Ulrike Blatter: Vor dem Erben kommt das Sterben.- Rezension

Rezension

Ulrike Blatter, Vor dem Erben kommt das Sterben

Neobooks.com, 2016, E-Book, erhältlich z.B. bei Amazon

Dr. med. Ulrike Blatter ist Rechtsmedizinerin, die ihr berufliches Wissen und ihre schriftstellerische Leidenschaft in den letzten Jahren so verbunden hat, dass sie jetzt in ihrem vierten Krimi einen Mord schildert, der keine Spuren hinterlässt und so ausgeführt wird, dass der Tod nicht als Mord nachgewiesen und der Täter nicht gefunden werden kann. Das ist der perfekte Mord. Ein hoher Anspruch!

Aber da ist noch viel mehr in diesem Buch, warum ich es lesenswert finde.

Ulrike Blatter war als Kölnerin tief betroffen von dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs am 3. März 2009, bei dem kostbarste Archivalien auf 30 km Regalböden von Schutt begraben wurden. Sie hat diese Kulturkatastrophe, bei der auch zwei Menschen starben, als Anlass genommen, darum herum einen fantasievollen und realistischen Krimi zu schreiben. Fantasievoll und realistisch – das ist kein Widerspruch in sich. Nichts ist so fantasievoll wie die Realität.

Fantasievoll ist der Krimi, weil er esoterische Ansichten wie Rückführung und Reinkarnation als Tatsachen in die Handlung einbindet. Der Leser wird immer wieder von Cleo, einer sprechenden Katze, durch die Handlung geführt, und er muss die einzelnen Handlungsteile, die scheinbar willkürlich zusammengewürfelt aneinander gereiht sind, sorgfältig zu einer chronologischen Folge zusammensetzen. Dies gelingt aber gut anhand der vorgegeben Daten.

Realistisch ist das Buch, weil Ulrike Blatter mit kriminalistischer Akribie die Geschichte Kölns und viele unbekannte und ungewöhnliche Details aufdeckt. Die sozialen Folgen der Umstrukturierung des Veedels (ein Stadteil von Köln) und des skandalumtobten U-Bahnbaus werden beschrieben, und der Nicht-Kölner lernt das Kölsche Grundgesetz mit seinen elf Paragrafen kennen. Für Köln-Liebhaber ist dieses Buch eine Fundgrube zur Stadtgeschichte.

Und worum geht es in diesem Krimi? Blanche, die in ihrer Jugend Lara hieß und sich bei einem langjährigen Aufenthalt in der Schweiz einen anderen Namen gegeben hat, kommt in ihre Geburtsstadt Köln zurück. Sie braucht dringend Geld und entwickelt sich zur gewissenlosen Wahrsagerin, die mit Hokuspokus und eiskaltem Kalkül die reiche Witwe Sibylle schröpfen und beerben will. Um Rückführungen in Hypnose in frühere Epochen zu begründen, in denen Sibylle ihren geliebten Mann wieder trifft, erforscht Blanche historische Einzelheiten aus der Stadtgeschichte.

In einem der ersten Kapitel findet der Leser Blanche plötzlich tot in der Badewanne liegen. Daneben sitzen Cleo und Sie. Richtig gelesen: Das Sie muss großgeschrieben werden, Sie taucht immer wieder auf und spricht mit der Katze. – Wer ist Sie? – Es lohnt sich, das spannende Buch zu lesen, schon allein, um zu erfahren, wer Sie ist und wie man einen perfekten Mord begehen kann. So viel sei verraten: Blanches Tod ist nicht der perfekte Mord. Da war noch etwas anderes.

Die schnörkellose Sprache, der Witz in der Handlung, die typisch kölschen Sprüche und der Kölner Klüngel sind eine Unterhaltung der besonderen Art. Die bildhaft geschilderten Charaktere und die tatsächlich geschehenen Ereignisse sind kunstvoll ineinander verwoben. Wer es ganz genau wissen will, wo die Grenze zwischen Historie und Dichtung läuft, findet im Anhang sogar die Quellen für die Zitate und die Einzelheiten der Konstruktion.

Ulrike Blatter hat mit diesem Buch ihrer Heimatstadt eine kriminalistische Liebeserklärung gemacht und ein Spendenkonto zur Erhaltung der Archivalien in dem eingestürzten Stadtarchiv eingerichtet.

Wer mehr über Ulrike Blatter und ihre Arbeit wissen will, ist auf www.ulrike-blatter.de willkommen.

Hier ist der Buchtrailer.

Dr. med. Dietrich Weller, 15.02.20116

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Der Rausschmiss

Spät abends Hausbesuch in einem Mehrfamilienhaus.
„Ja?“, krächzt eine junge Frauenstimme durch die Sprechanlage.
„Hier ist Dr. Weller von der Notfallpraxis!“, sage ich.
„Wir brauchen Sie nicht mehr, es hat sich schon erledigt!“ Die Stimme klingt fest.
„Moment mal, wir sind doch extra gerufen worden! Was ist denn los?“
Ich höre im Hintergrund Stimmen, dann: „Ja, gut, dann kommen Sie mal hoch!“
Matthias, Rettungsassistent und mein Fahrer, mit dem ich schon viele Dienste gemacht habe, schüttelt den Kopf: „Was ist das denn?“
Wir fahren mit dem Aufzug in den 3. Stock, die Wohnungstür ist einen Spalt weit geöffnet. Wir sehen den blonden Wuschelkopf einer jungen Frau, darunter einen Pulli, der nur den Hals umschlingt. Zum Anziehen hat es wohl nicht mehr gereicht. Das große Dekolleté über dem knappen BH ist frei. Aber sie hat wenigstens eine lange Hose an. Ich stelle mich und Matthias vor.
Die Frau blickt auf Matthias: „Aber der kommt nicht rein! Nur Sie!“
Meine Antwort kommt schnell und sicher:
„Wir sind ein Team. Entweder wir kommen beide rein oder wir gehen wieder!“
„Also gut.“, sagt sie und gibt die Tür frei. Dahinter steht ein Mann, grußlos, wortlos, angezogen. Ihr Vater, stellt sich später heraus.
Wir betreten den Wohnraum, in dem neben dem Esstisch ein zerwühltes Bett steht. Ich sehe die offene Schlafzimmertür und dort im Bett eine Frau so um die fünfzig im Nachthemd sitzen, wohl meine Patientin, vermute ich. Zielsicher gehe ich auf die Tür zu, da stellt sich die Tochter in den Weg.
„Nein, Sie dürfen da nicht rein.“
„Wie soll ich denn Ihre Mutter untersuchen? Sie haben uns doch gerufen für sie, oder nicht?“
„Na gut, dann gehen Sie rein, aber nur Sie! Er bleibt draußen!“
Sie deutet auf Matthias.
Im Schlafzimmer begrüße ich die Patientin und stelle mich vor.
Mein erster Eindruck: Diese Frau ist nicht krank. Was soll ich hier?
Währenddessen steht die Tochter bewachend an der Tür. Matthias hat keine Chance. Auch die Mutter redet dauernd im Befehlston russisch mit der Tochter. Ich verstehe kein Wort, aber mir ist klar: Hier brennt die Luft.
Der Mann steht im Eck, beobachtet uns und sagt nichts.
Ich bleibe ruhig: „Was möchte Sie von mir?“
„Ich nicht gut, möchte Sie Blut nehmen und Hochdruckblut messen!“
Deshalb ruft man mich nachts? Was soll das denn? –
Trotzdem sage ich freundlich: „Ich kann hier kein Blut untersuchen, aber den Blutdruck
kann ich messen.“ –
Ich schaue zu Matthias, der im Wohnzimmer in unseren Koffer greift und das Blutdruckgerät heraus holt und es mir geben will. Aber die Tochter verwehrt den Zugang. Also muss ich ins Wohnzimmer gehen und das Gerät selbst holen.
„Der Blutdruck ist 140/80. Das ist normal. Lassen Sie mich mal Herz und Lunge abhören.“
Ich untersuche die Frau durch das Nachthemd hindurch. Ja nichts provozieren, denke ich.
„Auch normal!“
„Das wollte ich wissen. Dann können Sie wieder gehen!“
Sie zeigt zur Tür. Die Patientin schaut mich mit Augen an, aus denen böses Feuer sprüht.
Ich gehe ins Wohnzimmer und setze mich an den Esstisch.
„Ich muss zuerst noch etwas aufschreiben, und wir brauchen die Personalien.“
Matthias sagt freundlich zu der Tochter: „Geben Sie uns bitte die Krankenversicherungskarte Ihrer Mutter!“
„Nein, bekommen Sie nicht!“
Die Mutter steht plötzlich neben uns.
„Wir bezahlen so! Was kostet das?“
„Auch gut,“, sage ich, „das muss ich kurz ausrechnen.“
Ich zücke mein iPhone und schlage die App mit der Gebührenordnung auf.
„Nein, Sie schicken uns eine Rechnung!“, schnarrt die Mutter.
Matthias reagiert ruhig, zieht ein Formular heraus und legt es der Tochter mit seinem Kugelschreiber hin:
„Bitte unterschreiben Sie hier, dass wir Ihnen eine Rechnung schicken dürfen!“
Die Tochter nimmt den Stift, beugt sich über das Blatt. In diesem Moment schlägt die Mutter ihr den Stift aus der Hand: „Du unterschreibst nichts!“
Ich mache einen neuen Versuch.
„Dann sagen Sie mir doch wenigstens Ihren Namen.“
„Das geht Sie gar nichts an! Gehen Sie jetzt!“
“Moment mal, soll ich jetzt die Polizei rufen, damit Sie der Ihren Namen sagen?“
Ich fixiere die Frau mit meinen Blicken.
„Ich brauche Ihren Namen, damit ich Ihnen die Rechnung schicken kann, die Sie wollen.“
„Der steht auf der Klingel, das haben Sie doch gelesen!“
„Aha, ist das dieser Namen hier?“
Ich zeige Ihr unseren schriftlichen Einsatzbefehl. Sie schaut nicht hin und sagt: „Ja!“
„Wie heißen Sie mit Vornamen? Das brauche ich auch.“
„Das geht Sie nichts an! Sage ich nicht!“
„Aber dann kann ich keine Rechnung schreiben!“
„Martina!“
„Aha,“, sage ich, „geht doch! Danke!“
Ich ahne im selben Moment, dass der Name nicht stimmt. Und ich bemerke, dass der Vater immer noch in der Ecke steht, alles beobachtet und die ganze Zeit über kein einziges Wort gesagt hat. Er hat hier wohl nichts zu melden.
Da fragt mich die Tochter: „Meine Mutter ist misstrauisch. Können wir zwei mal vor die Tür gehen und in Ruhe reden?“
„Du bleibst hier!“, kreischt die Mutter und packt sie am Pullover, der immer noch um den Hals hängt. Dann greift die Patientin mich wieder an:
„Warum sind Sie denn immer noch da? Nehmen Sie jetzt endlich ihren Koffer, und gehen Sie aus der Wohnung!“
Jetzt reicht´s mir. Ich mache etwas, was ich noch nie in dreiundvierzig Jahren bei einem Hausbesuch gemacht habe. Ich stehe kommentarlos auf, schaue mich nicht mehr um und verlasse grußlos die Wohnung.

Draußen im Auto holen wir beide erst mal tief Luft.
„Was war das denn?“, sagt Matthias.
„Das war eine unverschämte Frau. So was habe ich auch noch nie erlebt.“
„Und was machen wir jetzt mit der Rechnung?“
Ich schaue ihn an.
„Nichts, Matthias, nichts machen wir. Und weiß du warum? Wir wissen doch, dass diese Leute die Rechnung nicht zahlen. Die wollten uns nur loshaben.“
„Da hast du Recht!“
„Eben, und du weißt, dass die Rechnung von unserem Rechnungsdienst abgeschickt wird, der auch die Mahnungen schreibt und mir in jedem Fall 20 Euro abzieht für diesen Service, unabhängig davon, ob die Rechnung bezahlt ist oder nicht. Und ich habe überhaupt keine Lust, mich unverschämt behandeln und rausschmeißen zu lassen und dafür noch 20 Euro zu zahlen.“
„Aber der nächste Arzt läuft in die gleiche Falle wie du!“
„Kann gut sein, deshalb müssen wir schauen, ob wir eine Warnnotiz in die Krankenakte machen können. Vielleicht haben wir die Frau im PC.“
Tatsächlich: Sie war vor zwei Jahren mal in der Praxis. Der Vorname Martina ist gelogen. Die Adresse und das Alter passen. Ich schreibe einen entsprechenden Bericht als „Notiz“. Hoffentlich liest der nächste Kollege diese Nachricht, bevor er die Frau besucht.

Schlagfertigkeit ist das, was uns zu spät einfällt. Wie wär´s denn mit diesem Satz?

„In der russischen Literatur lese ich immer wieder von der großzügigen Gastfreundschaft der Russen. Sie sind die ersten Russen, die ich kennenlerne, auf die das nicht passt.“

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Weitere Fotos von mir

finden Sie mit diesem Link http://www.fotocommunity.de/fotograf/dr-dietrich-weller/fotos/2099744

 

 

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Rezension über Eva Melusine Thieme: Kilimandscharo-Tagebuch

Eva Melusine Thieme: Kilimandscharo-Tagebuch,

erschienen bei Amazon, ISBN 9781508860594

„Chlorwasser, kein WC, eiskalte Nächte – kurzum ein Traumurlaub“

 Schon dieser Untertitel lässt die scheinbaren Widersprüche in diesem Buchs deutlich werden. Und gerade deshalb ist es lesenswert! Denn die Autorin beschreibt eine Woche, die sie im englischen Originaltext als the time of my lifedie Zeit meines Lebens bezeichnet.

Eva Melusine Thieme begibt sich 2014 nach einer intensiven Vorbereitung, die heiter und höchst informativ beschrieben wird und fast ein Jahr lang dauert, auf eine einwöchige Bergtour zum Gipfel des Kilimandscharo. Die Tour soll den dreijährigen Aufenthalt in Südafrika krönen. Thieme wird begleitet von ihrem sechzehnjährigen Sohn Max und einer kleinen Gruppe von Freunden. In der ersten Hälfte des Buchs wird der Leser eingeführt in die Tücken und Notwendigkeiten der körperlichen und gedanklichen Vorbereitung und der Überlegungen, was mitzunehmen ist. Die Geschichte des Kilimandscharo wird eindrucksvoll erzählt. Man sollte es nicht glauben, aber allein diese Kapitel vor dem Reisebeginn sind schon die Lektüre wert, weil die Einzelheiten im Plauderton, aber sachlich hervorragend recherchiert, sehr lehrreich und mit einer gehörigen Portion Selbstironie und Heiterkeit hinterfragt und beschrieben werden. Ich habe noch zum Beispiel nie in einem Reisebericht so viel über das „WC-Thema ohne WC“ gelesen und gelernt(!) wie hier. Und es ist flüssig und keineswegs anrüchig geschrieben, obwohl es sich um ein fließendes und riechendes Thema handelt. – Ich fühlte mich beim Lesen neugierig und gespannt, wie und wann der Trip endlich losgeht.

In der zweiten Hälfte steigen wir Leser mit der Gruppe unter Leitung einheimischer und als sehr vertrauenswürdig geschilderter Führer sieben Tage den Berg hinauf, unterbrochen von Rast-, Schlaf- und Verschnaufpausen. Wir erleben die grandiose Landschaft, menschliche Schwächen und Stärken, heitere und ernste Zwischenfälle. Die Spannung steigt im gleichen Maß wie der Gipfel naht, bis kurz vor der für den Sonnenaufgang geplanten Ankunft auf dem höchsten Punkt Afrikas plötzlich ….

Nein, das erzähle ich jetzt nicht. Sie müssen es lesen. Das ist so atemberaubend geschrieben, so emotional aufwühlend und so menschlich bewegend, nebenbei auch schriftstellerisch so klug konstruiert, dass meine Meinung klar ist: Hier lesen Sie einen der besten Reiseberichte, die ich kenne.

Es gibt eine englische Originalausgabe und eine deutsche Übersetzung. Dazu muss man wissen, dass die Autorin Deutsche ist, nach dem Abitur mit ihrem damaligen Freund (jetzt Ehemann) in die USA ausgewandert ist und in mehreren Kontinenten gelebt hat. Sie ist Mutter von vier Kindern und hat sich inzwischen von Ihrem Master of Business Administration zur Schriftstellerin, Bloggerin und US-Bürgerin entwickelt.

Leider fehlt in der deutschen Ausgabe ein kleines, aber wichtiges Kapitel, nämlich die zwanzig Punkte, die Thieme für ihr Leben durch die einwöchige Reise gelernt hat. Diese Bemerkungen sind die Quintessenz des Buchs und schon für sich lehrreich! Wer gern englische Bücher liest, sollte sich das Original besorgen. Mir hat es eine große Freude gemacht, diese Sprache mit einem gepflegten Umgangsstil zu lesen. Die deutsche Übersetzung stammt von der Autorin selbst.

Für Menschen, die den Kilimandscharo besteigen wollen, halte ich das Buch für eine Pflichtlektüre. Allen anderen Leser empfehle ich das Buch, weil es eine spannende Unterhaltung auf hohem Niveau (im doppelten Sinn) bietet.

Wer mehr über die schriftstellerische Tätigkeit der Autorin lesen will, findet viel Stoff auf ihrer Website www.evamelusinethieme.com.

 

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Letzte Freu(n)de

Weller-Claes-the bird friend groot

Letzte Freu(n)de

(nach dem Bild Bird friend von Gil Claes, das ich hier mit freundlicher Genehmigung des Fotografen abdrucke. Es erschien am 25.02.2015 in www.fotocommunity.de)

Der Autolärm über Eric weckt ihn aus dem Schlaf. Er schiebt in der fahlgrauen Morgendämmerung langsam den Schlafsack zur Seite, dessen Reißverschluss schon lange nicht mehr funktioniert, und blickt verschlafen auf das träge fließende Wasser. Seit er unter der Brücke lebt, hatte er wenigstens nachts seine Ruhe. Jetzt in den Morgenstunden gefallen ihm die Beschaulichkeit am Ufer, der sanfte Tagesbeginn und das langsam aufhellende Licht. Der Wind streicht lau über seinen wirren Bart und durch das ungewaschene, schüttere Haar.

In dem Einkaufswagen liegt Erics ganze Habe, auch ein paar Klamotten, denen der Einheitsgeruch des Ungewaschenen und Verschwitzten anhaftet. Und hier steht der kleine Kocher, auf dem Eric jetzt Kaffeewasser heiß macht. Dann genießt er langsam aus der alten Porzellantasse mit dem abgesprungenen Eck seinen Morgentrunk und betrachtet die feinen Wellen und ein paar Tauben, die knapp über das Wasser jagen. Sie tragen wie fast jeden Morgen seine Erinnerung zurück zu Marie.

Das Auto schießt um die Ecke, reißt Marie vom Bürgersteig weg auf die Straße unter die Reifen und aus seinem Leben. Eric schüttelt unwillig den Kopf, als wollte er die schlimmsten Sekunden seines Lebens wegschleudern. Er sieht aber Maries Beerdigung und Monate später sich selbst mit glasigem Blick und dröhnendem Kopf auf der Intensivstation, völlig betrunken, hilflos seiner Sucht ausgeliefert.

Lange hatte es gedauert, bis er nach der Entziehung wieder einen Job gefunden hatte – als Pförtner in einem großen Krankenhaus. Er, der früher erfolgreiche Diplomingenieur, war froh, dass er wenigstens seinen sozialen Absturz dort aufhalten konnte. Aber dann kam der Nachtdienst, in dem erfuhr, dass auch sein Sohn mit dem Auto tödlich verunglückt war. Da stand noch eine Schnapsflasche im Schrank, die er geschenkt bekommen und verwahrt hatte. Jetzt konnte er nicht widerstehen und öffnete sie. Nur einen einzigen Schluck zum Trost, dachte er. – Ein paar Stunden später und nach reichlich flüssigem Trost kam ihm noch der Gedanke, er sei in diesem Zustand dienstunfähig und müsse das Krankenhaus und die Patienten schützen. Also ging er in der Nacht ums Haus und schloss alle Türen ab, auch die Krankenhauseinfahrt für die Notaufnahme. Jetzt waren alle in Sicherheit, keiner kam raus, keiner rein, und nichts konnte passieren, dachte er. Dann schwankte er nach Hause, lange bevor der Kollege vom Frühdienst ihn ablöste. Nach der fristlosen Kündigung erhielt Eric nie wieder in eine ordentliche Anstellung.

Jetzt sitzt er hier am Wasser und bereitet sich auf seine Morgenfreude vor. In der Nacht hatte er aus den Containern des Supermarkts das weggeworfene Essen in seinen fahrbaren Koffer gepackt. Er will seinen Freunden, den Tauben, das Frühstück bringen wie jeden Tag.

Er schiebt den vollen Koffer langsam zu dem großen Platz vor der Kirche. Der Schwarm der Tauben fliegt auf ihn zu. Sie begrüßen ihn mit einem Schwirren über dem Kopf. Eine der Tauben setzt sich erwartungsvoll auf den Griff des Koffers. Eric genießt das Brausen, den Wind der Flügel, das Gurren rund um sich herum. Er hat seine Aufgabe, die er gewissenhaft jeden Tag erledigt. Wenigstens die Tauben sind dankbar und stören sich nicht an der Alkoholfahne, die ihn umweht. Ja, auch Eric ist dankbar für diese Morgenstunden und die Begegnungen. Die Tauben sind ihm ans Herz gewachsen mit ihrer Vorurteilslosigkeit, ihrer guten Stimmung, ihrer Treue.

Eric packt langsam mit schmutzigen Händen seine Schätze aus, öffnet die knisternden Plastikpackungen und streut die Kekse und andere Nahrungsreste um sich auf den Boden. Die Tauben stürzen sich darauf, picken im Wettlauf alles auf, rennen zur nächsten Krume und verjagen einander vom Futter.

Er beobachtet selbstzufrieden das lebhafte Treiben und spürt, wie er seinen Weg angenommen hat. Unten auf der sozialen Leiter, ganz unten, hat er Freunde gefunden, die zu ihm halten und für die er jeden Tag wichtig ist. Diese Aufgabe erfüllt ihn mit spätem Stolz. Er ist zu etwas nütze! Gebeugt vom Leben steht er innerlich aufrecht da. Er bescheidet sich mit dem, was er hat und sieht seine Bestimmung darin, der Freund der Tauben zu sein. Nach all den Kämpfen, der Verzweiflung, den Rückschlägen und Ausgrenzungen ist er mit sich im Reinen.

Er hört das Schwirren um sich herum und wundert sich, wie es immer näher kommt und in seinen Kopf eindringt. Er beugt sich über den offenen Koffer, will noch tief unten eine Schachtel holen, da dreht sich alles in ihm. Wirbelnd fliegen leuchtende Farben vor seine Augen, verwirrend verschwinden sie im Nebel, dann wird es warm und hell, und wunderbare Klänge füllen sein ganzes Wesen.

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Gedanken zu Uhlenbruck „Gedankensplitter ohne Kopfzerbrechen“

Gedanken im Zug nach Hause bei der Lektüre von Uhlenbruck „Gedankensplitter ohne Kopfzerbrechen“

Wer im Zug Aphorismen von Uhlenbruck in einem Zug lesen will, wird ständig von den Stoppschildern der Gedanken gebremst, damit die eigenen Gedanken zum Zug  kommen.

Wenn ich schon mal einen guten Gedanken habe, schreibe ich ihn auf, damit ich besser darüber nachdenken kann.

Gute Aphorismen sind kurze Gedanken, die zum langen Nachdenken anregen.

Wer viel redet, sollte sich kurzfassen. Wer sich kurzfasst, kann sich das Vielreden sparen.

Ein kleines Aphorismenbuch von Uhlenbruck enthält mehr Drama und Lebensweisheit als viele dicke Romane zusammen.

Ein guter Aphorismus bewirkt das gleiche wie eine Krankheit: Wir werden am unbewussten Weiterlesen (Weiterleben) gehindert und zur Selbstreflektion gezwungen.

Warum lege ich das Uhlenbruck-Buch nach vier Seiten weg? Weil es Aphorismen aus dem Versteck meines Gehirnes lockt. Das ist Aphorismen-Resonanz.

Warum lese ich dann weiter? Weil es noch viel zu lernen gibt im Lehrbuch des Lebens.

Beim Lesen eines Aphorismus geht mir das Licht auf, dass ich diese Erkenntnis noch nicht aus dem Dunkel meines Gehirns ans Licht meines Bewusstseins geholt habe. Wie hell ist es dann in den Menschen, die ein Aphorismenbuch geschrieben haben?

Die Schriftstellerärzte wollen eine Lesung über Erotik abhalten, die nicht unter die Gürtellinie gehen darf. Ist das eine Quadratur des Kreises oder eine Sublimierung des Greises?

Wie beschreibt man Dinge unterhalb der Gürtellinie, ohne diese zu unterschreiten und trotzdem treffend? Mit Geist!

Macht das dann weltliche Freude oder ist es nur sublimierte Kompensation?

Eine der wichtigsten Übungen des Säuglings für das ganze Leben: Kopf hoch und dabei lächeln!

Jeder Aphorismus ist der Titel für eine ganze Romansammlung.

Unwissenheit und mangelnde praktische Erfahrung sind eine gute Voraussetzung um schnell radikale Urteil zu fällen. Vorurteile zu zementieren und Machtansprüche zu erheben und auszuleben. Die katholische Sexuallehre ist ein Jahrtausende altes Beispiel.

Warum stellt der Papst Regeln für ein Spiel auf, das er und seine Glaubensbrüder nicht spielen dürfen?

Angst ist eine sehr wirksame Autosuggestion, dass genau das geschieht, wovor wir uns fürchten. Auch deshalb sollten wir uns vor unseren Gedanken hüten.

Wir wollen Kinder behütet wissen. Behüten wir auch unsere Gedanken?

In der Erinnerung verblasst ein Mensch, oder er wird durch Überhöhung idealisiert. Selten entspricht die Erinnerung der Realität.  So gehen wir auch mit der Erinnerung an uns selbst um.

Die Rolle des Sündenbocks ist in einer Gemeinschaft eine wichtige Funktion, auf die sich manche viel einbilden. Die Medien können ihn zum Star stilisieren. Die Medien verdienen, ohne es verdient zu haben, meist umgekehrt proportional zum Verdienst des Sündenbocks. Das Verdienst des Sündenbocks ist meist viel geringer als der Verdienst.

Ein unkundiger Kunde ist ein guter Kunde, weil er die Kunde vom Betrug mit dem Betrag noch nicht erkundet hat.

Vor mir sitzt eine Mutter, die sich rührend um ihr zerebral schwerst behindertes Kind kümmert. Diese Frau ist der Engel, den Gott dem Kind als Lebensbegleiter an die Seite geschickt hat.

Mancher Mensch wird besonders bissig, wenn er die dritten Zähne trägt.

Das Thema loslassen wird uns nicht loslassen, bis wir unser Leben loslassen.

 

 

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Frühlingsgefühle

Wenn Krokusblätter bunte Inseln in den Schnee verteilen,
rote, gelbe, blaue Tupfen in dem weißen Teppich weilen:

wenn der Baum mit leuchtend grünen Blättern prahlt,
das Braun der Äste, Zweige heiter übermalt,

wenn der Vogelzug den Weg nach Norden wählt,
der Segler Tage bis zum Lauf vom Stapel zählt,

wenn die kleinen Knospen in dem kahlen Garten
ungeduldig auf dem Start zum Blähen warten,

wenn der erst Schmetterling sich saugend auf die Blüte setzt
und der Morgentau die Seidenflügel und die feinen Fühler netzt,

wenn der Penner auf der Parkbank nicht mehr friert
und Hoffnungslächeln seine unrasierte Wangen ziert,

wenn die Kinder ihre Jacken au die Seite legen
und erhitzt mit Bällen über trock´ne Straßen fegen,

wenn die Gartenmöbel die Terrasse schmücken,
Winterkleider sich in Kellerschränken drücken,

wenn das Liebespärchen sich im lauen Lüftchen küsst,
ein Maienglöckchen die mit Läuten zart begrüßt,

wenn der Mittagstisch im Freien Freude macht,
die Familie bei dem Essen in der Sonne lacht,

wenn warme Strahlen Eiskristalle tropfend schmelzen,
Frauen Abschied nehmen von den schweren Pelzen,

wenn die Bäche eisbefreit um glatte Steines strudlen,
Quellen klares Wasser kalt in Brunnen sprudeln,

wenn die Wiese würzig riecht und frisch der Halm,
die Sennerin sich vorbereitet auf die saftig grüne Alm,

dann ist Frühling eingekehrt und wärmt die Herzen,
und wir können heiter in der milden Sonnen scherzen.

Dann wird neues Denken uns Entspannung bringen,
und wir können ganz befreit die frohen Lieder singen.

die von ew´gem Neubeginn berichten,
unsern Blick auf Hoffnung tröstend richten.

Dann versichert uns das Leben draußen,
dass die Welt mit Macht und Brausen

sich erneuern wird und stets den Zyklus wahrt:
Nach dem Dunkel folgt das Licht ganz zart,

und immer stärker drängt das Leben vor
und weht hinweg den grauen Trauerflor.

Wir können auf den Lebenskreislauf bauen
und seiner unveränderbaren Kraft vertrauen.

(2009)

 

 

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Herbergsuche

Freitagnacht. Sprechstunde in der Notfallpraxis im Marienhospital.
Der ältere Herr ist einfach und sauber gekleidet, schlank, stellt einen kleinen Rucksack neben den Stuhl, auf den er sich setzt, und sagt: „Ich habe eine chronische Bronchitis.“
Dann wartet er auf meine Reaktion.
„Haben Sie sonst noch Beschwerden?“ –
„Nein!“
„Dann lassen Sie mich mal die Lunge abhören, bitte.“
Er steht auf, ich ziehe sein Hemd hoch, höre Lunge und Herz ab:  „Alles normal, prima!“
Dann messe ich mit dem Ohrthermometer seine Temperatur: „37,1° C, auch gut! – Haben Sie überhaupt irgendwelche Beschwerden?“
„Nein!“
„Warum sind Sie dann da?“
„Ich habe meinen Hausschlüssel verloren! Und der Mann, der mir helfen kann, der Hausmeister, kommt erst am Montag.“
„Das ist natürlich dumm. Wo schlafen Sie bis dahin?“
„Ja, ich denke, hier im Krankenhaus!“
Ich bleibe freundlich und sehr bestimmt.
„Also ganz sicher werden Sie nicht hier übernachten! Das hier ist ja kein Hotel! Da müssen Sie eine andere Lösung finden!“
Er entgegnet ganz ruhig: „ Aber das ist doch ein christliches Krankenhaus, die müssen mir helfen!“
„Ja“, sage ich, „aber nur wenn Sie krank sind! Sie sind nicht krank, sondern Sie haben den Hausschlüssel verloren! Das ist etwas ganz anderes. Dafür sind wir hier nicht zuständig!“
Die Medizinische Fachangestellte, die mir in der Sprechstunde hilft und den Dialog mitgehört hat, fragt: „Haben Sie den Schlüsseldienst angerufen?“
Der Mann antwortet empört: „Ja klar, aber der will 83 Euro haben, und die will ich nicht zahlen!“
Sie bleibt direkt: „Wollen Sie nicht zahlen, oder können Sie nicht zahlen?“
„Ich will nicht bezahlen, weil ich dann am Wochenende gar nicht aus der Wohnung gehen kann, sonst muss ich jedes Mal wieder neu den Schlüsseldienst rufen und wieder 83 Euro zahlen!“
„Könnten Sie das Geld zahlen?“
Er zögert, dann etwas kleinlaut: „Ja, aber ich habe kaum Geld da.“
„Und auf der Bank? Können Sie etwas abheben?“
„Ja, aber da gibt es auch nicht wesentlich mehr!“
Er macht eine Pause, dann setzt er nach und fixiert mich: „Sie müssen mir helfen, Sie sind doch Arzt!“
„Ja, stimmt, wenn Sie krank sind, bemühe ich mich, Ihnen zu helfen. Aber Sie haben den Hausschlüssel verloren und wollen die Hilfe, die Sie haben und bezahlen könnten, nicht annehmen. Ich bin der falsche Ansprechpartner für Sie. Und wenn ich die Internisten hier im Haus bitte, Sie stationär aufzunehmen, werden die sich strikt weigern. Es gibt keinen medizinischen Grund für eine stationäre Aufnahme. Sie erwarten selbstverständlich, dass die Krankenkasse sofort mehrere hundert Euro zahlt, wenn Sie übers Wochenende hier aufgenommen werden. So geht das nicht!“
Er gibt nicht nach: „Aber ich brauche doch nur ein Bett und eine Toilette und eine Dusche!“
„Das verstehe ich. Dann müssen Sie in ein Hotel gehen, nicht in ein Krankenhaus. Sie könnten sich aus Ihrer Lage leicht retten, wenn Sie die 83 Euro investieren, dann können Sie eben übers Wochenende nicht aus dem Haus gehen, oder Sie fragen Nachbarn um Hilfe.“
„Ich habe kein gutes Verhältnis zu den Nachbarn“, ist seine etwas zerknirschte Antwort.
Ich will der Situation einen Ausweg geben und den Patient in Gutem entlassen und nicht hinauswerfen. Deshalb bitte ich die MFA, mir den Ordner zu geben, in dem die Adressen für Notunterkünfte in Stuttgart verzeichnet sind. Wir überfliegen die Seite.
Ich erkläre es dem Patienten: „Hier diese Adressen sind für Obdachlose, für Frauen und für Kinder in Not und für junge Drogenabhängige. Da passen Sie nicht hin, denn Sie haben ja ein Obdach, eine Adresse, nur eben keinen Schlüssel dazu.“
Es entsteht eine Pause. Dann sagt er:
„Ja, und jetzt?“
Ich antworte: „Das Einzige, was ich jetzt noch tun kann: Ich rufe in dem Obdachlosenheim für Männer in der Nordbahnhofstraße an und frage um Rat.“
Die Nummer ist rasch gewählt, ich stelle mich dem Diensthabenden im Obdachlosenheim für Männer vor, erkläre die Situation und frage, was er meinem Patienten rät.
Die Antwort ist so klar wie knapp: „Wenn Ihr Patient den Schlüsseldienst nicht bezahlen will, schläft er auf der Straße. Wenn er den Schlüsseldienst nicht bezahlen kann, hat er ein Recht, sich im Obdachlosenheim in der Hauptstädterstraße 150 zu melden. Aber die werden ihn sehr genau fragen, warum er nicht zu Hause schläft! Ich glaube nicht, dass er da reinkommt. Aber versuchen kann er es ja.“
Oje, denke ich, das ist auch die Adresse für jugendliche Drogensüchtige!
Die MFA sagt: „Da werden Sie sich nicht wohlfühlen. Da ist es besser, Sie holen den Schlüsseldienst!“
Ich erkläre dem Patienten noch einmal die Situation. Er akzeptiert widerwillig die Adresse und geht.
Als er nach dem Rucksack greift, der da prallvoll steht, kommt mir der Gedanke: Wer verliert zufällig seinen Hausschlüssel und hat ebenso zufällig seinen vollen Rucksack dabei? Steckt da etwas ganz anderes dahinter? Hat der Patient mich angelogen oder nur die halbe Geschichte erzählt? Aber ich will keine neue Diskussion anfangen und lasse den Patienten gehen. Ich weiß, dass ich ihm nicht mehr helfen kann, als ich es getan habe.

Copyright Dr. Dietrich Weller

 

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Zwei Begegnungen der besonderen Art in einer Nacht

Ich war gerade in meinem Dienstzimmer eingeschlafen, wo wir Ärzte uns ausruhen können, wenn wir Nachtdienst in der Notfallpraxis haben. Da ruft mich die Arzthelferin in die Praxis zurück. Auf dem Weg über den Flur mache ich mir zum soundsovielten Mal klar, dass ich jetzt trotz meiner Müdigkeit freundlich und aufmerksam sein muss.
Es gibt ja tatsächlich Patienten, die nachts in die Notfallpraxis kommen und wirklich ein Notfall sind. Ich meine mit Notfall, was ein Arzt darunter versteht: eine frisch aufgetretene Notsituation, die den Patient akut bedroht und sofort Hilfe benötigt. Oft habe ich den Eindruck, dass die Notfallpraxis für manche Menschen eine Bedürfnisbefriedigungsanstalt ist, zu der sie gehen, wenn sie gerade Zeit haben, ein schon längeres Bedürfnis zu stillen oder eine unangenehme Sache zu klären. Außerdem muss man in unserer Notfallpraxis auch selten lang warten, jedenfalls nicht länger als in so mancher Arztpraxis. Die Patienten wissen das genau und nützen es aus. Ich komme mir manchmal vor wie ein Angestellter bei McDonald´s oder an der Tankstelle. Deshalb denke ich manchmal, wir müssten die Notfallpraxis umbennen: Wie wär´s mit McMed? Aber jetzt, heute Nacht, bin ich der Verantwortliche in einer richtigen Arztpraxis.
Auf der Rezeption steht eine halb volle Sprudelflasche. Die junge Frau weint, als wir einander begrüßen. Eine Begleitperson sitzt still im Eck.
„Was gibt´s denn?“, frage ich.
Die Patientin schaut mich durch ihre Tränen an und fragt mit weinerlicher Stimme:
„Können Sie mir sagen, warum mein Mund seit heute Abend keine Spucke mehr produziert?“
Ich bin verblüfft und versuche, meinen Ärger zu besänftigen.
„Und das fragen Sie mich jetzt um halb zwei morgens?“
„Ja, das möchte ich jetzt wissen, ich werde fast verrückt. Ich trinke und trinke, und ich habe einen furztrockenen Mund.“
Da greift die medizinische Fachangestellte ein: „Sie müssen dem Herrn Doktor aber schon die ganze Geschichte erzählen!“
„Und was ist die ganze Geschichte?“
„Ja, wissen Sie, ich habe mir Anfang der Woche ein Zungenpiercing-Loch erweitern lassen, da schwillt die Zunge an, das ist ja in Ordnung, und das ist auch schon wieder vorbei, aber jetzt habe ich keine Spucke mehr! Es macht mich wahnsinnig!“
Ich bin drauf und dran, der Frau zu empfehlen, jetzt sofort mitten in der Nacht ihren Piercer anzurufen und um Rat zu fragen. Aber ich halte mich zurück und sage: „Na, über Piercing habe ich sicher eine andere Meinung als Sie! Kommen Sie ins Sprechzimmer, ich schau mir das mal an.“
Ich untersuche die Mundhöhle und sehe kein Piercingloch, keinen Zungenstecker und einen auch sonst völlig gesunden Mund.
Dann zucke ich mit den Schultern: „Ich weiß nicht, warum Sie keine Spucke haben. Haben Sie denn Medikamente genommen, die als Nebenwirkung einen trockenen Mund machen können?“
„Nein, ich nehme gar keine Medikamente!“ –
Die Frau wird etwas ruhiger, wahrscheinlich, weil sie merkt, dass ich sie doch wenigstens ernst nehme.
„Dann erzählen Sie mir mal genau, was Sie heute Abend gemacht haben. Vielleicht komme ich dann drauf, was Ihr Problem verursacht hat.“
Sie schildert einen unauffälligen Verlauf des Abends, dann kommt der entscheidende Satz:
„Nach dem Zähneputzen habe ich noch eine Mundspülung gemacht, richtig lang und gründlich, damit es ja keine Infektion in dem Piercingloch gibt!“
Ich bin erleichtert:
„Ja, dann ist doch alles klar. Kennen Sie den Begriff adstringierende Wirkung?“
„Nein.“
„Das Mundspülmittel zieht die Schleimhaut zusammen und schließt damit auch die Ausführungsgänge der Speicheldrüsen. Das ist lästig und harmlos!“
Die Frau schaut mich verblüfft an. „Und jetzt? Was mach ich jetzt?“
Ich lächle sie an: „Ruhig bleiben, weiter trinken, bis die Wirkung nachlässt. Dann machen die Speicheldrüsen wieder auf. Im Lauf des Vormittags ist wieder alles in Ordnung!“
Ich gehe zurück in meine Dienstzimmer und lege mich wieder hin. Nach einer weiteren Stunde im Halbschlaf werde ich erneut in die Praxis gerufen.
Das steht ein Mann etwa Mitte vierzig und sagt: „Ich habe seit sechs Wochen Schmerzen an der linken Fußsohle. Können Sie da was machen?“
Ich bemühe mich, nicht zu explodieren. Diese Situation habe ich oft erlebt: Ein völlig unangemessener Wunsch zur Unzeit und dann noch mit einer ebenso unpassenden Anspruchshaltung auf Sofort-Wunderheilung. Ich weiß, dass ich ruhig bleiben muss. Also sage ich nur mit gebremster Freundlichkeit und so, dass der Patient merkt, wie er bei mir auf ein roten Knopf gedrückt hat:
„Also, seit sechs Wochen haben Sie das, und da kommen Sie mitten in der Nacht? Was sagt der Hausarzt?“
Der Patient erwidert ganz ruhig: „Ich war bei keinem Arzt!“
Ich bleibe auch ruhig – äußerlich wenigstens: „Da fühle ich mich aber ganz schön verschaukelt von Ihnen und ausgenützt! Haben Sie gelesen, dass da draußen auf dem Schild Notfallpraxis steht? Sie sind ganz bestimmt, ganz sicher nie und nimmer ein Notfall. Ist Ihnen das bewusst?“
Der Patient zuckt mit der Schulter: „Nein, aber heute Abend hat´s weh getan. Und jetzt bin ich da. Was machen wir jetzt?“
Ich weiß ja, dass ich den Patient versorgen muss, also schlucke ich meinen Ärger runter und sage: „Zeigen Sie mir mal den Fuß.“
Ich untersuche den Fuß gründlich, denn auch ein nächtlicher Nicht-Notfall-Patient kann krank sein. Die Fußsohle zeigt keine Entzündung, keine Verletzung, keine Druckschmerzen, keine Bewegungsschmerzen, keine Hautauffälligkeiten, es ist wirklich eine völlig normale Fußsohle.
Mit ernster Miene sage ich: „Das ist ein eindrucksvoller Befund!“
„So, was ist das?“
„Eine völlig normale Fußsohle!“
Nach dieser Verblüffung überlegt der Patient: „Ja, können Sie die Glasscherbe jetzt rausmachen?“
Jetzt bin ich überrascht: „Glasscherbe? Wie kommen Sie denn auf Glasscherbe?“
„Ja wissen Sie, vor sechs Wochen habe ich im Urlaub am Strand Volleyball gespielt, und da habe ich mir wahrscheinlich eine Glasscherbe reingetreten. Die können Sie doch jetzt rausoperieren!“
Ich hole Luft: „In so eine gesunde Fußsohle wird kein vernünftiger Chirurg reinschneiden, schon gar nicht, wenn er nicht sieht und tastet und Sie nicht wissen, wo die Glasscherbe ist!“
„Aber Sie können doch jetzt ein Röntgenbild machen!“
„Ich mache jetzt ganz sicher mitten in der Nacht kein Röntgenbild, auch deshalb nicht, weil man eine normale Glasscherbe im Röntgenbild nicht sieht. Nur wenn Sie schwören, dass es ein Bleiglas war, – und das können Sie nicht -, dann kann man die Scherbe im Röntgen sehen.“
Der Patient lässt nicht locker.
„Aber Sie können doch jetzt eine Computertomografie machen!“
„Wenn es ein lebensbedrohlicher Notfall wäre, zum Beispiel ein Schlaganfall, könnte man jetzt ein CT machen, da haben Sie Recht. Aber die Sache hatte jetzt sechs Wochen Zeit. Dann muss ich nicht notfallmäßig auch noch die Röntgenassistentin aus dem Bett holen. Ich denke, das sollten Sie mal in Ruhe in der ganz normalen Sprechstunde mit Ihrem Hausarzt besprechen. Der kann Sie dann immer noch, wenn er es für nötig hält, zum Röntgen oder zum Chirurgen überweisen.“
„Ja, und was soll ich jetzt machen?“
„Jetzt gehen Sie nach Hause wie in den letzten sechs Wochen auch. Und wenn Sie je wieder Schmerzen haben – jetzt haben Sie ja keine Schmerzen -, dann nehmen Sie ein Schmerzmittel. Gute Nacht!“

Copyright Dr. Dietrich Weller

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Lebensfreude oder histrionische Persönlichkeit?

 

Am Abend in der Notfallpraxis.
„Können Sie noch eine Patientin anschauen, die der Chirurg nebenan schon gesehen hat? Er bittet Sie darum.“
Die Arzthelferin schiebt eine ältere Dame herein, die gepflegt gekleidet und mit nacktem linkem Fuß im Rollstuhl sitzt. Sie lächelt mich zur Begrüßung freundlich an und beginnt nach der Begrüßung, ohne Aufforderung zu erzählen. Ich höre den italienischen Akzent und sehe die lebhafte Mimik und die leuchtenden Augen.
„Wissen Sie, ich war noch vor ein paar Tagen in Venezia, da war herrliches Wetter, und die Pasta hat so delikat geschmeckt auf der Piazza San Marco! Und dann habe ich eine Freundin besucht in Mazedonia. Die ganze lange Strecke bin ich gefahren, obwohl ich habe diesen Bauchspeicheldrüsenkrebs und eine große Operation hinter mir. Jetzt sind trotzdem in der Leber Metastasen. Ich weiß, dass ich nicht mehr so lange lebe, aber ich freue mich über jeden Tag! Es ist wunderbar, so viele Freunde zu haben. Ich bin so dankbar!“
„Und warum sind Sie jetzt hier? Ich sehe, dass Ihre Zehe entzündet ist, aber das hat der Chirurg schon gesehen.“
Ja“, sagt sie, „aber manchmal bekomme ich so schlecht Luft. Deshalb möchte er, dass Sie mich untersuchen! Im Moment kann ich gut atmen.“
Neben meinem Schreibtisch sitzt die Begleitperson der Dame, eine schlanke junge Frau mit kurz geschnittenen dunklen Haaren und hellwachen Augen. Mir fällt ihre pinkfarbene Kostümjacke auf.
Ich frage: „Und wer sind Sie? Die Tochter?“
„Nein, ich bin die Arzthelferin des Hausarztes von Frau Sorriso. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren und wohnen nahe beieinander. Deshalb habe ich sie hierher begleitet.“
Ungewöhnlich, denke ich, aber das ist ein sehr freundlicher Hilfsdienst.
Ich untersuche den Fuß, sehe die Entzündung eines Hühnerauges und bitte die Arzthelferin,  einen Salbenverband anzulegen. Dann höre ich die Lunge von Frau Sorriso ab, stelle einen normalen Befund fest und bitte die Arzthelferin, eine Blutuntersuchung zu machen. Ich will wissen, ob ich ein Antibiotikum verordnen soll.
Ich möchte die Unterredung trotz der draußen wartenden Patienten weiterführen. Das ist ein ungewöhnlicher Moment mit einer besonderen Patientin.
„Es beeindruckt mich sehr, dass Sie so gut gestimmt sind und angesichts der schwerwiegenden Diagnose eine so lebensbejahende Ausstrahlung haben. Was hilft Ihnen dazu?“
Sie lächelt mich an: „Wissen Sie, ich genieße mein Leben, weil ich geliebt werde und viele Menschen mir helfen. Ich lebe allein, aber ich bin nicht einsam. Meine Krankheit kann ich so gut tragen. Und ich weiß, dass ich nicht mehr lange Zeit habe. Ich bin dankbar für jede Stunde und jede gute Begegnung. Ich weiß, dass ich allein mir gute oder schlechte Stimmung machen kann. Und da ist es besser, mit Freude zu leben.“
Sie macht eine kurze Pause, dann fragt sie: „Haben Sie einen Vorschlag, was ich noch tun kann?“
Ich überlege: „Möchten Sie ein Buch über den guten Umgang mit schweren Krankheiten lesen oder ist das eher nicht so gut für Sie?“
„Oh, wenn Sie eines empfehlen, lese ich es gern!“
Ich gebe ihr meine Visitenkarte mit der Adresse meiner Homepage, wo meine Bücher verzeichnet sind und schlage eines meiner Bücher vor, das ich vor einigen Jahren speziell für Patienten wie Frau Sorriso geschrieben habe. Dann nimmt die Arzthelferin Blut ab, und ich bitte die beiden Damen, im Wartebereich auf das Ergebnis zu warten.
Während ich die nächsten Patienten behandele, kommt mir nach ein paar Minuten auf dem Flur die Begleiterin entgegen und streckt mir einen Becher mit Cappuccino entgegen: „Das ist für Sie ein freundlicher Gruß von Frau Sorriso! Wir freuen uns, dass wir Ihnen begegnet sind!“
Ich bedanke mich überrascht, gehe in mein Sprechzimmer zurück und schließe für einen Moment die Tür. Auf dem Stuhl trinke langsam den Becher leer und mache mir bewusst, dass ich noch nie von einem Patienten in der Praxis oder in der Klinik einen Kaffee bekommen habe. Und diese Frau dort draußen mit ihrem unheilbaren Krebs, die mich überhaupt nicht kennt, denkt an mich und lässt einen Kaffee für mich bringen! Welch eine ungewöhnliche Situation. Ich bin sehr dankbar.
Nachdem das Blutbild fertig ist, hole ich die Patientin und ihre Begleiterin wieder herein: „Das Blutbild zeigt jetzt keine Entzündungszeichen. Wie waren die letzten Blutwerte?“, frage ich die Begleiterin. Sie ist genau informiert. Ich verschreibe kein Antibiotikum.
Für Frau Sorriso ist aber etwas ganz anderes wichtig. Sie sagt feierlich und mit einem strahlenden Gesicht: „Wir haben draußen überlegt, dass ich Sie zu meiner Trauerfeier einlade! Ich weiß schon genau, wo sie stattfindet – bei einem sehr guten Italiener in der Innenstadt. Das wird ein großes Fest! Die Liste der Gäste ist schon fertig! Alle meine Kollegen werden eingeladen! Herr Doktor, Sie werden auch eine schriftliche Einladung erhalten, wenn es soweit ist! Es dauert nicht mehr lang! Und Sie müssen mit Ihrer Frau kommen, das müssen Sie versprechen! Ich werde von oben zuschauen und auf Sie warten! – Danke, dass Sie mich hier versorgt haben. Das war eine gute Begegnung für mich!“
„Ja, für mich auch! Geht es Ihnen auch so wie mir? Ich treffe immer die richtigen Menschen, die richtigen Bücher und die richtige Musik im richtigen Moment.“
Sie lacht: „Das stimmt genau. Vielleicht sind wir uns deshalb jetzt begegnet! Alles Gute für Sie! Bis bald!“
Sie drückt meine Hand fest mit ihren beiden Händen, schaut mich lächelnd an und lässt sich winkend hinaus schieben.
Ich bleibe sehr nachdenklich zurück – und mit einem großen Gefühl der Dankbarkeit.

PS: Der Name Sorriso ist natürlich nicht der wirkliche Name der Patientin. Ich habe ihn gewählt, weil er im Italienischen Das Lächeln bedeutet.

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