtig?
  • Wie können sich Angehörige dem Patienten gegenüber richtig verhalten?
  • Was ist ein Helfer-Syndrom, und wie können wir uns davor schützen?

Hier finden Sie den Vortrag als pdf-Datei

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