Der Simulant

Kennzeichen

Der Simulant schildert nicht vorhandene Symptome, um daraus Vorteile zu ziehen. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, Sport- oder Schulbefreiung, ein anderer Arbeitsplatz, Entschädigungen von Versicherungen sind oft begehrte Vorstufen zur Rente. Zuwendung von anderen Menschen und Schonung sind offensichtliche Krankheitsgewinne durch Simulation. Das begreifen schon die kleinsten Kinder und wenden es perfekt an. Jede Mutter kennt die Bauchschmerzen ihres Kindes, wenn es nicht in den Kindergarten will oder in der Schule eine Klassenarbeit bevorsteht.

Der Simulant ist bei guter Schauspielkunst und mangelnder Aufmerksamkeit des Arztes / Therapeuten nicht oder nur sehr schwer zu erkennen. Symptome wie Bauch- und Kopfschmerzen sind so schnell nicht zu widerlegen und reichen allemal für eine kleine Krankmeldung von ein paar Tagen, und mehr braucht der Simulant meistens nicht.

Was machen wir mit dem Simulanten?

Da wir Ärzte ja ganz überwiegend mit Patienten zu tun haben, die tatsächlich krank sind, ist es relativ wahrscheinlich, dass wir einen guten Simulanten übersehen. Deshalb möchte ich Ihnen einen Satz sagen, der in der ganzen Medizin gilt und so banal wie wahr und hilfreich ist. Ich habe ihn in der Vorlesung bei dem berühmten Internisten Prof. H. E. Bock in Tübingen gehört: „Eine Diagnose kann man nur stellen, wenn man an sie denkt!“ Also schärfen Sie Ihren diagnostischen Blick mit ein bisschen gesunder Skepsis und realistischer Erfahrung mit den weniger guten Eigenschaften in uns Menschen.

Sorgfältige Diagnostik ist nötig, weil auch Simulanten krank sein können. Vielleicht finden Sie etwas Pathologisches und Behandlungsbedürftiges, auch wenn es dem Simulanten gar nicht in seine Pläne passt.

Der Simulant verführt oft zu Überdiagnostik und Übertherapie wie der Hysteriker auch. Davor müssen wir uns und den Patienten schützen. Das gilt besonders, wenn der Simulant mehrmals mit der gleichen Masche ankommt.

Wenn wir den Verdacht auf Simulation haben, können wir mitspielen. Aber wir werden erpressbar und unglaubwürdig. Dadurch verspielen wir das Vertrauen des Patienten und die Achtung vor uns selbst. Denn was halten Sie von jemand, der etwas macht, wovon er nicht überzeugt ist und sogar betrügerische Machenschaften unterstützt? Und das ist so, wenn Sie eine Krankmeldung ausschreiben und wissen, dass der Arbeitgeber oder die Krankenkasse das Gehalt weiter bezahlen, ohne dass eine angemessene Leistung dem gegenüber stehen.

Oder wir beginnen eine detaillierte Suche. Das bringt erhöhte Kosten und alle Vor- und Nachteile, die der Patient durch die Zuwendung erhält. Hypochonder und Simulanten werden ermuntert, die Beschwerden größer werden zu lassen, um im Kampf mit dem Arzt zu siegen. Dadurch kommt der Arzt immer mehr in Zugzwang und wird hilflos gemacht. Außerdem sind wir Ärzte meiner Meinung nach in Zeiten der schwindenden Geldmittel im Gesundheitssystem sehr gefordert, die Ausgaben in einem für die Allgemeinheit vertretbaren Rahmen zu halten. Das gilt erst recht für Leistungen, die wir Simulanten zukommen lassen.

Selbst wenn der Arzt den Patienten überführen kann und dies deutlich zeigt, verliert er den Kampf menschlich und außerdem wahrscheinlich den Patienten, und dem Patienten ist nicht geholfen. Denn der Patient kennt keine für ihn gangbare Möglichkeit, sein Ziel ohne die Simulation zu erreichen. Er wird beim nächsten Arzt das gleiche Spiel versuchen.

Deshalb ist eine sorgfältige Sozialanamnese sinnvoll, um die Hintergründe aufklären und unterscheiden zu können zwischen Simulation, Aggravation (übertriebene Schilderung tatsächlich vorhandener Symptome), neurotischem Verhalten und einer Lüge. Ein Hausarzt ist hier im Vorteil gegenüber dem einmal aufgesuchten Facharzt, weil er seine Pappenheimer kennt.

Ein problemorientiertes Gespräch ist angezeigt, um mit dem Patienten eine Möglichkeit zu erarbeiten, die seine Situation ohne Simulation löst.

Wir sollten den Triumph, ihn überführt zu haben, nicht zeigen. Das entwertet und kränkt den Patienten. Wenn wir mit Simulanten gut umgehen, können sich daraus sehr gute Beziehungen entwickeln, weil der Patient das Gefühl bekommt, wirklich menschlich ernst genommen zu werden, auch wenn er mit unlauteren Mitteln vorgehen will.

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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Der hypochondrische Mensch

Der Hypochonder

 Hypochonder heißt im griechischen wörtlich „unter dem Knorpel“. Gemeint ist der untere Rippenbogen, denn unsere Vorfahren beobachteten dort die meisten funktionellen Störungen. Auch bei Kindern, die ihren Körper noch nicht genau kennen, zeigen fast immer auf ihren Bauch, wenn man sie fragt, wo es weh tut.

Die Hypochondrie ist ein eigenständiges Krankheitsbild, das zu den Zwangsstörungen gehört und behandlungsbedürftig ist. Etwas 5-10% der Patienten in einer Hausarztpraxis leiden an ihrer extremen Selbstbeobachtung.

Kennzeichen

Der Hypochonder hat die Vorstellung, schwer krank zu sein, und er lässt sich auch von sorgfältig erhobenen und normalen Untersuchungsbefunden nicht vom Gegenteil überzeugen. Jeder gesunde Befund zwingt ihn dazu, eine neue Symptomatik zu entwickeln und eine zusätzliche diagnostische Maßnahme zu fordern. Und er hat eine zwanghafte Neigung, sein Befinden ständig zu beobachten und zu beschreiben in der Angst, etwas zu finden, was in ihm krank ist. Hypochondrie ist eine Gesundheitsangst. Freud stellte sich vor, dass die Hypochondrie eine narzisstische Neurose darstellt: „Der Hypochondrische zieht Interesse wie Libido von den Objekten der Außenwelt zurück und konzentriert beides auf das beschäftigende Organ.“

Dabei ist wichtig zu wissen, dass die Ängste auf ein Organ (z. B. Leber oder Herz oder Lunge) oder ein Körperteil (z. B. Bauch oder Kopf) oder ein bestimmtes Symptom (z. B. Ziehen, Schmerzen) oder eine bestimmte Diagnose (z. B. Krebs oder Alzheimer-Erkrankung) begrenzt sein können. Das Hauptproblem der Hypochonder ist nicht der Schmerz, sondern die falsche Deutung der Schmerzen. Bei Brustschmerzen ängstigen sie sich vor einem lebensbedrohlichen Herzinfarkt, bei Kopfschmerzen sind sie sicher, einen unheilbaren Hirntumor zu haben.

Die Hypochondrie kann als schwere seelische Erkrankung die Betroffenen in ihrer Lebensfreude und Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigen und bis zur Arbeitsunfähigkeit und stationären psychiatrischen Behandlungsbedürftigkeit führen.

Bis heute ist noch keine körperliche Ursache der Hypochondrie gefunden worden, die Angst des Hypochonders ist sehr wahrscheinlich nicht durch organische Veränderungen ausgelöst. Es gibt insbesondere noch keine bekannte Störung des zentralen Nervensystems, die man als Ursache oder Steuerungsmechanismus der Hypochondrie verantwortlich machen könnte.

Der Hypochonder wendet sich in dem Maß von der Außenwelt ab, in dem er sich auf seine Beschwerden und Befürchtungen konzentriert. Dadurch entwickelt sich die zwischenmenschliche Beziehung zurück, und die Umwelt wird mehr und mehr benützt, um die Hypochondrie zu stützen. Artikel, die er liest, oder Bericht über Krankheiten, die ihm erzählt werden, verstärken seine Angst oder schaffen neue Vorstellungen von krankhaften Symptomen. Denn die Logik des Hypochonders ist zwingend: Was muss das für eine schreckliche Krankheit sein, die nicht einmal von den Spezialisten gefunden oder erklärt werden kann! – Tatsächlich ist der Hypochonder Opfer einer schweren Krankheit, er hat nämlich mindestens eine Hypochondrie, wenn keine andere Krankheit gefunden wird. Aber genau diese Diagnose lehnt der Hypochonder als Zumutung, Fehldiagnose oder persönliche Unverschämtheit des Arztes ab.

Dabei entwickelt sich der Hypochonder zu einem Fachmann auf seinem Gebiet, er liest alles, besonders Laienliteratur und neuerdings alles, was er im Internet finden kann. Und das ist so viel, dass es Hypochonder erst recht auf schlimme Gedanken bringt! Da er überzeugt ist, dass die Ärzte auch nicht alles wissen können, versorgt er sie hilfsbereit mit seiner Spezialliteratur, um ihnen den richtigen Tipp zu Diagnose und Therapie zu geben. Und er ist sehr aktiv, den Ärzten neue Vorschläge zur Interpretation der Symptome zu geben. Ein typisch ausgeprägter Hypochonder kann sich auf diese Weise zu einem Koryphäen-Killer oder Spezialisten-Saboteur entwickeln, der von Fachmann zu Fachmann rennt und jedem beweist, dass auch er nicht auf die richtige Diagnose kommt. Dadurch betreibt er das, was die Krankenkassen inzwischen als Praxis-Hopping bezeichnen, gemeint ist das Springen von Praxis zu Praxis.

Ich erinnere mich an einen meiner Hypochonder in der Praxis, der mich regelmäßig mit den neuesten Anzeigen aus einer bekannten deutschen Tageszeitung versorgte (ich meine die mit den ganz großen Buchstaben) und anderen Produkten aus der Regenbogenpresse und mir gleichzeitig erzählte, dass er auch dieses Medikament schon erfolglos ausprobiert habe. Der Arzt Gerhard Uhlenbruck, auch ein brillanter Aphoristiker, sagt: „Ein richtiger Hypochonder begleitet seinen Arzt in den Urlaub. Manche Menschen bringen es vom Hypochonder zum Fachpatienten.“

Beim Hypochonder stehen die körperlichen Zeichen im Vordergrund und werden oft übertrieben und äußerst detailliert geschildert. Hier ist das Detail des Berichts wichtig, weniger die Art der Darstellung. Beim Hysteriker imponieren besonders die Inszenierung des Geschehens, das große Theater, die eindrucksvolle, meist laute Schilderung der Symptomatik, weniger der Inhalt des Gesagten. Psychosomatisch kranke Patienten tragen psychische Probleme über den Körper aus, oft sind es Hilfeschreie, weil sie überfordert sind. Sie wollen erreichen, dass sich jemand um sie kümmert so wie die Eltern damals, als die Patienten noch klein waren. Diese Unterschiede sind wichtig, weil sie Konsequenzen haben für den Umgang mit dem Patienten.

Hypochonder glauben, dass sie eine Sache kontrollieren könne, wenn sie sich darüber Sorgen machen. Sie sind beispielsweise ständig mit den Menschen beschäftigt, die sie lieben, und machen sich Angst, es könnte etwas mit ihnen geschehen, wenn sie fort sind oder auf dem Weg mit dem Auto oder dem Flugzeug. Diese Angst geht weit über die üblichen Gedanken für eine gute Reise hinaus, die man normalerweise hat, wenn jemand verreist. Der Hypochonder kann seine angstvollen Gedanken nicht loslassen, weil er kein Vertrauen hat, dass auch etwas gut gehen könnte.

Es ist sinnvoll und eine gesunde Reaktion, einem Kind oder einem Partner zu sagen, sie sollten einen Schutzhelm auf dem Fahrrad tragen. Krank wäre es, sich Sorgen zu machen über etwas, was man nicht kontrollieren kann, eine Autofahrt, ein Flug oder irgendeine Situation, die man nicht beeinflussen kann. Dabei ist die Bedeutung des Wortes „kontrollieren“ wichtig. Im Englischen bedeutet „to control“ nicht nur „überprüfen“, sondern auch „steuern“, „beeinflussen“.

Wir können in den Gesprächen überprüfen, ob die Angst des Hypochonders einfühlbar ist. Meist ist sie es nicht, wenn bei allen Abklärungen normale Befunde erhoben worden sind und der Patient immer noch und immer mehr Angst bekommt und zunehmend unter seiner Vorstellung krank zu sein leidet.

Hypochondrische Zeichen können zu einer Psychose und einer körperlich betonten Form der Depression passen. Eine differentialdiagnostische Abklärung ist notwendig. Hypochonder geraten manchmal in diese Angstzustände, weil sie Angst vor etwas anderem haben, was sie entweder nicht bewusst erkennen oder nicht darstellen wollen.

Ungelöste Familienkonflikte sind häufige Ursachen einer Hypochondrie. Ich kenne eine Studentin, die große Krankheitsängste entwickelte, die in hypochondrischer Weise vorgetragen wurden. Alle diagnostischen Maßnahmen erbrachten normale Befunde. Erst im Rahmen einer Psychotherapie zeigte sich, dass sie große Angst hatte, sich von ihrer Familie abzulösen, in der Krankheit der Eltern eine wichtige Rolle spielte. Und ihre eigene (eingebildete) Krankheit bot ihr die Möglichkeit, in der Sorge ihrer Familie präsent zu sein und zu bleiben. Als sie die Hintergründe dieser Ängste erkannte hatte, konnte sie die zwanghafte Beziehung lösen, liebevoll ihre Familie loslassen und in Ruhe weiter studieren und eine normale Beziehung zu ihrer Familie aufbauen.

Es gibt viele Hypochonder unter den Ärzten, wahrscheinlich begünstigt durch die ständige berufliche Fixierung auf körperliche Symptome. Ich glaube, jeder Medizinstudent kennt das Gefühl, dass er eine Krankheit hat, die er gerade im Buch lernt oder im Hörsaal an einem Patienten sieht. Während ich im Hygienebuch die Parasiten studierte, die unter der Haut Gänge graben und einen entsetzlichen Juckreiz verursachen, z. B. bei der Krätze, habe ich mich ertappt, dass ich mich ständig kratzte. Erst als ich mir klar machte, was da in meiner Vorstellung ablief und dass meine Haut nicht befallen war, hörte der Juckreiz auf.

Ein befreundeter Kollege entdeckte plötzlich einen „auffälligen“ Lymphknoten in der Achselhöhle, als wir im Studium dabei waren, Lymphknotenkrebserkrankungen zu lernen. Er schlief nicht mehr und steigerte sich so weit in die Angst hinein, jetzt unheilbar krank zu sein, dass er sich schließlich den Lymphknoten entfernen ließ. Glücklicherweise überzeugte ihn das normale Ergebnis, und er fühlte sich von da an wieder gesund.

Da die einmalige Erkenntnis und Diagnose das Symptom zum Verschwinden brachten und wir dadurch beruhigt waren, spricht unser Verhalten gegen die Diagnose Hypochondrie. Ein echter Hypochonder wäre durch den normalen Befund besorgt gewesen und hätte entweder stärkere oder andere Symptome entwickelt. Der Entertainer Harald Schmidt ist seit Jahren ein bekennender Hypochonder und berichtet in seinen Kolumnen, dass er mindestens einmal wöchentlich seine Lymphknoten abtastet und Stammgast bei Ärzten ist. [1]

Der Hypochonder pflegt seinen Krankheitsgewinn und hat drei mögliche Entwicklungswege.

  • Der „Tyrann“ unterjocht seine Umwelt und sein ganzes eigenes Leben dem Gedanken, krank zu sein, die Krankheit zu diagnostizieren und zu behandeln. Er verlangt Verständnis, Anpassung und unterdrückt alle, die mit ihm zu tun haben. Er ist extrovertiert und lässt jeden an seinem vermeintlichen Leiden nicht nur teilhaben, sondern er drückt es jedem auf, der es gar nicht wissen will. Daraus kann ein hysterisches / histrionisches Verhalten entstehen, oder der Hysteriker wird zum Tyrann, wenn er sich krank fühlt. Dieses Verhalten hat Krankheitswert, der hypochondrische Tyrann ist in seinem sozialen Verhalten krank, ein so genannter Soziopath, weil nicht nur er an seiner Situation leidet, sondern die Umwelt auch. Sein Krankheitsgewinn heißt vorrangig Macht.

Der berühmte Wissenschaftler Charles Darwin glaubte zwar an die Macht des Stärkeren, aber er terrorisierte seine Familie so sehr mit seinen ständigen Schwächeanfällen, dass seine sechs Kinder ebenfalls ausgeprägte Hypochonder wurden.

  • Der „Märtyrer“ kann still leiden oder sehr demonstrativ, laut oder sehr leise und trotzdem sehr auffällig. Er fühlt sich als Opfer seines Leidens, das ihm seiner Vorstellung nach entweder als verdiente Strafe für ein Fehlverhalten oder als Prüfung oder als völlig ungerechtfertigte Bürde auferlegt wurde. Es hängt auch von der Umwelt ab, ob sie den Märtyrer anerkennt und in seinem Dasein bestätigt. Klar ist, dass der Märtyrer alles daransetzen wird, dem Bild eines unschuldig Leidenden alle Ehre zu machen. Wer daran zweifelt, wird noch mehr Symptome und stärkere zu sehen bekommen. Denn wenn der Märtyrer gesund wird, fehlen ihm die sekundären Krankheitsgewinne der Schonung, Zuwendung, Macht und möglicherweise auch das Geld der Krankenkasse oder des Arbeitgebers ohne Arbeit. Man muss schon sehr gesund sein, um darauf verzichten zu können.
  • Der „Nutzlose“ sieht in seinem von der Umwelt nicht erkannten und nicht respektierten Leid die Bestätigung für seine Minderwertigkeit. Vielleicht hat der Nutzlose große Ideen und Pläne für sein Leben gehabt, die durch die vermeintliche Krankheit zerstört wurden. Hier bietet sich ein weites Feld für unrealistische Phantasien, die angeblich durch die Krankheit zerstört wurden. Der Krankheitsvorteil des „Nutzlosen“ kann darin bestehen, dass seine Umwelt mit viel Aufwand und Zuneigung versucht, ihn von seinem Wert zu überzeugen. Der „Nutzlose“ schwebt von allen drei Typen des Hypochonders am gefährlichsten in der Nähe des Suizids, denn wer nutzlos ist, so glaubt er, ist auch nicht wert zu leben.

Es gibt berühmte Hypochonder. Thomas Mann beschreibt in seinen Tagebüchern seitenweise und sehr detailliert seine „Dichterschmerzen“ und seine Angst, an einem Stück Fleisch zu ersticken oder gefährliche Übertemperatur zu bekommen. Er wurde 80 Jahre alt. Charlie Chaplin bekam bei dem geringsten Luftzug Panikattacken und erlaubte sich auch bei größter Hitze keine Luftzufuhr. Gegen sein chronisches Sodbrennen nahm er täglich Alka-Selzer ein. Er starb mit 88 Jahren. Sir Winston Churchill hasste Sport, liebte Whiskey und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er wurde 90 Jahre alt, hatte aber eine riesige Angst vor jedem Schnupfen, vor Bahnsteigkanten, der Reling eines Schiffes und vor dem Fliegen. Auch Franz Kafka, Andy Warhol und Woody Allen gehören zu den bekennenden Hypochondern. [2]

Was machen Sie mit dem Hypochonder?

Es ist dringend abzuklären, ob die körperlichen Befunde normal sind. Ein Hypochonder kann tatsächlich krank sein. Bedenken Sie bitte, dass negative Gedanken sich verwirklichen, so wie es positive auch tun. Jemand, der sich ständig einredet, krank zu sein und davon wirklich (das heißt wirkend!) überzeugt ist, schadet seiner Gesundheit massiv. Angst ist eine sehr gut wirksame Suggestion, dass genau das geschieht, was wir nicht wollen. Insofern haben Hypochonder tatsächlich ein erhöhtes Risiko, krank zu werden.

Schützen Sie dabei den Patienten vor unnötigen Geldausgaben und Diagnostik- und Therapieversuchen. Es ist nicht nur so, dass gewissenlose Quacksalber, Ärzte und Heilpraktiker und selbst ernannte Gesundheitsapostel und Pharmafirmen sich eine goldene Nase mit der Angst und Gutgläubigkeit von Hypochondern verdienen. Sondern auch seriöse Ärzte und Heilpraktiker stehen ständig in der Versuchung, sich von dem Drängen eines Hypochonders zu immer mehr Untersuchungen treiben zu lassen. Es ist schon schlimm genug, wenn die Hypochonder ihr ganzes Vermögen dafür opfern, aber wir sollten auch die Gemeinschaft der gesetzlichen Krankenkassen vor diesen unnötigen Ausgaben schützen, denn dort wird unser Geld ausgegeben.

Eine mögliche und empfehlenswerte Reaktion des Arztes bei einem hypochondrischen Patienten besteht darin, von vorn herein eine Liste von sinnvollen diagnostischen Prozeduren festzulegen. Wenn diese normale Ergebnisse erbringen, sollte der Arzt mit dem Patienten offen darüber sprechen, dass keine weiteren kostenpflichtigen Untersuchungen mehr erbracht werden. Der Hypochonder wird dies wahrscheinlich mit zusätzlichen oder stärkeren Symptomen und zusätzlichem Drängen auf weitere Abklärung beantworten.

Deshalb ist eine empathische Reaktion auch im Umgang mit dem Hypochonder wichtig, um das Vertrauen für die Absprache von Diagnostik- und Therapiemaßnahmen zu gewinnen. Vernunftargumente gegen die Hypochondrie und der statistische Hinweis, wie selten eine Krankheit ist, helfen wenig und provozieren Abwehr beim Patienten, weil er sich unverstanden fühlt.

Die Aktivität und das Denken des Patienten müssen in „gesunde Bahnen“ und auf gesunde Eigenschaften und Gedanken gelenkt werden, die bei jedem Patienten vorhanden sind. Es lohnt sich deshalb, gerade bei Hypochondern, auf gesunde Äußerungen und Lebensweisen zu achten und diese zu verstärken und zu bestätigen. Damit kann der Patient lernen, den Krankheitsgewinn auf gesunde Art zu erhalten, ohne dass die Umwelt beeinträchtigt wird. Dadurch kann der Hypochonder auch gute Erfahrungen mit positiven Erlebnissen machen, wenn man sein Denken und Empfinden darauf lenkt.

Schützen Sie sich und Ihre Mitarbeiter vor übermäßiger Aktivität und Ausnutzung! Je mehr Sie agieren, umso deutlicher unterstützen Sie das Gefühl des Hypochonders, krank zu sein. Damit kann er sich auch immer schlechter von seiner übertriebenen Selbstbeobachtung lösen. Es gehört viel Erfahrung und innere Ruhe dazu, dem Drängen eines Hypochonders entgegenzutreten und keine neue Untersuchung anzuordnen. Wenn Sie überzeugt sind davon, dass Sie alles abgeklärt haben, bleiben Sie fest und nutzen Sie den Bonus des Vertrauens, das sie mit dem Patienten aufgebaut haben. Wenn Sie wissen, dass der Patient zu einem anderen Kollegen geht, um noch eine Untersuchungsserie machen zu lassen, fragen Sie den Patient, ob Sie dem Kollegen Ihre Untersuchungsergebnisse geben dürfen. So können Sie vielleicht Mehrfachuntersuchungen und hohe Kosten vermeiden. Wenn Sie ungefragt Ergebnisse weitergeben, verletzen Sie ihre Schweigepflicht und geben dem Patienten, wenn er es erfährt, das Gefühl, dass Sie ihn hintergangen haben. Das zerstört sein Vertrauen, das er noch in Sie hatte.

Achten Sie auf Ihren eigenen Zeithaushalt! Deshalb sollten Sie die Zeit, die Sie einem Hypochonder für Gespräche geben, von vornherein begrenzen und einhalten. Sonst sind Sie rasch Wachs in der Hand des Hysterikers und des Hypochonders, die immer noch eine Idee haben, die sie unbedingt und jetzt sofort berichten müssen. Lassen Sie sich nicht auf ein Gespräch mit dem Hypochonder auf dem Flur der Klinik oder Praxis ein! Sie kommen nicht mehr weg! Lassen Sie den Patienten einen Termin vereinbaren, und geben Sie Ihrer Sekretärin klare Zeitvorgaben dafür.

Bevorzugen Sie preiswerte Lösungen und Eigenaktivitäten des Hypochonders. Besprechen Sie Vorteile sportlicher Betätigung, und verstärken Sie das Erleben von gesunden Erfolgserlebnissen. Wenn Sie den Hypochonder dazu bringen können, Erfahrungen des Gesundseins und der selbst bestimmten Leistungsfähigkeit zu erleben, haben Sie und der Hypochonder gewonnen.

Es gibt seit zehn Jahren in Bergen (Norwegen) die einzige Spezialklinik der Welt für Hypochonder. [3] Der Leiter Ingvard Wilhelmsen war Professor für Innere Medizin in Bergen, als er auf die Idee kam, eine Spezialabteilung für Hypochonder zu gründen. Er braucht meist nur zwischen fünf und zehn Sitzungen mit einem Hypochonder, um ihm die Denkfehler (ihren „Gedankenkrebs“, wie Wilhelmsen sagt) so begreiflich zu machen, dass danach etwa achtzig Prozent der Patienten ihre Zwangsgedanken loslassen können. Das ist verwunderlich, weil man meist emotionale Fixierungen nicht vernunftgesteuert lösen kann.

Wichtige Fragen von Wilhelmsen an seine Fragen sind z.B. sind zum Beispiel: Warum hat man den Krebs, den Sie angeblich haben, ausgerechnet bei Ihnen nicht gefunden? – Wer hat die Diagnose gestellt, dass es kein Krebs ist? – Warum trauen Sie dem Arzt weniger als sich selbst? – Wenn Sie sicher sind, dass der Experte irrt, warum sind Sie dann sicher, dass Sie nicht irren? –- So bohrt er an der Gedankenwand, die den Hypochonder wie eine Gefängnismauer umgeben.

Er macht mit seinen Patienten immer eine Überprüfung der Realität: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass genau das eintritt, wovor Sie Angst haben? Er rechnet ihnen vor, dass zum Beispiel achtzig Prozent der Herzinfarktpatienten Brustschmerzen haben, aber nur 20 Prozent der Patienten mit Brustschmerzen haben einen Herzinfarkt. – Oder bei dem Patienten, der Angst vor einem Unfall auf einer bestimmten Strecke hat, rechnet er nach, wie viele Autos hier täglich fahren, wie viele Unfälle in einem Monat geschehen, und wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Patient tatsächlich hier verunglückt.

„Der Patient muss erkennen, dass das Sorgendenken Unfug und eine Verschwendung des Lebens ist.“ Wilhelmsen ist aus seiner langjährigen Erfahrung überzeugt, dass es tatsächlich binnen kurzer Zeit möglich ist, den „Hebel im Kopf“ bewusst umzulegen, um die Katastrophengedanken abzustellen.

 

[1] http://www.abendblatt.de/daten/2005/03/22/412823.html

[2] http://www.abendblatt.de/daten/2005/03/22/412823.html

[3] Süddeutsche Zeitung Nr. 220, 23. September 2005,

 

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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Der laute und wütende Mensch

Kennzeichen

Laute Menschen haben in ihrer Kindheit (meist von den Eltern) gelernt, dass dies die übliche Methode des Umgangs ist. Sie verursachen (Schall-)Druck, wenn sie Angst und Wut haben, ihr Ziel möglicherweise nicht zu erreichen oder zu verlieren. Brüllen und Keifen sind Formen von akustischer Vergewaltigung und Umweltverschmutzung.

Es handelt sich um ein Machtspiel, bei dem die Lautstärke und Aufplustern ein naturgegebenes Mittel darstellen und die Qualität der Argumente ersetzen oder beweisen sollen. Verhaltensforscher nennen das Imponiergehabe. Wer am lautesten brüllt, dominiert und darf sich die Partnerin aussuchen. Der Platzhirsch und die Brüllaffen sind typische Beispiele.

Ein Chef, der den Posten des Vorgesetzten verdient, hat es nicht nötig zu brüllen. Ein Chef, der glaubt, es gehöre zu seinen amtsgegebenen Privilegien, andere mit Gebrüll niederzumachen, sitzt meiner Meinung nach auf dem falschen Sessel. Er wurde mindestens eine Stufe zu weit befördert. Vielleicht ist er ein guter Mediziner, sicher aber kein guter Arzt. Und das ist für mich ein großer Unterschied.

Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Mediziner und einem Arzt? Der Mediziner behandelt einen Knochenbruch. Der Arzt behandelt einen Menschen, der an einem Knochenbruch leidet.

Ich habe Chefs erlebt, richtige Professoren, die von den Untergebenen gefürchtet waren, weil sie im Operationssaal in der Wut mit dem Skalpell oder einem anderen Instrument herumwarfen. Einer bezeichnete seine Assistenten und seine Oberärzte regelmäßig als Arschlöcher und Idioten, auch wenn die gemeinten Kollegen anwesend waren. Und wenn etwas im Haus nicht so lief, wie der Herr Professor es wollte, brüllte er so lange, bis er seinen Willen durchgesetzt hatte. Und keiner tat etwas dagegen. Als ich meinen Chef, einen anderen Professor im selben Haus, fragte, warum denn nicht wenigstens einer der Chefärzte sich gegen dieses indiskutable Verhalten wehre, bekam ich zur Antwort: „Er bringt mit seinen aufwändigen Operationen und seinen vielen Privatpatienten den weitaus größten Umsatz im Haus. Da getraut sich keiner, etwas zu sagen.“ Ich war glücklicherweise nicht Assistent des Messerwerfers, mit mir ging er freundlich um.

Menschen, die zum Brüllen und Keifen neigen, haben ein sehr labiles inneres Gleichgewicht und kippen leicht in unbeherrschte Umgangsformen. Viele haben hysterische / histrionische oder cholerische Züge. Außerdem ist dieses Verhalten grob unhöflich und ungezogen. Sie erkennen meist erst in einer therapeutischen Phase, dass sie ein zutiefst unsicheres Selbstwertgefühl haben und sich und anderen mit Lautstärke Sicherheit vorgaukeln müssen. Dieses trügerische Sicherheitsgefühl verselbständigt sich und wird nicht mehr hinterfragt. Deshalb ist es auch sehr unwahrscheinlich, dass sie je in eine Therapie gehen.

Wer laut wird, hat´s nötig und meistens nicht Recht. Wenn er Recht hat, braucht er nicht laut zu werden. Und Argumente werden nicht besser, wenn sie lauter werden. Wer mit Angst regiert, regiert meist nicht lang, allerdings mit großen Verlusten.

Was machen Sie mit einem lauten Menschen?

Sie müssen dem Lauten das Gefühl geben, dass Sie ihn ernst nehmen, denn er hat seit Kindheit das Gefühl, immer zu kurz zu kommen und nur wahrgenommen zu werden, wenn er laut wird.

Setzen Sie sich hin, und laden Sie Ihren Gesprächspartner dazu ein, am besten in einem geschlossenen Raum: „Lassen Sie uns das miteinander besprechen, setzen Sie sich doch.“ Im Sitzen kann man schlechter schreien und agieren, und im geschlossenen Raum nehmen Sie dem Schreier sein Publikum, vor dem er sich möglicherweise darstellen muss. Außerdem steckt er keine anderen Menschen mit dem Ärger-Virus an.

Sie können einen Versuch der Beruhigung machen, aber vermeiden Sie Provokationen. Nennen Sie den Namen Ihres Gesprächspartners. Das beruhigt ihn, weil er sich persönlich angesprochen fühlt:

„Herr Müller, ich verstehe Ihren Ärger / Ich verstehe, dass Sie sauer mit mir sind, ich möchte noch einmal wiederholen, was Sie mir gesagt haben.“

Dann wiederholen Sie seine Kritik in normalem und vernünftigem Ton. Damit bringen Sie das Gespräch auf eine konstruktive Ebene.

Lassen Sie sich von einem lauten Menschen nicht kleinschreien. Er aktiviert sonst in Ihnen Ihr eigenes Minderwertigkeitsgefühl, das Sie in ihm wie in einem Spiegel sehen. Er will sein Minderwertigkeitsgefühl mit Gebrüll loswerden, und sie spüren Ihres!

„Herr Müller, soll ich in gleichem Ton mit Ihnen reden?“

„Soll ich mir Ihr Verhalten zum Vorbild machen, Frau Schulze?“

„Herr Meier, sollen wir uns nicht lieber vernünftig unterhalten?“

Wenn Ihr Gesprächspartner laut wird, sollten Sie leiser werden. Im Allgemeinen sind brüllende Menschen in diesem Augenblick nicht mit vernünftigen und beruhigenden Worten beeinflussbar, weil sich -biologisch gesprochen- das Wutzentrum (der Mandelkern im Gehirn) verselbständigt hat und im Moment nicht willentlich beeinflussbar ist. Beim Computer würde man sagen, „er hat sich aufgehängt“ und kann deshalb nicht gesteuert werden. Manchmal provozieren Sie damit ein noch größeres Gebrüll, weil der Schreiende die Kontrolle verloren hat. Er hat gelernt, dass mehr vom selben (Gebrüll) mehr hilft. Zeigen Sie ihm, dass das bei Ihnen nicht wirkt.

Wenn gar nichts hilft, bitten Sie um eine Pause, schaffen Sie körperliche Distanz: „Ich denke, das Gespräch bringt uns so nicht weiter, lassen Sie uns eine Pause machen.“ Oder „Jetzt habe ich Ihnen zugehört, ich möchte darüber nachdenken.“ Dann verlassen Sie den Raum, und schließen Sie die Tür leise. Das hilft meistens, um das Geschrei zu stoppen.

Wenn Sie innerlich ruhig und stabil sind, können Sie den Brüllenden ausbrüllen lassen, bis sich sein Mandelkern beruhigt hat, dann haben Sie eher die Möglichkeit, das Gespräch langsam auf eine normale Gesprächsebene zu bringen. Meist tut es dem Schreier Leid, dass er sich daneben benommen hat. Unterlassen Sie es dann, Ihren Triumph zu zeigen! Sonst erniedrigen Sie ihn noch weiter, als er sich mit seinem Eingeständnis schon herabgesetzt hat.

Bleiben Sie ruhig, reden Sie langsam, und holen Sie tief Luft. Das entspannt und hält die Gefahr gering, dass auch Ihr Mandelkern „sich aufhängt“. Vertrauen Sie auf Ihre freundliche Gesinnung und die Kraft der „Dopamin-Dusche“.

Von manchen Menschen werden Sie aber gar nicht wahrgenommen, wenn Sie nicht in gleicher Lautstärke antworten. Wenn dies nötig ist, sollten Sie Ihre Stimme sehr kontrolliert heben und langsam und sehr deutlich werden: „Halt, jetzt möchte ich auch mal was sagen!“ Dabei müssen Sie sich emotional strikt zurückhalten. Sie müssen laut sein, ohne wütend zu werden. Auch dann sollten Sie l-a-n-g-s-a-m r-e-d-e-n! Sie dürfen nicht die Kontrolle über sich verlieren, sonst eskaliert das Schreiduell wie auf dem Kampfplatz der rivalisierenden Hirsche. Es ist dann nur noch ein testosterongesteuertes Gebrüll und hat mit guter Erziehung und gepflegter Streitkultur nichts mehr zu tun. Sie begeben sich dann auf die Ebene des Schreiers. Und die lehnen Sie doch ab, oder nicht? Aber zeigen Sie dem Platzhirsch Ihre Grenze, die er einzuhalten hat.

Sie können das Gebrüll des Platzhirsches auch über sich ergehen lassen und abwarten, bis der Lärm vorbei ist. Dafür brauchen Sie eine Imprägnierung für Ihre Seele wie der Mantel gegen den Regen, damit Sie keinen Schaden nehmen durch die akustische Vergewaltigung. Dann sollten Sie eine günstige Gelegenheit unter vier Augen nützen, um bei einer nächsten Begegnung über die Schreiszene zu sprechen und Ihr Befremden darüber ausdrücken, wie er / sie sich Ihnen gegenüber verhalten hat. Auch Brüllaffen haben eine friedliche Ader und sind in Ruhe zugänglich für vernünftige Argumente. Das hindert sie aber wahrscheinlich nicht, bei der nächsten Gelegenheit wieder zu brüllen.

Hysteriker und Choleriker kann man meist nicht ändern. Deshalb müssen Sie für Ihr eigenes Seelenheil etwas anderes überlegen. Wenn Sie ein Problem wirklich nicht lösen können, sollten Sie sich möglichst von dem Problem lösen, bevor Sie daran zugrunde gehen.

Noch ein Gedanke, der mich selbst oft beruhigt: Manche Menschen kann man nur ertragen, wenn man sie als Patient betrachtet, auch wenn sie Nachbarn, Kollegen oder Vorgesetzte sind. Man hat dann mehr innere Distanz und mehr Verständnis für die Entwicklung von unangemessenen Verhaltensweisen und inadäquatem Benehmen. Aber wir müssen uns vor Überheblichkeit und Selbstherrlichkeit hüten! In der St. Paul´s Kathedrale in Baltimore steht in einem längeren Text von 1692 mit der Überschrift „Desiderata“: „Meide laute und aggressive Menschen, denn sie sind eine Plage für die Seele. Wenn du dich mit anderen vergleichst, magst du eitel und bitter werden, denn es gibt größere und geringere Menschen als du.“

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Der fordernde Mensch

 

Kennzeichen

Diese Menschen wollen wenig Eigenaktivität zeigen und Ihnen den Hauptteil aufbürden. Sie zeigen viel Energie und Einfallsreichtum, um Sie zur Aktivität zu motivieren. Ein fordernder oder / und lauter Ton, der Schuldgefühle macht, beschleunigt häufig die Erfüllung der Wünsche. Fordernde Menschen haben ein großes Geschick, ihre Mitmenschen mit ihren Ansinnen zu überraschen und damit das Schuldgefühl auszulösen: „Warum habe ich das nicht schon längst gedacht / erledigt?“ Dadurch entsteht enormer Druck auf den, der handeln soll. Und deshalb verlieren die Geforderten rasch den Überblick und ihre notwendige Kritikfähigkeit, welche die Not wenden würde.

Die typische Situation in der Praxis: Der Patient fordert, dass Sie Medikamente oder andere Leistungen auf Kassenkosten verordnen, die mittlerweile privat bezahlt werden müssen. Die typische Rechtfertigung lautet: „Jetzt zahle ich schon zwanzig Jahre meine Beiträge, jetzt können die auch mal was für mich tun!“ – „Mein Nachbar war schon dreimal in der Kur und ich noch nie. Jetzt will ich auch mal in die Kur! Sie können das doch verordnen!“

Fordernde Menschen haben eine Begabung, sich eine Position anzumaßen, die sie gar nicht haben. Das haben sie mit den Distanzlosen und Pseudo-VIPs gemeinsam. Wenn Sie im Kontakt mit den Fordernden nicht aufpassen, befinden Sie sich sofort in der unterlegenen Position.

Besonders beliebt ist das Spiel „Sie müssen mir helfen, weil Sie dazu verpflichtet sind!“ Die Menschen wissen nämlich, dass Sie wahrscheinlich ein Helfer-Syndrom haben und mit schlechtem Gewissen motiviert werden können.

Was machen Sie mit fordernden Patienten?

Bleiben Sie sachlich und ruhig. Lassen Sie sich nicht in die Enge treiben und nicht zu
übereilten Handlungen anstiften.

Gehen Sie innerlich und äußerlich einen Schritt zurück, verschaffen Sie sich Luft, Distanz und eine Chance zum Denken: „Das kommt jetzt zu schnell für mich, ich möchte darüber zuerst einmal nachdenken. Ich melde mich nachher / morgen wieder bei Ihnen.“ – „Ich brauche dafür zuerst noch einige Informationen. Ich werde mich darum kümmern und mich dann dazu äußern.“ – „Es ist mir wichtig, die andere Seite der Angelegenheit / die Meinung der Mitbeteiligten anzuhören, bevor ich etwas unternehme.“

Unterstützen Sie Eigenaktivitäten des Patienten. Bitten Sie ihn, verschiedene Telefonate und Behördengänge selbst zu erledigen, z.B. um Informationen oder Formulare einzuholen.

Lassen Sie sich nicht alles aufladen. Weisen Sie auf Ihr Aufgabengebiet hin, übernehmen Sie nicht immer die Aufgaben des Anderen.

Lernen Sie, NEIN zu sagen, und bleiben Sie dabei. Befreien Sie sich von dem Zwang, jedes NEIN begründen zu müssen. Dadurch kommen Sie in eine Diskussion, die der Fordernde schon wegen seiner dominierenden Art sehr wahrscheinlich gewinnt, auch wenn er nicht im Recht ist. „Der Tag, an dem ich lernte, NEIN zu sagen, hat mein Leben grundlegend verändert.“ (Sophia Loren)

Erklären Sie die Rechtslage, wenn der Patient z.B. auf Kassenkosten etwas haben will, was er privat bezahlt werden muss. Sie haben keine Schuld, dass Gesetze so sind, wie sie sind.

Sagen Sie es dem Menschen, wenn Sie sich von seinen Forderungen ausgenützt fühlen. Nützen Sie dabei die Ich-Botschaft!

„Ich empfinde Ihre Forderung / Ihren Wunsch als unangemessen.“

„Ich denke, Sie gehen von falschen Voraussetzungen aus!“

Bieten Sie Alternativen zu den Forderungen an.

 

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Der narzisstische Mensch

In der griechischen Sage hat der Jüngling Narkissos (lat. Narzissus) die Liebe der Nymphe Echo verschmäht und wurde deshalb damit bestraft, sich in sein Spiegelbild im Wasser zu verlieben. Dabei hat er sich so in dieser Selbstliebe verzehrt, dass er sich schließlich selbst tötete. Aus seinem Blut wuchs eine Narzisse, die seither das Symbol für Vergänglichkeit und Tod bekannt ist.

Kennzeichen

Der narzisstische Mensch ist fest von seiner großen Wichtigkeit überzeugt. Er badet sich in Phantasien seiner Großartigkeit und enormen Leistungen und will dafür entsprechend große Bewunderung für seine Schönheit, Macht, Fähigkeiten, Leistungen, Anziehungskraft oder Berühmtheit erhalten.

Er nimmt wenig oder keine Rücksicht auf andere, weil er verlangt, dass sich alle Menschen seinen großartigen Ideen unterwerfen und dafür einsetzen. Deshalb redet er viel und nur von seinen Plänen, Taten und Erfolgen und provoziert den Beifall. Er kommt nicht auf die Idee, dass andere auch etwas Eigenes beizutragen haben.

Da Narzissten sich nie genug geliebt fühlen, tun sie alles, um sich selbst zu lieben und großartig zu finden und können nicht verstehen, dass die Mitmenschen das nicht genau so sehen. Ihr Lieblingswort heißt „ich“. Deshalb wirkt der Narzisst oft arrogant und überheblich.

Wenn Sie in einem Raum, einem Auto, einem Zugabteil das Gefühl haben, neben einem Menschen keinen Platz zu haben, weil er so „groß“ ist, handelt es sich wahrscheinlich um einen Narzissten. Der Narzisst füllt jeden Raum aus, auch einen Ballsaal, und alle spüren es.

Die Erwartungen an besondere Behandlung und Bevorzugung durch die Mitmenschen ist ein Grund für häufige Enttäuschungen, wenn die Erwartung nicht erfüllt wird. Und ein Lob kann den Narzisst nie voll befriedigen, weil er immer noch größere Erwartungen hegt. Damit ist ein Teufelskreis zwischen leistungs- und loborientierter Aktivität und regelmäßiger Frustration vorprogrammiert.

Die Idee der Großartigkeit als Basis des Lebenskonzepts ist aber kein Ausdruck tatsächlich gesunden Selbstwertgefühls, sondern stellt die erlernte Kompensation eines tief sitzenden, verdrängten oder abgespaltenen Minderwertigkeitsgefühls dar. Deshalb ist der Narzisst auch tief gekränkt und verletzt, wenn die dargestellte Großartigkeit bezweifelt oder gar abgelehnt wird. Die Psychotherapie nennt das eine „narzisstische Kränkung“.

Da der Narzisst sich im Gegensatz zum Hysteriker / Histrioniker meist sehr angepasst in der Gesellschaft einen geschätzten Platz erarbeitet hat, ist er nicht so auffällig. Denn er inszeniert sein Leben um der Leistung willen, für die er gelobt werden will, und nicht (wie der Hysteriker) um des dramatischen Schauspiels willen, in dem er agiert. Narzissten sind Meister der Selbstinszenierung.

Ihre größte Angst ist es, zu versagen. Diese Angst müssen sie unbedingt verdrängen, weil mit dem Scheitern die Grundlage wegfällt, geliebt zu werden. Schlimmer noch ist, dass der Narzisst als Kind gelernt hat, dass Versager verachtenswert sind. Davor hat er wirklich Angst.

Der Narzisst reagiert bei Enttäuschung oft heftig und entwertet auch frühere Vorbilder oder Verbündete stärker als es andere Menschen in einer vergleichbaren Situation machen würden. Dabei kann der Narzisst sehr nachtragend und wenig versöhnlich sein.

Der Narzisst kümmert sich selten oder nicht um die Zukunft, denn er ist mit dem Jetzt beschäftigt und völlig ausgelastet. Deshalb ist der Narzissmus als Charakterstruktur typisch für eine Gesellschaft, die jedes Interesse an der Zukunft verloren hat.

Narzisstische Persönlichkeiten gibt es unter Frauen und Männern gleichermaßen, wobei Frauen ihrer gesellschaftlichen Rolle entsprechend weniger zur Ausbeutung anderer neigen als männliche Narzissten.

Die Theorien zur Entwicklung der narzisstischen Persönlichkeitsstörung sind von Freud bis heute sehr widersprüchlich. Die Verhaltenstherapie geht davon aus, dass die Störung das Resultat eines elterlichen Erziehungsstils ist, bei dem narzisstische Einstellungen und Verhaltensmuster gefördert werden. Diese Eltern suggerieren ihren Kindern, etwas Besseres und Besonderes zu sein und ohne große Anstrengungen alles nur Wünschenswerte erreichen zu können. Die Kinder werden zu „Ellbogen-Verhalten“, Arroganz, Intoleranz, Neid und Anspruchsdenken erzogen.

Die Kinder lernen, für ihre Leistung mit Liebe belohnt zu werden. Dem Narzisst fehlt die Erfahrung, um seiner selbst willen geliebt zu werden. Deshalb ist er auch abhängig vom Lob der Mitmenschen und genügt sich nicht selbst.

Narzissten haben Schwierigkeiten, Ihre Gefühle und besonders deren Schwankung richtig zu empfinden, weil sie in ihrer Erziehung auf Leistung und auf Unterdrückung von Empfindungen (auch ein Zeichen der Leistung!) trainiert wurden. Deshalb schätzen Narzissten oft ihr Gefühlsleben falsch ein, wenn sie sich überhaupt Gedanken darüber machen.

Wie gehen Sie mit einem Narzissten richtig um?

Das Wesentliche ist, dass Sie ihn als Narzissten erkennen, dann können Sie sein Anspruchsdenken und ich-bezogenes Verhalten besser einschätzen, realistischer damit umgehen und sich besser gegen Übergriffe oder Ausnutzung wehren.

Ändern werden Sie die narzisstische Persönlichkeit im Alltag sicherlich nicht. Als Angehöriger sind Sie auch der falsche Therapeut.

Auseinandersetzungen und Kritik sollten Sie nur unter vier Augen wagen, weil der Narzisst mit allen Mitteln versuchen wird, durch gewohnte Aktionen sein zerbrechliches Ego vor den Blicken der Mitmenschen zu schützen. Greifen Sie nicht seine Persönlichkeit an, sondern bestimmte Verhaltensweisen: „Haben Sie das alles wirklich alleine geschaffen, oder verdanken Sie den Erfolg auch anderen?“ oder „Ich habe den Eindruck, dass Sie sehr gern über sich reden, sehen Sie das auch so?“

Mit Humor können Sie die hoch fliegenden Pläne und intoleranten Äußerungen des Narzissten in Frage stellen, ohne sich seinen Zorn zuzuziehen. Aber vermeiden Sie es, ihn zu belächeln, denn dann wird er sich anstrengen, noch größer zu sein. Er hat ja Angst, gering geschätzt zu werden.

Deshalb können Sie ganz ruhig sagen: „Das sieht ja alles prima aus, aber wie geht es Ihnen wirklich?“

Beim nicht enden wollenden Selbstlob können Sie ruhig eingreifen: „Darf ich auch mal was sagen?“

Wenn Ihnen der Narzisst auf die Nerven geht, können Sie direkter werden: „Ich sehe, Sie sind der Einzige, der was kann.“ – „Glauben Sie wirklich, Sie sind der einzige Große auf der Welt?“

Die Abwehr des Narzissten müssen Sie aushalten oder mit dem Narzissten immer wieder besprechen, wenn Ihnen etwas an der Beziehung liegt und wenn er Sie zu Wort kommen lässt. Es gibt Partner, die es schaffen, den Narzissten diskret zu steuern, ohne ihn allzu sehr zu kränken.

Bis ein Narzisst zu einer Therapie bereit ist, muss viel geschehen, denn wer sich für so großartig hält, kommt natürlich nicht auf die Idee, Hilfe zu brauchen. Und er sieht es als Zeichen der Schwäche an, wenn er Hilfe in Anspruch nehmen soll. Im Rahmen einer Therapie kann der Narzisst lernen, seine Einstellung anderen Menschen und deren Werte gegenüber zu hinterfragen. Bei der Therapie müssen Phantasien der Großartigkeit und Macht und Schönheit ersetzt werden durch Ideen real erreichbarer Werte, Leistungen und Ziele.

Man kann den Narzissten in der Therapie dazu bringen, über die Rückmeldungen zu sprechen, die er von Mitmenschen über sein Verhalten erbittet und bekommt, und an diesen Aus­sagen und Reaktionen akzeptable Einstellungen und Handlungsmodelle erarbeiten. Man kann ihn dazu bringen, Mitmenschen im Verborgenen zu helfen, ohne die Umwelt mit großer Inszenierung an den Hilfsprojekten teilhaben zu lassen. Damit lernt der Narzisst Empathie und sein egozentrisches, manchmal sogar egomanisches Weltbild zu relativieren und altruistischer zu gestalten. Er versetzt sich dann in seine Mitmenschen und deren Gefühle besser hinein, auch und gerade, wenn sie einem Narzissten gegenüberstehen.

Meist wird der Narzisst durch die wirksamste aller Therapien, nämlich das alltägliche Leben, im Laufe der Jahre von den vielen Einflüssen, Reaktionen und Ereignissen, die er hervorruft, auf den Platz gesetzt, wo er hingehört. Diese Prozesse können sehr schmerzhaft sein und wesentliche Einschnitte in seinem Leben bedeuten. Seine Größenphantasien werden auf das wirkliche, wirkende Maß reduziert.

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Der distanzlose Mensch

Kennzeichen

Oft versuchen die Distanzlosen mit plumper Vertraulichkeit, in Ihre Privatsphäre einzudringen und stellen beispielsweise vertrauliche Fragen mit einer Selbstverständlichkeit und Vertraulichkeit, über die Sie so verblüfft sind, dass Sie die Antwort gegeben haben, bevor Sie merken, dass Sie ausgehorcht werden.

Die Distanzlosen nehmen sich Rechte heraus, die sie nicht haben, zum Beispiel überall herumzulaufen und Schränke aufzumachen. In der Praxis habe ich es erlebt, dass Patienten während sie im Sprechzimmer auf mich gewartet haben, ein Buch aus meinem Schrank genommen haben und lesend dasaßen, als ich hereinkam. Das empfinde ich als übergriffiges Verhalten. Erwarten würde ich, dass sie mich danach fragen, ob sie dieses Buch anschauen oder ausleihen dürfen, bevor sie in meine Privatsphäre (in diesem Fall in meinen Bücherschrank) eindringen und es selbst herausnehmen.

Sie rufen zur Unzeit bei Ihnen privat wegen irgendeiner harmlosen Sache an, die jetzt „ganz dringend“ erledigt werden muss.

Die Distanzlosen konfrontieren Sie mit Forderungen, die unangemessen sind und versuchen, das als lustig, locker oder harmlos darzustellen, wenn Sie sich wehren. Meist haben die Distanzlosen gar nicht das Gefühl distanzlos zu sein und sind verblüfft, wenn man sie darauf anspricht.

Was machen Sie mit dem distanzlosen Menschen?

Setzen Sie klare räumliche, zeitliche und persönliche Grenzen, und halten Sie sich daran. Trennen Sie den privaten vom beruflichen Bereich. Bleiben Sie freundlich, sachlich und eindeutig in Ihrem Verhalten.

Sagen Sie ihm, wie Sie sich bei seinem Verhalten fühlen, und nützen Sie auch hier die Ich-Botschaft:

„Ich fühle mich von Ihnen überrollt.“

„Ich empfinde Ihr Verhalten distanzlos, unhöflich…“

„Ich bitte Sie, sich zurückzunehmen.“

Erkennen und verhindern Sie zweideutige Annäherungsversuche mit klaren Reaktionen.

Ein klares NEIN klärt die Lage. Das ist bei vielen plumpen Annäherungen die beste Lösung. Dieses NEIN müssen Sie nicht begründen.

Lassen Sie sich nicht mit Schuldgefühlen motivieren. Überlegen Sie, wie bei Ihnen Schuldgefühle ausgelöst werden.

Machen Sie sich nicht erpressbar. Bewahren Sie Ihre Unabhängigkeit.

Lassen Sie Ihre private Zufriedenheit durchblicken. Wenn Sie über Ihre privaten Schwierigkeiten sprechen, ermuntern Sie den Distanzlosen, Ihnen ganz aktiv zu „helfen“. Dann haben Sie wirklich Probleme. Denn jemand, der so viel Energie aufbringt, in die privaten Grenzen des Mitmenschen einzudringen, wird schwierig wieder auszuweisen sein. Und wenn Sie es dann doch versuchen, weil Ihnen die Nähe oder die Fremdbestimmung zu groß wird, müssen Sie mit Vorwürfen rechnen.

Bei hartnäckigen und unverschämten Menschen können Sie Ihre Unabhängigkeit nur mit einem freundlichen, klaren und irreversiblen Rausschmiss bewahren.

 

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Die ungeduldigen, unangemeldeten und unpünktlichen Menschen

 

Gemeinsame Kennzeichen

Sie zeigen viel Konsequenz und Beharrlichkeit, ihr Verhalten regelmäßig zu gestalten, indem sie „ganz zufällig“ immer gerade am Ende der Sprechstunde oder unpünktlich kommen, ganz schnell noch eine ausführliche Untersuchung, eine Beratung oder ein Rezept haben wollen. Dann haben sie keine Geduld zu warten und entladen ihre mangelhafte Frustrationstoleranz oft in irgendeiner Form der Aggression.

Sie haben Angst, Fehler zu machen. Deshalb können sie keine Fehler zugeben.

Sie haben eine schlechte Selbstorganisation, weil sie in sich unharmonisch, unzufrieden, unruhig und unstetig sind. Deshalb kritisieren sie häufig andere, um ihr schlechtes Selbstwertgefühl scheinbar zu verbessern. Wenn man andere erniedrigt, erscheint man selbst höher. Das ist eine beliebte Methode, um den eigenen „Wert“ zu verbessern, ohne sich verändern zu müssen.

Sie missachten die Interessen anderer Menschen, indem sie ihre eigenen Interessen nach außen demonstrieren. Denn im Innersten halten sie diese Interessen nicht für gerechtfertigt.

Sie verhalten sich nicht partnerschaftlich, weil sie sich selbst für einen schlechten Partner halten.

Sie missachten die Zeit anderer Menschen, weil sie sich die Zeit und Aufmerksamkeit selbst geben wollen, die sie sich von anderen ersehnen.

Diese Patienten haben durch Erfahrung gelernt, dass sie mit ihrem Verhalten ihre Interessen am besten durchsetzen und Aufmerksamkeit erhalten können. Warum sollten sie es also ändern?

Was machen Sie mit den chronisch unpünktlichen, ungeduldigen und unangemeldeten Patienten?

ACHTUNG! Der unpünktliche Patient konfrontiert Sie mit Ihrer eigenen Unpünktlichkeit.

  • Geben Sie dem Patienten, was er am meisten braucht: Zuwendung.
  • Halten Sie Vereinbarungen zur Zeitgestaltung ein.
  • Sprechen Sie in Ruhe über seine Verhaltensweise.
  • Bitten Sie den Patienten um Mithilfe.

Wenn Sie an seine Mitarbeit und seine eigene Entscheidungskraft appellieren, wird er im Allgemeinen kooperativ:

„Frau Müller, wir können uns Ihnen nur ausführlich zuwenden, wenn wir die Patienten in Ruhe und der Reihe nach behandeln können. Deshalb bitten wir Sie, die Zeit genau einzuhalten, damit alle Patienten gut versorgt werden können. Das möchten Sie doch sicher auch, oder nicht?“

Im verschärften Gespräch:

Bitte, Frau Müller, verstehen Sie, dass alle Patienten das Recht haben, gut und in Ruhe versorgt zu werden. Und jeder Patient hält sich beim Arzt für den wichtigsten Patienten.“

Konsequentes und pünktliches Verhalten des gesamten Personals ist die einzige Möglichkeit, Disziplin in die Therapieplanung und in den Tagesablauf zu bringen.

Pünktlichkeit zeigt, wie sehr wir andere Menschen und ihre Zeit achten. Pünktlichkeit ist eine Form der Höflichkeit. Nicht ohne Grund gibt es das Sprichwort: Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige.

Der Arzt / der Therapeut zeigt dem Patienten, was er selbst von Pünktlichkeit hält. Entsprechend verhält sich der Patient. Häufig ist die Unpünktlichkeit des Arztes größer als die des Patienten! In Bestellpraxen ist meist der Arzt und nicht der Patient die Ursache für grobe Verschiebungen im Terminplan!

Da der Mensch am schnellsten und dauerhaftesten durch eigene Erfahrung lernt, muss der unangemeldete und unpünktliche Patient lernen, dass seine Methode nicht funktioniert, oder wir lernen, dass seine Methode bei uns funktioniert.

Unpünktliche und unangemeldete Patienten sollten nie sofort drankommen, denn das würde ihnen bestätigen, wie hervorragend es ist, immer unpünktlich zu erscheinen!

Bieten Sie einen alternativen Termin an. Kann der Patient in der Zwischenzeit noch etwas erledigen?

Ungeduldige Patienten werden freundlich und bestimmt auf die Reihenfolge aufmerksam gemacht und auf die Notwendigkeit, echte Notfälle vorrangig zu behandeln.

Und wenn Sie einen Notfall behandeln, sollten Sie sich darauf beschränken und nicht nebenbei oder anschließend („Herr Doktor, wenn wir schon da sind!“) das begleitende Kind untersuchen oder ein zusätzliches Rezept für die Oma zuhause ausstellen oder gar die Vorsorge machen, die eigentlich fällig ist.

 

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Sekundärer Krankheitsgewinn

Der Patient kann mit seiner Krankheit Vorteile erreichen, die er oft nicht zugeben möchte und bewusst oder unbewusst anfordert. Solange er die Krankheit schürt, um die Krankheitsgewinne zu erhalten, kann er nicht gesund werden oder sucht sich neue Krankheitsgewinne.

Jede Erkrankung gibt die Möglichkeit für vier Arten von Krankheitsgewinn.

  • Macht: Der Patient kann das Verhalten der Mitmenschen steuern, indem er sie zu einem bestimmtem Verhalten zwingt oder ihnen eine schlechtes Gewissen macht, wenn sie seine Wünsche nicht erfüllen, die er „ja nur wegen der Krankheit“ hat oder sich nicht selbst erfüllen kann. Die Mitmenschen müssen  z.B. für ihn einkaufen, ein bestimmtes Verhalten zeigen, ihm Gesellschaft leisten, können nicht ihrem eigenen Tagesplan nachgehen. Die Kranken empfinden es manchmal gar nicht als Machtspiel oder wollen es nicht zugeben, dass sie ihre Umwelt mit ihrer Krankheit steuern.
  • Zuwendung: Kranke erhalten mehr Zuwendung, Besuch, Zärtlichkeiten, Entgegenkommen, Geschenke, Aufmerksamkeit als Gesunde. In der Klinik und in der Praxis beobachten wir oft Patienten, die ihre Krankheitssymptome pflegen, weil sie sonst auch auf die erhöhte Zuwendung verzichten müssten.
  • Schonung: Kranke werden z.B. im Alltag geschont, müssen weniger oder nicht arbeiten, weniger im Haushalt helfen, nicht in die Schule gehen, bestimmte Aufgaben nicht erledigen, erhalten einen anderen Arbeitsplatz oder Verbesserungen am Arbeitsplatz. Krankheitssymptome wie Kopf- oder Bauchschmerzen sind hervorragende weil meist nicht widerlegbare Ausreden, um etwas nicht tun zu müssen oder etwas machen zu können, was man nicht machen könnte, wenn man das Symptom nicht hätte. Deshalb sind Krankheitszeichen auch so häufig.
  • Geld: Kranke erhalten Geld von Versicherungen, Gehalt ohne Arbeit, Rente, einen Schwerbehindertenausweis und geldwerte Vergünstigungen, z. B. Ermäßigung bei Bahn- und Busgebühren, Radio- und Fernsehgebühr, kostenloser oder ermäßigter Eintritt für Veranstaltungen.

Leider richten manche Menschen ihre ganze Energie darauf aus, ihren Lebensunterhalt mit der Krankheit zu verdienen. Und es gibt Menschen, die jahrelang mit schwersten Symptomen um Ihre Rente kämpfen und schlagartig gesund sind, wenn Sie Ihren Rentenbescheid endlich in Händen halten.

Es ist interessant, sich bewusst zu machen, dass eine riesige und wachsende Industrie nur davon lebt, Geschäfte aus diesem Krankheitsgewinn zu machen. Ich meine die Versicherungen. Und jede Klinik beschäftigt mehrere Sozialdienstmitarbeiter, die nichts anderes tun, als den Kranken zu ihren sekundären Geldzuwendungen zu verhelfen, indem sie Anträge ausfüllen, Telefonate führen und möglicherweise sogar noch Hausbesuche machen. Und die Krankenversicherungen blähen ihren bürokratischen Apparat immer mehr auf, um die Zuwendungen zu kontrollieren und in bezahlbaren Grenzen zu halten. Dadurch wird den Ärzten regelmäßig eine Vielzahl von fachfremden (!) Arbeitsstunden zusätzlich aufgebrummt, weil sie gezwungen werden, noch mehr Anträge auszufüllen, Briefe an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung zu diktieren und Fragebogen zu beantworten. Diese Zeit geht im schlimmsten Fall den Patienten an ärztlicher Zuwendung und Sorgfalt verloren. Im Durchschnitt wendet ein Assistenzarzt in der Klinik etwa die Hälfte seiner Arbeitszeit für Verwaltungstätigkeiten auf. Ich habe deshalb schon angeregt, einen „Facharzt für Verwaltung“ zu schaffen. Man könnte den Titel bequem während der üblichen Facharztweiterbildung zusätzlich erwerben.

Wenn die Patienten ihren Krankheitsgewinn bewusst oder unbewusst einfordern, sollten Sie darauf achten, dass Sie das erkennen, um bewusst darauf reagieren können. Denn wenn der Patient Macht ausübt, werden Ihr Wille zu gehorchen, Ihre Eigenständigkeit und Ihre Standfestigkeit geprüft, und bei der Anforderung von Schonung und Zuwendung Ihr Helfer-Syndrom![1] Wenn Sie auch zuständig sind oder sich zuständig fühlen, dem Patienten Geld oder geldwerte Vorteile zu gewähren, sollten Sie auf Ihren Geldbeutel achten und Ihre Großzügigkeit ständig überprüfen. Lassen Sie sich nicht ausnützen, denn das werden Sie bereuen. – Und das Schlimmste an allem ist: Sie nützen dem Patienten durch Willfährigkeit höchstens kurzfristig. Denn er lernt für seine gesunde(!) Krankheitsverarbeitung nichts dazu. Er erlebt nur, wie er auf Kosten seiner Mitmenschen Vorteile aus seiner Krankheit ziehen, nicht aber, wie er selbst konstruktiv damit umgehen kann. Schaffen Sie empathische Distanz, dann können Sie Ihre Energie konstruktiv und schonend einsetzen und Ihre Seele vor größerem Schaden bewahren.

Was würde geschehen, wenn der Kranke die Energie, die er aufbringt, um den sekundären Krankheitsgewinn anzufordern (und das ist oft überraschend viel!), nützen würde, um zur Genesung beizutragen?

Ein gutes Gespräch mit dem Patienten kann uns Hinweise auf seinen sekundären Krankheitsgewinn geben. Damit erweitern sich die therapeutischen Gesichtspunkte. Denn der Patient kann nur wirklich gesund werden, wenn er auf den Krankheitsgewinn verzichtet oder ihn auf gesunde Art und Weise zu erreichen lernt.

 


[1] Das Helfer-Syndrom habe ich ausführlich in meinem Buch „Wenn das Licht naht – Der würdige Umgang mit schwer kranken, genesenden und sterbenden Menschen“ besprochen, das auch bei der Weinmann Verlagsgesellschaft erschienen ist.

 

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Was charakterisiert schwierige Menschen?

 

  • Sie reagieren anders, als wir es erwarten.
  • Sie fordern von uns mehr Zeit, Aufmerksamkeit, Fachwissen und soziale Kompetenz als bei der Routinearbeit.
  • Sie konfrontieren uns mit Situationen, mit denen wir uns ungern konfrontieren.
  • Sie stören den Routineablauf.
  • Sie konfrontieren uns mit Ansprüchen, die wir oft für ungerechtfertigt halten.

Wir müssen uns dabei unangenehme Fragen stellen:

Welche Ansprüche haben wir? Wovon leiten wir die Rechte für diese Ansprüche ab? Warum haben wir mehr oder weniger Ansprüche?

Da diese Fragen oft sehr unangenehm sind, weil sie uns auf persönliche Konflikte des Selbstwertgefühls führen, neigen manche Menschen zur Ablehnung des schwierigen Patienten als Zeichen einer Projektion der eigenen Konflikte auf den Patienten.

  • Die schwierigen und anspruchsvollen Menschen konfrontieren uns mit der Frage nach Normen, Rechten und sozialen Schranken.

Woher nehmen wir unsere Normen, Rechte und unser soziales Selbstverständnis?

Inwieweit wollen / dürfen wir diese Maßstäbe auf die Patienten übertragen?

  • Sie konfrontieren uns mit dem Anspruch auf Hilfe.

Woher wissen wir, was ihnen hilft? Gibt uns ein Medizinstudium oder eine andere Ausbildung das Recht zu behaupten, wir würden den Weg kennen, den der Patient zu gehen hat?

  • Sie konfrontieren uns mit Lebenslagen, die uns selbst schwierig erscheinen.

Was sagt das über unsere eigene Lebenserfahrung und Lebenstüchtigkeit aus?

Wie können wir dann verständnisvoll und situationsgerecht beraten und helfen?

Wie vermeiden wir es, unsere eigenen Konflikte auf den Patienten zu übertragen?

  • Sie konfrontieren uns mit Situationen und Dingen, die wir ablehnen.

Warum lehnen wir sie ab? Wahrscheinlich, weil wir sie nicht kennen oder sie uns verunsichern und Angst einflößen. Es könnte sein, dass sie unser Weltbild in Frage stellen, und zu seinem Schutz bauen wir eine Ablehnung auf. Vielleicht erinnern sie uns an Unangenehmes. Oder sie fordern uns zu einer Stellungnahme heraus, die wir lieber vermeiden möchten.

  • Sie konfrontieren uns mit Gefühlen, die wir verdrängen oder heimlich hegen.

Angst, Lust, Gier, Panik, Unsicherheit, Neid, Trauer, Sehnsucht, Freude, Hass, Liebe, Harmonie sind nur einige Beispiele.

Konsequenz:

Wenn wir diese Fragen ehrlich beantworten, haben wir dadurch einen wirksamen Weg, uns selbst besser zu erkennen und mit uns selbst reifend umzugehen.

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Warum empfinden wir Menschen als schwierig oder anspruchsvoll?

 „Wenn du einen Würdigen siehst, trachte ihm nachzueifern.
Wenn du einen Unwürdigen siehst, prüfe dich in deinem Inneren.“

Konfuzius

„Alles was Du sagst, spricht von dir. Besonders wenn du über andere redest.“

Paul Valery

„Wenn wir überrascht sind, stehen wir vor der Wirklichkeit.“

Paul Valery

„Feindbilder sind Negative von uns selbst.“

Gerhard Uhlenbruck

Ich fragte eine Psychotherapeutin:
Wie gehen Sie mit einem Patienten um,
der Ihnen auf den ersten Blick unsympathisch ist?“

Sie antwortete:
“Ich bin fest überzeugt davon, dass in jedem Mensch ein Diamant steckt, auch wenn er noch so verschmutzt daherkommt. Und ich suche während des Gesprächs den Diamanten.
Bis jetzt habe ich ihn immer gefunden. Dann habe ich kein Problem mehr.“

 

Warum empfinden wir Menschen als schwierig und anspruchsvoll? 

Der folgende Text bezieht sich nicht nur auf den Umgang mit Patienten oder Angehörigen, sondern auf den Umgang mit allen Menschen, die wir als schwierig empfinden. Wir sollten uns immer überlegen, wie wir selbst als unser Gegenüber reagieren würden, wenn wir in der Rolle des Patienten, Angehörigen oder Kollegen sind. Werden wir von den anderen Menschen auch als schwierig empfunden?

Wir können Eigenschaften und Gefühle an anderen Menschen nur erkennen, weil wir in uns ein entsprechendes Gefühl tragen, das im Kontakt mit den anderen Menschen Resonanz entwickelt. In der Physik wird eine Welle verstärkt, wenn sie auf eine andere Welle stößt. Nur wenn die zweite Welle genau phasenversetzt verläuft, löschen sich die Wellen wechselseitig aus. In jedem Fall beeinflussen sie einander.

Auch Schauspieler können ihre Rollen nur spielen, weil sie wissen, dass alle Eigenschaften in ihnen vorhanden sind. Und sie sind bereit, auch ihre unangenehmen Seiten vor der Kamera oder auf der Bühne voll auszuleben.

Die schwierigen Menschen zeigen uns wie in einem Spiegel, welche Eigenschaften bei uns selbst vorliegen. Wir können die vermeintlich fremde Eigenschaft nur erkennen, weil sie auch in uns existiert. Wenn wir sie als negativ empfinden, können wir den Umgang mit diesen Menschen als diagnostische Möglichkeit für uns selbst ansehen. Und niemand ist immer schwierig oder unerträglich, niemand ist immer einfach. Aber bei schwierigen Menschen hat sich dieses Verhaltensmuster verfestigt, weil es sich für diese Menschen bewährt hat. Wir (auch die Schwierigen) lernen im Umgang mit anderen Menschen nichts dazu, solange wir unser Verhalten nicht hinterfragen.

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