Glücklicherweise hatte Bernd, mein zahnärztlicher Kollege in Wilhelmshaven, die Idee gehabt, mir vor meinem Einsatz auf der Meteor in zwei Sitzungen alle meine vier sehr tief und schräg liegenden Weisheitszähne zu ziehen, damit sie mir auf See keinen Ärger machen. Dabei hat er mir noch Privatunterricht gegeben, wie man eine Leitungsanaesthesie im Mundbereich richtig setzt, und er lehrte mich, Zähne zu ziehen. Er hatte mir sorgfältig die verschieden geformten Zangen und Hilfsmittel erklärt und sich Mühe gegeben, mich ordentlich auf Zahnpatienten vorzubereiten. Ich durfte bei einigen seiner Operationen zuschauen und auch selbst Hand anlegen.
Sicherheitshalber hatte Bernd mir ein gutes Zahnheilkundebuch mitgegeben, in dem zahnärztliche Notfälle und ihre Therapie beschrieben waren. Ich traute mir Eingriffe an den Zähnen nicht zu, weil ich überhaupt keine Erfahrung damit hatte. Sie waren in meinem Medizinstudium nicht vorgesehen. Wir hatten nur ein paar theoretische Zahnmedizinvorlesungen zu besuchen, und ich muß gestehen, daß ich sie langweilig fand und zu diesen warmen Nachmittagsstunden in jenem Sommersemester meistens im Freibad lag.
Es kam, wie es kommen musste. Ich hatte den Eindruck, dass meine Angst, eine Zahnbehandlung machen zu müssen, genau diese Situation anzog. Eines Tages stand einer der Matrosen mit dicker Wange vor meiner Tür und meinte kleinlaut: „Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen wegen meiner Zahnschmerzen, und die fünf Aspirin-Tabletten wirken auch nicht mehr.“ Er stöhnte ganz entnervt und erschöpft: „Doc, Sie müssen mir helfen, ich halt´ es nicht mehr aus. Machen Sie, was Sie wollen, aber befreien Sie mich von den Schmerzen! Sonst springe ich über Bord oder renne mit dem Kopf an die Wand!“
Einesteils tat mir der Mann ja wirklich leid, nicht nur weil er offensichtlich stark unter seiner Pein litt, sondern auch weil er keinen besseren Zahnarzt bekam als gerade mich, wo ich doch mit dieser Arbeit überhaupt keine Erfahrung besaß. Das hatte er nicht verdient! Ich wusste nicht einmal, wie tief ich bohren musste.
Und da fiel mir noch Bernds Satz ein: „Wenn du das Loch gebohrt hast, schmierst du es einfach dicht mit Amalgam sorgfältig zu, das ist unproblematisch!“
Andererseits war diese Situation meine Chance: Mein Patient konnte nicht wählerisch sein, wir waren geradezu schicksalshaft aneinander geknüpft. Ich musste ihm helfen, ich wollte es ja auch gern tun, und so gestand ich ihm vorweg, dass ich sehr unsicher sei, mich ganz und gar nicht traue, seinen Zahn fachgerecht zu versorgen und es mir eigentlich lieber sei, er würde noch einen Versuch mit einer stärkeren Tablette machen.
Mein Patient merkte natürlich sofort, dass ich mich vor einem Eingriff drücken wollte, den ich nicht beherrschte und der ihm vielleicht schaden oder zumindest nicht helfen würde. Mit dem Rest seiner Kraft widersprach er mir heftig: „Nein! Das kommt überhaupt nicht in Frage! Ich will, dass Sie jetzt sofort den Zahn aufbohren oder gleich ziehen! Keine Stunde länger halte ich das aus!“
Also ließ ich ihn auf den Stuhl sitzen, der eine Nackenstütze hatte, und holte das zahnärztliche Besteck heraus. Mit der Operationslampe konnte ich die Mundhöhle gut ausleuchten, und ich setzte zuerst eine den Unterkiefer betäubende Spritze. Dann baute ich mein Instrumentarium auf und kam mir dabei sehr unbeholfen vor. Aber was macht man nicht alles, wenn kein anderer da ist, an den man die Aufgabe delegieren kann!?
Die Spritze saß gleich richtig, und mein Patient atmete erleichtert auf, als er spürte, dass die Schmerzen rasch verschwanden. Er ließ seine hochgezogenen Schultern sinken und beobachtete aufmerksam meine Vorbereitungen. Ich versuchte, möglichst wenige Geräte bereit zu legen, um ihn nicht zu schrecken, und die vielen Zangen zum Ziehen der Zähne ließ ich vorerst im Schrank, um ihm nicht noch mehr Angst zu machen als ich schon hatte.
Er muss wohl meine Schweißperlen auf der Stirn gesehen haben, denn er sagte beruhigend: „Doc, Sie machen das jetzt richtig, den Daumen meines Kollegen haben Sie neulich auch hingekriegt!“ Das war ja großartig: Der Patient sprach dem Arzt Mut zu! Aber vielleicht war es die Hoffnung des Verzweifelten, die ihn dazu veranlasste, unsere Schicksalsgemeinschaft zu stärken. Und ich musste mit ihm jetzt diese Situation möglichst gut durchstehen, wenn es auch nur eine alltägliche Prozedur für einen Zahnarzt war. Aber ich bin kein Zahnarzt!
Ich hängte mir das Bohrmaschinchen um den Hals, wählte die Bohrkrone, die mir passend erschien, mein Patient öffnete tapfer seinen Mund, und ich begann ebenso mutig unser gemeinsames Wagnis. Zuerst säuberte ich die Umgebung des kranken Zahnes, tupfte das Zahnfleisch und die Kaufläche trocken und begann zu bohren. Mein Patient hielt den Kopf ruhig, und ich kam mit dem Bohrer gut voran. Die Maschine war einfach konstruiert, baumelte mir etwas lästig um den Hals, aber sie leistete gute Dienste. Als mir das Loch groß genug und die Ränder glatt erschienen, säuberte ich die Innenseiten des Loches und ließ die Mundhöhle spülen. Dann nahm ich das bereitstehende Amalgam und füllte es sorgfältig hinein. Es ging alles viel einfacher und schneller, als ich mir das vorgestellt hatte. Ich polierte die neue Kaufläche glatt und war tatsächlich im Moment mit meinem Patienten und sogar mit mir zufrieden.
„Jetzt müssen wir nur abwarten, ob die Schmerzen auch dann weg sind, wenn die Narkose im Kiefer nachlässt. Vielleicht muss ich ja noch tiefer bohren! Ich bin mir wirklich nicht sicher.“ Ich wollte meinem Patient keine Angst machen, aber ich fühlte mich wenigstens verpflichtet, ehrlich zu sein.
Er verstand das und sagte gequält lächelnd: „Das hoffe ich auch! Wenn´s nicht funktioniert, komme ich wieder! Auf jeden Fall mal danke, dass Sie es überhaupt gemacht haben!“ Er wandte sich zur Tür, und ich sagte: „Können wir uns in ein paar Stunden wieder sehen? Ich will wissen, was mit Ihren Schmerzen geschieht!“ Er versprach, später noch einmal vorbeizukommen.
Erleichtert für den Moment räumte ich die Instrumente auf und war froh, daß der Eingriff ohne Komplikationen abgelaufen war. Einige Stunden später kam der Matrose zurück und berichtete, er habe wieder das volle Gefühl in der Wange und im Zahnfleisch, und die Schmerzen seien verschwunden! Da hatten wir aber Glück gehabt! Ich bat ihn, den Zahn zu Hause bei seinem Zahnarzt kontrollieren zu lassen. Tatsächlich kamen die Schmerzen auch in den folgenden Tagen und Wochen nicht wieder, und mein Patient erzählte später, als er in Hamburg beim Zahnarzt gewesen war, ich hätte es wirklich richtig gemacht.
Copyright Dr. Dietrich Weller
Diese Geschichte habe ich in meinem Buch als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.