Die Polizei – mein Freund und Helfer

Eigentlich hatte ich eine geruhsame Mittagspause meines Praktikums erwartet, als ich an diesem heißen Sommertag die Klinik verließ, um in die Frankfurter Innenstadt zu fahren und mir bei einem Stadtbummel den Römer und die Hauptwache anzuschauen. So schlenderte ich gemütlich durch das Zentrum, besichtigte, was ich mir vorgenommen hatte, und setzte mich dann gemütlich in ein Straßencafé und genoss einen Eisbecher unter einem Schatten spendenden Sonnenschirm.

Ein Blick auf die Uhr alarmierte mich plötzlich, denn ich war sehr spät dran. Ich musste mich beeilen, um rechtzeitig zur Nachmittagsschicht in der Klinik zu sein. Also bezahlte ich rasch, rannte zum Parkhaus, um mein Auto zu holen, und fuhr auf der breiten Ausfahrtsstraße nach Seckbach viel schneller als erlaubt. Die Straße war frei, und ich hoffte, noch rechtzeitig mein Ziel zu erreichen.

Da hörte ich plötzlich eine Sirene und entdeckte beim Blick in den Rückspiegel einen Polizisten auf seinem rasch aufholenden Motorrad. Er raste an mir vorbei, bremste knapp vor mir ab und zwang mich, langsamer zu fahren. Ich bekam einen Schweißausbrauch und fühlte mich total ertappt. Oje, auch das noch! Der Polizist zog die Kelle und winkte mich an den Straßenrand. Das konnte ja teuer werden! Und wie viele Punkte gibt das in Flensburg? Ein rascher Griff zum Geldbeutel bestätigte mir, dass ich die Wagenpapiere und den Führerschein dabei hatte. Mit einem sehr schlechten Gewissen hielt ich den Wagen auf der Parkspur hinter dem Polizisten an.

Ich holte tief Luft und überlegte, was ich jetzt sinnvollerweise tun könnte, um den Schaden so gering wie möglich zu halten. Dann stieg ich entschlossen aus und ging auf den Polizisten zu. Er fragte sofort mit finsterem Gesicht: „Wo wollen Sie denn so schnell hin?“ Ich antwortete wahrheitsgemäß: „Ich muss schnell ins Katharinenhospital nach Seckbach!“

In diesem Moment blickte er mich von oben nach unten an, sein Gesicht hellte sich plötzlich auf, er strahlte mich an und sagte: „Da bring ich Sie hin, Herr Doktor, los, hinter mir her!“ Er drehte sich um, ließ mich verblüfft stehen, schwang sich auf seine Maschine, schneller als ich verstehen konnte, was geschehen war, schaltete sein Blaulicht ein, gab donnernd Gas und raste los.

Ich war so perplex, dass ich eine Sekunde lang brauchte, um zu begreifen. Ja, richtig, ich hatte ein weißes Hemd, eine weiße Hose und weiße Schuhe an! Klar, dass er mich für einen richtigen Arzt hält und denkt, ich sei in einem Noteinsatz! Ich schmunzelte vor mich hin: Es stimmt ja, ich bin in Zeit-Not und muss sehr dringend in die Klinik, weil es dort gleich Kaffee gibt. So bereitete es mir ein erlesenes Vergnügen, hinter dem hilfsbereiten Polizisten die Landstraße entlang zu rauschen und noch schneller zu fahren als vorhin und das mit Blaulicht und Polizeischutz! Das hatte ich noch nie erlebt.

Nach einer kurzweiligen Rennstrecke bog mein rasender Führer in die Klinikeinfahrt, winkte mich auf den Ärzteparkplatz und grüßte salopp, indem er militärisch mit dem Zeigefinger an den Helm tippte. Ich grüßte dankbar zurück, und er fuhr davon. Geschafft! Ich war fünf Minuten vor dem Nachmittagskaffee auf der Station.

Ich hatte beim Fahren eine Er-Fahrung gemacht, die mir viele Jahre später im richtigen Moment einfiel. Wieder war es in der Mittagspause, als ich eilig von meiner Wohnung in die Klinik fuhr, da ich getrödelt hatte und zu spät weggekommen war. Da blitzte im Rückspiegel das Licht einer Radarfalle auf, die mich beziehungsweise mein Auto von hinten erwischt hatte. Die Polizisten hatten sie geschickt hinter einer Hecke versteckt und so an diesem Nachmittag bestimmt viele Opfer gefangen, die an der ansteigenden und geraden Strecke vor der Hecke richtig Gas gaben. Rasch überlegte ich, wo ich heraus gewunken werden könnte. Ja, da oben am Friedhof würden sie an der Einfahrt stehen, war ich mir sicher. Langsam fuhr ich weiter und überlegte, wie ich mit dem Polizisten dort reden könnte, um möglichst glimpflich davon zu kommen.

Tatsächlich wurde ich schon von einem winkenden Hüter der Ordnung erwartet, als ich zu der Stelle kam, die ich vermutet hatte. Ich hatte ja schon etwas gelernt. Also stieg ich entschlossen und zielsicher aus, ging freundlich auf den Mann zu, stellte mich vor und sagte: „Ich bin dort unten zu schnell gefahren. Ich muss dringend ins Olgahospital. Ich arbeite dort. Ich gebe Ihnen jetzt alle Papiere, die Sie haben wollen, und ich verspreche Ihnen, dass ich heute Abend nach dem Dienst auf die Wache komme, um die Sache zu regeln. Aber bitte, lassen Sie mich jetzt sofort weiterfahren!“ Der Polizist war offensichtlich verblüfft über mein uneingefordertes Geständnis, überlegte kurz, bat mich um einen Moment Geduld und ging zu seinem Kollegen, der ein paar Meter entfernt im parkenden Polizeiauto saß. Sie besprachen die Angelegenheit kurz, dann kam „mein“ Polizist zurück, gab mir die Hand und sagte freundlich lachend: „In Ordnung, Herr Doktor, Sie brauchen heute Abend nicht zu kommen! Gute Fahrt, passen Sie auf die Blitze auf!“

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte habe ich in meinem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht

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Mein besonders Weihnachtsgeschenk

Es begann wie ein übliches harmonisches Weihnachtsfest in unserer Familie. Noch wußte ich nicht, dass etwas für mich Lebensprägendes geschehen würde. Meine Eltern, die Großmutter und wir beiden Kinder waren eingestimmt auf den Heiligen Abend und auf die Bescherung unter dem festlich geschmückten Baum mit den selbst gebastelten Figuren, die meine Mutter, meine Schwester und ich mit der Laubsäge aus Sperrholz geformt und mit Lackfarbe angemalt hatten. Da hingen Nikolausmänner mit roten Mänteln und weißen Bärten, kleine Züge mit grünen und blauen Anhängerwagen und grau dampfender Lokomotive, gepunktete und gestreifte Bälle, rosa, blaue, rote und weiße Blumen, lachende Sonnen, niedliche kleine Bären und allerlei Fantasiefiguren an der zimmerhohen Tanne mit dem silbrigen Stern auf der Spitze. Dazwischen hatten die Eltern unsere verschiedenen selbst gefertigten Strohsterne gehängt, und der Baum trug so auch in diesem Jahr einen für uns besonders wertvollen Schmuck, denn unsere Kombination aus Basteleien gab es nirgendwo sonst. Es war uns wichtig, diese Sammlung ständig wachsen zu lassen und uns an Weihnachten immer neu daran zu freuen.

Nach der mit Spannung erwarteten Bescherung mit schönen Geschenken setzten wir uns an den Eßtisch und genossen das Abendessen. Wie immer hatte Mutter ein köstliches Essen vorbereitet: zartes Roastbeef und den leckeren schwäbischen Kartoffelsalat, und wir freuten uns an der gemütlichen Runde. Als wir anschließend miteinander musiziert hatten und die Kerzen wieder am Baum brannten, holte mein Vater ein kleines Heftchen hervor: „Hört mir bitte mal zu!“

Er begann mit einer kurzen Erklärung: „Diese Weihnachtsgeschichte habe ich vor ein paar Tagen von einem Pharmareferenten geschenkt bekommen. Ich will sie euch vorlesen.“ Das war ungewöhnlich, denn Vater las normalerweise nicht vor.

Wir schenkten uns noch etwas zum Trinken ein, um seine Erzählung nicht unterbrechen zu müssen, und setzten uns bequem in die Polstersessel. Die stattliche Weihnachtskerze brannte auf dem runden Tisch auf einem mit geschmückten Tannenzweigen bedeckten Porzellanteller, der auf der Brockattischdecke mit den wertvollen Stickereien stand. Die indirekte Wohnzimmerbeleuchtung verbreitete einen warmen Ton.

Vater begann zu lesen, und ich spürte mit jeder Zeile immer deutlicher, wie wichtig es ihm war, gerade diese Geschichte vorzutragen. Ich fühlte, wie er innerlich in der Handlung mitging und ergriffen wurde von der Dramatik. Wichtig war und ist für mich, was in dieser Erzählung, in meinem Vater und in mir dabei geschah.

Ich weiß nicht mehr, wie die Geschichte hieß, auch nicht mehr den Autor. Denn als ich einige Jahre später das Heft suchte, war es nicht mehr da. Ich habe die Geschichte nur an diesem Abend gehört und sie so intensiv erlebt, dass ich sie jetzt nach über vierzig Jahren leicht und mit neuer Erschütterung aus dem Gedächtnis erzählen kann.

Dr. Konrad saß in einer abgelegenen Gegend am Heiligen Abend mit seiner Frau im Wohnzimmer ihres großen Landarzthauses. Der Baum war geschmückt, die Kerzen brannten, aber das Haus war erfüllt von großer Trauer. Die Eltern wussten, dass Katharina, ihre kleine Tochter, im Sterben lag. Gerade am großen Geburtstag des Christuskindes würde ihr einziges Kind sterben. Die Eltern waren in ihrer Verzweiflung und Schicksalsergebenheit zusammengerückt. Sie hatten Kathys Bett ins Wohnzimmer neben den Baum gestellt, um ihr ein letztes Fest zu schenken. Jetzt saßen sie auf harten Stühlen neben dem bewusstlosen Mädchen. Dr. Konrad legte seinen Arm um seine Frau, und sie streichelten die blassen Hände und das hohläugige Gesicht ihres Kindes.

In diese heilige Stimmung platzte ein lautes Pochen an der Haustür. Die beiden Eltern zuckten zusammen und schauten einander fragend an. Dr. Konrad löste sich langsam von seiner Frau und der Tochter, sein Gesicht bekam ärgerliche Falten. Er ging hinaus zum Eingang, schob den Riegel zur Seite und öffnete. Ein Mann stand schneebedeckt und schlotternd vor ihm: „Herr Doktor,“ drängte er sofort, „wir brauchen Ihre Hilfe! Kommen Sie schnell!“

Dr. Konrad musterte den verschneiten Besucher im dämmrigen Licht, dann sagte er: „Herr Moser, jetzt erkenne ich Sie erst, Sie haben ja einen langen und schwierigen Weg hinter sich von Ihrem Hof hierher, und das in diesem Schneetreiben! Was ist denn los? Kommen Sie herein!“

Schon im Hausflur sprudelte der späte Gast sein dringendes Anliegen heraus: „Herr Doktor, meine Tochter, die Resi, ist vom Heuboden fünf Meter heruntergefallen, sie liegt bewusstlos in unserer Scheune und stirbt, wenn Sie nicht sofort helfen! Schnell Ihren Mantel und die Tasche!“

Dr. Konrad zuckte kaum sichtbar zusammen und nach einem kurzen Blick in die sorgenvoll geweiteten Augen des Bauern öffnete er die Wohnzimmertür und machte eine einladende Geste: „Bitte, kommen Sie zuerst herein!“ Herr Moser beharrte: „Nein, nein, lassen Sie uns sofort fahren! Bitte! Es ist sehr dringend!“

Aber Dr. Konrad war schon vorausgegangen und führte Herrn Moser an Katharinas Bett. Frau Konrad begrüßte ihn knapp, und er spürte die Mischung aus erzwungener Freundlichkeit und dem unausgesprochenen Vorwurf: Wie können Sie es wagen, uns jetzt zu stören?!

Dr. Konrad schluckte und bemühte sich, seine Stimme sachlich klingen zu lassen: „Herr Moser, unsere Kathy wird heute Nacht sterben. Und Sie wollen mich jetzt hier wegholen, weil Ihre Resi bewusstlos in der Scheune liegt.“

Es wurde plötzlich eiskalt im Raum. Frau Konrads Augen weiteten sich vor Schreck, als sie die Gefahr erkannte. Sie war auf dem Sprung wie eine Löwin, deren Junge bedroht werden.

Herr Moser schrak zusammen. Mit dieser tragischen Situation hatte er nicht gerechnet, schon gar nicht bei seinem immer einsatzbereiten Hausarzt. Eine Weile schwieg er. Langsam zog er seine kalten Finger aus den dicken Handschuhen, rieb sie aneinander, hauchte sie an und schaute verlegen auf den Boden. Dabei trat er von einem Stiefel auf den anderen, und langsam breitete sich um ihn eine Lache von Schneewasser aus.

Dann blickte er langsam auf, schaute Dr. Konrad direkt an und sagte mit fester Stimme: „Bitte kommen Sie mit! Ich habe meiner Frau und Resi versprochen, Sie mitzubringen. Bitte, Herr Doktor!“

Dr. Konrad schüttelte den Kopf: „Ja, aber Sie sehen doch, dass meine Kathy und meine Frau mich brauchen! Das ist für mich genauso wichtig wie Ihre Familie für Sie!“ Jetzt war Dr. Konrads Stimme wieder entschlossener: „Wir haben monatelang mit allen guten Ärzten um Kathy gekämpft, sogar in der Universitätsklinik waren wir mit ihr. Da kann ich sie doch jetzt nicht allein lassen, wo sie sterben wird!“

Frau Konrad mischte sich ein, ihre Stimme klang scharf, und sie fuhr Herrn Moser an: „Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, daß Sie meinen Mann von unserem sterbenden Kind wegholen! Das lasse ich nicht zu!“

Herrn Moser wurde heiß, er knöpfte den Mantel auf. Sein herbes Bauerngesicht, das lebhafte Geschichten über die entbehrungsreiche Landarbeit erzählte, wurde blass, als er leise zu Dr. Konrad sagte: „Ich verstehe ja Ihren großen Kummer, niemand versteht ihn besser als ich. Meine Resi stirbt nämlich auch!“ Und er setzte nach: „Wenn Sie nicht sofort mitgehen!“

Dr. Konrad ließ sich auf den Stuhl fallen, stützte seinen Kopf in die Hand und sagte mehr zu sich als zu den Umstehenden: „Ich kann doch jetzt nicht gehen!“ Frau Konrad stellte sich hinter ihn und legte ihm ihre Hände festhaltend auf beide Schultern: „Ja, Fritz, du bleibst da!“ Danach schaute sie Herrn Moser offen und triumphierend ins Gesicht, und dieser fühlte ihre Entschlossenheit.

Herr Moser überlegte. Er ging ein paar Schritte im Zimmer auf und ab und zog die Wasserspur hinter sich her. Dann schob er den leeren Stuhl vor den Doktor und setzte sich so darauf, dass er dem blassen Arzt Auge in Auge gegenüber saß. Er legte ihm die rechte Hand auf das Knie und sagte mit einer drohend leisen Stimme: „Wenn Sie nicht sofort mitkommen und meine Resi stirbt, sind Sie schuldig. Dann verklage ich Sie wegen unterlassener Hilfeleistung!“

Dr. Konrad reagierte nicht. Er schaute durch den entschlossenen Vater hindurch. Dann drehte er sich langsam zu Katharina, legte seine Hand auf ihren Kopf, und ihr Gesicht verschwamm hinter seinen Tränen.

Als Herr Moser spürte, dass seine Drohung nicht wirkte, versuchte er, mit weicherer Stimme sein Ziel zu erreichen: „Herr Doktor, Ihr Kind stirbt sicher, mein Kind stirbt nur, wenn Sie nicht kommen!“ Er machte eine Pause, um den Satz in Dr. Konrads Bewusstsein hineinfließen zu lassen wie einen Tropfen einer Chemikalie, die eine trübe Flüssigkeit klärt. Der Doktor rührte sich nicht.

Herr Moser bekräftigte seine Aussage: „Ihre Kathy können Sie nicht mehr retten, so leid es mir tut. Aber meine Resi könnte mit Ihrer Hilfe noch viele Jahre gesund leben.“ Und dann betonte er jedes Wort: „Herr Doktor, wir vertrauen auf Sie!“

Frau Konrad kniete neben Kathy auf dem Boden und beobachtete ihre kaum sichtbaren Atembewegungen und dann ihren Mann, der wie in einer Glaskapsel von ihr getrennt war und jetzt ringend seine Hände knetete. Die Wanduhr tickte monoton, und Herr Moser schaute auf das Zifferblatt, um zu kontrollieren, wie lange er noch brauchen würde, um endlich mit dem Doktor nach Hause fahren zu können.

Da floss eine sanfte Bewegung durch den Arzt. Dr. Konrad nahm behutsam den Kopf seiner Kathy in beide Hände, küsste sie auf die Stirn und auf den Mund und stand auf. Tränen liefen über seine Wangen, und sein Blick zeigte, dass er sich entschieden hatte. Er umarmte wortlos seine schluchzende Frau, die ihn umklammerte: „Bitte, bitte, bleib da!“

Aber sie kannte ihren Mann aus den vielen Jahren der Ehe und seiner hingebungsvollen Arbeit. Er würde bis zu seinem letzten Moment helfen und noch an seinem eigenen Krankenbett Patienten empfangen. Sie konnte ihn nicht halten. Langsam ließ sie ihn los, und ihre Schultern sanken resigniert herab.

Er zog den dicken Winterpelz mit der Kapuze und die Fellschuhe an, nahm die Tasche mit den Instrumenten und Medikamenten und stapfte schweigend und ohne zurückzuschauen in das schwere Schneetreiben zum Pferdefuhrwerk hinaus.

Herr Moser verbeugte sich linkisch vor Frau Konrad und sagte mit weicher Stimme: „Danke, Frau Doktor, und eine gesegnete Weihnacht!“ Er zögerte, und dann ergänzte er: „Ich meine wirklich: Gottes Segen für Sie und Kathy in dieser Nacht!“ Dann drehte er sich um, knöpfte im Hinausrennen seinen Mantel zu, legte den warmen Schal um den Hals, setzte die Mütze mit den Ohrenklappen auf und half Dr. Konrad, der gerade auf die offene Bank der Kutsche stieg.

Frau Konrad stand vor der Haustür und blickte dem peitschenknallenden Bauer und ihrem auf dem Kutschbock kauernden Mann schweigend nach, als diese in rascher Fahrt den Hof verließen und in die schneeflockenerfüllte Nacht eintauchten. Sie verschloss sich mit zitternden Händen den Mund, um nicht ihre übermächtige Hilflosigkeit, Angst, Wut, Trauer und Hoffnungslosigkeit und ihr endloses Gefühl des Verlassenseins in die Heilige Nacht hinaus zu schreien.

Als der Pferdewagen schon lange im Schneegestöber verschwunden war und die unheimliche Ruhe der Nacht sie umfing, schloss sie am ganzen Leibe bebend und mit weißen Flocken auf ihrem Umhang die Tür und kehrte in das warme Zimmer zu der Tochter zurück.

Kurz vor dem Morgengrauen kam der erschöpfte Doktor mit der Kutsche zurück. Er eilte mit seiner schneebedeckten Kleidung und den nassen Stiefeln ins Wohnzimmer, wo das spärliche Licht einer einzigen Kerze das starre Gesicht Kathys beschien. Er sank weinend neben Kathy auf die Knie und küsste sie auf die kalte Stirn und den leblosen Mund. Dann legte er schluchzend seine Arme um seine Frau, die mit ihren leer geweinten Augen durch ihn hindurchschaute. Frau Konrad ließ die Umarmung teilnahmslos geschehen.

Nach einer ganzen Weile brach Dr. Konrad das Schweigen: „Aber ich hab doch wenigstens die Resi retten können!“ Seine Frau schaute ihn aus ihren rot geränderten und geschwollenen Augen an, schüttelte langsam den Kopf und verschloss ihm mit tonloser Stimme den Mund: „Du warst nicht dabei!“

Die letzten Zeilen hatte mein Vater mit stockender Stimme gelesen, die Tränen liefen über seine Wangen, und ich sah ihn durch meinen eigenen Schleier zum ersten Mal weinen.

Das war ein besonderer Weihnachtsabend, weil mein Vater eine Geschichte vorgelesen hatte, die ihn mir sehr nahe brachte. Ich habe sie als sein wertvollstes Weihnachtsgeschenk bis heute im Gedächtnis und im Herzen getragen.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte habe ich in meinem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere Kurzgeschichten veröffentlicht.

 

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Der wasserdichte Verband und die nächtliche Operation

Etwa fünfzig Meter hinter unserem Schiff hatten die Forscher außerhalb des Windschattens des Schiffes eine Boje mit einem etwa fünf Meter hohen Mast ausgesetzt, an dem Spezialinstrumente in verschiedenen Höhen über und unter dem Wasserspiegel Meßdaten sammelten und diese über ein dickes Kabel zum Computer in den Forschungsraum im Schiff leiteten. Diese Boje mußte regelmäßig gewartet werden, deshalb fuhr die Mannschaft, die Bojendienst hatte, einmal am Tag mit einem Motorboot hinaus und reinigte und justierte die Windräder.

Dabei ergab sich einmal folgende kuriose Situation: Einer der Wissenschaftler hatte Schmerzen wegen eines eingewachsenen Zehennagels, den ich operieren musste. Wir überlegten, dass der Patient für mindestens drei Tage nicht ins Salzwasser gehen dürfe. Es war mir klar, dass jeder Beschäftigte auf der Boje immer nasse Füße bekommt. Aber in der noch nicht verheilten Wunde war Salzwasser gar nicht gut, und so hatte der Forscher sich auf meine Bitte hin für diese Tage einen Vertreter für seinen Bojendienst gesucht.

Da alles geregelt war, schnitt ich nach einer örtlichen Narkose das entzündete Nageleck heraus, nähte die Wunde zu und verband sie. Am nächsten Tag wurde aber der Ersatzmann krank, lag mit einer kräftigen Grippe im Bett, und kein anderer als mein Patient konnte die Aufgabe ausführen. So kam er zu mir und fragte mich, wie wir einen so dünnen und wasserdichten Verband machen können, dass er mit dem Fuß in den Tennisschuh hineinkommt. Auf der Boje hatten sich innerhalb von wenigen Tagen scharfkantige Muscheln festgesetzt, die ganz rasch die Fußsohle aufschlitzten. Deshalb war das Tragen von Schuhen mit guten Sohlen beim Bojendienst unverzichtbar.

Ich dachte nach: sehr dünner und wasserdichter Verband? Jede Binde wäre zu dick und nicht wasserdicht gewesen. Da hatte ich eine Idee, aber ich traute mich nicht so recht, sie gleich umzusetzen. Deshalb fragte ich meinen Patienten, ob er bereit sei mitzumachen. Heinz hatte mir nämlich bei seinen Erklärungen zum Medikamentenschrank auch eine große Schachtel mit Präservativen gezeigt, die den Seeleuten von der See-Berufsgenossenschaft kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Das wäre doch was: passgerecht für den Großzeh, dünn und wasserdicht!

Mein Patient war begeistert: „Das machen wir! Das ist der Spaß wert!“ Bereitwillig und lachend hielt er seinen Fuß in die Höhe, und ich machte einen ungewöhnlichen und sehr hilfreichen Verband, den wir unter einem dünnen Socken verschwinden ließen. Der Fuß passte hervorragend in den Tennisschuh, und mein Patient marschierte zufrieden zum Bojendienst. Als ich dann kurz darauf wieder an Deck war, sah ich, wie er vor seiner versammelten Gruppe den Schuh auszog und den Fuß in die Höhe streckte: „Schaut mal, was der Doc mir für einen tollen Verband gemacht hat.“ Es gab natürlich ein riesiges Hallo, und ein Witz jagte den anderen. Aber den Zweck hat der Verband erfüllt, darüber waren wir uns einig.

Eines Abends saß ich gemütlich an Deck in einem Gespräch vertieft, da hörte ich einen Matrosen laut fluchen und jammern, von dem ich immer den Eindruck hatte, dass er ein Zwillingsbruder von Bud Spencer ist! Ich hörte ihn schmerzvoll schreien: „Wo ist der Doc?“ Ich lief zu ihm und sah die Bescherung. Er hatte seinen Feierabend zum Fischen verwendet und an der Reling die Angel ausgeworfen. Irgendwo hatte sie sich festgehakt, und er hatte gezoeng. Sie gab nicht nach, deshalb zog er noch mehr. Plötzlich war der große Angelhaken auf ihn zu geflogen, der Matrose griff instinktiv danach, um sein Gesicht zu schützen, und schon saß der Haken im Daumen.

Die kleinen und großen Widerhäkchen an dem Stahl hatten sich tief ins Fleisch seines dicken Daumens gebohrt, und es gelang mir nicht, den Haken herausziehen, ganz im Gegenteil: Sie zurrten sich nur noch fester in das Fleisch, und der arme Patient schrie vor Schmerzen!

Ich erkannte schnell, dass das Problem nur mit einer Operation lösbar war und ging mit dem Matrosen in den Operationsraum. Zur Hilfe holte ich mir einen der Studenten, der mir erzählt hatte, dass er bei der Bundeswehr Sanitäter war. Er freute sich, dabei sein zu dürfen.

Also bat ich zuerst unseren fast kollabierten Schwergewichtler, sich auf den Tisch zu legen, befestigte die Armlehne, um die Hand gut abzustützen, und setzte nach der Desinfektion eine Leitungsanaesthesie, um den Daumen gefühllos zu machen. Die nötigen Instrumente lagen im Schrank bereit, und ich holte mir noch Tupfer, Naht- und Verbandsmaterial. Dann zog ich die sterilen Handschuhe an, um alles ordentlich auf das Tuch legen zu können, und begann die Operation. Ich musste genau am Haken entlang den Daumen aufschneiden, viel tiefer als dem Patienten und mir lieb war. Dann erst erkannte ich, wie viele kleine Häkchen sich in das Fleisch hinein gebissen hatten. Ich brauchte ein ganze Weile, um mit möglichst großer Schonung des Gewebes den Haken zu befreien. Nachdem ich die Wunde vernäht und den Verband angelegt hatte, waren wir alle ganz zufrieden und genehmigten uns einen doppelten Cognac. Die Wunde verheilte gut.

 

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Die Blutprobe

Nach einem Kinobesuch ging ich spät nachts zur Klinik zurück. Da sah ich Licht im ersten Stock in der Chirurgie-Ambulanz. Das machte mich neugierig. Ich war gerade dabei, mein erstes Praktikum nach dem ersten Semester des Medizinstudiums in der Chirurgischen Klinik im Kreiskrankenhaus Heidenheim zu verbringen. Ich wohnte in einem Zimmer im zweiten Stock über dem damals noch recht alten Ambulanztrakt. Deshalb konnte ich auch außerhalb der Dienstzeit direkt am Geschehen in der Klinik Anteil nehmen.

„Es ist gut, dass du kommst!“ sagte Rainer, der junge Medizinalassistent, der Nachtdienst hatte und mitten im großen Untersuchungsraum stand. „Bleib mal da, vielleicht brauch ich deine Hilfe!“ Mein Interesse war geweckt, und ich fragte, worum es denn gehe.

„Hast du mitgekriegt, dass in der letzten Nacht ein randalierender Betrunkener die Vorhänge hier heruntergerissen und dem Kollegen vom Nachtdienst den oberen Schneidezahn eingeschlagen hat, als dieser dem Patienten Blut für eine Alkoholprobe abnehmen wollte? Gerade hat die Polizei angerufen und wieder einen Patienten zur Blutprobe angemeldet. Da kann ich möglicherweise deine tätige Unterstützung brauchen. Ich möchte gerne meine Zähne behalten. Und neue Vorhänge zu kaufen, ist zu teuer.“

Das waren ja schöne Aussichten! Aber ich blieb, teils aus Neugier, teils aus Kollegialität und mit einem komischen Gefühl, dass es sehr ungemütlich und turbulent werden könnte. Ich hatte ja noch nie an einer solchen Blutprobe teilgenommen.

Ich schaute Rainer an, der ein ganz freundlicher Mann mit einer eher zierlichen Statur war. Er hatte einem betrunkenen Schläger höchstens Geschwindigkeit zu entgegnen, bestimmt keine rohe Kraft. Und ich konnte mich noch an meine letzte Keilerei auf dem Schulhof erinnern, als ich vielleicht zwölf Jahre alt war und die Rangordnung in der Klasse neu ausgekämpft werden mußte. Aber Gedanken an solche gewalttätigen Auseinandersetzungen waren mir inzwischen sehr fremd und verabscheuenswert geworden. Deshalb wollte ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass jetzt gleich, wenn dieser angekündigte Patient hier auftauchen würde, eine Prügelei uns und den Raum demolieren könnte.

Wir warteten. Die Ambulanzschwester rückte noch einmal die neu aufgehängten Vorhänge zurecht, so als ob sie ihnen ein letztes Mal etwas Gutes tun wollte, bevor der Grobian sie wieder herunterreißt. Rainer erklärte mir inzwischen die wichtigsten Grundsätze für ein Alkoholgutachten, das er gleich im Auftrag der Polizei machen würde, und ich war gespannt auf den schlimmen Betrunkenen. Ich bemerkte, wie ich schon im Vorfeld gegen ihn eingenommen war, weil ich ihn automatisch mit dem Bösewicht der letzten Nacht identifiziert hatte und jetzt eine Wiederholung des Tumultes erwartete.

Da sahen wir aus dem Fenster der Ambulanz im ersten Stock, wie der Polizeiwagen vorfuhr. Zwei große Polizisten stiegen aus und machten auf mich einen entschlossenen Eindruck. Dann kletterte langsam ein Männchen aus dem Auto, sehr schmächtig von Gestalt mit dunkelbraunem Anzug. Ach, es war ja Samstagabend, er kommt wohl vom Feiern, er hat sich fein gemacht, dachte ich.

Ich nahm meine Vorurteile wahr und bemühte mich um mehr Objektivität, als er kurz darauf aus dem Aufzug auf uns zu kam. Er machte auf den ersten Blick keinen betrunkenen Eindruck, er ging gerade, ohne zu schwanken und begrüßte uns sehr leutselig. Da merkte ich, dass er etwas enthemmt war, leicht lallend sprach und etwas glänzende Augen hatte.

Er trug offensichtlich seinen Sonntagsanzug, die schwarze schmale Lederkrawatte hing auf Halbmast über dem weißen Hemd, und im vollen Haar befestigte etwa ein Pfund Pomade die große schwarze Locke über der Stirn und die langen Strähnen im Nacken. Sein Gesicht war sonnengegerbt, und ich vermutete, dass er wohl die meiste Zeit im Freien arbeitete. Ein unangenehmer Mischduft aus süßlichem Parfüm der billigsten Klasse, abgestandenem Alkohol und kaltem Zigarettengestank umgab ihn wie eine ekelerregende Dunstwolke, die uns einfing, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen konnten.

Die Schwester beeilte sich zwar, so ganz unauffällig beim Fenster vorbeizulaufen und es nebenbei zu öffnen, aber ich spürte das leichte Würgegefühl in meinem Hals und hielt mich auf Distanz.

Als der freundlich lächelnde Patient mir die Hand gab, fühlte ich zuerst meine innere Abwehr und dann die zupackende und mit Schrunden übersähte Hornhaut eines Mannes, der mit seiner Hände schwerer Arbeit den Lebensunterhalt verdient. Dieser Mann konnte zupacken, und er wirkte bei aller Zierlichkeit durchtrainiert, muskulös und kräftig. Das kann ja heiter werden, dachte ich. Das könnte ein Bauarbeiter sein, der jetzt am Wochenende feiert und feuert, schoss mir durch den Kopf.

Die Polizisten hielten sich im Hintergrund, als der Patient Rainer ganz ergeben fragte: “Ich bin der Meier Hans, Herr Doktor, was soll ich denn jetzt tun? Wollen Sie mir Blut abnehmen?“

„Ja,“ meinte dieser mit betonter Höflichkeit, „ziehen Sie bitte Ihr Jackett aus, und setzen Sie sich bitte da hin.“

Er schob ihm einen Stuhl entgegen, Herr Meier nahm ihn, zog die Jacke aus, hängte sie umständlich über die Lehne, setzte sich und streckte bereitwillig seinen rechten Arm aus. Das lief ja ganz anders, als ich erwartet hatte! Es herrschte eine richtig gelöste Stimmung. Trotzdem dachte ich wieder an die kräftigen Hände, und inzwischen hatte ich auch die kräftigen Bizepsmuskeln gesehen! Das ließ mich sehr wachsam sein.

Herr Meier beobachtete, wie Rainer sorgfältig die Armbeuge desinfizierte und dann geübt und zielsicher die Kanüle in die gestaute Vene einführte. „Das habe ich ja gar nicht gespürt, Herr Doktor!“ sagte unser Gast erleichtert. „Das haben Sie aber gut gemacht!“

Rainer lächelte und meinte: „Ja, Sie haben auch genug Alkohol getrunken, da merkt man es nicht so!“

Unser nächtlicher Besucher unterhielt uns mit lockeren Sprüchen und meinte dann lachend zu den Polizisten gewandt: „Aber ihr bringt mich nachher wieder in den Hirschen! Da hab ich noch eine Flasche stehen!“

„Nein, nein, wir bringen Sie nach Hause, Sie haben schon genug getrunken!“ entgegnete einer der Männer in Grün freundlich.

„Das ist aber schade!“ lallte Herr Meier Rainer an und deutete mit dem Kopf in die Richtung der Polizisten: „Der ist gar nicht nett zu mir!“

Da fragte ich die Polizisten: „Warum haben Sie ihn denn zu uns gebracht?“

Einer der beiden erklärte: „Na, weil er im Hirschen eine Schlägerei anfangen wollte! Da hat uns der Wirt gerufen.“ Also doch, dachte ich, dann passiert es jetzt hier! Wie verwunderlich, dass er so friedlich ist! Ich hielt mich im Hintergrund und fand es sehr beruhigend, dass zwei starke Polizisten im Raum standen.

Noch während das alkoholhaltige Blut durch die Kanüle in das Vakuumröhrchen floss, wollte Herr Meier wissen: „Herr Doktor, wie viele Promille hab ich denn jetzt?“ – „Das kann ich jetzt noch nicht sagen, das Blut muss ich zuerst ins Labor schicken!“, meinte Rainer ruhig. Oje, dachte ich, jetzt wird der Maier Hans bestimmt wütend, und dann geht es los! Aber nichts dergleichen geschah. Unser Patient blieb freundlich.

Inzwischen waren die Blutprobe abgenommen und das Versandröhrchen vorschriftsmäßig versorgt, beschriftet und eingetütet. Jetzt kamen die anderen vorgeschriebenen Tests dran. Rainer erklärte Herrn Meier ganz verständlich die Schreibprobe, den Gehtest auf der geraden Linie und den Drehtest. Und Herr Meier war so bereitwillig, alles mitzumachen, dass es für uns Zuschauer eine richtige Freude war. Er setzte bereitwillig und leicht zitternd den Satz „Ich bin heute im Krankhaus!“ auf die vorgesehene Linie des Gutachtenbogens, wahrscheinlich ohne zu ahnen, wie sehr diese unsichere und vom Alkohol entstellte Schrift ein Baustein im Urteil gegen ihn war, falls es tatsächlich zu einer Strafanzeige kommen sollte.

Dann bemühte er sich redlich, auf einem Strich gerade entlangzugehen, der in Wirklichkeit die Fuge des geplättelten Bodens war. Je intensiver er versuchte, sich auf die Linie zu konzentrieren, um so häufiger tappte er daneben. Und als Rainer Herrn Meier wie vorgeschrieben ein paarmal auf der Stelle um seine eigene Achse drehte, um anschließend seine Augenreflexe zu prüfen, begann dieser so zu schwanken, dass wir ihn halten mussten, sonst wäre er möglicherweise umgefallen. Aber das war für unseren Gast alles ein nettes Spiel, eine lustige Abwechslung, und er machte amüsiert mit.

Ich empfand dagegen die Ruhe vor dem befürchteten Sturm. Wann würde er losschlagen? Rainer gab ihm ja wirklich keinen Grund – meiner Meinung nach. Aber ich wusste, dass Betrunkene sehr unerwartet reagieren können.

Schließlich waren die Formalitäten erledigt, die Teste ausgefüllt, und wir wollten uns verabschieden und Herrn Meier auf möglichst unkomplizierte und freundliche Art wieder loswerden. Er bedankte sich rührselig bei Rainer: „Das haben Sie aber gut gemacht, Herr Doktor, das nächste Mal komme ich wieder zu Ihnen!“

„Lieber nicht!“ meinte Rainer leise und lächelte ihn an.

Also gaben wir Herrn Meier die Hand, wünschten ihm und den Polizisten eine gute Nacht und atmeten erleichtert auf. Dann hakten die Polizisten kameradschaftlich und stabilisierend rechts und links bei Herrn Meier ein und schlenderten zu dritt den breiten Klinikflur entlang.

Geschafft, dachte ich erleichtert und sah, wie Rainer sich die Schweißperlen von der blassen Stirn wischte. „Ui, das ist ja noch mal gut gegangen!“ sagte er und ließ langsam die Luft zwischen den Zähnen durchstreichen, sodass ein leises Pfeifen zu hören war. „Da haben wir aber Glück gehabt, der war ja ganz friedlich!“

In diesem Moment sah ich gerade noch im Augenwinkel, wie Herr Meier sich entschlossen aus der freundlichen Klammer der Polizisten befreite, sich ruckartig umdrehte und direkt auf uns zumarschierte. Noch fünf Meter trennten uns. Jetzt! schoss mir durch den Kopf, er kommt zurück! Es war mir klar, jetzt würde es geschehen, Rainer hatte es richtig vermutet! Er hatte mich gewarnt!

Mein Puls begann zu rasen, ich spürte, wie meine Muskulatur sich anspannte. Noch drei Meter! Ich sah, wie Rainer noch blasser wurde, der Schreck stand ihm im Gesicht. Die Schwester ging in Deckung. Die Polizisten hatten kehrtgemacht und gingen eingreifbereit hinter Herrn Meier auf uns zu. Noch zwei Meter! Da geschah es!

Herr Meier blieb stehen, zog umständlich sein braunes Jackett aus, streckte dem völlig verblüfften Rainer seinen Arm hin und lallte freundlich: „Bitte, Herr Doktor, nehmen Sie mir noch mal Blut ab! Das war sooooo schön!“

Herr Meier war sehr traurig, als wir ihm erklärten, dass das nicht nötig sei, und zog dann endlich mit seinen Begleitern ab.

Dieser Abend war mir eine Lehre, dass nicht alles so kommt, wie man es vermutet, und dass Vorurteile über Menschen trügerisch sein und unsere Wahrnehmungen in die falsche Richtung lenken können, besonders wenn man das Verhalten eines Menschen auf einen anderen projiziert. Unsere Wahrnehmungen verändern unsere Wahrnehmungen!

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Dies Geschichte habe ich in meinem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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Sonett für eine Sterbende

Das folgende Sonett schrieb ich für eine Freundin, als sie mit einem Glioblastom, dem bösartigsten Hirntumor, im Koma lag. Wir dachten, sie stirbt in dieser Nacht, aber sie wachte noch einmal auf, hatte noch eine gute Woche und durfte dann in Frieden sterben.

Du ruhtest, sanft umschwebt von zarten Klängen,
mit tiefen Lidern hin zum Licht gewandt,
das dich mit deiner Welt im hier und dort verband.
Wir fühlten dieses leise, freudevolle Drängen.

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Suite zum Neuen Jahr 2009

Fortissimo agitato
Schmettert die Trompeten, Trommeln sollen dröhnen,
rattert Knaller-Fackeln in den Glitzerhimmel.
Genießt, wie wir den Gaumen stets verwöhnen,
und singt ein fröhlich Lied im Mensch-Gewimmel!

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