Die überbesorgten Angehörigen

 

Kennzeichen

Die überbesorgten Angehörigen kommen häufig auf die Station in der Klinik oder rufen den Arzt des Patienten an, wollen Auskunft haben und berichten über ihrer Meinung nach wichtige Veränderungen oder Symptome des Patienten. Sie halten oft Sprechzeiten nicht ein und drängen sich auf. Dabei erwarten sie, dass man immer für sie sehr viel Zeit hat. Meist haben sie Eigenschaften der fordernden, besserwisserischen und distanzlosen Menschen. Überbesorgte Angehörige versuchen, über das übliche Maß der Anteilnahme hinaus Kontakt mit dem Patienten, dem Arzt und den betreuenden Therapeuten aufzunehmen. Und natürlich geben sie an, dies alles nur zu tun, weil sie dem Patienten damit helfen wollen. Das betonen sie auch, um sich und ihr Verhalten zu rechtfertigen.

Sie suchen Bestätigung, Trost, Hilfe, Information und lassen sich meist mit kurzen Erklärungen nicht zufrieden stellen. Sie zeigen fast regelmäßig Zeichen der Hilflosigkeit und der daraus resultierenden wechselnd stark ausgeprägten Aggression. Das reicht von aufdringlichem Verhalten bis zu unterschwelligen oder mehr oder weniger deutlichen Vorwürfen, nicht alles optimal zu machen. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir, dass diese Angehörigen sich sehr wahrscheinlich so verhalten, weil ihnen wesentliche Informationen fehlen. Ich möchte Sie bitten, noch einmal das Kapitel „Eine wichtige Reaktionskette“ zu lesen.

In der Praxis habe ich es manchmal erlebt, dass Mütter anriefen oder mich in der Sprechstunde ins Vertrauen ziehen wollten, um über die Krankheit oder das Fehlverhalten ihrer mittlerweile erwachsenen Kinder zu sprechen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Vater in dieser Rolle erlebt zu haben. Bei den besorgten Müttern hatte ich regelmäßig den Verdacht, und manche gaben es auch widerwillig zu, dass ich benutzt werden sollte, um dem „Kind“ eine Botschaft zu überbringen und es auf den rechten Weg zu führen. Solche Versuche der Instrumentalisierung sind sehr gefährlich, besonders für die Arzt-Patient–Beziehung, und ich denke, wir Ärzte müssen uns hüten, als Schiedsrichter oder Erziehungshelfer im Dienst der Eltern eingespannt zu werden. Das gilt erst recht, wenn das Kind längst erwachsen ist und die Eltern erkennen und nicht zugeben wollen, dass ihre Erziehung wohl nicht den Erfolg gezeitigt hat, den sie erwartet haben. Es ist für viele Eltern schwierig zu akzeptieren, dass ihre Kinder sich für eigene Wege entscheiden und nicht immer bereit sind, ein Leben so zu führen, wie die Eltern es für sie erdacht haben.

Anders ist die Situation, wenn wir Ärzte einen schwer kranken Patienten betreuen und die Angehörigen sich in die Behandlung einmischen, obwohl sie dazu nicht befugt sind. Das ist umso so schwieriger, wenn der Patient sich nicht wehren kann, weil er z.B. bewusstlos oder aus anderen Gründen nicht geschäftsfähig ist oder sich nicht ausdrücken kann. Ich denke beispielsweise an Patienten mit einem Schädel-Hirn-Trauma oder einem Schlaganfall, die kognitiv erheblich beeinträchtigt sind und in vielen Fällen gar nicht sprechen können oder wie bei einer Aphasie ein gestörtes Sprachverständnis und Sprechvermögen haben.

Was machen wir mit überbesorgten Angehörigen?

Vorrangig wichtig erscheint mir zu klären, ob wir Ärzte oder auch die Schwestern und Therapeuten in der Klinik ein Recht haben, mit den Angehörigen über die Krankheit und Behandlung des Patienten zu sprechen. Das ist auch entscheidend, wenn die Angehörigen nicht überbesorgt sind. Es ist zu beachten, dass rein rechtlich die Schweigepflicht auch gegenüber Ehepartnern und Eltern erwachsener Kinder gilt.

Deshalb ist es hilfreich, vor einem ausführlichen Gespräch mit den Angehörigen die Zustimmung des Patienten einzuholen. Wenn dies nicht möglich ist, z.B. bei einem bewusstlosen oder aus anderem Grund nicht geschäftsfähigen Patienten und diagnostische und therapeutische Maßnahmen zu planen sind, ist es hilfreich, möglichst bald eine Betreuung einzurichten. Dann haben wir einen einzigen Ansprechpartner, mit dem wir alles besprechen können und müssen, was für den Patient wichtig ist. Wenn keine juristisch klare Rechtssituation besteht, rate ich zu großer Zurückhaltung bei jedem Gespräch, auf das wir uns einlassen. Geben Sie auch Ihren Mitarbeitern klare Anweisung über das Verhalten am Telefon und bei persönlichen Gesprächen auf der Station. Weisen Sie auch Ihre Gesprächspartner, die unbefugt Auskunft haben wollen, auf die Schweigepflicht hin, und halten Sie sich daran. Es lässt sich aber manchmal nicht vermeiden, mit Angehörigen ein Gespräch zu führen, besonders wenn wir bei einem akut kranken Patienten eine Anamnese erheben sollen oder notfallmäßig Eingriffe nötig sind.

Ein Ausweg aus dem Dilemma kann sein, das Gespräch als „Einbahnstraße“ zu führen: Wir fragen, und der Angehörige antwortet, und wir geben keine oder nur die allernötigsten Einzelheiten preis. So bin ich auch schon vorgegangen, als Angehörige „in großer Sorge“ mich über einen meiner Patienten informieren wollten und Auskunft erbaten. Ich ließ mich informieren, bedankte mich für die Information und bat um Verständnis, dass ich diese nicht kommentieren wollte.

Meist ist es aber so, dass der Patient mit einem Angehörigen in die Sprechstunde oder die Klinik kommt. Dadurch entsteht juristisch gesprochen „ein stillschweigendes Einverständnis des Patienten im Rahmen der Sozialadäquanz“: Der Patient stimmt einem Gespräch über seine Erkrankung zu, indem er die Anwesenheit des Angehörigen bei Untersuchung und Besprechung stillschweigend akzeptiert. Das besagt aber nicht, dass wir in Zukunft mit diesem Angehörigen alles Weitere auch dann besprechen dürfen, wenn der Patient nicht dabei ist. Aber wir können den Patienten fragen, ob er damit einverstanden ist. Diese Zustimmung zu dokumentieren, halte ich für wichtig, weil sie uns Ärzte vor späteren Vorwürfen über eventuelle Indiskretion schützt.

Wenn geklärt ist, dass wir mit einem bestimmten Angehörigen über alle krankheitsrelevanten Angelegenheiten reden dürfen oder müssen, sollten wir uns klar abgrenzend und empathisch verhalten. Termine werden vereinbart, eingehalten und zeitlich begrenzt. Es ist besser, solche Gespräche gezielt zu planen und die Angehörigen vorher zu bitten, eine Frageliste vorzubereiten. Dann kann das Gespräch straff und strukturiert ablaufen. Das erfordert aber auch die Disziplin des Arztes! Themen, die nicht strikt zum Patienten gehören, sollten ausgegrenzt werden, sonst ufert das Gespräch aus. Lassen Sie sich nicht von den Angehörigen instrumentalisieren oder in einer Weise steuern, die Ihrem Behandlungsplan entgegen läuft. Vermitteln Sie klar, dass Sie wissen, was Sie mit dem Patienten vorhaben. Zeigen Sie dabei empathisches Verständnis für die Sorge der Angehörigen.

Sie können diesen Angehörigen außerdem bewusst machen, welches Spiel sie spielen: „Stellen Sie sich vor, jemand aus Ihrem Verwandten- oder Bekanntenkreis würde sich so nach Ihnen erkundigen und über Ihren Zustand genauer Auskunft haben wollen. Wäre Ihnen das recht?“ Das hilft meist, um diese Angehörigen in Schranken zu weisen.

Wie Sie mit Besserwissern, Fordernden und Distanzlosen umgehen können, haben wir schon in anderen Kapiteln besprochen.

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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Das Beipackzettel-Syndrom

 

Kennzeichen

Der Patient äußert seine Bedenken meist schon beim Ausstellen des Rezepts. Er ruft an, wenn er den Beipackzettel gelesen hat, und vergewissert sich, ob Sie das wirklich so gemeint haben mit dem Medikament und der Dosis. Er äußert Bedenken wegen der Nebenwirkungen. Er nimmt das Medikament und bekommt schon während des Schluckens mindestens eine der erwähnten Nebenwirkungen, spätestens aber wenige Stunden nach Einnahme. Das bestätigt seine Befürchtungen. Er setzt das Medikament eigenmächtig oder nach Rücksprache ab: „Können Sie mir nicht etwas ohne Nebenwirkungen aufschreiben?“

Er erwartet genaueste Aufklärung, und wenn er hysterische oder hypochondrische Züge hat, wird er Ihnen wieder beweisen, dass es das falsche Medikament war.

Was machen Sie mit dem Beipackzettel-Syndrom-Patienten?

Fragen Sie sich: Würden Sie an der Stelle des Patienten mit Ihrem Wissen dieses Medikament so nehmen, wie Sie es jetzt verordnen wollen?

Wenn Sie „JA“ sagen, verordnen Sie es. Wenn Sie „NEIN“ sagen, fragen Sie sich, was Sie sich und dem Patienten antun.

Wie gut müssen Sie den Patienten aufklären? Wir Ärzte müssen uns darüber immer genauer und besonders unter juristischen Gesichtspunkten immer sorgfältiger Gedanken machen. Dabei dürfen wir die Dokumentationspflicht nicht vernachlässigen.

Nehmen Sie die Zweifel des Patienten ernst, und denken Sie über Alternativen nach.

Klären Sie den Patienten empathisch auf.

Wenn der Patient Angst vor dem Medikament hat, nimmt er es sehr wahrscheinlich nicht. Sie werden es mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht schaffen, ihn mit viel Argumentation und Aufklärung zur regelmäßigen Einnahme zu bringen. Denken Sie über andere Therapiemöglichkeiten nach.

Bitte unterlassen Sie Bemerkungen wie:

„Das Medikament wirkt hervorragend und hat keine Nebenwirkungen.“

„Stellen Sie sich nicht so an!“

„Bei allen anderen Patienten wirkt es ohne Nebenwirkungen!“ (Das ist eine Herausforderung für den hysterischen Patienten, Ihnen das Gegenteil zu beweisen!)

Wenn Sie und der Patient guter Laune sind und beide Spaß verstehen, können Sie sich an einen Cartoon erinnern, den ich neulich gesehen habe:

Der Arzt sitzt dem Patienten gegenüber und sagt: „Nebenwirkungen? – Ja, Sie müssen damit rechnen, dass Sie wieder arbeitsfähig werden.“

 

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

 

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Der gereizte Mensch

Kennzeichen

Ein gereizter Mensch ist wie ein verkehrt eingerollter Igel, der sich mit seinen eigenen Stacheln peinigt.

Der Patient reagiert verärgert, nörgelnd, murrend und schimpft im Wartezimmer und / oder an der Rezeption. Er nervt die Helferinnen / Schwestern und hält sie nicht nur von der Arbeit ab, sondern vergiftet die Stimmung in der Praxis / auf der Station und bei den anderen Patienten. Nur beim Arzt ist er meist lammfromm. Deshalb merkt der Arzt die Gereiztheit nicht, wenn die Helferin / Schwester dem Arzt keinen Hinweis gibt.

Der Patient ist gereizt, weil entweder etwas passiert ist oder unterlassen wurde, was er so nicht wollte. Oder er hat von den Mitarbeitern eine bestimmte Reaktion erwartet und sich darauf vorbereitet. Er ist also geladen und wartet darauf, die Munition abzuschießen, oder schießt sie ab, weil er sich nachträglich oder vorbeugend wehren will.

Was machen Sie mit dem gereizten Patienten?

Sie sollten beim Umgang mit gereizten Patienten folgende Ziele im Auge behalten:

  • Sie müssen rasch wieder eine positive Stimmung für alle Beteiligten schaffen und vermeiden, dass Zuhörer vom Ärgervirus angesteckt werden.
  • Der Patient soll beruhigt werden und wieder zu seinem Frieden finden.
  • Sie müssen die Ursachen der Gereiztheit herausfinden und beseitigen.
  • Der Patient soll lernen, in Zukunft mit seiner Gereiztheit besser umzugehen.

Isolieren Sie den Patienten in einen separaten Raum, damit er niemanden mit seinem Ärger ansteckt. Das ist zwar eine besondere Aufmerksamkeit und in gewissem Sinn eine Bevorzugung, vermeidet aber, dass andere Patienten aufgehetzt werden und der Praxis- oder Klinikablauf dann gesprengt wird.

Wenn Sie vor der Begegnung mit dem gereizten Patienten von seinem Unmut erfahren, ist es die eleganteste Methode, ihm sofort zu Beginn des Gespräches den Wind aus den Segeln zu nehmen: „Gut, dass Sie da sind. Ich habe gehört, Sie sind verärgert. Das möchte ich gern mit Ihnen besprechen. Was war denn los?“

Hören Sie sich die kritisierte Sache ruhig und geduldig an. Oft steckt ein verständlicher Grund hinter der Kritik. Denken Sie auch darüber nach, wie Sie in der Lage des Patienten reagieren würden. Es relativiert wahrscheinlich Ihre Reaktion als Arzt, Therapeut oder Krankenschwester erheblich, wenn Sie sich selbst gegenüber ehrlich sind.

Bedanken Sie sich für die Information. Reagieren Sie freundlich und verständnisvoll. Das hat zur Folge, dass der Patient sich ernst genommen fühlt. Er ist verblüfft von der unerwarteten Reaktion und Freundlichkeit und kommt auf die sachliche Ebene.

Ihre Reaktion auf einen gereizten Patienten kann eine deutliche Verbesserung der Beziehung zu diesem Patienten bringen, weil der Patient sich Ihre Reaktion merkt und darüber redet. Wenn Sie diesen Patienten „umdrehen“ können, haben Sie einen hervorragenden Werbeträger gefunden.

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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Der Dauerredner als Patient

Ursachen

Das Gefühl, nicht verstanden zu werden, ist der größte Anreiz weiterzureden. Der Dauerredner hat auch meistens Angst, nicht überzeugend zu sein, nicht ernst genommen zu werden oder etwas zu vergessen.

Er ist häufig unkonzentriert, gedanklich ungeordnet, sucht Aufmerksamkeit und hat meist hysterische Züge.

Dieser Patient hat vielleicht zu lange gewartet und steht unter Druck, jetzt alles in kurzer Zeit erzählen zu müssen. Er ist durch die Hektik des Personals oder durch Störungen des Gesprächs unsicher und unfähig, der Reihe nach und in Ruhe zu sagen, was er will.

Was machen Sie mit einem Dauerredner?

Zeigen Sie dem Patienten, dass Sie ihn verstanden haben und jetzt handeln werden. Benützen Sie seien Namen, das ist das wichtigste Wort in seinem Wortschatz:

„Ich habe genau verstanden, was Sie mir gesagt haben, Herr Müller.“

„Frau Huber, ich werde jetzt sofort …“

„Darf ich zusammenfassen, was für Sie am wichtigsten ist, Frau Schulze?“

„Ich möchte Ihnen vorlesen, was ich als Ihre wichtigsten Punkte notiert habe, Herr Maier.“

„Ich verspreche Ihnen, Herr Schmidt, dass ich … „

Wenn Sie Zeit haben, hören Sie aufmerksam und geduldig zu. Auch Dauerredner habe sehr interessante und für die Diagnostik und Therapie wichtige Informationen.

Geben Sie dem Patienten, was er braucht: Aufmerksamkeit, Hilfe, Freundlichkeit, Verständnis, Sicherheit. Achten Sie darauf, dass er diese Arten der Zuwendung so erhält, wie es für Ihre Praxis richtig und typisch ist. Die Praxis und die Klinik sind kein Selbstbedienungsladen!

Bitten Sie den Patienten, beim nächsten Besuch eine Liste mit Fragen mitzubringen, dann können Sie diese nach und nach abarbeiten. Dadurch strukturieren Sie das Gespräch. Lassen Sie sich nicht ausnützen, auch nicht in Bezug auf Ihre Zeit! Setzen Sie Grenzen.

Manchmal haben Sie mit einer Verblüffung einen guten Effekt: Nützen Sie die Sekunde, wenn der Dauerredner Luft holt, zu dem Satz: „Ich habe jetzt zugehört. Können Sie einen Moment Pause machen, damit ich darüber nachdenken kann?“ Es kann gut sein, dass der Gesprächspartner spontan sagt: „Ja, ich habe mal wieder zu viel geredet.“

Wie beenden Sie ein immer wieder neu beginnendes Gespräch?

Sprechen Sie klar darüber:

„Ich möchte mir genügend Zeit für Sie nehmen.“

„Ich habe den anderen Patienten auch versprochen, pünktlich zu sein.“

Wenn der Patient an der Tür wieder anfängt zu reden:

„Das Thema ist für Sie so wichtig, dass wir es unbedingt besprechen müssen. Dafür machen wir jetzt sofort einen Termin aus.“

Öffnen Sie die Tür, lassen Sie den Patienten vorausgehen. Wenn er nicht geht, gehen Sie zur Anmeldung, übergeben Sie den Patienten einer Mitarbeiterin:

„Bitte, vereinbaren Sie mit Frau X einen Termin für (Gespräch, Untersuchung…)“

Verabschieden Sie sich, und gehen Sie zum nächsten Patienten. Bleiben Sie nicht stehen, sonst geht das Gespräch weiter.

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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Der chronisch eilige Mensch

 Kennzeichen

Alles muss immer sofort von anderen Menschen erledigt werden, während er sich selbst nicht drängen lässt. Die Frustrationstoleranz ist gering.

Dazu Originalzitate aus meiner Praxis:

„Ich habe zwar keinen Termin, aber mir geht´s schon zwei Tage lang so schlecht! Und im Wartezimmer kriege ich Platzangst. Ich möchte gleich ins Sprechzimmer gehen.“

„Ich muss gleich dran kommen, weil mein Auto im Halteverbot steht.“

„Kann ich gleich dran kommen, weil ich in einer halben Stunde beim Friseur einen Termin habe?“

„Ich habe schon seit zwei Wochen Schmerzen, und jetzt ist es besonders schlimm!“

Der Patient kommt ganz „zufällig“ immer zum Ende der Sprechstunde und möchte „ganz kurz noch einen richtigen Check-up“.

Was machen Sie mit dem chronisch eiligen Patienten?

Wenn der Patient hysterische oder hypochondrische Züge hat, können Sie entsprechend handeln.

Nehmen Sie sich Zeit, in einer günstigen Situation ruhig und sachlich mit dem Patienten über sein Verhalten und den Einfluss auf den Praxis- oder Stationsablauf zu sprechen.

Benützen Sie dabei Ich-Botschaften, um Angriffe zu vermeiden. Dann haben Sie wahrscheinlich eine Chance, sein Verhalten zu verändern, weil der Patient versteht, was sein Verhalten bewirkt. Er wird sich wahrscheinlich nicht ändern, wenn er das nicht verstanden hat und nur sein Verhalten ändern soll, weil Sie es so wollen.

Machen Sie konstruktive Verbesserungsvorschläge, wie Sie gemeinsam Zeiten finden können, die für alle Beteiligten günstig sind.

Appellieren Sie dabei an die partnerschaftliche Gesinnung des Patienten. Lassen Sie ihn Vorschläge machen, und akzeptieren Sie nicht, wenn er sich nur beklagt.

Halten auch Sie Ihre Termine ein. Sonst werden Sie erpressbar.

Wenn Sie chronisch eilige Patienten immer vorrangig behandeln, lernen diese, dass ihre Methode funktioniert. Dann sind Sie und Ihre Mitarbeiterinnen gut formbares Wachs in den Händen des Patienten.

Führen Sie klare und für alle ersichtliche Regeln der Organisation ein, und halten Sie sich dran.

Geben Sie klare Anweisungen an Ihre Mitarbeiterinnen zum Verhalten diesen Patienten gegenüber, und stehen Sie dazu vor den Patienten.

Lassen Sie sich nicht durch Kritik oder Intrigen ausspielen.

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Der schlecht mitarbeitende Patient

Ursachen der schlechten Mitarbeit

Der schlecht mitarbeitende Patient hat vielleicht die Situation und Anweisung trotz Aufklärung oder wegen schlechter Aufklärung nicht verstanden.

Möglicherweise konnte er nicht aufpassen, weil er sich während der Erklärungen des Arztes an- oder ausziehen musste, oder weil er durch ein Telefongespräch abgelenkt wurde, das Sie rasch zwischendurch geführt haben. Eine Helferin oder begleitende Familienmitglieder haben ihn vielleicht gestört.

Ein wichtiger und häufiger Grund für schlechte Mitarbeit ist Angst, zum Beispiel vor Krankheit, Leiden, Schmerzen, Nebenwirkungen bei Diagnostik und Therapie, Kritik, hohen Kosten, Allergien, Operation und Verlust des Arbeitsplatzes.

Die Dosierung der verordneten Medikamente spielt eine wichtige Rolle: Je häufiger der Patient das Medikament einnehmen soll, umso geringer ist die Zahl der Patienten, die es richtig machen. Bei einer einmaligen Medikamentengabe täglich nehmen 86% der Patienten zuverlässig ein, bei zwei Tabletten 60%, bei drei Tabletten 54% und bei vier Tabletten halten nur noch 26% die Therapie pünktlich ein.

Nur wenn ein Patient seine Medikamente sehr bewusst und überzeugt nimmt und die richtige Einstellung zu einer häufigen Dosierung hat wie zum Beispiel Patienten, die homöopathische Medikamente bevorzugen, können Sie mit einer besseren Einnahmeregelmäßigkeit rechnen.

Wenn die Einnahmeanweisung nicht klar ist oder vergessen wurde, wird der Patient verunsichert und nimmt vielleicht aus Angst vor einem Fehler lieber gar nichts. Oder er nimmt extra viel nach dem Motto „viel hilft viel“. Wenn er anruft, fühlen Sie sich gestört. Die Idee, den Beipackzettel zu lesen, haben nicht alle Patienten, und wenn sie ihn lesen, konzentrieren sie sich auf die Nebenwirkungen und sehen darin einen oder mehrere Gründe, nichts zu nehmen.

Vielleicht hat der Patient von anderer Seite Informationen, die Ihren Aussagen widersprechen. Die Laienpresse, der Nachbar und das Fernsehen versorgen die Menschen mit so vielen widersprüchlichen Nachrichten, dass der Patient sich nicht mehr entscheiden kann und dann lieber nichts nimmt.

Hat der Patient Angst, mit Ihnen über seine wirklichen Sorgen zu reden? Danach können Sie taktvoll fragen.

Haben Sie den Patienten bei der Festlegung des Vorgehens (Diagnostik oder Therapie) mit entscheiden lassen? Erfahrungsgemäß führen die Patienten eine Maßnahme nur dann konsequent durch, wenn sie entweder von Ihrem Vorschlag überzeugt sind oder sich mit Ihrer Meinung identifiziert haben.

Haben Sie den Patienten wirklich motiviert zur Mitarbeit? Haben Sie ihm die Vorteile der Therapie so geschildert, dass er sie voll annehmen konnte? Sind ihm die möglichen Nebenwirkungen bewusst, und ist er trotzdem überzeugt von der Therapie?

Fühlt sich der Patient in Ihrer Betreuung wohl? Hat er genügend Vertrauen in Ihr Wissen und Vorgehen? Haben Sie sich mit den negativen Gedanken des Patienten auseinandergesetzt und seine positiven gestärkt? Haben Sie seine soziale Lage berücksichtigt?

Folgen der schlechten Mitarbeit

Aus einem Artikel der New York Times vom 16.9.1992:

„Studien belegen, dass in den USA jedes Jahr 125.000 Menschen sterben, weil sie bei heilbaren Krankheiten die verordneten Mittel und Therapiemaßnahmen nicht richtig oder gar nicht angewandt haben. Mitte der 80-er Jahre hat die US-Handelskammer die durch Non-compliance [1] entstandenen Kosten auf ca. 15 Mrd. Dollar jährlich berechnet.

Die häufigsten Ausfälle sind bei den Patienten über 65 zu beobachten. 30 – 50% aller für diese Altersgruppe verschriebenen Mittel blieben unbeachtet. Jeder siebente Patient hörte vorzeitig auf, seine Medikamente wie vorgeschrieben einzunehmen, und etwa jeder dritte Patient lässt das Rezept nicht erneuern.

Manche Patienten hören mit der Medikation auf, um zu beobachten, ob die Krankheit verschwunden ist. Sie glauben, dass eine weitere Einnahme die Krankheit bestätigt. Chronisch Kranke möchten oft selbst Kontrolle über ihre Krankheit ausüben und die Medikation selbst steuern. Das wurde bei bis zu 42% der Epilepsie-Patienten beobachtet.

An der Universität Michigan wurde festgestellt, dass die Mitarbeit bei der Therapie der Hypercholesterinaemie [2] und des Hypertonus [3] bei Ärzten als Patienten noch schlechter war als bei allen anderen Patienten mit dem gleichen Krankheitsbild!“

Was machen Sie mit dem schlecht mitarbeitenden Patienten?

Sie können durch regelmäßige RR- und BZ- Kontrollen mit Ausweisen den Patienten anhalten, die Therapie und die Beobachtung regelmäßig zu gestalten. Auch Migränekalender, Tabellen, Notizen über den Verlauf und andere „Hausaufgaben“ sind sinnvoll. Sie vermitteln damit dem Patienten, dass Sie ihn ernst nehmen. Zeigen Sie Interesse an dem Patienten.

Fragen Sie den Patienten nach seinen Vorstellungen von Diagnostik und Therapie. Wenn Sie die Lösungsmöglichkeiten des Patienten individuell absprechen und seine Konfliktlösungen konstruktiv einbauen, haben Sie eine ganzheitliche Beratung erbracht, die mit dem vollen Vertrauen des Patienten belohnt wird. Denn er fühlt sich verstanden, hat an der Lösung aktiv mitgearbeitet und ist deshalb optimal motiviert, sein Rezept auch einzulösen.

Erklären Sie sachlich und anschaulich die Folgen seiner mangelhaften Mitarbeit und die möglichen Erfolge seiner guten Mitarbeit. Vermeiden Sie Schuldzuweisungen, und machen Sie dem Patienten kein schlechtes Gewissen, denn beides sind keine guten und anhaltenden Motive, etwas Positives zu unternehmen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Patienten oft sehr pfiffige Ideen haben, auf die ich nicht komme. Das erhöht den Spaß des Patienten, auch etwas zur Therapie beizutragen, denn er wird gefordert und damit gefördert.

Loben Sie die kleinste Verbesserung der Mitarbeit. Geben Sie dem Patienten das Gefühl, dass er es geschafft hat. Das können Sie auch vor den Verwandten tun. Zeigen Sie Ihre Freude. Das freut nicht nur den Patienten, sondern es gibt Ihnen selbst mehr Motivation für den Tag.

 

[1] Fehlende Mitarbeit

[2] Zu hoher Cholesterinspiegel im Blut

[3] Zu hoher Blutdruck

 

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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Der Besserwisser

Kennzeichen

Er hat die Diagnose und Therapie parat, bevor Sie eine Chance haben, seinen Schilderungen zuzuhören und eigene Gedanken zu entwickeln.

Der Patient schlägt Ihnen die Diagnostik vor und hat Einwände gegen Ihre Diagnostik, meistens bevor Sie etwas geäußert haben:

Wir müssen nicht schon wieder Blut abnehmen! Das haben wir doch erst vor einem halben Jahr gemacht!“

Er hat Einwände gegen Ihre Therapie, bevor Sie einen Vorschlag gemacht haben:

Aber bitte kein Penicillin und kein Kortison! Da gibt´s so schlimme Nebenwirkungen!“

Der Patient versorgt Sie mit den neuesten Erkenntnissen aus der Regenbogenpresse  und prüft Ihren Wissensstand an seinem eigenen. Dabei gerät er in große Schwierigkeiten, wenn Sie seine Vorschläge sachlich hinterfragen und zusätzliche Informationen haben wollen.

Den Besserwisser gibt es in verschiedenen Varianten: Der „Nörgler“ ist immer unzufrieden und hat an allem etwas auszusetzen. Der „Öko-Freak“ hat regelmäßig Bedenken wegen der Umweltschädigung. Und der „Medizin-Verbesserer“ hat scheinbar so gute Ideen, dass es sich anhört, als habe er den Nobelpreis verpasst. (Zugegeben, der letzte Satz ist ein bisschen übertrieben.)

Was machen Sie mit dem Besserwisser?

Bleiben Sie sachlich. Prüfen Sie die Ideen und Informationen des Patienten. Sie sind oft sehr hilfreich.

Wenn der Patient einen guten Vorschlag gemacht hat, bedanken Sie sich bei ihm, und bauen Sie die Idee in das Vorgehen ein.

Zeigen Sie dem Patienten, dass Sie sein Interesse an der Mitarbeit gut finden, und motivieren Sie ihn zu einem partnerschaftlichen Vorgehen.

Nützen Sie das Interesse des Patienten an seiner Gesundheit.

Wenn der Patient destruktive Kritik bringt, fragen Sie sachlich und ruhig nach seinen Vorschlägen und dem Grund seiner Ablehnung. Oft erhalten Sie wichtige Informationen zur Sozialanamnese, die Sie für Diagnostik und Therapie verwenden können.

Fragen Sie nach Gründen für Sorgen und Angst vor der Diagnostik und Therapie. Vielleicht hat der Patient schlechte Erfahrungen gemacht oder erschreckende Beispiele gehört. Bedenken Sie bitte, dass die Lebenserfahrungen und Wahrnehmungen des Patienten für ihn genauso wichtig sind wie Ihre Eindrücke für Sie. Nehmen Sie also den Patienten ernst, und gehen Sie partnerschaftlich mit ihm um.

Wenn Sie in einer Unterredung mit dem Patienten durch sachliche Information gemeinsam dazu gekommen sind, dass Ihre Vorschläge durchgeführt werden, geben Sie bitte dem Patienten nicht das Gefühl der Unterlegenheit.

Wenn der Patient das Gesicht verliert, verlieren Sie den Patienten.

Vergewissern Sie sich, dass der Patient wirklich mit der erarbeiteten Vorgehensweise einverstanden ist. Wenn er nur Ihnen zuliebe JA sagt und nicht anders aus dem Gespräch herauskommt, wird er wahrscheinlich die Diagnostik und Therapie nicht einhalten und/oder vermehrt Komplikationen haben.

Es ist in Ordnung, auf eigene Erfahrung und eigenes Fachwissen hinzuweisen, wenn Sie gleichzeitige Bereitschaft signalisieren, etwas dazuzulernen.

Arbeiten Sie mit Überweisung und regelmäßigen Kontakten mit Spezialisten zusammen. Informieren Sie den Kollegen so ausführlich, dass die Kosten gering gehalten werden können. Sie vermeiden damit, vom Patienten gegen den anderen Arzt oder Therapeuten ausgespielt zu werden.

Wenn der Patient ein Spezialisten-Saboteur oder Koryphäen-Killer ist, d.h. wenn er versucht, den Spezialisten zu entwerten, um sich selbst zu profilieren, klären Sie, ob der Patient hysterische oder hypochondrische Züge hat. Dieser Patient legt es darauf an, Ihre Unfähigkeit und seine Überlegenheit zu beweisen.

Er ködert Sie mit Vorschusslorbeeren: „Sie sind meine letzte Rettung!“ Die beste Reaktion darauf habe ich bei Rönsberg und Huhn gefunden: „Sicher nicht die letzte, vielleicht die vorletzte!“

Es hilft, wenn Sie die Allmacht bezweifeln, die Ihnen von dem Patienten attestiert wird.

Wenn Sie eine anfängliche Verschlechterung durch Ihre Therapie vorhersagen, können Sie skeptisch bleiben bezüglich eines anhaltenden Therapieerfolges. Sonst fordern Sie den Patienten heraus, Ihnen das Gegenteil zu beweisen.

Ein Kampfspiel zu dem Thema „Wer hat Recht?“ werden Sie immer verlieren. Deshalb können Sie nur gewinnen, wenn Sie das Spiel nicht mitspielen, jedenfalls nicht nach den Regeln des Patienten.

 

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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Das Pseudo-VIP-Syndrom

Kennzeichen

Herr und Frau Besonders Wichtig dringen wie distanzlose Menschen in Ihren Bereich ein und begründen ihre Wichtigkeit nach außen mit Rechten, die sie zu haben glauben.

Oft ist der Pseudo-VIP ein hysterischer Mensch, manchmal ein hypochondrischer oder distanzloser. Er hat es nötig, seinen Mitmenschen zu zeigen, dass er besonders wichtig genommen werden will.

Er sucht Nähe im privaten Bereich, um daraus Vorteile für sich zu ziehen. Er ist oft in Clubs anzutreffen und nutzt solche Beziehungen als Begründung für Vorrechte aus, z.B. das vertraute DU.

Diese Menschen schieben oft private Beziehungen zum Arzt vor, die nicht wirklich so bestehen, um bei den Arzthelferinnen bessere Bedienung zu bekommen.

Plumpe Vertraulichkeit ist häufig. Der Pseudo-VIP will die Privattelefonnummer des Arztes oder der Therapeutin haben und nützt sie auch zur Unzeit über Gebühr aus (im wahrsten Sinn des Wortes).

Originalzitate aus meiner Praxis: Die Patienten sagten zur Arzthelferin:

„Ich kenne den Doktor gut. Ich brauche noch heute einen Termin.“

„Ich habe den Dietrich und seine Frau im Urlaub kennen gelernt. Ich will ihn sofort sprechen.“

„Der Doktor ist mein Nachbar. Er muss (!) mir auf dem Heimweg das Rezept in den Kasten werfen.“

Was machen Sie mit dem Pseudo-VIP?

Gehen Sie vor wie beim Distanzlosen. Trennen Sie private und berufliche Bereiche klar, und halten Sie die Grenzen immer ein. Bleiben Sie freundlich und sachlich.

Oder machen Sie durch eine paradoxe Reaktion deutlich, dass die Situation unpassend ist.

Dazu eine Anekdote:

Der berühmte Frauenarzt Prof. Bumm von der Berliner Charité war zu einem Festempfang eingeladen und saß beim Festessen neben einer exaltierten Dame der großen Gesellschaft, die die Nähe des Arztes für eine (natürlich kostenlose) Beratung nützen wollte. Nachdem Sie Ihre Frage leise geäußert hatte, antwortete der Professor mit betonter Höflichkeit und so laut, dass es alle hören konnten: „Gnädige Frau, selbstverständlich beantworte ich Ihre Frage gern. Ziehen Sie sich aus, damit ich Sie sofort untersuchen kann.“

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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Der weinende Mensch

 

Ein weinender Mensch ist ein Notfall und hat Vorrang. Taktvolles Verhalten ist immer angebracht. Beschwichtigungen werden oft als kränkend oder ablenkend empfunden und sollten deshalb unterlassen werden.

  •  Sie können immer anbieten: „Wollen Sie darüber sprechen?“

Dabei müssen wir zuerst überlegen, wie wir zu unseren eigenen Tränen stehen. Können wir unsere Tränen als Mittel des Ausdrucks annehmen, oder versuchen wir, sie zu unterdrücken? Davon hängt unser Verhalten den Patienten gegenüber ab.

  •  Wir sollten den Mensch ausweinen lassen und unser Mitgefühl durch Geduld und Ruhe signalisieren.

Lassen Sie ihn den erleichternden Effekt des Weinens erleben.

Wenn Sie sofort ein Taschentuch auf den Tisch legen oder gar aufdrängen, kann das als Aufforderung aufgefasst werden, mit dem Weinen aufzuhören. Deshalb ist es ratsam, das Taschentuch erst dann zu geben, wenn er darum bittet.

  • Wenn ein Mensch dem Weinen nahe ist und die Tränen nicht zulassen will, können Sie ihm Ihren Eindruck vermitteln: 2Ich finde es schade, dass Sie so streng mit sich sind und die Tränen nicht zulassen.“
  • Begrenzen Sie Krisengespräche zeitlich.

Auch ein trauernder und/oder depressiver Patient muss sich wieder an die Normalität der Zeitbegrenzung gewöhnen, die er in der Trauer und Depression verloren hat. Damit wird ein relativ kurzes Gespräch mit mehr Leben erfüllt. Sie erreichen dadurch, dass der Patient und Sie selbst sich konzentrieren auf das, was in der vorgegebenen Zeit besprochen werden kann. Es ist deshalb nötig, dem Patienten klar zu sagen, wie viel Zeit Sie für ihn jetzt haben. Diese Zeit sollten Sie unbedingt einhalten.

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

 

 

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Der trauernde Mensch

Klären Sie möglichst rasch: Handelt es sich um Traurigkeit, Trauer- und Trennungsprobleme, Ausdruck einer reaktiven Depression oder/und eine andere Depressionsform?

Allen Situationen ist ein trennendes und schmerzvolles Moment eigen, mit dem sich die Patienten auseinandersetzen müssen.

Achten Sie auf Ihre eigenen Gefühle:

Sind Sie hilflos-traurig oder hilflos-ärgerlich oder hilflos-ängstlich?

Aus der Wucht Ihrer eigenen Gefühle können Sie gut auf die Intensität des Mitmenschen schließen und damit Zeit und Energie sparen und die Therapie und Ihr Verhalten in die richtige Richtung lenken.

Die Gefühle, die Sie im Umgang mit dem Patienten spüren, zeigen Ihre persönliche Begabung, eben diese Gefühle zu spüren. Das ist kein Hindernis, sondern eine Hilfe für die Therapierichtung. Ihre Therapie wird mit großer Wahrscheinlichkeit emotional gesteuert, auch wenn Sie rational reagieren wollen. Deshalb sollten Sie über Ihre eigenen Gefühle nachdenken, bevor Sie die Therapie festlegen wollen.

Wenn Sie hilflos-ärgerlich sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie unbewusst zum Angriff übergehen, z. B. mit einer Spritze oder einer anderen aggressiveren Therapiemethode. Sie müssen die Therapie finden, die zu Ihnen und dem Patienten passt.

Wenn Sie hilflos-ängstlich sind, könnte es sein, dass Sie zögerlich mit der Therapie sind und vielleicht zu wenig unternehmen oder zu unentschlossen entscheiden und handeln.

Wenn Sie hilflos-traurig sind, besteht die Gefahr, dass Sie sich mit dem Mitmenschen / Patienten identifizieren und nicht genügend Distanz haben, um eine sachlich gerechtfertigte Therapie / Verhaltensweise zu beschließen und durchzuhalten.

Wenn Sie im Umgang mit einem Menschen Aggression verspüren, weil er in seinem Gespräch oder Leben nicht vorwärts kommt, kann es sein, dass Sie seine verdrängte Aggression spüren, die sich bei ihm als Depression manifestiert. Dies ist ein wichtiges diagnostisches Merkmal, das im Gespräch rasch zur Diagnose führen kann! Sie können also ihre eigene Aggression als diagnostisches Kriterium nützen und gezielt weiter nach Zeichen einer Depression suchen.

Depression ist meist eine verdrängte Form der Aggression, die sich gegen den Menschen selbst richtet (= Autoaggression!). Die extreme Form der Aggression ist der Mord. Die extreme Form der Autoaggression / Depression stellt der Suizid [1] dar. Deshalb müssen wir uns bei einem Suizid immer fragen, wem die Tötung wirklich gegolten hat.

Stellen sie fest, wie viel Energie der Patient noch hat. Wenn er „am Ende“ ist, müssen Sie schneller handeln. Bauen Sie dann keine zusätzlichen Widerstände durch Fragen und Vorschriften auf, sondern handeln Sie konsequent.

Wenn Sie das Gefühl haben, dass der Patient suizidal ist, handeln Sie entschlossen und ohne schlechtes Gewissen, ihn einweisen zu müssen.

Trauerarbeit ist Erinnerungsarbeit.

In jedem Fall ist es hilfreich, den trauernden Patienten dazu anzuhalten, über den „Verlorenen“ zu sprechen. Dieser muss sozusagen noch einmal „auferstehen“, um dann möglichst liebevoll losgelassen werden zu können.

Hören Sie zu! Und stoppen Sie den Trauernden nicht mit einer Geschichte, die Sie erlebt oder gehört haben und die noch schlimmer ist. Sie müssen sich nicht profilieren. Der Trauernde hat jetzt Vorrang.

Lassen Sie sich Bilder zeigen, sprechen Sie über den vermissten Partner auch dann, wenn zum Beispiel ein junges Mädchen schrecklich sauer ist, dass der Freund sie verlassen hat. Zeigen Sie Ihr Interesse an der Persönlichkeit des Freundes.

Ermuntern Sie die Patienten, sich intensiv mit dem Verlorenen zu beschäftigen und den Schmerz zu spüren. Dann kommen die Patienten leichter darüber weg, auch wenn sie im Moment mehr Schmerz fühlen und lieber alles verdrängen würden.

Trauer und Angst sind leichter zu überwinden, wenn wir uns damit konfrontieren statt sie zu verdrängen. Wir haben nur eine bestimmte Menge an „Trauer-Energie“. Wenn sie aufgebraucht ist, kann das normale Leben wieder Raum gewinnen.

Bei der Trauer haben wir nur die Wahl, sie jetzt seelisch zu spüren oder in geraumer Zeit in Form von psychosomatisch ausgelösten Beschwerden wie Schlafstörungen, Magenge-schwüren, Atemstörungen oder ähnlichen Symptomen, die schließlich eine Psychotherapie nötig machen.

Insofern ist es auch richtig, die Patienten zu ermuntern, die Trauerfeier nicht im Nebel eines Tranquilizers, sondern im vollen Wachbewusstsein zu erleben. Die Südländer können ihre Trauer ausleben und sind wesentlich schneller wieder frei für neue Gefühle und den normalen Fortgang des Lebens.

Wollen Sie sympathisch oder empathisch reagieren?

Sympathisch [2] reagieren bedeutet in diesem Zusammenhang, sich mit dem Trauernden zu identifizieren, das heißt, ich reagiere, als ob ich an seiner Stelle wäre. Ich lade mir sein Problem auf und leide daran. Sympathische Reaktionen vermitteln menschliche Nähe und verhindern therapeutische Distanz.

Empathisch [3] reagieren bedeutet, dass ich mich in den Trauernden hineinversetze und mir klar mache, warum er so empfindet und reagiert, und dabei mache ich mir gleichzeitig klar, dass seine Empfindung und Probleme nicht meine sind, ich sie also auch nicht lösen muss. Deshalb leide ich auch nicht daran. Damit kann ich eine diagnostische und therapeutische Distanz wahren und den Patienten verstehen und ihm das Gefühl geben, dass ich ihn verstehe. Empathische Reaktionen vermitteln menschliche Nähe und therapeutische Distanz.

Es ist eine sehr individuelle Entscheidung, ob Sie einen Menschen umarmen wollen, z. B. wenn er oder sie verzweifelt neben dem Bett eines soeben verstorbenen Angehörigen steht. Es ist in Ordnung, wenn Sie Ihre eigene Betroffenheit zeigen, aber dann sollten Sie unbedingt in die Distanz der empathischen Haltung zurückkehren.

Ein gezieltes empathisches Verhalten ist immer richtig. Ein sympathisches Verhalten (zum Beispiel mitzuweinen) ist sicherlich echt empfunden und insofern richtig. Allerdings können Sie das Problem bekommen, dass Sie nicht mehr objektiv handeln können, weil Sie die innere Distanz nicht mehr erreichen, die dazu nötig ist.

[1] Bitte benützen Sie nicht das Wort Selbstmord, weil Mord in unserem Sprachgebrauch vorsätzliche Tötung aus niedrigem Beweggrund bedeutet. Besser sind die Wörter Suizid oder Selbsttötung.

[2] wörtlich: Mitfühlend, mitleidend

[3] wörtlich: Hineinfühlend

 

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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