Rezension: Kamradek, Die seltsamen Reisen des R.K.

Rezension

Rolf Kamradek, Die seltsamen Reisen des R.K.

Seemann Publishing, ISBN 9781540304065, 180 Seiten

Wenn einer eine Reise tut, kann er viel erzählen, aber wenn er so witzig und schriftstellerisch brillant plaudern kann wie Rolf Kamradek, dann sind Vergnügen und Verwunderung garantiert. Der nicht nur in Deutschland weit gereiste Arzt hat die große Welt gesehen und dort so herzerfrischende und skurille Begebenheiten erlebt, dass der Leser sich unwillkürlich fragt, ob das erfunden oder wirklich wahr ist.

Beruhigend sei gesagt: Alles was denkbar und möglich ist, geschieht, auch wenn es uns unmöglich erscheint. Das Leben ist schon immer ein besserer Erfinder gewesen als die beste Fantasie eines Romanautors. Und den schriftstellerischen Laien sei gesagt (natürlich ganz im Vertrauen – bitte nicht verraten!), dass die besten Romanciers ihre Ideen aus dem Alltag holen, weil sie genau das wissen.

Ich jedenfalls glaube jede Geschichte, die R.K. erzählt, und wenn er sie erfunden hat, dann … siehe oben…

Er fliegt nach Indien und taumelt von einer peinlichen Situation in die nächste – und wird plötzlich von Frau Nägele gerettet, die so ganz zufällig im selbst Flugzeug sitzt. Hier wird der Satz wahr: Zufälle fallen uns zu, wenn sie fällig sind. Diese resolute Dame mit dem breiten schwäbischen Akzent sollten Sie kennenlernen, dann lernen Sie, wie man mit Witz und Geistesgegenwart auch in fremder Umgebung seine Frau steht.

Die 35 anderen kurzen Geschichten führen uns (auch ohne Frau Nägele) einmal um den Globus: von Bolivien, Ungarn, Tschechien, Skandinavien, Mexiko, Apachenland, Patagonien, in die Türkei, nach Spanien, Italien und in Deutschland von Nord nach Süd.

Kamradek zeigt uns an verblüffenden und doch alltäglichen Szenen die Schwächen und Stärken unserer Mitmenschen, tragische und humorvolle Situationen, die einen ungewöhnlichen und meist guten Verlauf nehmen. Man hört und spürt es in jeder Zeile: Das ist ein erzählender Arzt, der seine Mitmenschen mag, der ihnen ins Herz schaut, auch wenn sie ihn gerade ärgern. Er kennt aus genauer Beobachtung und Einfühlung die Nöte und Rettungsmechanismen seiner Wegbegleiter oder Reisebekanntschaften.

Wenn Sie noch ein Buch mit großem Unterhaltungswert und solidem Inhalt zu Weihnachten, einem Fest oder Geburtstag oder einfach zur Erbauung und zum Schmunzeln für sich selbst suchen – hier ist es.

Copyright Dr. med. Dietrich Weller,

 

 

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Die emotionale Hürde

Mein Freund Ronald rief mich an:

„Du hast doch Erfahrung mit Patientenverfügungen. Ich brauche Deinen Rat.

Meine Mutter lebt in Kanada mit ihrem zweiten Mann. Vor ein paar Tagen ist sie in der Küche gefallen und hat sich eine Kopfplatzwunde zugezogen. Ihr Mann rief den Krankenwagen, man brachte sie in die Klinik, dort wurde die Wunde genäht. Dann haben sie meine Mutter wieder entlassen. Ein paar Stunden später stürzte sie noch einmal und verletzte sich wieder. Als sie jetzt in das Krankenhaus kam, hatte einer der Ärzte die Idee, ein Computertomogramm vom Schädel zu machen. Dabei stellten sie eine große Hirnblutung fest, und Mutter wurde stationär aufgenommen.

In den folgenden Stunden verschlechterte sich ihr Zustand rapide, und sie starb.

Mein Stiefvater war natürlich völlig entsetzt, er fuhr aber schließlich nach Hause. Am nächsten Morgen wollte er beim Bestattungsinstitut die Beerdigungsformalitäten regeln.

Der Bestatter sagte nach einem Blick in seinen Computer: ,Ihre Frau ist nicht als tot gemeldet. Sie lebt noch.`

,Nein, nein, sie ist tot! Ich war dabei, als sie starb!`

Der Bestatter blieb bei seiner Meinung: ,Sie würde hier auf meiner Liste stehen, wenn sie tot wäre. Bitte gehen Sie noch einmal zur Klinik, und vergewissern Sie sich!`

Mein völlig verunsicherter Stiefvater fuhr zur Klinik. Dort traf er auf die Kranken-schwester, die beim Sterben meiner Mutter anwesend gewesen war.

Sie erschrak beim Anblick meines Stiefvaters und berichtete stockend:

,Ich habe Ihre Frau nach ihrem Tod zugedeckt in den Raum für Verstorbene geschoben. Als ich eine Weile später kam, um sie zu waschen, hörte ich ein Röcheln unter der Decke. Ihre Frau war tief bewusstlos und atmete ganz flach. Ich schlug sofort Alarm, und wir brachten sie auf Station. Dort liegt sie jetzt.‘

Ein Arzt erklärte meinem Stiefvater, es sei ihm völlig unklar, wie es nach dem festgestellten Tod noch einmal zur Spontanatmung hatte kommen können. Dieser jetzige Zustand könne noch lange anhalten. Vielleicht sogar Wochen und Monate. Eine Hoffnung auf Heilung habe er nicht, die Hirnblutung sei viel zu ausgedehnt. Wenn Mutter überleben würde, dann nur schwerst hirngeschädigt.“

Ronald machte eine kurze Pause, dann fragte er: „Wie sollen wir uns verhalten, was soll ich meinem Stiefvater raten? Soll die Ernährung fortgeführt werden? Sollen Medikamente gegeben werden?“

„Zuerst will ich dir sagen, wie leid mir diese Situation tut. Das ist eine echte Schock- und Horrorgeschichte. Gibt es eine Patientenverfügung?“

„Ja, die gibt es, und meine Mutter hat ganz klar verfügt, dass sie in einem hoffnungslosen Krankheitszustand keine lebens- und leidensverlängernden Maßnahmen will.“

„Dann ist nach deutschem Recht die Situation ganz klar. Ernährung anzuordnen, zum Beispiel intravenös oder mit Magensonde, und Medikamente zu geben, sind ärztlich anzuordnende Leistungen. In dem vorliegenden Fall würden Ernährung und Medikamente das Leben und vielleicht sogar das Leiden verlängern. Die Ärzte dürfen also gar keine Ernährung und Medikamente geben, da dies gegen den erklärten Willen deiner Mutter geschieht.

Die entscheidenden Fragen bei jedem neuen Medikament oder jedem neuen Ernährungsbeutel sind:

  • Darf ich diesen nächsten Beutel, dieses nächste Medikament geben?
  • Nützt es dem Patienten?
  • Würde der Patient das jetzt wollen?

Es geht nicht darum, ob das Medikament oder die Ernährung objektiv wirkt, sondern ob sie subjektiv nützen, und über den Nutzen entscheidet allein der Patient.

Nach deutschem Recht sind Ernährung und Medikamentengabe gegen den erklärten Willen des Patienten vorsätzliche Körperverletzung nach §223 StGb. Ich vermute, das ist nach kanadischem Recht auch so. Aber das kann man ja fragen.“

Ronald sagte erleichtert: „Diese Antwort habe ich erwartet. Danke, dass du das so klar formulierst. Was soll ich tun?“

„Schlage deinem Stiefvater vor, mit der Patientenverfügung zu den behandelnden Ärzten zu gehen und sie auf die Vorschriften deiner Mutter zur Therapie in dieser Lebensphase aufmerksam machen. Er sollte sie bitten, die Ernährung und die Gabe von Medikamenten einzustellen. Wichtig ist eine sorgfältige palliative Versorgung, die für Beschwerdefreiheit sorgt. Dann wird sie in den nächsten Tagen, vielleicht sogar innerhalb eines Tages sterben. Das ist meiner Meinung nach das Gnädigste, was Ihr für sie noch tun könnt. Sie hat es so verfügt, deshalb müsst Ihr es so machen.

Das Therapieziel ist nicht mehr, die Frau am Leben zu halten und zu heilen, sondern es hat sich durch die sehr schlechte Prognose verändert. Jetzt besteht das Therapieziel darin, der Patientin zu helfen, damit sie möglichst beschwerdefrei sterben kann.“

Wir wechselten noch herzliche Worte, und ich bat Ronald, mich über den weiteren Verlauf zu informieren. – Ein paar Tage später rief er mich wieder an:

„Mein Stiefvater ging in die Klinik und wollte mit den Ärzten sprechen. Er war sich völlig klar darüber, dass es seine Aufgabe war, jetzt den vor Jahren gemeinsam verfassten Beschluss umzusetzen und die Ärzte um eine Beendigung die Therapie zu bitten. Aber er brachte es nicht über´s Herz, den Ärzten diese Entscheidung zu vermitteln. Denn er sah plötzlich den Konflikt, dass er dann entscheiden müsste, dass JETZT die Flüssigkeitszufuhr abgestellt wird. Er hatte das Gefühl, damit den Todeszeitpunkt durch Verhungern zu bestimmen. Und dies, obwohl er wusste, dass der natürliche Verlauf diesen Zeitpunkt bestimmen würde.

Also verließ er die Klinik, ohne den Ärzten den Beschluss in der Patientenverfügung mitzuteilen. Er sagte zu mir: ,Lass mich noch ein paar Tage warten. Ich hoffe, dass die Natur einen gnädigen Abschluss findet.`“

Die Mutter starb einen Tag später bei laufenden Infusionen.

PS: Ronald hat mir ausdrücklich erlaubt, diese Geschichte zu veröffentlichen.

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Schwäbische Weisheit

Der alte Herr kam schwer atmend und langsam in der Notfallpraxis auf mich zu.Die Sauerstoffstöpsel steckten in der Nase, die Sauerstoffflasche stand im Rollator. Der typische Patient mit einer chronischen Lungenerkrankung.

Ich ging ihm zwei Schritte entgegen: „Oh, Sie kriegen aber schlecht Luft! Kommen Sie deshalb?“

„Nein, Doktor, das hab ich schon zehn Jahre! Des isch harmlos!“, begrüßte er mich mit einem verschmitzten Lächeln.

„Warum kommen Sie dann?“

„Wisset se, Doktor, ich han da was am Fuß! Des muss i ihne zaiga!“

„Dann lassen Sie mal sehen!“

Der Patient zog das Hosenbein hoch und deutete auf seine Wade: „Doktor, was isch des?“

Nach einer kurzen Inspektion des Unterschenkels, der ja zum schwäbischen „Fuß“ gehört, sagte ich: „Das ist ein mini-kleiner Insektenstich.“

„Doktor, was macha mer da?“, fragte er interessiert.

„Jetzt gibt´s zwei Möglichkeiten. Entweder wir machen gar nichts, dann heilt´s auch so. Oder ich mach eine Salbe mit Pflaster drauf. Was möchten Sie?“

Der Patient sofort mit einem Lächeln: „Doktor, dann machet se a Pfläschderle mit ama Sälble drauf. Mer kann net gnuag hoim brenga!“

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Rezension: Karin Sorger: Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit

Karin Sorger, Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit. – Helios-Verlag

ISBN 978-3-869 33-151-5

Das Buch trägt zwei Untertitel: Das Geheimnis der Freiheit aber ist der Mut. Und Der lange Weg von Ost nach West. Damit sind schon die Lebenserkenntnis der Autorin und das Wesen des Inhalts erfasst.

Als adoptiertes Kind in der ehemaligen DDR aufgewachsen, nach Abitur mit Auszeichnung,  und Eintritt des Stiefvaters in die Produktionsgenossenschaft des Handwerks plötzlich „als Arbeiterkind“ privilegiert für ein Staatsstipendium, erlebt die Autorin nach einem Medizin-Staatsexamen mit „sehr gut“ den Alltag als Ärztin zuerst auf dem Land, dann an der Universität Leipzig, wo sie Fachärztin für Pathologie wird. Nach der Scheidung vom Ehemann lebt sie mit ihrer Tochter allein, wird 1977 bei der Vorbereitung zur Flucht in den Westen verhaftet und zu 18 Monaten Zuchthaus in dem berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck verurteilt. Die Tochter bleibt beim Vater. Als Karin Sorger vom Westen aus der Haft freigekauft wird und die Tochter in den Westen holen darf, kann sie an der Universität Mainz ihre Habilitation abschließen, wird zur Professorin ernannt und arbeitet bis zur Pensionierung als Chefärztin für Pathologie in Göppingen im Klinikum Am Eichert.

Oberflächlich betrachtet ist das Buch wegen seines flüssigen Stils und seiner unkomplizierten Sprache leicht zu lesen. Die erzählte Geschichte allerdings birgt hohe Dramatik. Karin Sorger gelingt es faszinierend, die Spannung und die Emotionen eben nicht in Worten auszudrücken. Sondern sie springen den Leser zwischen den Zeilen an und produzieren durch die plastisch geschilderten Szenen und knappen Wortwechsel im Kopfkino des Lesers einen Film, der mit allen Gefühlen spielt, zu denen wir fähig sind. Nein – nicht mit allen! Karin Sorger schildert keinen Hass! Das Buch ist voll Liebe und Lebensweisheit, die sie von ihren Adoptiveltern und besonders nach dem frühen Tod der Mutter von ihrem Vater erlebt. Wir spüren als Zuschauer lebenslange Freundschaften, liebevolle Sorge der alleinerziehenden Mutter um die Tochter, Verzweiflung der Inhaftierten, planvolle Menschenverachtung des Regimes und wohltuende Menschlichkeit bei DDR-Bürgern. Die Freude nach der Übersiedelung in den Westen, den Aufbau der sozialen und beruflichen Kontakte und den Genuss der Freiheit empfinden wir mit Karin Sorger.

Dieses Buch ist nicht nur wegen der authentisch geschilderten Lebensgeschichte zwischen DDR und BRD als Zeitzeugnis lesenswert. Für mich ist es das Dokument einer starken Persönlichkeit, die an den Widerständen und Widrigkeiten des Lebens gewachsen ist und im Rückblick die Achterbahn der Gefühle und Ereignisse aufarbeitet. Daraus können wir viel lernen, vor allem Mut und das Vertrauen in die eigene Kraft.

Und es zeigt den Unterschied zwischen Mediziner und Arzt. Ein Mediziner behandelt einen Krebs. Ein Arzt behandelt einen Menschen, der an Krebs leidet. Karin Sorger hat ihr Berufs- und Privatleben als Ärztin gelebt.

Ich empfehle dieses Buch voller Hochachtung.

Rezenmsion. med. Dietrich Weller, Präsident Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte

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Sorgen

Im Wald
trafen wir eine junge Frau,
das Neugeborene im Tragesack vor der Brust,
den Säugling im Kinderwagen,
den Fünfjährigen neben sich.

Sie fragte freundlich:
„Haben Sie unseren kleinen Hund gesehen?“

„Nein, leider nicht.“

Sie zeigte ein Bild auf ihrem Handy:
„So sieht er aus!“

„Er hat sich gestern Abend
mit Leine hier losgerissen
und ist im Wald verschwunden.

Wir sind auf Urlaub hier
und müssen morgen wieder heimfahren.
Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer,
falls Sie ihn finden.“

Ich sah die traurigen Augen
des schweigenden Jungen.

Wie erklären die Eltern dem Kind,
dass sie nach Hause fahren,
auch ohne den Hund?

23.08.2016

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Schlaflos in Leonberg

Die in der DRK-Leitstelle ankommenden Anrufe der Patienten werden an den Dienst habenden Rettungsassistenten in der Notfallpraxis weitergeleitet.

Gestern erzählte eine Rettungsassistentin mir folgendes Telefonat von der vergangenen Nacht.

Mitten in der Nacht meldet sich eine männliche Stimme, sie wirkt unsicher.

„Ich bin 83, und ich kann nicht schlafen. Kann mal jemand vorbeikommen und mir eine Schlaftablette bringen?“

Die Rettungsassistentin sagt freundlich:

„Da brauchen Sie mich nicht, Sie können ja ohne Rezept in der Apotheke Schlaftabletten kaufen!“

Nach kurzer Überlegung fügt sie hinzu:

„Warum können Sie denn nicht schlafen?“

„Wissen Sie, ich bin Lehrer gewesen, und ich muss Fragen, die mir in den Sinn kommen, einfach klären. Sonst kann ich nicht schlafen. Und da bin ich vorhin aufgewacht und dachte immer wieder an die SWR-Landesschau, die ich abends regelmäßig anschaue. Mir fällt jetzt aber der Name des Moderators nicht mehr ein. Ich grüble ständig darüber nach. Deshalb kann ich nicht schlafen. Ich habe sogar schon überlegt, beim SWR anzurufen, aber ich habe doch nur das Örtliche Telefonbuch, und damit komme ich nicht weiter.“

Die Rettungsassistentin tippte rasch am PC „SWR-Fernsehen“ ein, suchte die Moderatoren und las deren Namen langsam dem Anrufer vor – bis zu der Frage:

„Meinen Sie vielleicht Michael Matting?“

Erleichtert kam die Antwort:

„Ja, genau den meinte ich! Danke, jetzt kann ich schlafen. Sie müssen mir keine Schlaftablette mehr bringen!“

 

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Das Rosmarinsüppchen

„Hallo Schatzi!“

Ich hasse diese einschmeichelnde Begrüßung! Schließlich hört man als erfahrene Frau die Lüge bei einem Mann schon, bevor er sie ausgesprochen hat. Ich musste nur noch genau hinhören oder hinschauen, um die Details zu erfahren. Henner hatte mich so oft an der Nase herumgeführt, und er machte sich geradezu einen Sport daraus, mich zu ärgern. Ich dumme Kuh habe ihm immer wieder verziehen. Mal habe ich aus falsch verstandener Liebe einfach den Mund gehalten und die Kränkungen geschluckt, mal habe ich mir die Tränen theatralisch über das Make-up laufen lassen und verschmiert, um ihm zu zeigen, wie sehr er mich verletzt. Auch wenn ich ihm Szenen gemacht habe mit Geschrei und zerschmettertem Geschirr, hat ihn das nicht wirklich und schon gar nicht lange beeindruckt.

Jetzt war es mal wieder so weit.

„Hallo Schatzi! Das war ein anstrengender Tag!“

Ich schaute ihn an: „Wie siehst denn du aus?“

Sie müssen sich das mal vorstellen: Wie im Kitschfilm. Die Krawatte auf Halbmast, die oberen beiden Hemdköpfe offen, die Goldhalskette über seinem gewellten dunkelbraunen Brusthaar, den Kopf zerzaust, das Jackett zerknittert, die Bügelfalten platt. Und das Gesicht wie nach einer durchwachten Nacht, ungewaschen, unrasiert, die Falten noch tiefer als sonst. Und die waren nicht nur vom Arbeiten so tief, ganz sicher nicht.

Seit ich zufällig neulich seine neue Sekretärin gesehen habe, ist mir klar, warum er so oft abends und bis spät in die Nacht dringende Besprechungen machen muss.

Ich sah sie auf dem Büroflur auf sein Zimmer zugehen. Das blonde Haar floss über die schlanke und offene Rückenpartie des Kleides. Das hautenge Kleid betonte den wackelnden Hintern dieses Schoßhühnchens in geradezu obszöner Weise. Die hohen Stöckelabsätze waren eine orthopädische Katastrophe und ihr Klackern auf dem Steinboden eine Zumutung für jedes Ohr. Wie Pistolenschüsse knallten sie über den Gang. Das hört man bei meinen Birkenstock-Schuhen nicht. Und als sie sich umdrehte, dieses Möchte-gern-Playboy-Häschen, konnte ich sofort sehen, wo der Plastische Chirurg sein Geld verdient hat. Die mit Botox aufgedunsenen Lippen waren kurz vor dem Platzen, und die silikongefüllten Brüste drohten das eng anliegende Blüschen zu sprengen. Nicht einmal einen BH trug diese Büropuppe. Bei Heidi Klum wäre sie nicht als Model angekommen, aber mein Mann hat sie sofort eingestellt. Wofür eigentlich? Diese an allen Rundungen aufgeblasene Frau passte genau in sein Beuteschema. Sie erfüllte ganz sicher Henners Wünsche, aber bestimmt nicht bei der Arbeit.

Es hat mich gar nicht gewundert, dass ich schon ein paar Tage später ganz zufällig blonde Haare auf Henners Hemd fand, und ich entdeckte, dass er in seinem Aktenkoffer eine zusätzliche Flasche seines Parfums mitnahm und abends frisch beduftet heim kam. Aber mich kann er nicht täuschen. Er stank nach einer schwülen Mischung aus Frauenparfüm und seinem Rasierwasser. Das war richtig ekelig!

Früher wäre ich ausgeflippt vor Wut und hätte sein Büro zuhause demoliert. Aber ich habe mir geschworen, meine Kräfte zu sparen für den entscheidenden Tag. Ja, Sie hören richtig, ent-scheidend. Das hat etwas mit Scheidung zu tun. Aber nicht wie Sie denken – mit Rechtsanwalt und Gericht, nein, nein. Da muss mir schon etwas Besseres einfallen.

Heute war das Fass voll. Ich meine das Fass meines Zorns. Und wissen Sie warum? Als Henner ins Bad ging und die Kleider auf das Bett geworfen hatte, fielen mir sogar ohne Suchen sofort schwarze kurze Haare an seinem Hemd auf. Und der Lippenstiftfleck auf dem Kragen war nicht zu übersehen. Henner hatte seine Jacke so achtlos hingeworfen, dass das Bild einer jungen Schwarzhaarigen heraus gefallen war. So was von billig! Wollte er mich provozieren? War er wirklich so blöd, solch ein Bild in der Jackentasche zu lassen? Oder hatte die kleine schwarze Hexe ihm das Bild zur Erinnerung in die Tasche gesteckt, ohne dass er es gemerkt hat? Egal: Jetzt betrog er seine Sekretärin und mich mit einer neuen Frau!  Das war entschieden zu viel.

„Schatzi, machst Du mir was zum Essen?“, tönte es aus dem Badezimmer unter der Dusche hervor.

„Aber ja,“, rief ich zurück, „ich mache dir dein Lieblingssüppchen!“

Ich ging in den Garten und sah mit der Terrassenbeleuchtung noch gut genug, um rasch die Zutaten zusammenzusammeln. Erst pflückte ich frische Rosmarinnadeln, dann von der großen Taxushecke frische Eibennadeln. Das reichte für ein wirkungsvolles Abendessen. Den Rest hatte ich in der Küche.

Rosmarin mag Henner besonders gern. Den kräftigen Duft der ätherischen Öle möchte er in der Suppe schmecken. In unserer Verliebtheitsphase verwendete ich extra Kölnisch Wasser, weil dort viel Rosmarin enthalten ist, und Henner konnte nicht genug kriegen, an mir zu schnuppern. Die Eiben kannte er nicht. Er war ein Gartenmuffel.

Also schnitt ich je eine Handvoll Rosmarin- und Eibennadeln ganz fein, bis sie fast pulverig waren, erwärmte sie in der Pfanne, aber nur ganz leicht und mit einem großen Stück Butter dazu, damit die Wirkstoffe auch wirken können! Dann vermischte ich sie mit Sahne und Gemüsebrühe zu einer cremigen Suppe. Das wird ein besonderes Essen, dachte ich und stellte das gute Porzellan auf den Tisch und eine Vase mit frischen Blumen aus dem Garten. Für Festtage ist mein bestes Geschirr gerade gut genug.

„Willst du nicht mitessen?“, fragte Henner, als er sah, dass ich nur ein Gedeck gerichtet hatte.

„Nein, ich habe schon gegessen! Lass es dir schmecken!“

Ich muss gestehen, ich genoss es, wie er seine Suppe löffelte und meine Kochkünste lobte.

„Das schmeckt heute ganz besonders lecker! So anders als sonst!“

„Ja, ich habe es besonders gewürzt!“, sagte ich nicht ohne ein gewisses Maß an Freude über mein gelungenes Werk. Ich beobachtete mit Genugtuung, dass Henner mit großem Appetit alles aufaß – drei Teller Suppe.

Wir unterhielten uns nicht. Er war ja so müde – von seiner Beschäftigung im Büro oder wo auch immer. Dafür muss man als Ehefrau schließlich Verständnis haben. Als Henner sein Süppchen gegessen hatte, trank er einen Whisky und griff immer wieder an seinen Bauch.

„Komisch“, sagte er, „das rumort so, aber vielleicht habe ich mir im Büro was eingefangen, da klagen alle über Durchfall.“

„Ja, das wird es sein“, meinte ich ruhig und sehr zufrieden.

Plötzlich rannte er los Richtung Toilette. Nachdem er sich dort erleichtert hatte, wollte er nur noch ins Bett.

„Ich fühle mich so schwach, ich brauche noch einen Whisky!“

„Den bringe ich dir gern!“

Man soll letzte Wünsche nicht abschlagen!

Nach einer Weile meinte Henner: „Mir wird so komisch, mein Herz schlägt so unregelmäßig.“

„Ja, ja, das kann sein, bei dem Magen-Darm-Infekt. Bald hört´s auf!“

Ich konnte mich einer gewissen Schadenfreude über meine Doppeldeutigkeit nicht ent-ziehen.

Henner schlief rasch ein, unruhig zwar, und einmal erbrach er im Bett. Aber das nahm ich ihm nicht übel und machte das Bett sauber, soweit das bei dem inzwischen bewusstlosen Mann möglich war. Ich setzte mich neben ihn, fühlte immer wieder seinen Puls und spürte genussvoll, dass er immer langsamer wurde.

Tatsächlich hörte es nach einer Weile auf. Das Herz meine ich.

Es ist schon wichtig, im richtigen Moment die richtige Suppe richtig zu würzen.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

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Wichtige Einladung zu einem Benefizkonzert

Das Olgahospital Stuttgart veranstaltet jedes Jahr ein vielseitiges Benefizkonzert mit Mitgliedern der John-Cranko-Ballettschule, Zauberkünstlern und einem hoch qualifizierten Unterhaltungsprogramm, um den kranken Kindern und den betroffenen Familien  zu helfen.

Der Erlös geht an das sozialmedizinische Nachsorgeprojekt „Olgäle sorgt nach“.

Bitte besuchen Sie mit Freunden und Ihrer Familie dieses ungewöhnliche

Konzert am 09.07.2016 um 19.30 h im Beethovensaal der Liederhalle Stuttgart!

Bitte unterstützen Sie die Behandlung der Patienten.

Hier ist die Einladung mit Programm und Verbindung zum Kartenbüro:

Dance Music5

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Erkenntnisgewinn durch Erfahrung:

Mein Enkel Jonathan hatte neulich 2. Geburtstag. Sein Papa machte sich an der großen Kaffeemaschine, die auch einen Milchtank besitzt, einen Cappuccino. Jonathan saß daneben auf dem Küchentisch und beobachtet den Papa. Da entwickelte sich dieser Wortwechsel:

Möchtest du auch etwas trinken?
Ja!
Möchtest du Milch trinken?
Ja!
Weiß du, woher die Milch kommt?
Ja!
Woher kommt die Milch?
Von Mama!

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Werte mit unterschiedlicher Wertung

Anstatt eine theoretische philosophische Abhandlung zu diesem wichtigen Thema zu schreiben, will ich an einigen knapp skizzierten Beispielen aus meinem Alltag zeigen, wie unterschiedlich Werte erlebt und geäußert werden.

Der Patient in der Notfallpraxis sagt: „Gestern habe ich mir den Zeigefinger in der Tür geprellt. Da bin ich heute Nacht wegen der Schmerzen durch die Hölle gegangen.“

Die fünfundzwanzigjährige Frau fährt im Elektrorollstuhl in das Behandlungszimmer. Ich frage, warum sie im Rollstuhl sitzt. Sie antwortet lachend: „Ich habe eine angeborene Zerebralparese und kann seit ein paar Monaten nicht einmal mehr stehen. Außerdem habe ich regelmäßig epileptische Anfälle. Jetzt komme ich wegen meiner fieberhaften Grippe. Aber mir geht´s gut.“

Der dreijährige bis jetzt gesunde Junge sagt zu seiner Mutter: „Jetzt ist alles dunkel. Warum hast Du das Licht ausgemacht? Mach es doch wieder an!“ – Der Junge war plötzlich auf beiden Augen blind geworden. Wenige Stunden später sahen die Ärzte im Schädel-Computertomogramm Metastasen im Kleinhirn und an der Kreuzung der Sehnerven.

Eine Frau mit metastasierendem Bronchialkarzinom im Endstadium, die im Pflegeheim liegt, sagt zu mir: „Wenn Sie mich noch einmal besuchen wollen, müssen Sie es bald tun. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Das schönste Erlebnis heute war, als die Schwester mir ein Glas warme Milch gebracht hat. Die Liebe, die ich hier empfange, ist ein großes Geschenk, für das ich unendlich dankbar bin.“

Als Arzt in der Neurologischen Reha-Klinik nahm ich einen Patienten nach Schlaganfall auf meiner Station auf. Nach dem ausführlichen Gespräch mit Untersuchung fragte die Ehefrau: „Was kann ich noch für meinen Mann tun?“- Ich legte mein Buch „Wenn das Licht naht – der würdige Umgang mit schwer kranken, sterbenden und genesenden Menschen“ auf den Tisch. Sie war verblüfft und lachte mich an. „Oh, Sie haben das geschrieben! –Dieses Buch hat mich auf der Intensivstation in München in den letzten Wochen am Bett meines Mannes am Leben gehalten. Eine Schwester hat es mir ausgeliehen.“

Die zwanzigjährige Frau ägyptischer Abstammung sagt in der Sprechsunde: „Gottseidank bin ich nicht schwanger. Wenn mein Vater wüsste, dass ich einen Freund habe und mit ihm schlafe, würde er zuerst meinen Freund und dann mich umbringen.“

Bei einem Hausbesuch in einer sehr wertvoll eingerichteten Villa werde ich in das ehemalige Arbeitszimmer des Hausherrn geführt. Jetzt ist es sein Schlafzimmer – mit Blick in den wunderbar gepflegten Garten. Der Mann liegt seit zwei Jahren nach Schlaganfall im Wachkoma und atmet spontan durch eine Kanüle in der Luftröhre, seine Augen sind geschlossen. Er reagiert nicht auf Ansprache. Seine Frau sagt: „Jeder Tag, den ich ihn hier pflegen darf, ist ein Geschenk für mich, für das ich jeden Tag dankbar bin. Und trotzdem hoffe ich, dass er bald friedlich einschlafen darf. Jeden Tag begrüße ich meinen Mann – und nehme ein bisschen Abschied.“

In der Praxis habe ich eine Woche lang einen ägyptischen Mann behandelt, der seine in Leonberg verheiratete Tochter besuchte, nicht viel Geld hatte und schon die überstürzte Heimreise plante. Ich habe ihn dann kostenlos behandelt. Bei seinem letzten Besuch in der Praxis kniete seine Frau beim Abschied vor mir nieder, nahm mein beiden Hände und sagte etwas, was die Tochter übersetzte: „Ich bitte Gott, dass er mir zehn Lebensjahre nimmt und sie Ihnen schenkt.“

Eine Frau mittleren Alters kam nach langem Krankenhausaufenthalt in die Sprechstunde, legte einen langen Arztbrief auf den Tisch und fragte, ob ich sie als neue Patientin annehme. Ich überflog den Brief und sah eine lebensbedrohliche Diagnose mit einigen Komplikationen und zwei Reanimationen. Ich sage anerkennend: „Da haben Sie aber viel durchgemacht. Und die Ärzte haben Ihnen wirklich geholfen.“ – Die Frau antwortete wütend: „Das ist ein Scheiß-Krankenhaus!“ – „Wieso das denn?“ – „Da hat doch tatsächlich die Schwester an einem Morgen vergessen, mir einen Löffel zum Joghurt zu bringen!“

Die Frau im Endstadium einer bösartigen Erkrankung wird von einem mir bekannten Hausarzt gefragt: „Was ist Ihnen denn noch wichtig? Gibt es etwas, was Sie unbedingt noch erleben wollen?“ – Die Frau sagt nach einiger Überlegung: „Der Haushalt muss aufgeräumt sein!“

Mein Freund Nabil stammt aus Syrien. Nach dem Medizinstudium kam er mit seiner jungen Frau nach Deutschland und wurde Internist und Radiologe. Er hatte seit 1984 über viele Jahre seine Praxis im Haus neben meiner Praxis. Jetzt ist er wie ich Rentner und arbeitet auch in der Notfallpraxis weiter und leitet noch das Nuklearmedizinische Zentrum im Krankenhaus Sindelfingen. Häufig wird er als Übersetzer gebraucht, wenn Flüchtlinge aus den arabischen Ländern behandelt werden sollen. Nabil hat mir die beiden folgenden Geschichten erzählt.

Ein 24-jähriger schlanker und gut aussehender Mann kommt mit nachhängendem rechtem Bein, spastischer Arm- und Handlähmung rechts und Sprachstörung in die Klinik. Nach der Ursache seiner Lähmung gefragt berichtet er, ein ungarischer Grenzsoldat habe ihn bei der Flucht mit einem Elektroschockgerät mehrfach heftig auf die linke Schädelseite geschlagen, dann habe es im Kopf geblutet. – Nabil fragt nach: „Wäre es nicht besser gewesen, wenn Sie in Syrien geblieben wären?“ – „Nein, ganz sicher nicht, die Regierungstruppen und die Rebellentruppen wollten mich zum Wehrdienst einziehen. Ich wollte nicht kämpfen. Wenn ich geblieben wäre, hätten sie mich erschossen. Es ist alles gut. Ich bin hier und lebe!“

Nabil machte von der Notfallpraxis aus einen Hausbesuch in einer Flüchtlingsunterkunft in Leonberg und traf dort eine junge Familie aus Syrien. Der Ehemann berichtete: „Wir wurden täglich mit Bomben beschossen, in unserer Straße stand kein Haus mehr. Wir hatten nichts mehr, wir konnten nichts anders tun, als zu Fuß zur türkischen Grenze zu wandern. Meine Frau war im neunten Monat schwanger, unser eineinhalbjähriger Sohn war bei uns. In der Türkei wurde unser zweites Kind im Lager geboren, es ist jetzt vier Wochen alt. Aber wir sind hier, und wir sind gesund und dankbar.“

Neulich machte ich mitten in der Nacht von der Notfallpraxis aus einen Hausbesuch in Weissach in der alten Sporthalle, die als Flüchtlingsunterkunft umgebaut war. (Weissach ist die Gemeinde im Kreis Böblingen, in der Porsche sein Entwicklungszentrum hat.) Nachdem ich den Patienten untersucht hatte, sagte die Angestellte vom Sicherheitsdienst: „Jetzt können Sie auch gleich noch mit dem Bürgermeister sprechen.“ – Ich war verblüfft: „Jetzt morgens um 2 Uhr ist der Bürgermeister hier?“ – Tatsächlich stand vor der Halle eine Gruppe junger Männer und unterhielt sich lebhaft. Ich stellte mich vor, und einer der Männer reichte mir die Hand: „Ich bin Daniel Töpfer, der Bürgermeister.“ – Ich lachte ihn an: „Das ist ja ungewöhnlich, nachts um die Zeit den Bürgermeister bei Flüchtlingen zu treffen? Was machen Sie hier?“ –  Er lachte zurück: „Wir haben vier Partien Schach gespielt!“ – Da mischte sich einer der Flüchtlinge mit gutem Englisch ein und erzählte begeistert, dass sie oft Schach miteinander spielen und das sei großartig, „but Daniel always wins, he is a champion!“ –
In welcher Stadt in Deutschland nimmt sich ein Bürgermeister Zeit, um mitten in der Nacht vier Partien Schach mit Flüchtlingen zu spielen? –
Meine Hochachtung, Herr Töpfer, für ihre meisterliche Bürger-Nähe!

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