Die Herausforderungen für den Sterbenden

 

Memento mori!

frei übersetzt: Erinnere dich, dass du sterblich bist! 

Diesen Satz musste ein Sklave dem siegreichen Feldherrn bei dessen Triumphzug in Rom immer wieder ins Ohr sagen.

27.1 Die Möglichkeiten des Betroffenen in der Krise

Wie ich schon bei der Gleichung

Krise = Chance + Gefahr

ausführte, muss der Patient eine ganz persönliche Entscheidung fällen, unter welchen Gesichtspunkten er seine Krankheit betrachtet. Will er die Realität annehmen? Letztlich muss er sie annehmen. Es hängt jetzt nur noch davon ab, wie groß der innere Widerstand ist und welche geistig-seelischen Vorgänge notwendig -die Not wendend!- sind, um diese Annahme zu erreichen.

Der Patient muss seinen Sinn finden in dieser neuen Lebenssituation. Seine Schmerzen werden ihn plagen, bis er sie annehmen kann. Da hilft auch eine noch so gute Schmerztherapie lediglich zur vorübergehenden Befreiung. Der Patient bleibt abhängig vom Schmerzmittel, solange er Schmerzen hat.

Die Isolation ist für viele Menschen ein Schreckgespenst. Alleinsein ist eine Form der Folter, bis der Patient erkannt und erfühlt hat, dass Alleinsein auch All-eins-sein, mit allem eins sein bedeuten kann. Das ist seine Erlösung.

Hilflosigkeit bedeutet für viele Menschen Ausgeliefertsein, Schwachsein und Abhängigkeit. Sie fürchten sich deshalb davor, weil sie gelernt haben, Stärke zeigen zu müssen und anderen nicht zur Last zu fallen. Erst wenn die Patienten die Hilfe der Pfleger und der Nächsten als ein Geschenk annehmen können, fällt dieser Teil der Belastung weg und wird zur Gnade, die sie in ihren letzten Tagen und Wochen genießen dürfen. Das hat Ihnen das Beispiel von Frau Münchinger gezeigt.

27.2. Die Möglichkeiten für die Beziehung in der Krise

Die veränderten Beziehungen zu den Mitmenschen stellen eine völlig neue Herausforderung für alle Beteiligten dar. Gewohntes muss neu überdacht und ge-fühlsmäßig losgelassen werden. Erst wenn das Alte aufgehört hat, kann etwas Neues beginnen. Und wenn etwas Neues beginnen soll, müssen wir etwas Altes beenden. Wer erkannt hat, dass aus der alten Beziehung eine viel reichere und gehaltvollere erwachsen kann, wird es leichter haben, sich in die letzte Phase des Lebens und einer bestehenden Beziehung einzulassen.

Wer von einer Wiedergeburt und einer wechselseitigen Bestimmung füreinander über viele Leben hinaus überzeugt ist, hat ohnehin wesentlich weniger Schwierigkeiten, hier in diesem Leben einen geliebten Menschen loszulassen. Denn er ist überzeugt, dass dieser Mensch in diesem Leben ihm zu beiderseitiger Entwicklung geholfen hat und ihm in späteren Leben wieder begegnen wird. Dann sind Trennungen und Verluste viel leichter zu bewältigen, weil sie lediglich ein Zwischenstadium und keine Endgültigkeit darstellen.

Ich kenne Sterbende, die sich gefreut haben, jetzt gehen zu dürfen, weil sie sich mit ihrem früher verstorbenen Partner schon wieder verabredet hatten.

Der Patient muss eine Antwort auf die Frage nach seiner eigenen Wertigkeit finden. Er muss sich damit auseinandersetzen, was er mit seinem Leben gemacht hat. Wenn er diese Antwort gefunden hat, kann er emotional besser loslassen.

Markus Commerçon, ein AIDS-Kranker, der über sein Leben ein sehr ehrliches BuchFN verfasst hat, schreibt dazu als Leitwort:

Es ist unwichtig, ob ein Mensch gesund oder krank ist. Entscheidend ist vielmehr, was er aus Gesundheit oder Krankheit macht.

Ein scheinbar Gesunder, der täglich 40 Zigaretten raucht, ist eben nicht gesund, sondern schon krank, weil er süchtig ist. Er macht seinen Körper kaputt und vernebelt sein Dasein im wahrsten Sinne des Wortes. Ein AIDS-oder Krebs-Kranker, der in seiner Lage eine Chance ergreift, einen Sinn in seinem Leben zu finden, geht den Weg ins Leben bewusst durch seine Krankheit, nützt die Lage und wächst daran.


FN Markus Commerçon: AIDS – mein Weg ins Leben. Bastei-Lübbe-Taschenbuch Band 61363

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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Der Tod als Tabu und Chance

 

Ohne den Tod hätte es wohl kaum Dichter auf der Erde gegeben.

Thomas Mann (1875-1955), deutscher Schriftsteller, 1929 Nobelpreis für Literatur

 In mir gibt es keinen Gedanken, den nicht der Tod mit seinem Meißel geformt hätte.

Michelangelo Buonarroti (1475-1564), italienischer Dichter, Baumeister, Bildhauer und Maler

26.1 Der Tod als Tabu

In unserer sonst so aufgeklärt wirkenden Gesellschaft ist der Tod ein Tabuthema und wird überwiegend nur hinter vorgehaltener Hand besprochen oder mit negativen Werten und Ängsten in Verbindung gebracht. Wir verhalten uns dem Tod und dem Sterbevorgang gegenüber viel unnatürlicher als zum Beispiel Naturvölker und Kinder. Und in der westlichen Welt ist es weitgehend unverstanden, warum die Schwarzen in Amerika Freudenfeste feiern und den Leichnam eines Familienmitglieds mit einem Festzug und beschwingten Melodien zu Grabe tragen. Hier mischt sich Trauer um den Verlust des geliebten Menschen mit der freudevollen Gewissheit, dass es für den Verstorbenen ein Freudentag ist, jetzt im Jenseits im ewigen und vollendeten Frieden sein zu dürfen.

Wir erkennen das Tabu auch an der Tatsache, dass in unserer Umgangssprache selten das Wort sterben benützt wird. In der Traueranzeige steht: „Er ist sanft entschlafen, er ist abberufen worden, er hat seinen letzten Weg angetreten, er wurde heim gerufen, er hat die ewige Ruhe.“

In dem Alltagsgespräch heißt es in drastischen Wortbildern wesentlich weniger taktvoll: „Er hat den Schirm zugemacht, er ist über den Jordan gegangen, er schaut die Radieschen von unten an, er hat die Augen zugemacht, er ist in die Kiste gesprungen, er hat ins Gras gebissen, man hat ihm das Licht ausgeblasen, er ist jetzt in den ewigen Jagdgründen, er hat den Löffel weggelegt.“

Beobachten Sie bitte an sich selbst, wie oft Sie über einen Friedhof gehen, wenn Sie nur einen Spaziergang machen wollen. Empfinden Sie da tief innen eine Abwehrhaltung? Eigentlich ist es doch sehr schön, durch einen gepflegten Garten mit schönen Bäumen und ganz verschiedenen Blumenbeeten zu gehen, besinnlich zu sein und die Sonne zu genießen. Aber nein, da gibt es bei sehr vielen Menschen unangenehme Erinnerungen und noch unangenehmere Gefühle. Dann doch lieber in den Freizeitpark, ins Schwimmbad, ins Stadion, oder vor den Fernseher, wo es laut ist und das Leben tobt! Das lenkt so schön ab und gaukelt eine heile Welt vor.

Für unsere Gesellschaft ist der Tod mit Angst beladen, weil wir bis vor einigen Jahren noch nicht anerkannt hatten, was in vielen Kulturen längst zum allgemeinen Gedankengut gehört. Außerdem haben die christlichen Kirchen das Jenseits seit vielen Jahrhunderten auch mit den Begriffen Hölle, Fegefeuer und Strafe für diesseitige Vergehen in Verbindung gebracht und damit die meisten Menschen sehr verschreckt, in Schuld und Gewissenskonflikte gebracht und in peinigender Abhängigkeit gehalten.

Die neuesten Forschungsergebnisse zeigen, dass solche Horrorbilder nicht mehr aufrecht zu erhalten sind. Sie können nur noch dazu dienen, Gutgläubige ohnmächtig und unterwürfig und unselbständig zu halten, um hinter der Forderung zu religiösem Gehorsam und dem Heilsversprechen Machtinteressen zu verstecken.

Hölle findet hier auf dieser Erde statt, wenn wir sie uns selbst machen oder machen lassen. Das sehen wir jeden Tag in den Nachrichten und erleben es in unserem Umfeld, wenn die „Bestie Mensch“ zuschlägt. Wer die neuen Erkenntnisse der Forschung mit Sterbenden verinnerlicht hat, kann keine Angst mehr vor dem Sterben und schon gar nicht vor dem Tod haben. Vorausgesetzt, man lässt den Menschen würdig sterben.

Wir reden auch deshalb so ungern über den Tod, weil wir schlecht damit umgehen können und nicht wissen, was wir Positives oder Tröstliches über das Sterben und den Tod sagen könnten. Denn wir sehen im Tod einen Verlust und ein Zeichen unserer Unfähigkeit, ihn wirklich zu beeinflussen. Wir kämpfen mit allen Mitteln gegen den Tod und wissen doch, dass wir letztlich den Kampf immer verlieren.

Die Psychotherapeuten sprechen hier von einer neurosenträchtigen Verhaltensweise, denn wir handeln wie unter einem fixierten Gedanken, den wir nicht ablegen können, obwohl wir genau wissen, dass wir am Ende keine Chance auf einen Sieg in diesem Kampf haben.

26.2 Der Tod als Teil eines natürlichen Zyklus

Des Menschen Seele gleicht dem Wasser. Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es,  und wieder nieder zur Erde muss es, ewig wechselnd.

 Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), deutscher Dichter

Da wir wissen, dass jedes Leben auf den Tod hinzielt so wie eine Schwangerschaft unaufhaltsam auf eine Geburt zustrebt, wäre es besser, das Sterben und den Tod hinzunehmen als einen natürlichen Vorgang, der uns viele Chancen zur Wandlung und zum Wachstum vermittelt. Solch ein Ziel kann nie ein Verlust sein.

In der Natur ist es uns selbstverständlich, dass eine Blüte welkt und eine neue im Frühjahr aufblüht. Die Zyklen der Gestirne, Ebbe und Flut, Tag und Nacht gehören zu den Selbstverständlichkeiten unseres Alltags und Lebens. Nur beim Leben der Menschen gehen wir im Allgemeinen in unserer Kultur davon aus, dass dieses Leben aus dem Nichts kommt und mit der Zeugung beginnt und mit dem klinischen Tod ins Nichts endet. Ein Zyklus wird von vielen Menschen nicht erkannt. Er wird sogar von den meisten scharf abgelehnt.

Ich will hier keine ausführliche Diskussion über die Reinkarnation führen. Nur zwei Gedanken will ich erwähnen und Sie damit zum Nachdenken anregen. Wenn es keine Reinkarnation, also keinen Zyklus der Seelenwanderung gibt, ist dies die einzige Ausnahme im Universum. Denn das Prinzip der Verwandlung kennen wir im gesamten Weltall. Nichts kommt aus dem Nichts, nichts geht ins Nichts. Alles hat seinen Wandel und seinen Zyklus. Halten Sie es für wahrscheinlich, dass es bei einem sonst universell geltenden Gesetz nur diese eine Ausnahme gibt? Das würde bedeuten, dass es kein universell geltendes Gesetz ist.

Und der zweite Gedanke: Weder die evangelische noch die katholische Kirche haben eine offizielle einheitliche Lehrmeinung zum Thema der Reinkarnation! Die Auferstehungslehre und die Reinkarnationslehre werden in der evangelischen Theologie im Widerspruch zueinander gesetzt, wo sie sich doch so gut ergänzen könnten oder tatsächlich ergänzen. Die anthroposophische Theologie sieht die beiden Begriffe als Ergänzung.

In der evangelischen Kirche ist es jedem Pfarrer überlassen, wie er mit dieser Frage umgeht, weil er nach evangelischer Lehrmeinung in letzter Konsequenz seinem Gewissen verpflichtet ist und nicht einer Lehrmeinung. In der katholischen Kirche gilt der neue Katechismus von 1993, in dem festgelegt ist, das bei Zweifelsfällen zwischen eigenem Gewissen und kirchlicher Lehrmeinung die Kirche Vorrang hat. Das ist ja auch ein wesentlicher Kritikpunkt der modernen Katholiken an ihrer Kirche und einer der Gründe für die wachsenden Reformbestrebungen innerhalb der Gemeinden.

Für die katholische Kirche ist bekannt, dass Papst Johannes Paul II. mehrere Kommissionen eingesetzt hat, um der Frage, ob es nach katholischer Meinung eine Reinkarnation gibt oder nicht, nachzugehen und eine klare Stellungnahme zu finden. Außerdem hält sich hartnäckig die Meinung, dass die entscheidenden Stellen zum Beweis der Reinkarnation in der Bibel bereits im Konzil zu Konstantinopel 869 n. Chr. aus der Bibel entfernt wurden. Sie liegen sehr wahrscheinlich unter Verschluss in den Archiven des Vatikan.

Wenn die katholische Kirche zu der Meinung kommen würde, dass es eine Reinkarnation gibt, würde das ganze Denkgebäude von Himmel und Hölle, ewigem Frieden für die Guten und Fegefeuer für die Bösen eine schlagartige und grundlegende Wandlung erfah-ren. Dann könnte das Fegefeuer eine ganz andere Bedeutung als vorübergehender (!) Reinigungspozess wie in der anthroposophischen Lehre bekommen. Der Mensch hätte dann seine aktive Rolle auch im Jenseits weiter zur Möglichkeit und Verpflichtung seines Schicksals und wäre nicht das passive Opfer übergeordneter Mächte. Das würde die enorm große Macht der katholischen Kirche über ihre Mitglieder drastisch vermindern, weil dann eine Steuerung der Gläubigen mit Schuldgefühlen und der Androhung von ewiger Strafe für Verfehlungen nicht mehr verfängt. Es ist meiner Meinung nach schon aus dieser Überlegung heraus ausgeschlossen, dass die katholische Kirche sich je zu solch einer Lehrmeinung entschließen wird.

Eines ist sicher: Es ist unabhängig von unserem Glauben, ob es eine Reinkarnation gibt oder nicht. Es liegt an jedem Einzelnen von uns, ob er die „Beweise“ der jeweils anderen „Partei“ als Beweise anerkennt oder nicht.

Im Glauben gibt es keine Beweise im naturwissenschaftlichen Sinn. Deshalb ist es unnütz, darüber zu streiten. Aber genau diese Tatsache gibt den Fundamentalisten und Fanatikern Wasser auf ihre Mühlen. Wenn es so eindeutig klar wäre – also nur eine einzige Deutung zulassen würde!-, was in der Bibel steht, würden sich nicht so viele Kirchen mit ganz verschiedenen Auslegungen darauf berufen.

Wir können nur hoffen, dass unsere Forschung Möglichkeiten findet, dieses Welträtsel so weit wie möglich zu klären.

Klar ist, dass durch den tabuisierenden Umgang mit dem Tod die Chancen für die Annahme des Todes und damit für die Reifung im Sterben verkleinert werden.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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Wollen Sie Organspender sein?

Vorbemerkung: Bitte beachten Sie, dass ich diesen Artikel bereits 1997 für mein „Wenn das Licht naht“ geschrieben habe. Die Problematik der Organspende in menschlicher und organisatorischer Hinsicht hat sich allerdings trotz der Skandal des vergangene Jahres im Prinzip nicht verändert. Die Zahl der angebotenen Spenderorgane ist immer noch viel geringer als die Zahl der benötigten Organe. Deshalb halte ich den Artikel unverändert für gültig.

 

Do ut des.  Ich gebe, damit du gibst.

Lateinisches Sprichwort

Verhalte dich so, wie du es von anderen dir gegenüber erwartest.

Nach dem Kategorischen Imperativ von Immanuel Kant (1724-1804), deutscher Philosoph

25.1 Einige Zahlen und Informationen

Inzwischen sind es über vierzig Jahre her, seit die ersten Organe transplantiert worden sind. 1954 gelang in Boston die erste Übertragung einer Niere auf einen Menschen. Aber die Weltöffentlichkeit hat bei der ersten Herztransplantation die Sensation der neuen Möglichkeiten wirklich aufgenommen und breit diskutiert. Prof. Christiaan Barnard übertrug 1967 in Kapstadt einem Menschen das erste menschliche Herz. Seither hat die Zahl der Organtransplantationen sprunghaft zugenommen. Inzwischen leben weltweit über 300 000 Menschen mit einem fremden Organ.

Bei den Nieren ist die Erfolgsquote besonders hoch: Ein Jahr nach der Übertragung funktionieren noch etwa 80 Prozent der transplantierten Organe, nach fünf Jahren noch 75 Prozent.FN Bei etwa der Hälfte der transplantierten Nieren kommt es in der Frühphase nach der Operation zu Abstoßungsreaktionen, die aber meistens durch entsprechende Medikamente eingedämmt werden könnten.

Die 5-Jahres-Überlebensrate bei verpflanzten Lebern beträgt bei Patienten mit chronischen Lebererkrankungen fast 80 Prozent und etwa 70 Prozent, wenn die Patienten vorher ein rasch ablaufendes Leberversagen hatten.

Bei Hornhäuten ist die Funktionsdauer der Transplantate noch höher: Sie ermöglichen oft über Jahrzehnte eine gute Sehqualität.

Diese Erfolge wurden mit zunehmend verbesserter Operations- und Gerätetechnik und wachsender Erfahrung mit Medikamenten möglich, die das Abwehrsystem des Körpers und damit die Abstoßungsreaktionen gegenüber den übertragenen Organen beein-flussen.

Nur ein paar Zahlen für 1996: 510 Herzen, 699 Lebern, 108 Lungen und 102 Bauchspeicheldrüsen sind in 49 deutschen Kliniken transplantiert worden. Insgesamt stieg die Zahl der Transplantionen von 3 368 auf 3 435 innerhalb von einem Jahr. Das sind etwa 2% mehr Transplantationen als 1995. Allerdings hat die Zahl der Nierentransplantationen um 112 abgenommen bei einer Gesamtzahl von 2016.FN

25.2 Wann muss ein Organ transplantiert werden?

Wenn ein lebenswichtiges Organ schwere Funktionsausfälle zeigt, die medikamentös oder technisch nicht mehr ausgeglichen werden können, hat der Patient nur dann eine Überlebenschance, wenn er ein neues Organ erhält. In der breiten Öffentlichkeit ist inzwischen das Beispiel der Dialyse bekannt, bei der mit einem hochtechnisierten Gerät Blut aus dem Körper von den Giftstoffen befreit wird, die eigentlich von der Niere aus-geschieden werden müssten. Wenn die Dialyse nicht zur Verfügung steht, stirbt der Mensch an einer Vergiftung. Auch wenn bei einer schweren Herzerkrankung Operationen an den Herzkranzgefäßen nicht oder nicht mehr möglich sind, und das Herz bei einer Herzmuskelerkrankung zu schwach arbeitet, hilft nur noch eine Transplantation eines fremden Herzens vor dem sicheren und manchmal sehr qualvollen Tod.

25.3 Der Mangel an Spenderorganen

Fast 10 000 Dialysepatienten warten auf eine Niere, Eurotransplant kann aber zur Zeit nur etwa 2 500 Nieren im Jahr vermitteln.FN-1 Mindestens 2 000 Menschen brauchen dringend ein neues Herz und eine neue Leber. Die Wartelisten werden immer länger, und zur Zeit können maximal etwa 2.000 Nieren pro Jahr transplantiert werden.70 Im Durchschnitt vergehen drei bis fünf Jahre, bis für einen Patienten auf der Warteliste ein Organ zur Verfügung steht. Da ist das Warten nicht nur für die Patienten eine Form der Folter und Ungewissheit, sondern während dieser Zeit können andere Organe zusätzlich krank werden und die Operations- und Überlebenschance verringern.

Etwa 10 bis 20 Prozent der Menschen, die auf eine Leber zur Transplantation warten, sterben bevor ein Spenderorgan zur Verfügung steht.FN-2

Inzwischen werden wegen der Knappheit der transplantierbaren Nieren immer mehr Stimmen laut, die besonders strenge Kriterien für diese Transplantation verlangen, da man bei einer nicht ausreichenden Nierenfunktion mit einer regelmäßigen Dialyse weiterleben kann. Die Abhängigkeit von einer dreimal in der Woche nötigen Dialyse ist eine besonders komplizierte Situation für den Kranken. Außerdem leidet die seelische und körperliche Entwicklung von Kindern während einer schweren Nieren- und Herzerkrankung besonders stark.

Wie in den meisten europäischen Ländern werden in Deutschland 12 bis 13 Organe je 1 Million Einwohner gespendet. In den USA sind es 18, und Spanien ist mit 32 Organen auf 1 Million Einwohner an der Spitze in Europa.FN-2

Die Nachfrage nach transplationsfähigen Organen kann in Deutschland schon lange nicht mehr gedeckt werden. Seit Beginn der Transplantationen bis 1995 hat Deutschland etwa 1500 Organe mehr bezogen, als es in den internationalen Spenderpool eingebracht hat. Österreich und die Beneluxländer haben zum Beispiel 207 Organe allein 1996 nach Deutschland importiert. Diese Situation schafft dort natürlich Unzufriedenheit und Ärger. Das spricht auch dafür, in unserem Land möglichst rasch eine hohe Rechtssicherheit für Transplantationen zu erreichen, um das Vertrauen der Bevölkerung in die richtige Versorgung der Betroffenen zu gewährleisten.

25.4 Neue Lebensqualität

Durch eine Transplantation wird die verminderte Lebensqualität sehr oft schlagartig und erheblich gebessert. Die meisten Menschen können ihren Alltag nach einer Übergangsphase in uneingeschränkter Form wieder bewältigen, erfahren eine neue Lebensfreude und feiern deshalb das Transplantationsdatum oft als zweiten Geburtstag. Das ist ja auch gut einsehbar, denn sie haben ein neues Leben erhalten, für das sie besonders dankbar sind.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch die Übertragung von kleinen Organteilen wie Gehörknöchelchen bei einem ertaubenden oder Hornhaut bei einem erblindenden Menschen schon ganz grundlegende Unterschiede in der Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit der Patienten bewirken.

Ein Kollege von mir hat im Alter von 39 Jahren unerwartet eine so schwere Herzmuskelerkrankung bekommen, dass er plötzlich in einem lebensbedrohlichen Zustand war. Vorübergehend konnte seine Herzfunktion mit Medikamenten verbessert werden, aber es war klar, dass er nur mit einem neuen Herzen überleben kann. Eine für alle Beteiligten und besonders für ihn selbst quälende Zeit der Unsicherheit und ständigen Verschlechterung schloss sich an. Nach fast zwei Jahren bekam er ein Spenderherz und ist inzwischen wieder in der Lage, seine Praxis zu versehen und ohne wesentliche körperliche Einschränkung mit seiner Familie zu leben.

(Bemerkung 2013: Er hat zwanzig Jahre mit diesem Organ gelebt.)

Herrn Strom habe ich über viele Jahre betreut. Er bekam als recht junger Mann nach relativ kurzer Zeit an der Dialyse eine neue Niere, die aber innerhalb der ersten Tage abgestoßen wurde. Er musste also wieder an die Dialyse angeschlossen werden, um überleben zu können. Glücklicherweise konnte rasch ein zweites Organ gefunden werden, das Herr Strom gut vertrug. So erholte er sich bald und konnte seinen Beruf als Handwerkermeister mit eigenem Betrieb wieder aufnehmen. Leider verstarb er recht jung ein paar Jahre später an einem Herzinfarkt.

25.5 Die entscheidende Frage

1996 waren in Deutschland mehr als die Hälfte der Befragten bereit, nach ihrem Tod ein Organ für eine Transplantation zur Verfügung zu stellen. Besonders hoch ist die Bereitschaft bei jüngeren Erwachsenen, hier liegt sie bei knapp 70 Prozent. Trotzdem halten sehr wenige dieser Menschen ihre Bereitschaft schriftlich fest oder benachrichtigen die nächsten Angehörigen von ihrem Entschluss. Diese könnten im Fall des Todes des Transplantationswilligen rasch und entschlossen in seinem Sinne handeln. Man schätzt, dass nur fünf Prozent der Menschen, die ein Organ spenden würden, eine schriftliche Erklärung über ihren Willen ausgefüllt haben.

1996 gingen in Deutschland 90% der Organspenden auf die stellvertretende Zustimmung der Angehörigen der Organspender zurück. Nur bei 10% der Organspender lag eine Einverständniserklärung des Spenders vor, davon nur in 4% eine schriftliche!

Die Koordinatorin für Transplantationen an der Universität Bonn, Frau Dr. Elke Backhaus, berichtete zum Beispiel, daß in ihrer sechsjährigen Arbeitszeit am Transplantationszentrum Bonn nur sieben Kandidaten für eine Organspende einen Spenderausweis bei sich hatten. Sie vertritt auch die Meinung, daß von den etwa 500.000 Menschen, die jährlich in Deutschland sterben, bei 5.500 ein Hirntod diagnostiziert wird. Davon kämen die Hälfte der Toten als Organspender in Betracht, aber nur bei 1000 würden Organe entnommen.FN

Herr Prof. Dr. Hirner, Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik in Bonn, vertritt die Meinung, daß die Zahl der Organspenden verdoppelt werden könnte, wenn alle Krankenhäuser in seinem Einzugsbereich sich an an dem Organspendeprogramm beteiligen würden. Die Organe, die in seiner Klinik tranplantiert wurden, stammen nur aus sieben Prozent der umliegenden Krankenhäuser.FN

25.6 Transplantationsware Transplatationsorgane

Es ist bekannt, dass besonders in der Dritten Weit ein lebhafter Handel mit Organen zu hohen Preisen betrieben wird. Und es gibt eine Reihe von kriminellen Vereinigungen, die sogar Menschen verschleppen, um ihnen Organe zur Transplantation zu entnehmen. An-schließend werden die unfreiwilligen Spender wieder freigelassen.

Amnesty International hat zum Beispiel auch mehrfach berichtet, dass in chinesischen Gefängnissen immer dann „ganz zufällig“ die Zahl der Hinrichtungen steigt und „zufällig“ ein Transplantationsteam bei der Hinrichtung anwesend ist, wenn Organe für Transplan-tationen gebraucht werden.

25.7 In Deutschland ist der Handel mit Organen und Transplantaten verboten.

Auch die zur Zeit im Bundestag diskutierte Neufassung des Transplantationsgesetzes enthält eine entsprechende Formulierung. Darüber besteht auch unter den Parteien im Bundestag Einigkeit. Der beste Beitrag, den wir in Deutschland gegen den Organhandel in anderen Ländern leisten können, besteht in einer ausreichend hohen Spendebereitschaft im eigenen Land.

25. Wann ist der Mensch tot?

In letzter Zeit ist die Organspende besonders dadurch ins Gerede gekommen, dass die Menschen Angst haben, bei Transplantationswilligen würde der Tod früher festgestellt werden, um an die Organe zu kommen. Deutschland ist neben Malta und Irland das einzige Land in Europa, das keine gesetzliche Regelung für Organtransplantationen hat. Um die rechtliche Unklarheit und  die Verunsicherung der Bevölkerung zu beseitigen, wird zur Zeit im Bundestag ein Transplantationsgesetz beraten, das zu heftigen Kontroversen führt.

Zum besseren Verständnis will ich ein paar erklärende medizinische Bemerkungen machen. Bis vor mehreren Jahren ging man davon aus, dass ein Mensch tot ist, wenn sein Herz aufgehört hat zu schlagen und die Lunge nicht mehr atmet. Man nennt diesen Zustand Herztod. Inzwischen wissen wir, dass zu diesem Zeitpunkt immer noch Aktivität im Gehirn vorhanden sein und das Herz mit Hilfe der Wiederbelebung wieder zu schlagen beginnen kann. Erst wenn das Gehirn keine Aktivität mehr zeigt, ist der Patient irreversibel71 tot. Man kann diese fehlende Tätigkeit im EEG72 mit einer sogenannten Null-Linie, in einer Gefäßdarstellung mit Kontrastmittel und mit der Überprüfung bestimmter Reflexe des Stammhirnes nachweisen. Wenn alle Funktionen aller Hirnabschnitte irreversibel ausgefallen sind, nennen wir diesen Zustand Hirntod.

Ein ohne Großhirn geborenes Kind atmet und hat Stammhirnreflexe, aber es ist nicht hirntod, obwohl es im EEG keine Großhirnaktivität zeigt. Trotzdem hat es keine Überlebenschance.

Der Konflikt zwischen Herztod und Hirntod konnte nur durch die moderne Intensivmedizin entstehen. Dadurch sind wir inzwischen in der Lage, den Kreislauf eines hirntoten Menschen weiter aufrecht zu erhalten. Das bedeutet, daß die Maschinen das Blut durch den Körper pumpen und die Organe mit Blut versorgt werden. Der Patient ist warm und ausreichend durchblutet, das Herz schlägt, die Atmung wird künstlich aufrechterhalten. Gleichzeitig wissen wir, daß der Patient hirntot ist. Wenn die Maschinen abgeschaltet werden, hören alle Lebensfunktionen im Körper auf.FN

Nun muss man wissen, dass nur ein gut durchblutetes, am Leben erhaltenes Organ transplantiert werden kann. Wenn die Durchblutung eines Organes aufhört, sterben innerhalb von wenigen Minuten die Zellen ab, und dieses Organ kann keine Funktion mehr in einem fremden Körper aufnehmen. Deshalb ist es nötig, einen hirntoten Menschen, dessen Organe transplantiert werden sollen, solange künstlich zu beatmen und seinen Kreislauf aufrechtzuerhalten, bis das Organ entnommen und die Wunde kunstgerecht wie bei jedem Operierten verschlossen ist. Anschließend werden die Maschinen abgeschaltet. Die Angehörigen können wie in jedem anderen Todesfall auch von dem Toten Abschied nehmen, und der Verstorbene kann wie jeder andere Tote bestattet werden.

Daraus wird deutlich, dass nur Organe von Menschen zur Transplantation in Frage kommen, die mit Sicherheit hirntot sind und weiter künstlich beatmet und kreislaufgestützt werden. Damit sinkt automatisch die Zahl der transplantationsfähigen Organe erheblich. Alle Menschen, die außerhalb eines gut ausgerüsteten Krankenhauses sterben, gehören zum Beispiel nicht dazu. Außerdem dürfen natürlich nur gesunde Organe transplantiert werden.

Bei der im Moment laufenden Diskussion stehen sich im Bundestag zwei grundlegende Meinungen gegenüber: Die eine mehr medizinisch ausgerichtete Gruppe vertritt die Ansicht, dass der Mensch mit dem Hirntod sicher tot ist. Diese Gruppe vertritt eine sogenannte erweiterte Zustimmungslösung, d.h. Organe können von einem hirntoten Menschen entnommen und transplantiert werden, auch wenn die Angehörigen auf Grund einer mutmaßlichen Zustimmung des Verstorbenen damit einverstanden sind. Diese Regelung gilt bis jetzt. Ihr ist es zu verdanken, dass relativ viele Organe -wenn auch nicht genügend- zur Transplantation zur Verfügung stehen. Damit gibt es auch die Möglichkeit, Organe von verstorbenen Kindern mit Erlaubnis der Eltern in schwerst kranke Kinder zu verpflanzen. 1996 waren das immerhin 245 Organe bei Kindern und Jugendlichen bis zum 16. Lebensjahr.

Die große Zahl der Gegner aus dem mehr juristisch, theologisch und philosophisch orientierten Lager bekämpfen diese Meinung. Sie bezweifeln, dass ein Hirntoter wirklich tot ist und verlangen, dass eine Transplantation nur vorgenommen werden darf, wenn der Verstorbene zu Lebzeiten selbst eine klare schriftliche Erlaubnis zur Transplantation seiner Organe gegeben hat. Das ist die sogenannte enge Zustimmungslösung.

Wenn diese Regelung neues Gesetz wird, ist klar, dass bei bisher nur 4% schriftlichen Einwilligungen zur Organverpflanzung die Transplantationsmedizin fast vollständig zum Erliegen kommt. Transplantationen bei Kindern werden ausgeschlossen, weil Kinder keine rechtsgültige Erlaubnis zur Entnahme ihrer Organe geben können. Außerdem kann man in Kinder wegen der Größenunterschiede keine Organe eines Erwachsenen einsetzen. Die im vergangenen Jahr herztransplantierten Kinder wären dann gestorben und die dialysepflichtigen blieben weiter an die Maschine gefesselt mit allen gesundheitlichen, seelischen und finanziellen Konsequenzen.

Außerdem wird durch die massive Einschränkung der Operationszahlen die Qualität der Eingriffe sofort sinken, weil gerade an der hohen Zahl eines Eingriffes Qualität und Erfahrung entwickelt werden kann.

Nehmen Sie ein Beispiel: Nach einer Herztransplantation eines liegt die Überlebensrate bei 80 Prozent nach einem Jahr und bei 70 Prozent nach fünf Jahren. Ohne diese Transplantation sterben 80 bis 90 Prozent der Patienten, die auf der Warteliste stehen, innerhalb von zwei Jahren.

Es ist unzweifelhaft richtig, dass eine schriftliche Einwilligung eines Menschen die beste und sauberste Lösung zur Transplantation seiner Organe darstellt. Ob sie bei den vorliegenden operativen Möglichkeiten und den überwältigend guten Chancen für die Operierten als einzige(!) gesetzlich verankerte Regelung zur Transplantation sinnvoll und praktikabel und im Sinne der Kranken und der Verstorbenen ist, überlasse ich Ihrer eigenen Einschätzung, nachdem Sie dieses ganze Kapitel gelesen haben.

25.9 Wie werden die Organe verteilt?

Wenn in einer Klinik ein Patient liegt, bei dem der Hirntod durch zwei Ärzte unabhängig voneinander festgestellt wird, fragen die Ärzte bei den Angehörigen des Patienten, ob der Patient eine Erklärung zur Transplantation abgegeben hat oder mutmaßlich einer Transplantation zustimmen würde. Dabei ist wichtig, dass die beiden Ärzte, die den Tod feststellen, nicht dem Transplantationsteam angehören dürfen. Damit wird einem Interessenkonflikt vorgebeugt.

Wenn eine Zustimmung vorliegt, wird die zentrale Verteilerstelle Eurotransplant über die deutsche Verteilerstelle in Heidelberg benachrichtigt und mit den Daten des Patienten versorgt. Dort wird entschieden, wo das Organ eingesetzt wird.

1967 wurde in der niederländischen Stadt Leiden die gemeinnützige Organisation Eurotransplant gegründet, die über ein Computernetz unter anderen auch mit allen 33 Transplantationszentren in Deutschland verbunden ist. Hier werden Daten über bedürftige Patienten und angebotene Organe vom Computer zusammengebracht. Dabei sind die Blutgruppe und wesentliche Eigenschaften der Gewebe entscheidend, ob Organ und Empfänger zueinander passen. Mit dem Computer ist es in Sekunden möglich, für ein jetzt transplantierbares Herz den passenden Empfänger zu finden. Dann kann ein speziell geschultes Operationsteam unter üblichen Operationssaalbedingungen das Herz aus dem toten Menschen entfernen. Dieses Team bringt das tiefgekühlte Organ zu dem herzkranken Patienten, dem das dortige Chirurgenteam das neue Herz transplantiert. Die Transportzeiten werden vom Computer bei der Verteilung mitberücksichtigt, weil diese einen wesentlichen Einfluss auf den Erfolg der Operation haben.

Nicht berücksichtigt werden bei der Verteilung von Organen Kriterien wie Verdienst, Ansehen oder Religionszugehörigkeit von Spender und Empfänger. Der Patient oder seine Hinterbliebenen haben keinen Einfluss auf die Entscheidung von Eurotransplant. Sie erfahren auch nicht, wohin das Organ transportiert wird. Der Empfänger bekommt keinen Hinweis, von wem sein neues Organ stammt. Damit soll finanziellen Forderungen, Erpressungen oder anderen Einflüssen vorgebeugt werden.

Seit Bestehen von Eurotransplant wurden über diese Organisation rund 60.000 Organe vermittelt. Die medizinischen Daten von etwa 18.000 Menschen sind dort gespeichert.

25.10 Die psychische Belastung der Angehörigen 

Es ist naheliegend und sehr gut verstehbar, dass die Frage nach der Einwilligung zur Transplantation die schwierigste Frage zum schmerzlichsten Zeitpunkt an die unglücklichste Familie darstellt.

Ich erinnere mich an eine junge Frau, zu der ich aus der Sprechstunde heraus von ihrer Mutter gerufen wurde. Die Tochter sei „umgefallen und liege so komisch am Boden“, ich solle schnell kommen. Ich fuhr sofort los und fand die Patientin mit allen Zeichen einer akuten Hirnblutung vor. In der Klinik wurde die Diagnose mit dem Computertomogramm bestätigt. Wie in diesem schweren Fall einer unstillbaren Blutung zu erwarten war, verstarb die Frau noch am selben Tag.

Der Ehemann und die Mutter erzählten mir von den letzten Stunden in der Klinik: „Als wir wussten, dass sie mit Sicherheit sterben würde, fragten uns die Ärzte, ob wir der Entnahme einer Niere für eine Transplantation zustimmen würden. Es war schrecklich, in diesem Moment diese Frage beantworten zu müssen. Aber wir haben zugestimmt, weil wir damit das Gefühl haben, dass ihr Tod wenigstens einem anderen Menschen das Leben retten kann. Jetzt sind wir bei aller Trauer froh.“

Bei unvorhergesehenen Todesfällen ist es besonders wichtig, die Angehörigen richtig zu betreuen, denn sie können den Tod nur be-greifen, wenn sie im wörtlichen Sinne den hirntoten Menschen anfassen und die Wirklichkeit mit eigenen Sinnen wahrnehmen und mit Ärzten oder dafür geschultem Pflegepersonal besprechen können. Ein taktvoller und möglichst einfühlsamer Umgang mit den Angehörigen durch das ganze Klinikpersonal und die Umwelt der Beteiligten ist dringend erforderlich. Wenn dies nicht gewährleistet ist, werden die Angehörigen wahrscheinlich eine schädliche Form der Trauerarbeit entwickeln.

Sich als Arzt in diesen Stunden richtig und taktvoll zu verhalten, ist außerordentlich schwierig und wichtig. Denn die Angehörigen sind im allgemeinen verzweifelt, ratlos und können deshalb möglicherweise nicht bei klarem Denken eine entschlossene Meinung im Sinne des Verstorbenen vertreten, wenn eine solche Meinung nicht bekannt ist. Eine wesentliche Hilfe für alle Beteiligten liegt nur dann vor, wenn der Patient selbst zu Lebzeiten seine eindeutige Ansicht zur Frage der Organspende festgelegt hat.

Zu einem professionell guten Umgang gehört auch eine sorgfältige Nachbetreuung der Angehörigen über längere Zeit nach der Transplantation.

All diese Gesichtspunkte und einige mehr gehen sehr eindrucksvoll aus einem Brief hervor, den ich hier mit der Erlaubnis der Verfasserin veröffentlichen darf. Sie hat ihn an eine Bundestagsabgeordnete geschrieben, um ihre Meinung zu der laufenden Diskussion über das neue Transplantationsgesetz beizutragen.

Ihr Bruder starb bei einem Motorradunfall, und sie stimmte mit ihren Eltern einer Transplantation seiner Organe zu. Dieser Brief wurde mir freundlicherweise von dem ärztlichen Koordinator des Transplantationszentrums Tübingen, Herrn Dr. Fischer-Fröhlich, zur Verfügung gestellt.

Mein geliebter Bruder!

Ich sitze an meinem Schreibtisch, und meine Gedanken gehen zurück in eine schwere Zeit – Tage und Stunden, in die Zeit, als die schreckliche Nachricht eintraf, dass Du, mein lieber Bruder, schwer mit dem Motorrad verunglückt bist (vor fast fünf Jahren). Und es ist immer noch so, als wäre es erst jetzt passiert.

Freitagvormittag: Es ist schöner, sonniger Vormittag, als das Telefon klingelt, unsere Schwester ist am Telefon, sie sagt mir, Du liegest sehr schwer verletzt im Krankenhaus. Panik überfällt mich, Angst, Weinkrämpfe übermannen mich. Schnell rufe ich Rudolf, Deinen Schwager, meinen Mann an, er kommt sofort. Ich richte eine kleine Tasche mit dem Notwendigsten her. Tine fährt mich zu Dir ins Krankenhaus. Während der Fahrt kreisen meine Gedanken – es ist bestimmt nicht so schlimm, es darf nicht so schlimm sein!

Wir kommen an, sofort gehe ich in Dein Zimmer auf der Intensivstation; da liegst Du, an Apparaten, ohne Haare, schrecklich, wie groß Du bist, aber ja, Du bist ja schon 22 Jahre, mein lieber kleiner Bruder. Ich weiß nicht warum, aber als ich vor Dir stehe, ver-abschiede ich mich innerlich von Dir, obwohl uns (unseren Eltern und mir) noch kein Arzt gesagt hat, dass Du Dein Leben beendet hast. Bange Stunden für unsere Eltern. Ich stehe neben mir, was passiert nur mit uns?

Samstagvormittag: Unsere Eltern und ich wollen gerade die Tür zur Intensivstation öffnen, da kommt uns der Neurologe entgegen und sagt zwischen Tür und Angel: „Ach, übrigens bei ihrem Sohn – Bruder ist der Hirntod eingetreten!“ und verschwindet. Schock pur! Vater muss sich setzen und weint; unsere Mutter läuft weinend und schreiend den Flur der Intensivstation auf und ab, ich habe das Gefühl, ich kippe um; mir ist schlecht; ich lehne an der Wand, und langsam rutsche ich runter, also doch: Du wirst nie wieder in unserer Mitte sein. Dieser lange Flur, ich will unsere Mutter beruhigen, da sind noch andere Leute und warten – sie lässt es nicht zu. Warum geht keine Tür auf, und warum nimmt uns keiner zur Seite? Ich schäme mich – kann nicht so trauern, wie es mit zumute ist, komme mir beobachtet vor. Ich bin so aufgewühlt; ich stehe am Meer, und große Wellen kommen auf mich zu und ziehen sich wieder zurück. Endlich nach circa einer halben Stunde auf dem Flur geht die Tür auf, und ein Arzt holt uns in eine separates Zimmer. Vater und ich setzen uns, Mutter steht. Der Arzt erklärt uns nochmal, dass bei Dir der Hirntod eingetreten ist und stellt uns Fragen über Dich, wie Du warst, und ob wir uns bereiterklären, dass Du Organspender wirst.

Da waren wieder das Meer und die riesige Welle, meine erste innerliche Reaktion war nein. Als die Welle sich zurückzieht, werde ich ruhiger und überlege, wie Du bist (warst). Immer liebenswert und hilfsbereit, ich komme zu der Überzeugung, Du wärst und bist damit einverstanden. Wir sagen ja. Was geht jetzt in unseren Eltern vor, ich weiß es nicht, bis heute nicht.

Wir dürfen nochmal zu Dir. Du liegst genauso da wie gestern, nur dass jetzt ums Bett eine spanische Wand aufgestellt ist. Ich spreche mit Dir. – Du, ich habe ja gesagt zu der Organentnahme, was meinst Du dazu; ich habe das Gefühl, du sagst zu mir – es ist in Ordnung, Kleine.

Es ist fürchterlich hier in diesem Großraumzimmer. Da liegen noch andere Patienten, die bekommen alle mit, was passiert ist, unser Weinen und Klagen. Tschüss, mein Lieber, bis bald, wir werden uns wiedersehen.

Sonntagvormittag: Unsere Schwester und ich fahren nochmal zu Dir, um das Ergebnis der zweiten Hirntoddiagnostik zu erfahren. Als wir ankommen, sind die Untersuchungen noch nicht ganz abgeschlossen. Uns kommt ein Chirurg entgegen, der Dich mitnehmen wird -danach-. Er ist sehr betroffen, und man fühlt sich bei ihm gleich angenommen und verstanden. Er führt uns in die Küche auf der Intensivstation, holt Kaffee und redet mit uns. Wir weinen, sind hilflos, geschockt und können nicht verstehen, dass Du uns verlassen hast. Er begleitet uns in unseren Gefühlen und nimmt sich Zeit und ist für uns da.

Nochmals gehen wir zu Dir. Ich kann kaum noch, und doch will ich Dich nochmal sehen. Der nette Arzt geht mit uns, steht abseits und ist doch da. Er sagt uns, wir sollen alles raus lassen. Er ist für uns da.

Was hast Du in der Zeit, in der wir uns nicht mehr gesehen haben, noch alles gemacht und erlebt, frage ich Dich. Das wirst Du alles von meinen Freunden erfahren, antwortest Du mir. Ja, ich will alles noch einmal für Dich durchleben, Dein Leben nochmal einatmen. Schlaf schön, und habe keine Angst, denn da, wo Du jetzt bist, geht es Dir gut.

Deine Dich immer liebende Schwester.

Die Beerdigung ist vorbei, und anstatt dass unsere Familie zusammenhält, zerfällt sie.

Monate danach, der erste Schock ist überstanden, kreisen meine Gedanken immer wieder, und ich frage mich: Was ist Hirntod? Wie geht es den Menschen, die die Organe meines Bruders bekommen haben? Ist es für sie etwas Selbstverständliches? War meine Entscheidung richtig? Ich fühle mich so allein gelassen mit meinen Fragen. Von außen kommen keine guten Antworten. Von Ausschlachten, nicht in den Himmel kommen, von zu wenig ärztlicher Hilfe für meinen Bruder ist die Rede! Wahnsinn pur!!! Was sind das für Menschen?

Ich rufe im Transplantationszentrum Tübingen an und werde mit dem Koordinator, Herrn Dr. Fischer-Fröhlich, verbunden. Ich schildere ihm meinen Zustand, er spricht mit mir, und wir treffen uns zu einem persönlichen Gespräch. Ich spreche alle Ängste und Fragen an, er hilft mir, endlich jemand, der mich versteht!

Später erfahre ich, dass es allen fünf Empfängern, mein Bruder hat beide Nieren, die Bauchspeicheldrüse, die Leber und sein Herz gespendet, gut geht. Es kommt so etwas wie Freude und Trost in mir hoch. Meinen Kontakt zu Herrn Dr. Fischer-Fröhlich habe ich aufrechterhalten, auch er rief mich ab und zu an und erkundigte sich nach meinem Befinden. Das alles werde ich ihm nie vergessen. Immer wieder frage ich nach den Empfängern (anonym)!

Circa drei Jahre nach dem Tod meines Bruders fragte er mich, ob ich bereit wäre, als Angehörige in einem Dokumentarfilm meine Erlebtes zu berichten. Ich erkläre mich bereit dazu.

Es ist Februar, das Filmteam und Herr Dr. Fischer-Fröhlich sind da. Wir fangen an und müssen unterbechen, es geht mir nicht gut. Alles Erlebte ist wieder da, als wäre es gestern gewesen. Wir machen nach einer Pause weiter. Ende. Betretene Stille. Plötzlich sprudelt es aus mir heraus: Geht es mir allein so, dass nach dieser langen Zeit nur ein Wort genügt, und alles ist wieder da, obwohl ich geglaubt habe, alles verarbeitet zu haben? Wie gehen andere Angehörige mit dieser Situation um? Bin ich die einzige, die sich immer wieder Gedanken macht? Gibt es ein Forum für Angehörige von Organspendern in Deutschland? Die Antwort war nein!

Sollten wir, Herr Dr. Fischer-Fröhlich und ich, es nicht versuchen, ein Form für Angehörige zu schaffen? Miteinander reden, füreinander da sein, miteinander trauern und weinen, sich gegenseitig trösten, sich verstanden fühlen und neuen Mut weitergeben?

Wir versuchen es einfach und schreiben die Angehörigen an. Da aus Datenschutzgründen ich die Adresse nicht wissen durfte, wurde erst der Brief verfasst und unterschrieben. Herr Dr. Fischer-Fröhlich hat dann die Adressen eingesetzt.

Einerseits war ich positiv aufgeregt, als die Briefe weg waren. Andererseits hatte ich auch ein mulmiges Gefühl. Wie werden die Menschen reagieren, die ich erreichen wollte? Viele haben nichts von sich hören lassen, aber diejenigen, die zurück geschrieben haben, waren sehr froh, dass endlich jemand den Mut hatte, so ein Forum zu schaffen. Am Anfang waren wir 18 Personen, jetzt sind es schon 24, gemischt, jede Altersgruppe und Geschlecht ist vertreten!

Das erste Treffen wurde vereinbart und was geschah? Wir konnten uns in den Arm nehmen, obwohl wir mit uns zuvor nie getroffen hatten. Man spürte eine Art Erleichterung gleich von Anfang an, obwohl wir,  als wir dann unsere “Geschichten“ erzählten, sehr ergriffen waren. Aber wir fühlten uns verstanden in unserem Schmerz und mit unseren Fragen, denn wir alle hatten einen geliebten Menschen verloren und ja! gesagt zur Organspende.

Wir gingen alle etwas leichter aber auf jeden Fall verstanden auseinander. Bei den nächsten Treffen haben wir dann unsere Ängste und Fragen (vor allem: wie geht es den Empfängern?) aufgearbeitet. Der Verlust wird immer unser Begleiter sein. Ich möchte mit meiner Hilfestellung für die Angehörigen wie eine Brücke sein in ein anderes Weiterleben.

Wir haben auch erarbeitet, was uns wichtig ist und war, und was für uns schmerzlich war und ist:

– Wünschenswert wäre eine bessere Aufklärung über den Sinn der Organspende und den Tod durch irreversiblen vollständigen Hirnausfall (Hirntod).

– Menschen sollen lernen, dass Tod und Trauer kein Tabuthema in unserer GEsellschaft ist, sondern ein Teil des Lebens.

– In den Medien sollte mehr Wert auf korrekte Darstellung der Themen gelegt werden. Angehörige empfinden manchen undurchdachten Film als reine Horrorgeschichten.

– In der Akutsituation im Krankenhaus muss man einen ehrlichen Umgang von Ärzten und Pflegekräften mit den Angehörigen fordern. Das bedeutet, deren Ängste und Gefühle zu akzeptieren und ernstzunehmen. Fehlinformationen oder Vorenthaltungen wirken im nachhinein wie eine Lüge. Dies erfordert eine wesentlich verbesserte menschliche und fachliche Betreuung durch Ärzte und Pflegekräfte in jedem Krankenhaus bereits ab der Aufnahme, lange bevor an den Hirntod und das Danach im entferntesten gedacht wird – und das unabhängig von den Ttransplantationszentren.

– Von diesen darf man durchaus verlangen, dasssie (anonym), wenn gewünscht, den Angehörigen Informationen über die Empfänger geben und wie diese mit ihrem neuen Leben umgehen.

– Selbsthilfegruppen in Zusammenarbeit mit den Transplantationszentren sollten als etwas Selbstverständliches angeboten und von den Kostenträgern im Gesundheitssystem finanziert werden.

– Als Angehörige von Organspendern möchten wir uns nicht mit Besserwissern, Moralisten und Ethikern herumstreiten müssen.

– Die Entscheidung für oder gegen eine Organspende ist eine persönliche Entscheidung, die in der Familie getroffen wird, da die Familie den Verstorbenen am besten kennt.

– Das ist von jedem zu respektieren!

– Unbeteiligte sollten sich davor hüten, pauschal bestimmte Verhaltensweisen trauernder Angehöriger (nicht nur von Organspendern) zu kommentieren, da dies die Würde dieser Menschen aufs Tiefste verletzt. Jeder hat das Recht auf seinen individuellen Weg im Umgang mit dem Verlust eines geliebten Menschen.

An die Organempfänger meines Bruders!

„Ihr habt es mir geschenkt: unser zweites Leben!“

– Ich hätte mir gewünscht, von Euch zu hören,

– zu erfahren, wie es Euch geht.

– zu wissen, ob Ihr ledig, verheiratet seid, und ob Ihr Kinder habt.

– zu wissen, was Ihr nach der Transplantation empfunden habt.

– zu wissen, wie alt Ihr seid, ob Mann oder Frau.

– zu wissen, ob Ihr Euch Gedanken macht über Eure Spender und deren Angehörige.

– Vor allem Du. lieber Herzempfänger, Du liegst mir am Herzen, was bist Du für ein Typ, welche Hobbys hast Du?

– Es wäre schön, von Euch zu hören.

– Es wäre für mich ein großer Trost, besser mit dem Verlust meines Bruders weiterzuleben.

– Obwohl mir das Schicksal übel mitgespielt hat, bekam ich die Möglichkeit, aus dem Erlebten etwas Positives herauszuziehen. Ich habe dadurch Menschen wie Euch kennengelernt oder solche, die dringend auf ein Organ warten.

– Nicht nur für Angehörige von Organspendern möchte ich eine Brücke sein, sondern auch für Euch und die schwer kranken Wartenden.

– Ja, es war richtig, ja zu sagen zur Organspende.

– Ich möchte mich weiter für die Organspende ein-setzen und in der Öffentlichkeit versuchen, die Menschen in unserem Land zu ermutigen, sich positive Gedanken darüber zu machen.

– Wenn der Hirntod eingetreten ist, gibt es leider kein zurück mehr in „unser“ Leben, und es ist letztlich ein schöner und tröstender Gedanke, wenn wir durch unser Ja zur Organspende schwer kranken Menschen ein neues Leben schenken dürfen.

– Ich danke Euch, dass ich diese Zeilen schreiben durfte.

– Ich will Euch nicht persönlich kennen lernen, aber von Euch zu hören, das ist mein größter Wunsch!

Die Schwester eines Organspenders

 

 

25.11 Einige wichtige zusätzliche Informationen

Eine Organspende wird nicht finanziell entschädigt. Das ist so vorgeschrieben, damit kein Organhandel betrieben wird. Alle Kosten, die im Rahmen einer Transplantation anfallen, trägt die Krankenversicherung.

Vergleichende Zahlen zeigen, dass eine Transplantation auf lange Sicht billiger ist als die medikamentöse und apparative Behandlung. Eine Dialysebehandlung zum Beispiel kostet jedes Jahr mit Apparatenutzung und Medikamenten etwa 80.000 DM. Die Nierentransplantation ist etwa gleich teuer, aber eben nur einmal!

Gespendete Organe werden nur für Transplantationszwecke bei kranken Menschen, nicht für wissenschaftliche Untersuchungen oder andere Zwecke verwendet. Wenn Sie Ihren Körper für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung stellen wollen, müssen Sie das testamentarisch festlegen und zum Beispiel ein Anatomisches Institut benennen, dem ihr Körper nach dem Tod übergeben wird.

Minderjährige können nach dem zur Zeit im Bundestag beratenen Gesetz ab 14 Jahren eine ablehnende Haltung und Jugendliche ab 16 Jahren eine zustimmende Meinung auch ohne Einwilligung der Erziehungsberechtigten gültig dokumentieren.

25.11 Wie stehen die Kirchen zur Organspende?

Die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland haben 1990 gemeinsam eine Erklärung zur Organspende herausgegeben. Darin heißt es unter Anderem:

„Nach christlichem Verständnis ist das Leben und damit der Leib ein Geschenk des Schöpfers, über das der Mensch nicht nach Belieben verfügen kann, das er aber nach sorgfältiger Prüfung seines Gewissens aus Liebe zum Nächsten einsetzen darf.

Wer für den Fall des eigenen Todes die Einwilligung zur Entnahme von Organen gibt, handelt ethisch verantwortlich, denn dadurch kann anderen Menschen geholfen werden, deren Leben aufs höchste belastet oder gefährdet ist. Angehörige, die die Einwilligung zur Organtransplantation geben, machen sich nicht eines Mangels an Pietät gegenüber den Verstorbenen schuldig. Sie handeln ethisch verantwortlich, weil sie ungeachtet des von ihnen empfundenen Schmerzes im Sinne des Verstorbenen entscheiden, anderen Menschen beizustehen und durch Organspende Leben zu retten.

Nicht an der Unversehrtheit des Leichnams hängt die Erwartung der Auferstehung der Toten und des ewigen Lebens, sondern der Glaube vertraut darauf, dass der gnädige Gott aus dem Tod zum Leben auferweckt. Aus christlicher Sicht ist die Bereitschaft zur Organspende nach dem Tod ein Zeichen der Nächstenliebe und Solidarisierung mit Kranken und Behinderten.

25.13 Kann man bereits zu Lebzeiten Organe spenden?

Ja, aber nur in erheblich eingeschränktem Maße. Eine Nierentransplantation zum Beispiel wird nur nach strengen Gesichtspunkten unter engen Verwandten erlaubt, also von Eltern und Geschwistern des Empfängers. Eine solche Transplantation ist auch nur deshalb möglich, weil die Niere paarig vorliegt und die verbleibende gesunde Niere die volle Funktion übernehmen kann. Es muss außerdem bei einer Spende zu Lebzeiten klar sein, dass keine finanziellen Interessen vorliegen, die zu der Organentnahme und der Transplantation führen.

25.14 Wir müssen Ihre persönliche Meinung respektieren!

Deshalb will ich auch in diesem Buch nicht mehr machen, als Sie sachlich und möglichst umfassend zu informieren, damit Sie sich eine eigene Meinung bilden können. Denken Sie bitte daran: Wenn Sie sich nicht entscheiden, haben Sie sich entschieden, dass es so bleibt, wie es ist. Dann können möglicherweise Ihre Angehörigen nach Ihrem Tod entgegen Ihrem nicht ausgesprochenen Willen entscheiden. Oder Ihre Orga-ne werden nicht rechtzeitig entnommen, obwohl Sie es wollen.

Verstehen Sie mich bitte richtig: Ich möchte Sie taktvoll und direkt dazu veranlassen, dass Sie das tun, was Sie für richtig halten. Entscheiden Sie bitte selbst, dann müssen nicht andere für Sie entscheiden.

Vielleicht hilft Ihnen dieses Zitat zu Ihrer Entscheidung:

Überlege einmal, bevor du gibst, zweimal, bevor du annimmst, und tausendmal, bevor du verlangst.

Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1926), österreichische Schriftstellerin

25.15 Wie erklären Sie Ihre  Einwilligung oder Ablehnung?

Eine testamentarische Verfügung ist nicht sinnvoll, weil das Testament für die Transplantation viel zu spät eröffnet wird. Da die Einwilligung oder Ablehnung einer Transplantation in schriftlicher Form eindeutig und deshalb sicherer ist, schlage ich Ihnen vor, sich eine solche Erklärung zu besorgen oder selbst zu schreiben.

Wenn Sie Organspender sein wollen, genügt folgender Text:

„Ich bin Organspender und damit einverstanden, dass nach meinem Tod Organe / Gewebe aus meinem Körper zur Transplantation entnommen werden.“

Sie können diese Bestimmung auch einschränken mit dem Satz:

„Ich bin damit einverstanden, dass folgende Organe entnommen werden :… .“

Oder

„Ich bin damit einverstanden, dass Organe entnommen werden außer … .“

Sinnvoll ist es, außerdem zu schreiben:

„Falls mir etwas zustößt, sollen folgende Personen sofort benachrichtigt werden: …“

Sie können die Entscheidung über die Organspende auch jemand anderem übertragen, indem Sie schreiben:

„Ich übertrage die Entscheidung über die Organspende nach meinem Tod an … .“

Das setzt allerdings voraus, dass Sie mit dieser Person ein ausführliches Gespräch führen und sie fragen, ob sie damit einverstanden ist, diese Entscheidung für Sie zu treffen.

Falls Sie kein Organspender sein und diese Entscheidung zweifelsfrei dokumentieren wollen, genügt der einfache Satz:

„Ich bin kein Organspender und widerspreche deshalb der Entnahme von Organen aus meinem Körper nach meinem Tod.“

Das Blatt muss in jedem Fall Ihren vollen Namen, Adresse, Datum und Ihre rechtsgültige Unterschrift enthalten.

Es ist ratsam aber nicht Pflicht, dieses Blatt mit den anderen persönlichen Ausweispapieren bei sich zu tragen und die nächsten Angehörigen von Ihrem Entschluss zu informieren. Dann sprechen diese bei einem Unfall oder einer Krankheit für Sie, wenn Sie selbst Ihre Meinung nicht mehr äußern können.

Die Zustimmung zur Einwilligung in eine Organspende kann jederzeit widerrufen werden. Sie können das Blatt vernichten und ein neues schreiben.

25.16. Wo bekommen Sie weitere Informationen?

Sie können mit Ihrem Hausarzt und Ihrem Geistlichen sprechen. Ausführliche Literatur und vorgedruckte Einwilligungsformulare in Scheckkartenformat, die auch eine Ablehnungsmöglichkeit enthalten, bekommen Sie bei der

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Ostmerheimer Straße 220, 51109 Köln

und der

Bundesärztekammer, Herbert-Lewin-Str.1, 50931 Köln 

und dem

Arbeitskreis Organspende, Emil-von Behring-Passage, 63263 Neu-Isenburg

 

 


FN Wenn als Ersttransplantat die Niere eines Toten übertragen wird, ist die Rate etwa zehn Prozent schlechter als bei der Transplantation einer Niere eines Lebenden.

FN Bericht der Deutschen Stiftung Organtransplantation, Ärzte-Zeitung 5.2.1997

FN-1  Arzt und Wirtschaft 2/97

70    Die Operationszahlen sind auch durch die Personal- und Bettenkapazität eingeschränkt.

FN-2 Ärzte-Zeitung 28.2.1997

FN-2 Arzt und Wirtschaft 2/97

FN Ärzte-Zeitung 28.2.1997

FN Ärzte-Zeitung 28.2.1997

71 irreversibel = nicht mehr umkehrbar

72 EEG = Elektroencephalogramm = „Hirnstrommessung“, ähnlich wie beim EKG = Elektrokardiogramm = „Herzstrommessung“

Copyright Dr. Dietrich Weller

 

 

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Die Patientenverfügung (Vortragsfolien)

PV-Vortrag-für-Homepage-040213 (Klicken Sie auf den Link, um die Folien zu sehen!)

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Das Testament und die Patientenverfügung

 

Ewige Rechte und ewige Freundschaft soll man befestigen mit Schrift, weil im Laufe der Zeit vergangener und vergänglicher Dinge vergessen wird.

Aus dem Ehrenbürgerbrief der Gemeinde Saas-Fee an den Schriftsteller Carl Zuckmayer

Vorbemerkung: Diesen Artikel aus meinem Buch „Wenn das Licht naht“ habe ich im Februar 2013 überarbeitet und wesentlich erweitert, da sich einige Fakten gegenüber dem Erscheinungsjahr 1997 geändert haben.

24.1 Das Testament hilft zum Leben! 

Wir gehen im Alltag meistens davon aus, dass wir einem Schwerkranken nicht vorschlagen dürfen, sein Testament zu machen, da er dann glauben könnte, wir würden ihn aufgeben oder hätten Interesse an seinem Nachlass. Ich habe mit Schwerkranken über diese Frage gesprochen und erkannt:

Ein Testament kann sehr wohl eine Hilfe zum Leben sein und muss keinen Entschluss zum Tod darstellen. So kann der Patient sein Leben in Ordnung bringen und Anordnungen treffen, damit er besser und ruhiger leben und sich auf die im Moment wesentlichen Dinge wie die Heilung konzentrieren kann. Auch für Sterbende ist das Testament wichtig, damit sie sich auf den geistig-seelischen Prozess konzentrieren können und sich nicht mit materiellen Dingen beschäftigen müssen.

Mein Freund Heinz erzählte neulich, dass er mit seinen fünfzig Jahren in voller Gesundheit das vergangene etwas regnerische Wochenende dazu benützt habe, einen Ordner anzulegen. Darin sind alle seine Versicherungen, Vermögensverhältnisse, Aktien, Kontonummern, Schließfächer und Verbindlichkeiten so übersichtlich zusammengestellt, dass zum Beispiel seine Frau im Falle seines Todes sofort einen vollständigen Überblick hat, um die wichtigsten Schritte gezielt einleiten zu können. Es fehlte nur noch das Testament, aber das wird er in der nächsten Zeit mit seiner Frau gemeinsam schreiben.

Ich regte an, auch noch Bestimmungen für den Ablauf der Trauerfeier und eine Adressen- und Telefonliste der wichtigsten Verwandten und Freunde beizulegen, die informiert oder um Hilfe gefragt werden können. Heinz meinte, es sei schon ein bisschen komisch für ihn gewesen, den Ordner zusammenzustellen, da er ja gerne weiter gut leben wolle. Dennoch musste er zugeben, richtig erleichtert gewesen zu sein, als die Zusammenstellung fertig auf dem Tisch lag.

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als ich als junger Student einmal am Wochenende nach Hause kam und mein Vater mir in seinem Arbeitszimmer einen Ordner zeigte, auf dessen Rückenschild statt eines Wortes nur ein großes † gemalt war. Er holte ihn heraus und sagte: „Hier steht alles drin, was ihr wissen müsst, wenn ich sterbe. Ich habe den Ordner unterteilt in einzelne Kapitel, was ihr sofort, innerhalb von 24 Stunden und innerhalb von ein paar Tagen nach meinem Tod erledigen müsst! Alle nötigen Adressen, Telefonnummern und die Anordnungen für die Trauerfeier kannst du hier finden.“

Dieses Erlebnis hat mich auch dazu angeregt, mein eigenes Testament zu schrieben, und ich weiß noch sehr genau, dass ich es am Vormittag meines 50. Geburtstags in sehr glücklicher Stimmung geschrieben habe.

24.2 Das Testament und die Patientenverfügung sind ein Teil der Trennungs- und Trauerarbeit 

Herr Walter litt im weit fortgeschrittenen Stadium seiner Leukämie sehr darunter, seine heranwachsenden Kinder im Pubertätsalter nicht mehr erziehen und führen zu können. Ich schlug ihm vor, ihnen einen Brief zu hinterlassen, in dem er seine wesentlichen Ge-danken zur Lebensführung niederlegte. Dieser Vorschlag befreite ihn von einer großen Last. Er schrieb diesen Brief mit Hilfe seiner Frau und übergab ihn den Kindern in einem seiner letzten Gespräche. Ich weiß von seiner Frau, dass er in dieser Beziehung erleichtert starb.

Sie können auch als Patient Ihren liebsten Angehörigen individuell gesprochene Kassetten hinterlassen. Das ist sicherlich eine sehr schwierige und emotional belastende Aufgabe, aber es wäre eine sehr persönliche und bleibende Erinnerung, in der Sie ein Ton- und Sinnvermächtnis hinterlassen könnten.

Aus meiner Zeit als Assistenzarzt in der Kinderklinik erinnere ich mich an Axel, einen achtjährigen Jungen, der mit dem zweiten Schub einer akuten Leukämie in die Klinik kam. Er sagte bei der Aufnahmeuntersuchung: „Ich weiß, dass ich es schaffe, wieder raus-zukommen, aber wir müssen schnell die Therapie machen!“ Beim nächsten Schub sagte er: „Diesmal schaffe ich es nicht mehr. Deshalb habe ich etwas mitgebracht.“ Axel gab uns ein aus dem Schulheft gerissenes Blatt, auf dem in seiner noch ungelenken Kin-derschrift stand: „Mein Taschenmesser bekommt mein Bruder, mein Fahrrad auch. Meine Bücher bekommt mein Freund Tim, und Mama soll Micki67 füttern“. Dann legte er sich ins Bett und bereitete sich mit einer für mich jungen und noch unerfahrenen Arzt beängstigenden Ruhe und Gelassenheit auf seinen Übergang vor. Er starb eine Woche später.

Ein anderes wichtiges Erlebnis hatte ich als frisch niedergelassener Arzt, als ich den jungen Herrn Bayer mit einem weit fortgeschrittenen Melanom68 zu Hause betreute. Er und seine Frau kannten die Diagnose und die Prognose, und wir konnten offen darüber sprechen. Als sich auf Grund der Hirnmetastasen Herrn Bayers Sprache zu verschlechtern begann, wurde ich eines Sonntags bei meinem Besuch mit Herrn Bayers Wunsch konfrontiert: Er wollte unbedingt ein notariell beglaubigtes Testament machen, bevor seine Sprache vollständig versagt. Glücklicherweise gelang es mir, noch an diesem Tag einen Notar ans Krankenbett zu holen, und der Patient konnte wenige Stunden später mit Hilfe des Notars ein rechtsgültiges Testament verfassen. Wir alle, die bei diesem Gespräch dabei waren, spürten, wie schwer es Herrn Bayer fiel, im Angesicht des sicheren Todes seinen letzten Willen zu äußern. Er sank erschöpft und erleichtert in das Kissen zurück, als er seine Unterschrift geleistet hatte. Am Tag danach wurde Herr Bayer bewusstlos und starb kurz darauf.

In diesem Sinn kann man als Vertrauter, als Freund und als Hausarzt auch anregen, bei unklaren Erkrankungen und in schwierigen Lebenslagen letzte Bestimmungen zu treffen, solange der Patient dazu in der Lage ist. Es ist emotional schwierig, solch ein Thema in einer derart kritischen Situation anzusprechen, aber wenn wir es taktvoll und im richtigen Moment schaffen, ist ein Versuch lohnenswert.

24.3 Nicht immer sind endgültige Entscheidungen des Patienten sinnvoll! 

Eine wichtige Ausnahme für weitreichende Bestimmungen liegen zum Beispiel bei einem depressiven Patienten vor, der auf Grund seiner Erkrankung nicht entscheidungsfähig ist. Das bedeutet, dass ein seelisch und geistig Gesunder immer zwischen mehreren Alternativen wählen kann. Ein Depressiver hat keine freie Wahlmöglichkeit.

Das lässt sich an der Geschichte des Ehepaares Lichter zeigen, das in einer verzweifelten Situation zu mir kam. Frau Lichter war der festen Meinung, dass ihr Mann ein Verhältnis mit einer Arbeitskollegin hatte und verfiel in eine tiefe Depression und wollte nur noch „möglichst schnell die Scheidung“. Obwohl Herr Lichter ihr und auch mir in einem vertraulichen Vier-Augen-Gespräch wiederholt versicherte, kein Verhältnis außerhalb der Ehe zu haben, war sie völlig fixiert auf diesen einen Gedanken der Trennung, war unfähig, darüber vernünftig oder gar abwägend nachzudenken. Bei allem Verständnis für die Kränkung, die sie empfand, erkannte ich die Panik und fehlende Wahlfreiheit von Frau Lichter. Es gelang mir nach langem Gespräch, sie wenigstens dazu zu bewegen, jetzt im Moment keine Scheidung einzureichen, solange sie von ihren Gefühlen überflutet war. Wir vereinbarten mehrere therapeutische Gespräche, und Frau Lichter konnte es schaffen, aus ihrer einengenden Depression herauszukommen und mit mehr Distanz über die Situation nachzudenken. Dann erkannte sie ihre Reaktionsmechanismen und konnte sich schließlich frei dazu entscheiden, die Ehe weiterzuführen.

24.4. Die Patientenverfügung

Eine ausführliche Darstellung der Konflikte und Möglichkeiten einer Patientenverfügung finden Sie in meinem Vortrag über die Patientenverfügung.

In der Patientenverfügung legen Sie fest, wie Sie behandelt werden wollen, wenn Sie es nicht mehr selbst sagen oder zum Ausdruck bringen können, z. B. in bewusstlosem oder  dementem Zustand. Im Testament bestimmen Sie, wie es nach Ihrem Tod weitergehen soll mit Ihrem Eigentum und weiteren Verfügungen.

Grundsätzlich ist es sehr wichtig, im Rahmen der Überlegungen, wie Sie Ihre Angelegenheiten regeln wollen, möglichst alte „unerledigte Geschäfte“ bedenken und bereinigen. Der altbekannte Spruch „Lebe jeden Tag, als wäre er der letzte!“ enthält sehr viel Wahres und ist beherzigenswert. Auf jeden Fall sollten Sie Angelegenheiten, die Sie belasten und die Sie für immer entschieden haben wollen, unbedingt entschlossen bearbeiten. Das können Sie möglicherweise schon mit einem Brief oder einem persönlichen Gespräch erreichen. Es wird Sie erleichtern.

Dazu gehören auch so einfache Dinge, wie ich sie vor vielen Jahren einmal erlebt habe. Ich bekam von einem älteren Ehepaar, das ich schon lange nicht mehr gesehen hatte, einen freundlichen Brief und ein Buch, das ich ihnen ausgeliehen und längst vergessen hatte. Sie schrieben, sie seien dabei, ihr Haus zu verkaufen, ins Altenheim zu ziehen und ihre Wohnung in jeder Beziehung aufzuräumen, „… und zu unserer Entlastung(!) schicken wir Ihnen das Buch zurück.“

Ein anderes Beispiel, wie man das Testament zumindest teilweise schon vor dem Tod vollziehen kann, hat mir ein befreundeter Kollege von dem Tod seines Vaters erzählt. Als dieser seinen Tod nahen fühlte, ließ er seine engsten Angehörigen kommen, verabschiedete sich nacheinander von ihnen und verteilte wichtige Dinge, die er im Laufe der Jahre angesammelt hatte und die ihm wertvoll waren.

So kann der Sterbende nicht nur von seinem Besitz Abschied nehmen, sondern auch erleben, wie die Beschenkten darauf reagieren. Diese Freude, wohl vermischt mit Trauer, ist aktive Trennungs- und Trauerarbeit für alle Beteiligten. Nehmen Sie nur das Wichtigste und Wesentliche -das, was Ihr Wesen ausmacht!- auf diesen letzten Weg mit. Sie werden erkennen, dass auch Sie in Wirklichkeit sehr wenig brauchen, um alles zu haben, was Sie zum bewussten und erfüllten Leben benötigen! Dann ist Ihr Weg leichter!

Sie erinnern sich: „Jetzt zählt nur noch die Qualität der Herzen!“ Diesen Satz von Herrn Gruber habe ich schon erwähnt, aber er ist mir so wichtig geworden, dass ich ihn auch in Ihr Gedächtnis prägen will.

Denken Sie bei allen Entscheidungen in Ihrem Leben an folgenden Gedanken: Wenn Sie eine Entscheidung aufschieben, weil Ihnen die Entscheidung aus irgendeinem Grund schwerfällt, haben Sie in diesem Moment die Entscheidung getroffen und vollzogen, dass es so bleibt, wie es ist. Sie haben also entschieden!



67 seinen Hamster

68 der sogenannte „schwarze Hautkrebs“

Copyright Dr. Dietrich Weller

Ein Teil dieses Artikels steh in meinem Buch „Wenn das Licht naht“. Den Abschnitt über Patientenverfügung habe ich am 03. und 04. 02.2013 überarbeitet.

 

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Musik als Hilfe

 

Wo die Sprache aufhört, fängt die Musik an.

E.T.A. Hoffmann (1776-1822), deutscher Schriftsteller

 

Die Welt ist eine optimistische Schöpfung. Beweis: Alle Vögel singen in Dur.

Jean Giono (1815-1898), französischer Schriftsteller

Nichts geht mehr, nur Bach hören, das geht noch.

Pfarrer Hirsch vor einem Bach-Konzert der Yehudi-Menuhin-Festwochen in Gstaad
am 21.8.1968 am Abend der sowjetischen Invasion in der Tschechoslowakei

Musik ist die gemeinsame Sprache der Menschheit.

Henry Wadsworth Longfellow (1807-1882), amerikanischer Schriftsteller

Gott ist der höchste Musiker. Ich bin nur ein Instrument, auf dem er spielt.

John McLaughlin

23.1 Wie können wir Musik einsetzen?

Nicht nur, weil ich ein großer Musikliebhaber bin und mir ein Leben und Sterben ohne Musik gar nicht vorstellen kann, schreibe ich dieses Kapitel. Ich denke, Klänge sind ein enorm wichtiger Bestandteil unseres Universums und täglichen Lebens und die Musik ist unverzichtbare Kultur. Unsere Kulturgeschichte und die anderer Völker haben in diesem Punkt eine wegweisende Übereinstimmung.

Wer die Werke von Joachim Ernst Behrendt55 kennt, hat spätestens dort erfahren und gelernt, welch elementare Kraft der Klang hat und wie sehr wir davon beeinflusst werden, ob wir wollen oder nicht. Behrendt hat in seinem Buch „Hinübergehen“ sehr tiefe Gedan-ken über Sterben und Musik niedergelegt und diese mit den letzten Werken von bedeutenden Musikern verknüpft. Eine zusätzliche CD-Kassette macht die literarisch verarbeiteten Stücke hörbar und fühlbar.

Aber Sie müssen nicht unbedingt lesen, um Musik zu genießen: sie zu hören oder noch besser, sie selbst zu machen, ist mehr an Erlebnis und trägt in jeder Beziehung zu Ihrer Gesundheit bei. Sie sind aktiv und beeinflussen Ihr Immunsystem sehr positiv. Wer Hausmusik liebt und gewohnt ist, sich und anderen damit regelmäßig Freude zu machen, sollte in der Krankheit unbedingt weiter musizieren, solange es möglich ist. Dann haben auch die Mitspieler Gelegenheit, an Ihrer Begeisterung und der Wärme der Freundschaft teilzunehmen. Das schafft eine enge Herzensbindung und bereichernde Erinnerungen an die schweren Stunden und die aktive Bewältigung der belastenden Umstände. Solche gemeinsamen Musikerlebnisse und die daraus erwachsende Freude sind auch für die Gesunden ein Geschenk.

Wenn Sie wegen Ihrer Krankheit nicht mehr spielen können, laden Sie Freunde ein, bei Ihnen zu musizieren. Wenn auch das nicht geht, werden Ihre Musik-freunde sicherlich gerne eine Kassette für Sie bespielen, die Sie in der Klinik oder der Ruhe der häuslichen Umgebung anhören können, wie es für Sie gut ist.

Sorgen Sie dafür, dass Sie Ihre Lieblingsmusik am Bett haben. Die heutigen technischen Möglichkeiten und Kopfhörer im Krankenhaus, wenn Sie einen Bettnachbarn haben, lassen das mit geringem Aufwand zu. Das ist ein sicherer Beitrag zu der Stabilisierung Ihrer Stimmung und Ihres Lebensgefühles.

Solange Sie können, sollten Sie Musik auch als Ansporn zur Bewegung sehen: Von der Musikgymnastik zu Hause bis zum Tanz mit dem Ehepartner bei einem Fest sind den Möglichkeiten meist durch die fortgeschrittene Krankheit nur körperliche Grenzen ge-setzt. Selbst wenn Sie körperlich behindert sind, schaffen Sie es vielleicht noch, im Bett die Hände und Beine nach Musik ein wenig zu bewegen.

Denken Sie bitte immer daran, dass gerade die Musiktherapie inzwischen eine wesentliche Stütze auch bei der Behandlung und Betreuung Schwerkranker geworden ist. Sie wirkt lockernd, depressionslösend, stimmungsaufhellend und aktivierend, wenn sie richtig ausgesucht ist. Genau das brauchen Sie, wenn Sie krank sind.

23.2 Welche Musik ist geeignet?

Musik, die Schwerkranken helfen kann, muss nicht todernst sein! Gerade heitere, besinnliche und etwas unterhaltender wirkende Musik kann durchaus passend und zur jeweiligen Stimmung richtig sein. Lassen Sie sich also bitte durch die folgenden Beispiele nicht davon abhalten, regelmäßig auch die leichte Muse zu genießen!

Ich möchte mit Ihnen eine kleinen Spaziergang durch die Musikliteratur machen, um nur ein paar Werke zu nennen, die Ihnen Freude, Tiefsinn, gute Gefühle und Besinnlichkeit bescheren könnten. Nehmen Sie die Vorschläge als meine sehr persönlichen Gedanken. Jeder von Ihnen hat seine Lieblingsmusik, und das ist gut so. Vielleicht kommen jetzt noch ein paar Stücke dazu, wenn Sie sich auf das Erlebnis einlassen, Werke und Aufnahmen auszuprobieren, die für Sie Neuland sind oder bekanntes aus anderer Sicht vermitteln.

Es gibt eine Fülle von Meditations- und Entspannungsmusik, teilweise mit begleitenden Texten, die Sie in einem guten Musikladen finden. Viele dieser Musik-stücke sind auf langsame Barockmusik eingestellt und folgen der Taktzahl von 60 Schlägen pro Minute, weil man festgestellt hat, dass dieser Herzrhythmus uns am besten beruhigt.

Ich will Sie auf gute Unterhaltungsmusik aufmerksam machen, bevor ich zur ernsten Musik komme. Harry Belafonte besingt in seinem Lied „Try to remember“56 vergangene schöne Zeiten zu zweit, Shirley Bassey bestätigt in „I am what I am“57 sich und dem Rest der Welt, dass sie zu sich steht und keine Entschuldigungen braucht und Ihren Weg entschieden und nach jeder Niederlage stärker gegangen ist. Reinhardt Mey hat einen sehr sensiblen Text über den „Mann am Fenster“ verfasst, den er immer am Fenster gegenüber sah und dessen Stelle er für andere Menschen nach dem Tod dieses Mannes eingenommen hat. Die Gruppe PUR hat eine sehr einfühlsame Musik dazu komponiert.

„My Way“ von Frank Sinatra (in verdeutschter Form von Harald Juhnke zu seinem 60. Geburtstag herausgebracht) ist eine Bilanz des Lebens mit all seinen Höhen und Tiefen im Angesicht des letzten Vorhangs auf der Bühne des Lebens, eine Rückschau und immer wiederkehrende Bestätigung: I did it my way: Ich tat es auf meine Weise. Ganz ähnlich auch Edith Piafs Lebensergebnis: „Je ne regret rien“.58

Die Lieder von Konstantin Wecker „Stirb mir net weg!“ „und „The last song“59 von Elton John sind bewegende Zeugnisse, wie die AIDS-Problematik in der Musik Einzug gehalten hat. Wecker hat sein Lied geschrieben für einen AIDS-kranken Freund und teilt seine Angst und seinen Zorn auf die Gesellschaft mit ihm. Elton John singt das Lied eines AIDS-Kranken, der „gebrechlich wie ein Vogel und so leicht wie der Schatten an der Wand“ von seinem Vater besucht wurde, mit dem er sich entzweit hatte. In dem Lied von „Kathy und Cindy“ erzählt Reinhardt Mey die erschütternde Geschichte zweier junger Mädchen, die drogenkrank sind und ihren Weg suchen. Der Schauspieler Mario Adorf hat die sehr stimmungsvolle und mit guten Texten versehenen CD „Al dente“ gemacht. Darauf singt er nach einer gesprochenen Einleitung über Carusos letztes Liebeslied.

Der österreichische Liedermacher Ludwig Hirsch hat einen sehr einfühlsamen Text und eine bewegende Musik geschrieben zu seinem Titel „Der große schwarze Vogel“. Hier bittet ein Sterbender, vom Krankenbett weggeholt zu werden und in den Himmel hineinfliegen zu können. Das Lied ist emotional sehr mitreißend und sehr hoffnungsvoll!

Ich bin durchaus der Meinung, dass solche Texte für einen Schwerkranken nicht nur eine Erinnerung an sein eigenes Leben, eine Unterstützung seiner eigenen Problematik und Erkenntnisse sein können, sondern auch eine echte Hilfe, nicht allein zu sein, sich in den Texten und mit der guten Musik geborgen zu fühlen. Gabriel Marcel60 bezeichnete die Musik als „Heimat der Seele“. Sie kann heilen und trösten.

Bei der ernsten, klassischen Musik beginnt für mich ein weiter Bogen bei dem „Stabat mater“61 von Pergolesi, das dieser große Meister in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als letztes Werk mit 26 Jahren kurz vor seinem Tod schrieb. Bachs große H-Moll-Messe mit dem grandiosen „Credo“ und sein letzter Choral „Vor deinen Thron tret ich hiermit“, den er seinem Schwiegersohn auf dem Sterbebett diktiert hat, sind nur zwei von seinen unzähligen Geniewerken, die Sie in Ihre Sammlung aufnehmen sollten.

Bei Bach fallen mir auch die großartigen Einspielungen der Klavierwerke durch den Kanadier Glenn Gould ein, allen voran die unter Kennern legendäre Aufnahme der „Goldberg-Variationen“, mit denen Gould 1951 seinen Weltruhm begründet hat. Und seit ich als Schüler die Aufnahme von Bachs Choral „Jesu bleibt meine Freude“ aus der 147. Kantate gehört habe in der Einspielung des begnadeten rumänischen Pianisten Dinu Lipatti, der diesen Choral wenige Wochen vor seinem Leukämie-Tod im Konzert als letztes Stück seines Abschieds gespielt hat, begleitet mich dieses Musikwerk, wohin ich auch gehe.

Wenn Sie Klaviermusik lieben, empfehle ich Ihnen für die wirklich ernsten Stunden Schuberts letzte Sonate in B-Dur, D.980, ein äußerst stimmungsvolles romantisches Klangbild mit wunderschönen Melodien, das so große Meister wie Artur Rubinstein, Claudio Arrau und Vladimir Horowitz in ihren letzten Lebensjahren beglückend schön und tief empfunden eingespielt haben. Chopins Nocturne in Des-Dur op.27, Nr.2 in zwei entrückenden Aufnahmen mit Artur Rubinstein und Dinu Lipatti werden Sie in verzauberte Stimmung versetzen. Beethovens letzte beiden Klaviersonaten op. 110 und op. 11162 sind für mich der Gipfel der Verklärung in der klassischen Phase der Musikge-schichte für dieses Instrument. Wer absolut virtuose und feingliedrige Barockmusik mag, sei an die Sonaten von Domenico Scarlatti verwiesen. Dabei gefallen mir die hervorragenden Cembalo-Aufnahmen von Ralph Kirkpatrick und Wanda Landowska bei weitem nicht so gut wie die Klaviereinspielungen von Vladimir Horowitz, Clara Haskil, Dinu Lipatti und Arturo Benedetti Michelangeli. Sie werden ein brillantes und funkelndes Feuerwerk von herrlicher Musik erleben!

Wenn Sie sehr harmonische und leicht ins Ohr gehende Musik hören wollen, empfehle ich Ihnen die Sinfonien von Mendelssohn-Bartholdy und die frühen Sinfonien und Divertimenti von Mozart und Haydn. Und wenn Sie Heiterkeit auf höchstem komposi-torischen Niveau haben wollen, sollten Sie sich von Mozarts „Musikalischem Spaß“ verzaubern lassen. Hier hat Mozart in einem Werk kurz vor seinem Tod mit ungebrochenem Humor alle üblichen Fehler, die ein Komponist machen kann, alle Regelverstöße und alle verpöhnten Schaueffekte so perfekt eingebaut, dass Sie Ihre helle Freude an diesem meisterhaften und herrlichen Unfug haben werden!

Bei Mozart fällt mir die Wahl schwer angesichts all der überwältigenden Zahl herrlicher Schöpfungen, die er uns geschenkt hat. Versuchen Sie es einmal mit der Sinfonia concertante für Violine und Viola in Es-Dur, dem Klarinettenkonzert63 in A-Dur, dem Konzert für Flöte und Harfe und Orchester in C-Dur. Lassen Sie sich von seinem letzten Werk ergreifen, dem „Requiem“, das er mit 35 Jahren auf dem Totenbett schrieb. Allein das „Lacrimosa“ daraus ist musikgewordene Vollendung. Gönnen Sie sich eine exklusive Aufnahme, zum Beispiel die von Helmuth Rilling mit der Gächinger Kantorei oder dirigiert von Sir Georg Solti die Live-Aufnahme aus dem Stephansdom in Wien, wo das Requiem anlässlich Mozarts 200. Todes-tag als Gottesdienst zelebriert wurde.

Wenn Sie großes Orchester lieben, sollten Sie „Tod und Verklärung“ und „Vier letzte Lieder“ von Richard Strauß, die 5. Sinfonie von Mahler mit dem ergreifenden Adagietto, das die Melodie für den Film „Der Tod in Venedig“ war, Mahlers „Kindertotenlieder“ und die 9. Sinfonien64 von Beethoven, Schubert, Dvorak, Mahler und Bruckner hören.

Maurice Ravel hat mit „Pavane pour une infante défunte“ ein sehr einfühlsames leises Orchester-Tanzstück für ein verstorbenes Kind geschrieben. Hier kann der Zuhörer sich in ein Wiegenlied für die Ewigkeit einfühlen.

Einen besonderen Genussß will ich Ihnen nicht vorenthalten. Wenn Sie Musik und Literatur von Weltrang verbinden wollen, lesen Sie von Stefan Zweig „Die Auferstehung des Georg Friedrich Händel“65, in dem er die Entstehung des „Messias“ beschreibt: Ein mit-reißendes und ergreifendes Beispiel für Zweigs unnachahmliche Kunst, psychologische Zusammenhänge und spannungsvolle Ereignisse dramatisch und bildreich zu schildern. Hier wird fesselnd beschrieben, wie Händel sich nach einem Schlaganfall im Alter von 52 Jahren noch einmal aufraffte. Er schuf aus der Ver-zweiflung des Geschlagenen heraus mit neu aufkeimender Hoffnung in einer unvorstellbaren Anstrengung in knapp drei Wochen eines der großartigsten Oratorien der Musikgeschichte. Dabei zog er sich an diesem Werk und seiner Kraft empor und stabilisierte sich in einem Maße, das ihn für den weiteren Verlauf seines Lebens gegen alle Widrigkeiten gestählt hat. Auch als er Jahre danach blind wurde, schrieb er noch das Oratorium „Jephtha“ und andere Meisterwerke mit ungebrochenem Schaffensdrang. Die Geschichte über den „Messias“ lese ich immer, bevor ich mir eine Aufführung des „Messias“ anhöre. Eine bessere Einstimmung auf das Hörerlebnis kann ich mir nicht vor-stellen.

Der Frau eines schwerkranken Asthmapatienten, mit dem ich in einem Haus wohnte und den ich über mehrere Jahre betreute, gab ich einmal ein Tonband, auf das ich langsame klassische Musik und Trostgedichte aufgenommen hatte. Sie hörten sich diese Kassette in der Klinik oft gemeinsam an. Als Herr Leister schon bewusstlos war und schwer atmete, ließ seine Frau ganz leise das Band neben seinem Ohr laufen. Er wurde nach und nach ruhiger und atmete entspannter. Genau in dem Moment, als ganz am Ende des Bandes der letzte Ton des „Amen“ aus dem „Messias“ von Händel verklungen war, holte Herr Leister noch einmal sanft Luft und atmete zum letzten Mal aus.

Wenn Sie Kammermusik lieben, sollten Sie an folgende Werke denken: Brahms: die beiden Streichsextette und die Klaviertrios, Mozart: Streichquintett C-Dur und das Klarinettenquintett, Schubert: Streichquintett C-Dur, Beethoven: die Streich- und die Klaviertrios, die letzten Streichquartette und Smetanas 1. Streichquartett in e-moll „Aus meinem Leben“, in dem er seine Ertaubung schildert. Leichtere beschwingte Musik bieten die Oktette von Mendelssohn, Schubert und Beethoven. Genießen Sie auch die herrlich heiteren und lebensfrohen Werke von Johann Strauß (Vater und Sohn), Josef Strauß und ihren Zeitgenossen.

Bei den Liedern empfehle ich Ihnen, unter den unzähligen Kompositionen von Schubert „Das Abendrot“, „Nachtviolen“ und das „Ave Maria“. Von dem „Ave Maria“ Bachs und Schuberts gibt es wahrlich unvorstellbar viele Bearbeitungen, auch solche von zweifel-haftem Wert. Ich will Ihnen etwas sehr Ausgefallenes empfehlen: Jascha Heifetz hat am Silvestertag 1926 eine Bearbeitung der Schubert-Version für Violine und Klavier eingespielt, die für mich zum Erhabensten gehört, was ich in meinem Leben bis jetzt auf Violine gehört habe. Wenn Sie das „Ave Maria“ gesungen in einer grandiosen Aufnahme erleben wollen, sollten Sie zum Beispiel Jessye Norman oder Benjamino Gigli hören. Einen ganzen Kosmos von Kantaten finden Sie bei Bach. Beginnen Sie bei der „Kreuzstab-Kantate“. Dort singt der Tenor eine ergreifend freudige Arie „Ich freue mich auf meinen Tod!“

Von allen bekannten Sängern gibt es sehr schöne Lied- und Operettenaufnahmen mit Klavier- und Orchesterbegleitung, auch mit leichteren Melodien und Texten, die ich hier nicht aufgezählt habe.

Neben den vielen großartigen Chorwerken, Messen und Oratorien von Bach, Händel, Mozart, Bruckner, Brahms und Verdi möchte ich Sie auf ein besonderes Stück aufmerksam machen: „Lux aeterna“66 aus dem Jahr 1966 von György Ligeti ist ein Werk, in dem Sie das ewige Licht förmlich hören können, wenn ein guter Chor singt.

Wenn Sie sich nicht so sehr mit speziellen Aufnahmen beschäftigen und „nur“ langsame Musik hören wollen, sollten Sie eine oder mehrere der zahlreichen guten Zusammenstellungen kaufen, die unter dem Thema „Barockmusik“, „Meditation klassisch“ oder ähnlich angeboten werden. Dort sind die üblichen und bekannten Musikstücke enthalten von Pachelbels „Canon“ über die „Träumerei“ von Schumann und „Die vier Jahreszeiten“ von Vivaldi bis zur „Meditation“ aus der Oper „Thais“ von Jules Massenet.

Inzwischen gibt es von Delta Music GmbH, 50226 Frechen, Postfach 4007, eine Sammlung von bekannter klassischer Musik für kritische Lebenssituationen auf drei Cds und ein Begleitheft mit dem Titel „Classic care“.

Aber hören Sie selbst, und machen Sie sich Ihre eigenen Eindrücke, denn der österreichische Schriftsteller Franz Grillparzer wusste ganz richtig: „Beschriebene Musik ist wie ein erzähltes Mittagessen.“

23.3 Musik zur Trauerfeier

Als musikverbundener Mensch werden Sie sicherlich überlegen, welche Musik Sie bei Ihrer Trauerfeier gespielt haben wollen. Auch hier geht es darum, diese Stunde mit Erinnerungen an Ihr Leben zu fällen. Wenn Sie schon ein Testament machen, bestimmen Sie doch auch die Musik.

Wollen Sie, dass Lieder gesungen werden? Mein persönlicher Gedanke ist, dass die wenigen Menschen, die in diesem Moment noch singen können, eher einen kläglichen und weniger einen klagenden oder tröstenden Gesang zuwege bringen. Gibt es aus Ihrem Bekanntenkreis Musiker, die Ihnen letzte Wünsche erfüllen könnten? Oder wollen Sie, dass fremde Musiker engagiert werden? Alles, was Sie selbst bestimmen, stellt eine Entlastung für Ihre Familie dar, die ohnehin nach Ihrem Tod schwer mit der Trauer beschäftigt sein wird. Für sie wird es eine Genugtuung sein, Ihre Wünsche erfüllen zu können.

Ein sehr eindrucksvolles musikalisches Erlebnis hatte ich bei der Trauerfeier von Herrn Rufer. Sein ältester Sohn ging mit dem Fagott ans offene Grab und hielt eine ganz schlichte und herzliche Rede. Er sprach darüber, dass der Vater zeitlebens bei den Beerdi-gungen seiner Freunde, mit denen er landsmannschaftlich aus dem Flüchtlingsgebieten verbunden war, als Trompeter für sie zum Abschied das „Feierabendlied“ der gemeinsamen Heimat gespielt hatte. Deshalb sei es für ihn selbstverständlich und ein echter Herzenswunsch, dem Vater jetzt das „Feierabendlied“ zu spielen. – Nicht nur der Himmel weinte in diesem Moment.


55 deutscher Musikwissenschaftler, Mitgründer des Süddeutschen Rundfunks, u.a. Autor des weltweit meistverkauften Jazzbuches der Geschichte („Das neue Jazzbuch“), Produzent unzähliger Rundfunksendungen und Schallplatten. Wichtige Werke für das obige Kapitel: „Nadabrahma“, „Die Welt ist Klang“, „Vom Hören der Welt“, „Hinübergehen“ – alle bei Zweitausendeins-Verlag in Frankfurt am Main.

56 Versuch, dich zu erinnern!

57 Ich bin, was ich bin!

58 Ich bereue nichts!

59 Das letzte Lied

60 (1889-1973), französischer Philosoph und Schriftsteller

61 „Stabat mater dolorosa“: Kirchlicher Text: „Es stand die Mutter schmerzensvoll“

62 Ich empfehle Ihnen die Aufnahmen von Glenn Gould, Wilhelm Kempff und Arturo Benedetti Michelangeli.

63 Mein Tip: Die Aufnahme von 1956 mit dem Jazzklarinettisten Benny Goodman, der ein hervorragend ausgebildeter klassischer Musiker war, und Charles Munch als Dirigent.

64 Daraus besonders die langsamen Sätze!

65 Eine Kurzgeschichte in dem Band: „Sternstunden der Menschheit“

66 lat. „ewiges Licht“

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

 

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Bilder aus dem Unbewussten

 

Der Tod ist ein Rufer. Der Sterbende hört seine Stimme.

nach Carl Gustav Jung (1875-1961), schweizerischer Psychologe und Psychoanalytiker

22.1 Über die Funktion unseres Unbewussten 

Sie können davon ausgehen, dass Sie nur etwa fünf Prozent ihrer geistigen Aktivitäten und Vorgänge bewusst wahrnehmen. Die restlichen 95 Prozent laufen unbewusst oder unterbewusst ab. Und die wesentlichen und lebensentscheidenden geistigen Vorgänge kommen aus dem Unbewussten. Sie steuern uns von dort, und wenn wir sie uns nicht bewusst machen, können wir sie nicht aktiv verändern. Wie also können wir sie uns bewusst machen, um davon zu profitieren? Es gibt eine enorme Menge an Literatur zu diesem Thema, so dass ich Ihnen mit Sicherheit nur winzige Bruchstücke aus dem Wissen über unser Unbewusstes hier aufschreiben kann. Bestimmt ist das weltweit bekannte Wissen auch nur ein verschwindend kleiner Teil des-sen, was es über dieses Kapitel des Menschen zu lernen gibt.

22.2 Die Träume 

Ein wichtiger Weg zu unserem Unbewussten sind unsere Träume. Bilder sind die Sprache unseres Unterbewusstseins, wir müssen sie nur lesen und verstehen lernen. Wenn wir schlafen, arbeitet unser Gehirn weiter und verarbeitet unsere Eindrücke vom Tag, unsere Erlebnisse, Gefühle und Erwartungen. Dann gibt es eine wichtige zusätzliche Informationsquelle: Unser Unbewusstes hat einen Anschluss an ein kosmisches oder allgemeines Wissen, das wir im Bewusstsein nicht befragen können. So lässt es sich erklären, dass Menschen eindeutige Vorahnungen haben, die auch so oder in veränderter Form eintreten. Wir müssen lernen, unsere intuitive Begabung anzunehmen und zu nützen.

Viele von uns wissen von Menschen in unserem Umfeld, die eines Morgens plötzlich erkannt haben, dass sie im Traum zum Beispiel einen Unfall hatten und das dringende Gefühl verspüren, ausgerechnet an diesem Morgen nicht mit dem geplanten Flugzeug, sondern mit der Bahn die geplante Reise anzutreten. Später am Tag stellte sich heraus, dass das Flugzeug abgestürzt ist. Hier haben diese Menschen eine direkte Botschaft aufgenommen und bewusst umgesetzt.

Es gibt ein paar grundsätzliche Regeln, um Träume deuten zu können. Eine heißt: Träume haben ein Gesicht nach vorn und eines nach hinten. Das heißt, sie sagen etwas aus über Befürchtungen, Ängste und Ahnungen. Wobei das geträumte Ereignis nicht so wie geträumt eintreten musst. Es hat lediglich symbolischen Charakter. Der Traum verarbeitet bereits Erlebtes, das uns besonders beschäftigt hat oder für dessen Verarbeitung wir im Laufe des Tages keine Zeit hatten.

Bei der Deutung von Träumen sollten Sie beachten, dass Sie als Träumender charakteristische Züge jeder Person und Figur im Traum verkörpern. Das heißt, auch wenn negative oder für Sie gegnerische Aktivitäten oder Gedanken im Traum auftauchen, hat es etwas mit Ihnen und Ihrer momentanen Verfassung zu tun. Sie können daraus unbewusste Strömungen und Züge erkennen, wenn Sie offen sind, negatives und damit verbesserungsfähiges an sich zuzugestehen. Sie sollten deshalb den Traum zuerst einmal für sich selbst deuten. Auch die Psychoanalyse nützt die Selbsterkenntnisfähigkeit, indem sie mit den Träumen des Patienten arbeitet und die Gedanken und konstruktiven Überlegungen bewusst macht.

Es gibt Traum-Lexika, in denen zu jedem Symbol eines Traumes gleich die Bedeutung mitgeliefert wird. Ich möchte Sie warnen, diesen Büchern in Form einer Übersetzung von der Traumsprache in die Intellektsprache so zu trauen, wie es dort steht. Denn ein Lexi-kon kann nie Ihre individuelle Situation berücksichtigen. Gerade dieses macht den kunstvollen und wunderbaren Zauber und den reichen Schatz aus, den Sie nützen können, wenn Sie Ihren eigenen Traum eben gerade in diesem Moment Ihres Lebens träumen und ihn dann frisch aus dem Gedächtnis aufschreiben und selbst oder mit den Fragen eines geschulten Therapeuten deuten. Wenn Sie diesen Traum ein paar Jahre später wieder träumen, kann er eine völlig andere Bedeutung haben, weil sie dann in einer anderen Lebenslage sind.

22.3 Die gemalten Bilder und ihre Symbole

Es gibt besonders bei Kindern die häufig beobachtete Sprache in ihren gemalten Bildern. Alle Ärzte und Angehörigen, die Erfahrung mit krebskranken Kindern gesammelt haben, wissen, dass in den Bildern der Kinder Botschaften versteckt sind, die man lesen kann, wenn man die Sprache kennt. Elisabeth Kübler-Ross hat eindrucksvolle bebilderte Bücher darüber geschrieben. Es ist zum Beispiel bei einem Kind so gewesen, dass bei dem Bild eines Hauses, dem Symbol unseres Lebensgebäudes, Fenster einzeichnet waren, von denen das fünfte ganz schwarz war. Beim Nachrechnen konnte man feststellen, dass das Kind fünf Monate nach dem Malen dieses Bildes starb. Oder auf einer Blumenwiese standen mehrere Blumen leuchtend nebeneinander, aber die vierte von links ließ den Kopf hängen. Das Kind starb vier Wochen später. Es gibt dazu viele, viele Beispiele, die verblüffend deutlich sind, dass auch die Kritiker nicht mehr von irgendwelchen Zufällen reden können.

Kinder haben viel besser als wir Erwachsene einen Zugang zu ihrem Unbewussten, weil sie noch nicht so vernünftig (v)erzogen sind wie wir. Sie äußern ihre Meinung ohne Rücksicht, ob das angenehm ist oder nicht. Kinder wissen, was los ist. Sie können es viel-leicht nicht so gelehrt ausdrücken wie wir, aber wir sollten auf sie hören. Wenn wir die Botschaften wahrnehmen -als wahr nehmen- und erkennen, dass sie tatsächlich der Wahrheit entsprechen, macht das sehr betroffen. Ich möchte Ihnen später von dem achtjährigen Axel erzählen, der genau wusste, wann seine Therapie noch Erfolg hatte und wann es Zeit für sein Testament war.

Achten Sie auf Symbole. Aus unbewussten Gründen beschäftigen sich zum Beispiel viele Schwerkranke noch mit dem Gedanken und Wünschen, eine Reise zu machen, bevor sie die letzte große Reise antreten. Deshalb sollten wir ihnen diese irdische Reise gönnen und sie dabei unterstützen. Das große Meer, der weite Himmel, die endlose Blumenwiese, die sich an eine trostlose Sandwüste anschließt: das sind aussage-kräftige Bilder. Elisabeth Kübler-Ross hat uns von inzwischen weltweit bekannten Beispiele erzählt. Das Kind sagte: „Wenn ich sterbe, ist das wie wenn eine Raupe sich verpuppt, aus dem Kokon ausschlüpft und ein bunter Schmetterling wird.“ Ein anderes Kind sagte: „Wenn ich sterbe ist das, wie wenn ich einfach in ein anderes Haus umziehe!“ Spüren Sie die Herrlichkeit, die Freiheit, die Losgelöstheit von irdischen Konflikten, die in diesen Bildern stecken?

22.4 Der Tagtraum 

Es gibt spezielle Techniken, mit denen wir bei Erwachsenen und bei Kindern diese unbewussten Bilder hervorholen, anschauen und therapeutisch bearbeiten können. Das Fachwort heißt Katathymes Bilderleben. Es ist eine hypnoseähnliche Technik, die bei wachen Patienten in sehr entspannter Bewusstseinslage durchgeführt wird und dem Patienten einen direkten Zugang zu seinem Unterbewusstsein erlaubt. 

Das Beispiel von Frau Saite soll das veranschaulichen, die panische Angst vor dem Tod hatte. Sie träumte häufig denselben Traum:

Es klopft an ihrer Wohnungstür, der Tod tritt in Gestalt eines Skelettes ein und fordert sie auf mitzukommen. Sie bekommt sofort Panik und rennt dem Tod davon, erkennt aber, dass das nicht geht. Er ist immer bei ihr.

Jedesmal wachte sie schweißgebadet, völlig verstört und weinend auf.

Nach einigen Gesprächen wagten wir es, in der Therapiestunde den Traum in Form eines Tagtraumes nachzuträumen. Ich versprach ihr, sie bei ihren Bildern und Gefühlen zu begleiten und ihr soweit ich konnte zu helfen.

Als sie entspannt auf der Liege lag, entwickelte sie das gefürchtete und bekannte Bild: Der Skelettmann kam herein. Sie begann zu weinen, und ich versuchte, sie zu einem Gespräch mit dem Skelett anzuregen. Zuerst konnte sie das natürlich auf Grund ihrer Gefühlsüberwältigung nicht schaffen. Aber nach und nach erkannte sie, dass dieses Skelett sehr freundlich mit ihr umging, und so konnte sie sich doch schließlich in ein Gespräch einlassen. Dabei erklärte ihr der Tod, er sei selbst sehr einsam und verzweifelt, weil er von allen abgelehnt werde. Er habe doch nur die Aufgabe, sie zu begleiten und an ihr Ziel zu bringen. Schließlich fragte sie, was denn das für ein Ziel sei. Er bat sie, einfach mitzukommen, er wolle es ihr zeigen. Er dürfe aber leider nicht sagen, wo er sie hinführe. Nach anfänglichem Zögern ging sie mit, noch sehr ängstlich, aber doch mit wachsendem Vertrauen zu dem einsamen und sehr menschlich wirkenden Tod. Er führte sie einen immer heller werdenden Gang entlang vor eine große Tür. Dort ließ er sie stehen, verabschiedete sie sehr freundlich und lud sie ein, die Tür zu öffnen. Dahinter sei ihr Ziel. Er selbst könne leider nicht hineingehen.

Nach der Verabschiedung öffnete sie langsam das große Tor und stand vor einer Lichtgestalt, die sie herzlich begrüßte: „Ich bin Gott, und ich freue mich, dass du so vertrauensvoll gekommen bist.“ Sie konnte mit Gott sprechen und sich beruhigen lassen. Sie empfand dabei ein sehr warmes und beglückendes Gefühl. Dann verabschiedete sie sich und kam zurück auf dem Weg, den der Tod sie geführt hatte, aber der Skelettmann war nicht mehr zu sehen.

Die Patientin war fassungslos über die unerwartete Wendung der Geschichte und begann erneut zu weinen. Denn jetzt spürte sie ein glückliches Erkennen, eine Erleichterung von ungeheurem Ausmaß und eine enorme Dankbarkeit über dieses Erlebnis. Sie hatte diesen Traum nie wieder und war jedenfalls in den nächsten zwei Jahren, in denen ich sie immer wieder traf, ohne Angst vor dem Tod.

22.5 Was lernen wir daraus?

Ich will Sie ermutigen, mit Schwerkranken und Sterbenden über ihre Träume zu sprechen und die Patienten zu unterstützen, die Träume noch einmal nachzuempfinden, während Sie dabei sitzen und mit dem Patienten reden können. Vieles kann klar und lösend besprochen werden. Schauen Sie die Bilder des Unbewussten an, dafür haben wir sie. Das sind wichtige, manchmal lebensentscheidende Botschaften.

Unser Unterbewusstsein schickt uns die richtigen Bilder im passenden Moment, auch oder gerade wenn sie manchmal unangenehm sind und uns tage- oder wochenlang begleiten oder verfolgen. Das heißt nur, dass wir die Botschaft entweder nicht erkannt, nicht verstanden oder / und nicht angemessen umgesetzt haben. Wenn wir die Lektion gelernt haben, kommt die Botschaft nicht mehr. Das haben wir bei Frau Saite erlebt.

Deshalb müssen wir dem nachgeben, was uns nachgeht. Oder, um es ein bisschen lockerer zu formulieren: „Dort wo die Angst sitzt, geht’s lang.“ Das ist ein bekannter Spruch aus der Psychotherapie.

Wir müssen uns klar sein, dass unser Unbewusstes immer wach ist, auch und gerade, wenn wir schlafen. Es ist wissenswert und unbedingt zu beachten, dass der Gehörsinn der erste Sinn des Menschen ist, der sich beim Embryo zu Beginn der Schwangerschaft entwickelt, und der letzte, der im Sterben verschwindet. Auch Bewusstlose und Sterbende und Narkotisierte hören. Deshalb müssen wir sehr achtsam sein, was wir in der Gegenwart dieser Menschen sagen und tun. Denn ihr Unterbewusstsein hört und sieht alles. Das erinnert mich mit Schrecken und sehr peinlichen Gefühlen daran, dass am Operationstisch manchmal Witze erzählt und mit herzhaftem Gelächter begleitet werden.

Diese Zusammenhänge haben aber auch sehr positive Konsequenzen. Man hat nämlich herausgefunden, dass man während einer Narkose dem bewusstlosen Patienten beruhigende Worte zuflüstern kann, die seine seelische Verfassung und seine körperlichen Funktionen stabilisieren. Damit kann man unter anderem erreichen, dass er nach der Operation angstfreier erwacht. Durch spezielle Hypnosetechniken kann man diese Ereignisse, die während der Bewusstlosigkeit geschehen sind, aus dem Unterbewusstsein nach der Operation wieder abfragen.

22.6 Zwei eindrucksvolle Beispiele 

Herr Kraft, ein junger Mann, den ich als Hausarzt betreute, verunglückte mit dem Auto so schwer, dass er mit vielen komplizierten Brüchen, inneren Verletzungen und einer tiefen Bewusstlosigkeit einige Wochen auf der Intensivstation lag. Seine Mutter kam verzweifelt zu mir und fragte, was sie denn für ihn tun könne, er liege ja nur da, und sie könne nicht mit ihm sprechen. Dann erklärte ich ihr, dass auch Bewusstlose hören und Botschaften aufnehmen. Sie solle neben ihn sitzen, seine Hände halten und ihm beruhigend zureden. Er würde mit Sicherheit ihre Nähe spüren, die Ruhe empfinden und insbesondere das Gefühl haben, nicht allein, sondern in Begleitung einer lieben Person zu sein. Abgesehen davon würde es ihr das Gefühl vermitteln, aktiv für ihn da zu sein und ihm zu helfen. Sie befolgte den Rat für die Zeit seiner Bewusstlosigkeit. Nachdem Herr Kraft wieder wach war und nach der Rehabilitation in meine Praxis kam, sprach ich ihn auf seine Eindrücke während der Bewusstlosigkeit an. Er konnte ganz klar berichten, dass er immer gespürt hatte, wie jemand neben ihm saß und von dieser Person Ruhe und Liebe ausgingen.

Eine wesentliche Geschichte, die ich seiner Mutter zur Ermutigung für die ungewohnte Tätigkeit am Bett ihres Sohnes erzählt hatte, war diese: Als ich noch in der Kinderklinik tätig war, wurde von der Chirurgie der neunjährige Rolf auf meine internistische Station verlegt, der bei einem Verkehrsunfall mehrere komplizierte Frakturen und ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatte. Er lag nach Verheilung seiner Brüche auf meiner Station, weil er immer noch bewusstlos war und keiner wusste, ob er noch einmal aufwachen würde. Ich muss gestehen, dass ich in meiner Unerfahrenheit die Chancen für Rolf für sehr gering hielt. Jeden Tag kam die Mutter aus einer entfernt liegenden Stadt zu uns, setzte sich mit einer unendlichen Geduld an sein Bett, erzählte ihm Geschichten, sang ihm Lieder vor, streichelte und massierte ihn und half der Krankengymnastin bei ihren Übungen mit dem bewusstlosen Jungen. Ich muss ehrlicherweise gestehen, dass ich insgeheim die Frau etwas belächelte und damals glaubte, sie beruhige eigentlich nur sich selbst mit ihrem Tun.

So ganz „nebenbei“ habe ich dann erfahren, dass sie kurz vor Rolfs Unfall ihren Mann durch eine Krankheit verloren hatte und noch mitten in der Trauerphase war. Und so dachten wir, dass sie sich auch ablenken würde mit den Besuchen bei Rolf. Sie sagte einmal zu mir in einer stillen Stunde ganz ruhig: „Wissen Sie, ich muss alles für Rolf tun. Noch einen aus der Familie zu verlieren, das kann ich nicht! Ich weiß, dass er aufwacht!“

Die Schwestern berichteten immer wieder, dass Rolf tagsüber sehr unruhig war und sich nicht ansprechbar dauernd hin und her bewegte. Aber wenn die Mutter ins Zimmer kam und ihn auch nur kurz ansprach, wurde er ruhig. Es schien so, als ob er ihr zuhörte, wenn sie wieder ein Märchen erzählte oder ein Lied sang. So begann auch ich, an meiner hoffnungslosen Meinung zu zweifeln. Eines Tages, kurz vor Rolfs zehntem Geburtstag, erzählte Rolfs Mutter ihm, wie es wäre, wenn er jetzt gesund zu Hause feiern könnte. Dann würde sie ihm seine Lieblingsspeise als Festessen machen. In diesem Moment öffnete sich langsam Rolfs Mund, und ganz leise, langsam und gut verstehbar kam das Wort „S-p-a-g-h-e-t-t-i“ heraus.

Wir waren fassungslos, weil wir das nicht erwartet hatten. Ich schämte mich über meinen Pessimismus und meine etwas abschätzige Meinung, die ich über die Mutter gehabt hatte. Gleichzeitig spürten wir alle eine riesige Freude und Dankbarkeit über das, was uns wie ein Wunder vorkam und vielleicht ja auch wirklich eines war.

Von diesem Moment an ging’s rasch bergauf mit Rolfs Heilung. Er wurde wacher und wacher, begann mit Hilfe seiner Mutter fleißig Gymnastik zu machen und lernte an Krücken wieder völlig von neuem zu gehen. Da er schwere Bein- und Hüftfrakturen gehabt hatte, war das sehr kompliziert. Aber diese Frau, seine bewundernswerte Mutter, hat es geschafft, ihm immer wieder Mut zu machen. So konnte Rolf einige Monate nach seiner Einweisung auf eigenen Beinen das Krankenhaus verlassen.

Ich habe oft an ihn gedacht. Etwa zehn Jahre später, als ich längst meine eigene Praxis hatte, meldete meine Arzthelferin „jemand, der Sie nur mal kurz sprechen will.“ Als er hereinkam, erkannte ich ihn nicht sofort, aber als er seinen Namen nannte, umarmte ich ihn in einer herzlichen Freude. Er war mittlerweile ein gut aussehender junger Mann geworden, mitten in einer soliden Berufsausbildung. Und wenn ich nicht sehr genau hingeschaut und hingehört hätte, wären mir sein minimaler Gehfehler und ein ganz kleiner Sprachfehler nicht aufgefallen.

Diese beiden jungen Männer sind mir ein lebendiges Beispiel geblieben, daß wir immer hoffen sollten.

 



 

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Die Ratgeber sollen Hoffnung vermitteln

 

Die Hoffnungen guter Menschen sind Prophezeihungen, die Besorgnisse schlechter sind es auch.

Ludwig Börne (1786-1837), deutscher Publizist, Fragmente und Aphorismen

Man darf das Schiff nicht an einen einzigen Anker  und das Leben nicht an eine einzige Hoffnung binden.

Epiktet (50-138 n. Chr.), griechischer Philosoph

Man lebt nicht, wenn man nicht für etwas lebt.

Robert Walser (1878-1956), schweizerischer Schriftsteller

21.1 Die Hoffnung und ihre Grenzen in uns 

Kranke und deren Angehörige brauchen Menschen, von denen sie sich beraten lassen und auf deren Sachverstand und menschliches Einfühlungsvermögen sie sich verlassen können. Von diesen Ratgebern hängt sehr viel ab: nicht nur die sachliche Information, son-dern auch die richtige und situationsgerechte Verarbeitung der Botschaften. Die Art und Weise, wie die Ratgeber Informationen mitteilen, ist oft viel wichtiger und folgenschwerer als die reine Information.

Suchen Sie sich deshalb zuversichtliche und hoffnungsvolle Ratgeber, und vertrauen Sie dann auf den Therapeuten und die Ratgeber, die Sie gewählt haben. Ein guter Therapeut ist ein Mensch, der dem Patienten und den Teammitgliedern auch bei einer tödlichen Diagnose noch Hoffnung aufzeigen kann. Das kann er nur, wenn er selbst diese Hoffnung hat!

Wer ganz hoffnungslos ist, sollte zu einem Therapeuten gehen, schon allein, um mit sich und dem Patienten wieder hoffnungsvoller umgehen zu können. Der Patient merkt es, wenn die Teammitglieder keine Hoffnung mehr haben, und das entmutigt ihn nur noch mehr.

Außerdem ist Hoffnungslosigkeit auch für die Angehörigen eine kaum zu ertragende Last, durch welche der oft schon schwierige körperliche Zustand für den Kranken noch erheblich erschwert wird. Das Risiko des totalen Zusammenbruches eines Helfers wird durch Hoffnungslosigkeit und das Gefühl des Sinnlosigkeit und des Ausgebranntseins erheblich gesteigert. Dann müssen die Teammitglieder noch einen Patienten mehr versorgen. Das muss durch kluge Einsicht in die Kraft und die Grenzen der einzelnen Personen vermieden werden.

Ein Mensch kann nicht über längere Zeit völlig ohne Hoffnung leben. Jemand, der dem Patienten jede Hoffnung nimmt, entzieht ihm die seelische Grundlage zum Leben und beschleunigt damit die Resignation des Kranken und die negative Entwicklung des Krankeitsverlaufs.

21.2 Ein Beispiel erlebter Hoffnung 

Bei dem 46-jährigen Herrn Fahrer wurde ein nicht operierbarer Hirntumor festgestellt. Er bekam schwere Schwindelanfälle und Orientierungsstörungen sogar im eigenen Haus und konnte sich weder in der vertrauten Stadt noch zu Hause zurechtfinden. Dann wurde er in den nächsten Monaten blind, da der Tumor auf den Sehnerv drückte. Seine Frau musste ihn ständig begleiten. Das Ehepaar hatte ein behindertes Kind in der Pubertät, ein gesundes zehnjähriges Mädchen und einen kleinen Säugling. Diese kurze Schilderung zeigt schon die erdrückende Problematik und Tragik der Familie.

Nachdem ein besonders „einfühlsamer“ Oberarzt in der Klinik beim Betrachten des Computertomogramms jede Hoffnung auf Genesung zerstört hatte mit dem Satz „Da können Sie gleich wieder nach Hause gehen, Sie sind nicht zu retten!“ versuchten wir, Herrn Fahrer zu Hause so weit wieder aufzubauen, dass er in den nächsten Monaten noch bewusst seine Familie erleben und sich daran freuen konnte, wie der kleine Säugling heranwuchs und von der mittleren Tochter und der Mutter betreut wurde. Er sah hoffnungsvoll, dass sich die Familie nach seinem Tod weiter gut versorgen könnte.

Er schaffte es auf meine Anregung hin, wesentliche Gespräche mit den Familienmitgliedern zu erledigen und sein Leben aufzuräumen. Dann führte er ein entscheidendes und klärendes Gespräch mit seinem Chef, der ihn schwer gekränkt hatte. Diese Unterredung hat den Patienten sehr erleichtert. Da kam Hoffnung auf ein Abschiednehmen vom Arbeitsplatz und von der Familie auf, erfüllt von innerem Frieden.

Schließlich ließen seine Kräfte nach, und Herr Fahrer konnte nicht mehr aufstehen. Er sagte zu mir: „Ich hoffe, dass ich in Frieden zu Hause sterben darf.“ Auch da war die Hoffnung. Eine Klinikeinweisung kam nicht in Frage. Alle Beteiligten waren bereit, Herrn Fahrer zu Hause zu betreuen, und hofften, dass der Übergang gnädig sein möge. Ich besuchte ihn am Schluss dreimal täglich, einfach, um ihm zeigen, dass ich für ihn da war. Seine Frau war sehr dankbar dafür, dass sie von den Geschwistern des Mannes viel Hilfe bekam.

Eines Nachmittags war es so weit. Alle seine Geschwister waren im Zimmer. Seine Ehefrau saß am Sofa, auf das er sich gelegt hatte. Der Pfarrer und ich saßen daneben. Ich werde den Frieden und die Ruhe nie in meinem Leben vergessen, die ich in diesen Stunden spürte. Es wurde über ein oder zwei Stunden überhaupt nichts gesprochen. Außer der liebevoll streichelnden Bewegung der Ehefrau über den Kopf ihres Mannes bewegte sich nichts im Zimmer. Alles war gesagt. Jetzt galt es, ganz bewusst und wach diesen Moment zu leben und zuzulassen, ihn auszuhalten und die geradezu unheimliche Größe des Au-genblicks und die Freude zu fühlen, dass ER es gut mit ihm gemeint hatte. Ich beobachtete, wie die Atemzüge Herrn Fahrers in den Armen seiner Frau langsamer und langsamer wurden. Dann war ganz sacht einfach kein nächster Atemzug mehr da. Das war für mich erfüllte Hoffnung.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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Glaube, Liebe, Hoffnung

 

Glauben heißt wissen, dass es ein Meer geben muss, wenn man einen Bach sieht.

unbekannt

Es gibt doch nichts anderes, wofür es sich lohnt zu leben, als die Liebe.

Wim Wenders (*1945), deutscher Filmemacher

Wir hoffen immer auf den nächsten Tag. Wahrscheinlich erhofft er sich einiges von uns.

Ernst R. Hauschka (*1926), deutscher Aphoristiker

Im Laufe der Jahre, die ich als Arzt gearbeitet und mich mit Kranken und Gesunden beschäftigt habe, traf ich immer wieder auf drei wichtige Begriffe und Sätze, die für mich hilfreich und bedeutungsvoll sind. Diese drei Begriffe sind in dem bekannten Zitat aus dem 1. Apostelbrief von Paulus an die Korinther zusammengefasst:

„Nun aber bleibet Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“

20.1. Nach eurem Glauben wir euch geschehen!“ (Matth. 9, 29) 
Die wichtigste Voraussetzung zur Gesundung ist der Glaube, dass eine Gesundung überhaupt möglich ist. Der Glaube an eine übergeordnete Kraft, wie sie in unserer christlich orientierten westlichen Welt zum Beispiel Gott darstellt, ist die stärkste Hilfe, um diese Heilung zu bewerkstelligen. Deshalb ist sicherlich das Gebet die effektivste seelische Heilungsmethode, wenn sie von vollständigem Vertrauen getragen wird.

Wir müssen unbedingt die religiöse Überzeugung eines Patienten respektieren, auch wenn wir selbst vielleicht eine andere oder keine religiöse Bindung haben. Wenn der Patient sich in seiner Glaubensausübung bestärkt und geborgen fühlt, stellt diese Haltung eine außergewöhnliche Unterstützung zu seiner Heilung dar, die wir nützen sollten.

Wenn Sie mit einem Kranken beten wollen, dann fragen Sie zuerst, ob er das möchte. Drängen Sie Ihr Angebot nicht auf, wenn Sie spüren, dass der Patient zögert, auf Ihren Wunsch einzugehen. Wenn der Patient Sie um ein gemeinsames Gebet bittet, gehen Sie darauf ein, wenn es Ihrer Überzeugung entspricht. Heucheln Sie keine Zustimmung. Ein unehrliches Gebet ist ein schlechtes Gebet.

Wenn Sie für einen anderen Menschen oder sich selbst in der Stille beten wollen, möchte ich Ihnen einen Gedanken nahelegen, der mich in solchen Situationen leitet, und von dem ich glaube, dass er jeder auch noch so verzweifelten Lage gerecht wird: Es ist richtig, die eigene Hilflosigkeit und auch Wut auf eine bestimmte bedrohliche Krankheit oder Lebenssituation in diesem Gebet zum Ausdruck zu bringen. Wir brauchen dafür kein schlechtes Gewissen zu haben.

Andererseits ist es richtig, ein klares Wunschbild zu formulieren, das wir erleben und verwirklicht haben wollen. Unser Unterbewusstsein braucht eindeutige Zielvorstellungen, um uns auf den Weg zu bringen, den wir wirklich (im wahrsten Sinne des Wortes!) haben wollen. Dann allerdings ist es nötig, von unserer inneren Verkrampfung und Fixierung auf dieses Bild loszulassen, damit unser Unterbewusstsein arbeiten und es erfüllen kann. Und wir sollten uns bewusst sein, dass es über uns einen viel größeren Willen gibt, dem wir uns unterordnen müssen und dürfen, weil ER den besseren Überblick hat und den Plan kennt, nach dem wir angetreten sind. Das entspricht dem bekannten Satz:

„Ich habe einen Wunsch, und DEIN Wille geschehe!“

Dies ist eine Form von Loslassen, die auf einem unbegrenzten Vertrauen beruht, dass wir und andere das bekommen, was richtig ist. Auch wenn wir im Moment überhaupt nicht einsehen oder akzeptieren können, dass gerade das gut sein soll, was in uns so große Not verursacht. In diesen Fällen bedeutet loslassen, unseren Wunsch, unseren Konflikt oder einen kranken Menschen dem zu übergeben, der allein in der Lage ist, etwas Grundlegendes zu ändern. Wer so loslassen kann, trägt keine Last mehr auf den Schultern und hält nichts fest. Er hat beide Hände frei, um eine Gnade zu empfangen. Wer verzweifelt klammert, hat keine Hand frei, um ein Geschenk entgegen zu nehmen.

Je mehr wir uns in eine Sache oder ein Ziel verbeißen und fixieren, um so weniger hat es eine Chance, Gestalt anzunehmen und Wirklichkeit zu werden. Oder, um es anders zu formulieren: Die Energie, die wir verbissen einsetzen auf dem Weg zu einem Ziel, ist das Hindernis auf diesem Weg.

Die religiöse und geistig orientierte Literatur aller Kulturen der letzten Jahrtausende ist voll von Beispielen, Bildern, Geschichten und Gleichnissen zu diesem Thema.

20.2 Ein Mensch braucht Liebe, um Mensch zu werden.“
(Bernie Siegel, Prognose Hoffnung, ECON-Verlag)

Die Liebe führt uns dazu, den Weg eines geliebten Menschen anzunehmen als seine Entscheidung, auch wenn sich unsere Wege in diesem Leben trennen. Das ist die Liebe, die alles hofft, alles glaubt, alles trägt. Die wahre Liebe lässt einen geliebten Menschen los, wenn er wirklich gehen will, sei es im Rahmen einer partnerschaftlichen Entwicklung oder bei einer todbringenden Krankheit. Und sie fühlt sich dennoch verbunden mit diesem Menschen! Echte Liebe ermöglicht uns, andere Menschen und Lebewesen zu begleiten. Wir sind dann dankbar für den gemeinsamen Teil des Weges und helfen einander.

Über die Liebe will ich Ihnen noch die beiden besten Bücher empfehlen, die ich zu diesem Thema kenne: von Erich Fromm „Die Kunst des Liebens“ und von Peter Lauster „Die Liebe“.

20.3 „Im Zweifelsfall ist Hoffnung immer richtig.“
(Bernie Siegel, Prognose Hoffnung, ECON-VErlag)

Die Hoffnung versichert uns, gerade in den schwierigsten Momenten des Lebens zu wissen, dass die Morgendämmerung unmittelbar nach dem dunkelsten Teil der Nacht folgt. In diesen dunklen Stunden ist die Hoffnung eine Erleichterung und eine Erleuchtung.

Auch wenn es keine Hoffnung mehr auf Heilung gibt, so können wir immer noch auf einen milden Verlauf oder einen Stillstand der Krankheit hoffen, auf Schmerzfreiheit, gute Pflege, liebevolle Betreuung, fachlich kompetente Versorgung, Zuverlässigkeit des Pflegeteams, Zuwendung und Anwesenheit von nahen Angehörigen und Freunden.

Selbst wenn wir wissen, dass der Patient sterben wird, können wir Hoffnung vermitteln auf einen Übergang in der vom Patienten gewünschten Umgebung und in der Anwesenheit von geliebten Menschen, auf die Liebe seiner Mitmenschen, auf ein Gebet, eine Aussegnung, einen geistigen und geistlichen Beistand, auf Frieden mit sich und der Umwelt, auf ein Leben nach dem Sterben entsprechend dem Glauben des Patienten. Und für fast alle Menschen ist es wichtig, dass sie wissen, dass ihre Schulden getilgt werden und ihr begonnenes Lebenswerk Bestand hat.

20.4 Gelebte Beispiele 

Meine von mir sehr hoch geschätzte ehemalige Deutsch- und Klassenlehrerin, Frau Schwarze, erkrankte an einem Krebsleiden. Ich traf sie kurze Zeit vor ihrem Tod in dem Seniorenstift, in dem sie ihre letzten Wochen verbrachte. Sie erzählte mir ganz offen ihre Geschichte und ihre Diagnose. Bei einem meiner nächsten Besuche zwei Tage vor ihrem Tod schenkte sie mir ein letztes sehr intensives und prägendes Gespräch. Ich war tief beeindruckt von ihrer Ruhe und Gelassenheit. Als ich sie nach dem Grund dafür fragte, antwortete sie ganz präzise: „Mich stützen fünf Dinge: mein Glaube, mein erfülltes Leben, die Liebe, die ich jetzt empfange, die Tatsache, dass mein Buch gerade noch gedruckt worden ist, und dass ich mich ganz bewusst auf meinen Weg vorbereiten kann.“

Bei meinem nächsten Besuch zwei Tage später war sie schon mit ihrem Bewusstsein fast völlig eingetrübt. Für kurze helle Momente leuchteten ihre Augen mich freundlich und erkennend an, und ein paar verstümmelte Wortfetzen kamen wie Boten aus dem Jenseits zu mir herüber. Ich verabschiedete mich mit einem Händedruck und einem „Danke für alles!“ Sie erwiderte den Blick, bevor sie die Augen schloss. Nach einer ganzen Weile verließ ich auf Zehenspitzen das Zimmer, um ihren Weg nicht zu stören. Ich war mir dankbar klar darüber, dass ich wieder einen der großen Momente meines Lebens erlebt hatte.

Eine andere Begebenheit mag zeigen, wie Nähe trösten kann. Frau Münchinger, eine ältere Dame, die ich über längere Jahre als Hausarzt betreut hatte, entwickelte alle Zeichen eines Bauchspeicheldrüsenkrebses. Als sie sich nicht mehr selbst zu Hause versorgen konnte, veranlasste eine Freundin von ihr, dass Frau Münchinger ein Zimmer im Seniorenstift bekam. Die beiden Frauen hatten über viele Jahre in einem Freun-deskreis ihre Freizeit unter der Woche und im Urlaub damit verbracht, gemeinsam zu zeichnen und zu malen und waren eng freundschaftlich verbunden. Innerhalb von kurzer Zeit war das neue Zimmer mit Gegenständen aus der ehemaligen Wohnung möbliert, und die vertrauten Bilder hingen an der Wand.

Über die liebevolle Pflege und die vielen kurzen Besuche von Freunden sagte Frau Münchinger einmal bei meinem Besuch zu mir: „Jetzt weiß ich, was auf mich zukommt, und ich bin glücklich, dass ich jetzt endlich mir erlauben kann, all die Liebe anzunehmen, die ich erfahren darf. Schauen Sie, hier hat die Schwester mir frische Milch gebracht. Das ist ein wunderbares Geschenk. Und meine Freundinnen haben mein Zimmer hier im Pflegeheim mit ihren und meinen Bildern geschmückt und meine Lieblingsmöbel herein gestellt. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass ich alles dankbar annehmen darf, was mein Leben mir gibt, auch diese letzten Tage sind ein Geschenk der Liebe. Wenn Sie mich noch einmal besuchen wollen, müssen Sie bald kommen. Ich darf bald gehen.“

Nebenbei bemerkt: Frau Münchinger war ein lebhaftes Beispiel dafür, welche wohltuende Veränderung in einem sterbenden Patienten vor sich geht, wenn die ursprünglich eher spröde und nach außen kühl wirkende Wesensart sich in echte Herzlichkeit und für Mitmenschen fühlbare Wärme wandelt.

Am Tag ihres Todes lag sie in einem Dämmerschlaf, eine Freundin saß an ihrem Bett und wartete darauf, dass die Patientin ihren letzten Atemzug machen würde. Die andere Freundin, die ihr das Zimmer in dem Heim vermittelt hatte, war zu diesem Zeitpunkt außer Haus unterwegs, und erst als sie ans Bett kam mit den Worten „Jetzt bin ich da!“ und Frau Münchingers Hand nahm, seufzte Frau Münchinger erleichtert und hörte auf zu atmen.

Copyright Dr. Dietrich Weller
Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

 

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Wie können wir trösten?

 

Hebe deine Augen auf, und du wirst die Sterne sehen.

Sprichwort von den Philippinen

Bei großen Schmerzen wirken Worte wie Fliegen auf Wunden.

Sprichwort aus Frankreich

Trost gibt der Himmel, von den Menschen erwartet man Beistand.

Ludwig Börne (1786-183 7), deutscher Publizist, Ankündigung der Zeitschwingen

Einem Schwerkranken und Sterbenden Trost zu geben, ist immer etwas sehr Subjektives. Für den einen bedeutet eine Umarmung Trost, für den anderen ein beziehungsvolles Geschenk, für den dritten ein gemeinsames Essen oder ein gutes Gespräch, miteinander zu weinen und zu lachen. Es sind die kleinen Gesten, die trösten.

„Sie geben das Gefühl, angenommen zu sein trotz der Gebrechlichkeit der Körperfunktionen; geliebt zu werden auch mit den unangenehmen Gerüchen, die der Kranke nicht mehr verbergen kann; geachtet zu werden trotz einer schweren Krankheit und in die menschliche Gemeinschaft eingeschlossen zu werden trotz der Ausgrenzung, die jede schwere Erkrankung mit sich bringt.“51

Ein guter Trost gibt dem Menschen das Gefühl, immer noch als Mensch in seiner Ganzheit gesehen und behandelt zu werden, obwohl der Betroffene sich schon nicht mehr als ganz und schon gar nicht als heil erlebt. Vielleicht schaffen wir Begleitpersonen es, dem Pa-tienten einen neuen und weiterführenden Dialog mit sich selbst zu ermöglichen. Dazu müssen wir unsere eigenen emotionalen Schwingungen verfeinern und andererseits ertragen, dass wir auch in vielen Bereichen unwissend und deshalb unsicher sind.

Auf jeden Fall müssen wir im Dialog bleiben. Das setzt voraus, dass wir hören, zuhören, ausreden lassen und bewusst reden und im richtigen Moment mit dem Patienten zusammen schweigen. Die meisten Menschen schweigen aneinander vorbei, so wie sie aneinander vorbeireden.

Leider haben viele Menschen die Eigenart, ihre Ratlosigkeit, Betroffenheit und Sprachlosigkeit mit einer Flut von Wörtern zuzudecken, weil sie ihre eigene Spannung nicht anders bewältigen können, als mehr oder weniger Belangloses oder Unpassendes zu sagen, obwohl oder gerade weil ihnen die Lage des Patienten und ihre eigene so unwohle Gefühle vermittelt.

Besser, hilfreicher und ehrlicher wären eine kleine Karte, eine Blume und der Satz: „Auch ich bin sprachlos, ratlos und weiß nicht, wie ich trösten kann. Aber vielleicht hilft dir dieser Satz, meine Verbundenheit zu spüren.“ Schwerkranke und Sterbende können ruhi-ger und friedvoller sein, wenn sie sich geliebt fühlen.

In südlichen Ländern gibt es die Sitte, einen Ehepartner nicht allein zu lassen, wenn er oder sie um den Verstorbenen trauert. Ein Freund oder ein Nachbar bleiben einfach im Haus des Trauernden und vermitteln ein Gefühl der unaufdringlichen Gegenwart und Nähe. Es geht dann nicht um dauerndes Reden, sondern einfach um die Anwesenheit eines Mitmenschen und die Möglichkeit, einen Gesprächspartner zu haben, wenn der oder die Trauernde es wünscht. Dabei hat der Trauernde immer die Möglichkeit, sich zurückzuziehen oder die Nähe zu suchen.

 

51 Ruth Morlok, Krankenschwester, ehemalige Pflegedienstleiterin eines Seniorenstiftes, jetzt Leiterin einer Schule für Altenpflege.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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