Endstation Lattenverschlag

Wir hatten es gerade für fünf Minuten geschafft, am Sonntagnachmittag gleich drei diensthabende Kollegen aus den verschiedenen Abteilungen um einen Tisch im Ärztekasino zu versammeln, da wurde die Idylle schon wieder gestört. Mein Notarztwagenalarm schrillte und zerriss die gemütliche Kaffeerunde, noch bevor ich ein Stückchen von dem Kuchen essen konnte, den die Mutter einer kleinen Patientin mitgebracht hatte.

Ich rannte los zum Ausgang, wo der Pkw-Notarztwagen und der große Rettungswagen geparkt waren. Die Rettungsassistenten eilten gleichzeitig aus ihrem Dienstzimmer herbei, und wenige Sekunden später bogen wir von der Ausfahrt auf die Hauptstraße, die Blaulichter rotierten auf den Dächern der roten Autos. Der Fahrer gab Gas. Die Straßen waren frei, und wir kamen rasch voran.

„Was gibt´s denn?“ wollte ich von dem Fahrer wissen. Während er bei Rot über die freie Kreuzung fuhr, meinte er knapp: „Ich weiß ich auch nicht viel. Die Zentrale sagte, ein Mann hat angerufen, eine Frau hat starke Schmerzen, wir sollen schnell kommen!“ Damit war unsere Unterhaltung schon beendet, und ich versank in Gedanken und überlegte mir die vielfältigen Schmerzen, bei denen ein Notarzteinsatz gerechtfertigt war. Ich dachte an Herzinfarkt, Nieren- und Gallenkoliken, Unfälle und andere schlimme Notfälle.

Während ich mich innerlich auf eine komplizierte Situation einzustellen versuchte, rasten wir weiter in einen Vorort und dort in eine Gegend mit abbruchreifen Häusern und verkommenen Grundstücken, auf denen allerlei Müll und aufeinander gestapelte Schrottautos herumlagen. Eine verwahrloste Gegend, die ausgestoßen wirkte von der Glitzerwelt der Innenstadt wie ein schmutziges Anhängsel an einem gepflegten Körper.

Der Beifahrer hatte den Stadtplan auf dem Schoß und dirigierte den Fahrer routiniert und mit knappen Angaben zu unserem Einsatzort. Da standen wir vor einem verfallenen Einfahrtstor aus zerrissenem Maschendraht, dahinter sahen wir vergammelte Hütten und ein kleines dreistöckiges Haus. Ein altes und verrostetes Schild verkündete von einer Schrotthandlung, die irgendwann einmal hier ihre Geschäfte erledigt hatte und längst verlassen war. Ein Rettungssanitäter stieg aus, öffnete mit raschem Griff das altersschwache Tor, das fast aus den Angeln fiel, und wir fuhren mit beiden Einsatzwagen auf holperigem Weg durch ölverschmierte Pfützen und steinige Schlaglöcher auf den Hof, der wie ein verlassener Müllplatz aussah. Wir bahnten uns durch die herumliegenden Schrottwracks und alten Reifen einen Weg zum Haupthaus, das völlig heruntergekommen vor uns stand. An den Fenstern hingen zugeklappt verwitterte Bretter, die einmal Läden waren, einige hingen aus den Scharnieren gerissen im Wind, und viele der Fensterscheiben waren im Laufe der Jahre zu Bruch gegangen. Die Scherben ragten spitz aus dem Rahmen. Der Putz fiel von den Wänden, den alten Firmennamen konnte ich nur mit viel Phantasie lesen. Wir schauten einander fragend an und dachten wohl alle das gleiche: Hier sollte unsere Patientin sein? Wohnt hier jemand?

Aber die Zeit drängte, es war schließlich ein Notarzteinsatz. Also hatten wir keine Zeit, lange Überlegungen anzustellen und uns mit Vermutungen aufzuhalten. Ich sagte nur: “Also, schnell suchen!“ Da wir zu fünft waren, lief ein Rettungssanitäter rasch über das Gelände, wir anderen betraten das düstere und muffig riechende Haus. Schon im Eingang sahen wir eine Maus über den schmierigen Boden huschen und in irgendeinem Versteck verschwinden. Das kann ja heiter werden, dachte ich und ging hinter dem Sanitäter her. Er versuchte vergeblich, Licht zu machen. Die Schalter funktionierten nicht. Aber dieser erfahrene Mann hatte vorsorglich die starke Taschenlampe aus dem Wagen eingesteckt. Die Erdgeschoßräume waren im überfliegenden Scheinwerferlicht schnell durchsucht: Überall Müll, alte Möbel, zerrissene Tapeten, kaputte Bodenbeläge, verstreute Aktenordner, umgeworfene Stühle, offene und leere Schränke.

Wir riefen durch das Treppenhaus und erhielten keine Antwort. So tasteten wir uns im Halbdämmer eine Treppe hoch, das Geländer war defekt, die Stufen knarrten, der Wind pfiff durch das Treppenhaus wie durch einen Kamin, und ich musste sofort an den Film „Psycho“ denken mit seinen unheimlichen Szenen. Wir stiegen zügig Stockwerk um Stockwerk empor, und in jeder Etage bot sich dasselbe Bild wie im Erdgeschoß: ein altes Chaos, stummes Zeugnis der unbewohnten Verwahrlosung.

Da hörten wir plötzlich auf unser Rufen eine schwache Frauenstimme: „Ich bin auf dem Speicher!“ Also noch eine klapprige steile Holzstiege hinauf durch eine Bodenluke, an Spinnenwebennetzen vorbei, auch hier rannten Mäuse und knackten Dielen. Der alkohol- und rauchgeschwängerte Mief hier oben verschlug uns fast den Atem. Da hinten in einem Lattenverschlag flackerte eine Kerze! Das war das einzige Licht in diesem fensterlosen Dachboden.

Der Rettungssanitäter hievte seinen schweren Koffer hoch, wir halfen ihm und eilten zu dem kleinen Verlies, das offensichtlich die Bleibe unserer Patientin war. Da lag sie auf einer uralten Matratze ohne Leintuch, bedeckt mit einem fleckig-verschmierten Laken. Ringsherum lagen zahllose leere Bierflaschen, stanken überquellende Aschenbecher und schmutzige Wäsche, die auf dem Boden verstreut waren. Die Kerze hatte sich auf einer Glasscherbe festgetropft und verbreitete ein schwaches unruhiges Licht. Schemenhaft konnte ich einen winzigen Dachraum mit Ziegeln und Dachsparren, Bretterboden und einer niedrigen schrägen Decke erkennen. Ich bückte mich nieder und versuchte mit Hilfe der Taschenlampe, das Gesicht zu erkennen.

Eine verhärmte Frau mit wirren Haaren und schmutzigem Gesicht schaute mich aus ihren Runzeln blinzelnd an: „Gut, dass Sie kommen, mir tut´s weh!“ Die verwaschene Sprache war noch verständlich und bewies mit dem erheblichen Mundgeruch, was die Patientin getrunken hatte. Die eingefallenen Lippen ließen beim Sprechen viele Lücken und ein paar verrottete Zahnstummel frei.

„Wo tut´s denn weh?“ fragte ich. Sie hatte sich wohl eine schmerzstillende Alkoholdosis genehmigt und reagierte verlangsamt. Ihre ausgemergelten Arme bewegten sich, die schmutzstarrenden Hände mit der glimmenden Zigarettenkippe zwischen den gelben Fingerspitzen schoben ein Kleidungsstück weg, das wohl in besseren Zeiten ein Nachthemd gewesen war, und sie streckte uns ihr nacktes Hinterteil entgegen. „Da!“ nuschelte sie und zeigte auf ihre eingefallene Gesäßbacke. Ich leuchtete genauer hin und erkannte die eindeutigen Abdruckspuren eines kräftigen Gebisses, mit Blut unterlaufen, aber ohne oberflächliche Hautverletzung. Wie gut, dass mein Gesicht im Schatten des Lichtkegels war, so konnte keiner meine Verblüffung sehen.

„Wie kommen Sie denn zu diesem Biss?“ wollte ich wissen. Ein gequältes Lächeln flog über ihr von der Sucht gezeichnetes Gesicht, und sie klärte uns mit einem Satz auf: „Wir mögen´s gern mit Beißen, und da hat er wohl zu fest gebissen! Haben Sie eine Salbe da?“ Ich war entsetzt. Das soziale Elend, die bizzare Entstehung einer Bissquetschwunde, die katastrophale Umgebung, Endstation eines Abstiegs. Ich hielt einen Moment inne und schaute mir die Frau an, ein menschliches Wrack, ihre Haut war vergilbt, das Gesicht aufgedunsen, Tränensäcke unter den Augen, der Körper abgemagert, ein zerfallender Mensch.

Der Sanitäter fragte: “Können Sie uns mal Ihre Personalien sagen?“ Sie drehte sich stöhnend zur Seite, griff in eine Tasche und zog mühsam ein zerschlissenes Etui heraus, das sie umständlich öffnete, und dann streckte sie mir ihren Personalausweis entgegen. Ich schaute das Passbild an und sah eine junge und gepflegte Frau mit freundlichen und klaren Augen. Mein Blick wanderte zu der Frau auf der Matratze und noch einmal auf den Ausweis. Ich konnte es kaum glauben. Deshalb fragte ich: „Sind Sie das?“ Sie schüttelte langsam den Kopf und sagte leise und langsam: „Nein, das war ich mal vor fünf Jahren.“ Ich rechnete nach: Sie war dreißig Jahre alt, ich hatte sie auf mindestens fünfzig geschätzt.

Die zweite Matratze lag neben der Frau, von einem Knäuel aus zerrissener Bettdecke und dreckiger Schmutzwäsche bedeckt. Ich schaute die Patientin an, die mich aus rot geränderten Augen musterte. “Wo ist denn ihr Partner?“ fragte ich. Sie überlegte kurz: „Danach“, seufzte sie und deutete auf ihre Hinterfront, die sie inzwischen wieder bedeckt hatte, „hat er mich hier liegen lassen und ist ins Stadion gegangen. Von unterwegs hat er Sie aus einer Telefonzelle angerufen.“

Was sollte ich tun? Hier gab es keinen Grund für eine Fahrt im Notarztwagen oder einen Krankenhausaufenthalt. Eine Salbe hatten wir nicht im Auto, weil es dort nur Notfallmedikamente gab. Ich schrieb eine Salbe auf und reichte der Frau das Blatt: „Wenn er zurückkommt, bitten Sie ihn, die Salbe zu holen. Macht er das?“ Sie überlegte: „Ja, wahrscheinlich schon, wenn er nicht voll ist. Morgen gibt es wieder Geld beim Sozialamt. Da muß einer von uns sowieso in die Stadt. Danke, daß Sie da waren!“

Sehr nachdenklich verabschiedete ich mich. Im Kasino wollte ich meinen Kuchen nicht mehr essen, und der Kaffee schmeckte bitter.

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

 

 

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Auf der Vanguard

Nachdem ich die Wachen am Militärhafen hinter mir hatte und auf das riesige Schiff zufuhr, sah ich die meergraue Tarnfarbe der Kriegsschiffe. Nach wenigen Sätzen mit dem Wachposten und mit Hilfe meines Passierscheines kam ich an Bord, wurde von der Operationsschwester freundlich begrüßt, und sie führte mich durch das Schiff. Besonders beeindruckten mich die großen Räume, die mit flimmernden Monitoren geradezu tapeziert waren. Schon bei der Herfahrt hatte ich auf dem Schiff die vielen Antennen bestaunt, und jetzt sah ich die Sprechfunkgeräte, Mikrofone, Telefone, Computerwände, die dazugehörten. Die Schwester bestätigte meine Vermutung: Während der Mondlandungsphase stand noch viel mehr Technik hier an Bord zur Verfügung! Jetzt war der ganze Apparat überwiegend auf meteorologische Untersuchungen eingestellt.

Das medizinische Zentrum bestand aus einem Praxisraum, der wie auf der Meteor als Vielzweckraum benutzbar war für die Sprechstunde, Verbände, kleinere operative Eingriffe, Röntgenaufnahmen, und als Labor und Arbeitszimmer. Die Schwester berichtete mir von ihren vielseitigen Aufgaben hier an Bord: Sie war als Seelsorgerin, Ärztin, Krankenschwester und Vermittlerin zwischen Kranken und dem Kapitän tätig. Sie machte ihre „Hausbesuche“ am Bett der Kranken und hielt eine regelmäßige Sprechstunde ab. Glücklicherweise betreute auch sie nur wenige Kranke an Bord, und die hatten keine schwereren Leiden.

Wir gingen weiter durch das Labyrinth der Gänge, Treppen und Türen und kamen schließlich gerade richtig zur Essenszeit in die Offiziersmesse. Wir stellten uns in die Schlange vor die Ausgabe, und was gab es zum Mittagessen? Groß stand es auf der Tafel hinter dem Servicepersonal: „Suebian Sauerkraut with sausages“! Als ich meiner Gastgeberin erzählte, dass ich aus Schwaben komme, war sie ganz begeistert. Sie stellte mich dem Kapitän vor, der auch gerade zum Essen gekommen war, und er lud uns an seinen Tisch ein. Eine entspannte Unterhaltung schloss sich an, ich fühlte mich wohl und genoss es, wieder einmal über längere Zeit englisch sprechen zu können. Nach dem abschließenden Kaffee verabschiedete ich mich und fuhr zur Meteor zurück.

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Zeichensprache in der Apotheke

Am nächsten Morgen ließ ich mich zuerst von einem Taxi in die Stadt bringen, weil ich in der Apotheke Isopropylalkohol zum Desinfizieren besorgen wollte. Da ich in der Schule kein Französisch gelernt hatte, dies aber im Senegal Umgangssprache ist, hoffte ich auf einen englisch sprechenden Apotheker. Aber ich hatte kein Glück. Mein französisch zusammengestoppelter Satz: „Je suis le docteur de le batteau Meteor“ war völlig ungenügend für den gezielten Einkauf.

Deshalb versuchte ich meine Aufgabe mit Zeichensprache zu bewältigen und erlebte mehrere sehr interessierte und amüsierte Angestellte in der Apotheke, die mir begeistert und ratend zuschauten und mich überhaupt nicht verstanden. Auch das Wort „Isopropylalkohol“ verstand wohl keiner.

Aber für diesen Fall war ich vorbereitet. Ich nahm ein Blatt Papier, zeichnete mit ein paar Strichen ein Schiff mit dem Namen Meteor, einen Mann mit einem Äskulap-Stab und deutet auf mich. Dann malte ich mit einem Pfeil versehen ein Pharmacie-Schild in das Schiff. Aha, jetzt leuchteten die Augen des Apothekers! Das war ja schon mal gut! Dann deutete ich auf die vielen Flaschen, die hinter ihm im Regal standen und sagte “Isopropylalkohol“. Ich hatte erwartet, daß er das versteht, denn es handelt sich schließlich um einen international wohlbekannten Namen.

Der Mann in seinem weißen Kittel machte große Augen, die mir zeigten, dass er mich gerne verstehen und sicherlich mir auch helfen würde, wenn er nur wüsste, womit. Also, neuer Versuch: Ich zeichnete die chemische Formel von Isopropylalkohol auf, die ich glücklicherweise noch vom Studium wusste, und er schaute interessiert darauf: „Oh, le composition chemical!“ Er überlegte kurz und strahlte plötzlich. Jetzt hatte er endlich begriffen!

Er drehte sich zum Regal um, holte zielsicher eine Flasche heraus, stellte sie auf den Tisch und schaute mich fragend an. Das Etikett darauf zeigte, dass er meine Botschaft richtig verstanden hatte. Ich lachte zuerst, dann lachten wir beide, und ich hatte den Eindruck, dass er sich über unseren gemeinsamen Erfolg ebenso freute wie ich. Alle Menschen um uns herum, die unser fast wortloses Schauspiel verfolgt hatten, klatschten. Ich bezahlte und verließ dankbar den Laden. „Merci!“ wusste ich, und das sagte ich ihm bei meiner Abschiedsverbeugung. Dieses Verständigungsspiel hatte richtig Spaß gemacht!

Ich brachte die Flasche zum Schiff zurück und bat den Taxifahrer, kurz auf mich zu warten, um dann gemeinsam zur Vanguard weiterzufahren.

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

 

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Der zweite Aufenthalt in Dakar

Nach etwa vier Wochen brachen wir wieder auf, um in Dakar zu bunkern. Dort hatte die Meteorologische Gesellschaft der UNO während des Experimentes eine Zentrale eingerichtet. Ich hörte von unserem Funker, daß ein Treffen der Ärzte und Forschungsleiter anberaumt war. Also fuhren wir hin und trafen die Kollegen aus den teilnehmenden Ländern. Rasch standen die Ärzte beieinander, und wie meistens bei solchen internationalen Treffen war Englisch die verbindende Sprache.

Ich lernte meine französischen, russischen, englischen und amerikanischen Kolleginnen und Kollegen kennen. Das brasilianische Schiff war schon von der Ankerstelle auf die andere Seite des Atlantiks nach Hause gefahren. Leider wurde die kleine Runde rasch unterbrochen, weil das allgemeine Programm des Nachmittags begann und wir unseren Plausch nicht fortsetzen konnten. Deshalb schlug ich vor, dass wir uns am nächsten Nachmittag auf der Meteor zu einer Ärzterunde und Absprache weiterer Aktivitäten treffen sollten. Diese Einladung nahmen alle gerne an, und so konnten wir uns auf die wissenschaftlichen Details dieser Nachmittagsvorträge konzentrieren.

Am nächsten Tag waren die Kolleginnen und Kollegen pünktlich und vollzählig in meiner Kajüte versammelt. Zuerst zeigte ich ihnen mein Appartement und löste damit allgemeine Bewunderung und wahrscheinlich auch einen gewissen Neid aus. Das konnte ich zwar im Moment nicht verstehen, aber als ich später einige andere Schiffe besuchte, wurde mir klar, wie luxuriös und gediegen die Ausstattung der Meteor im Vergleich dazu war.

Wir saßen sehr eng, weil mehr als zehn Menschen in der kleinen Eckbank und daneben Platz finden mussten. Aber das tat unserer guten Laune keinen Abbruch. Meine Frage „Kaffee oder Bier?“ wurde einstimmig zugunsten des Bieres entschieden, und so kredenzte der Steward Becks und Jever Pils. Meine Gäste waren sofort von der hervorragenden Qualität der Biere begeistert und griffen zu.

Die nächsten Stunden verbrachten wir in gemütlicher Runde mit einem Fachgespräch, das natürlich mit vielen persönlichen Bemerkungen gemischt war. Der russische Kollege von der Professor Wiese stellte sich als erfahrener Chirurg aus Leningrad vor. Von ihm hatte ja Heinz schon berichtet. Außerdem waren zwei Ärztinnen aus der Sowjetunion dabei, eine Internistin und eine Frau, die wir bei uns als Allgemeinärztin bezeichnen würden. Der Franzose war Anästhesist, und auf den amerikanischen Schiffen fuhren hochqualifizierte Operationsschwestern anstelle eines Arztes mit. Jeder stellte kurz sein Schiff vor, und dabei erfuhr ich, dass eine der Frauen auf der Vanguard ihren Dienst verrichtete, also dem NASA-Schiff, das ich unbedingt besuchen wollte.

Im Laufe des Nachmittags wurde ich von allen anwesenden Kollegen auf ihre Schiffe eingeladen, ich solle mich kurz anmelden oder gleich einen Termin vereinbaren, wir hatten ja nur drei Tage Zeit im Hafen. Also verabredete ich mich: Morgen sollte ich zu Vladimir, dem Chirurgen, auf die Professor Wiese, kommen. Das war auch insofern interessant, als ich erfahren hatte, dass unsere Besatzung mit ihren sowjetischen Kollegen ein Tischtennisturnier auf diesem Schiff verabredet hatte.

In einigen Gesprächen mit unserer Besatzung hatte ich erfahren, daß sie viel lieber mit russischen Seeleuten Kontakt hatten als mit amerikanischen, da man mit den Russen emotional viel besser auskommen könne, und die Amerikaner unserer deutschen Mentalität fremder seien. Ich beschloss, mich unserer Gruppe anschließen und Vladimir so treffen.

Für den nächsten Vormittag freute ich mich auf den Besuch der Vanguard. Und die Schwester, die dort den ärztlichen Dienst versah, stellte mir rasch einen Passierschein für die Wachen aus und schrieb ihre Telefonnummer an Bord auf, so daß ich ohne Schwierigkeiten durch die Kontrollen kommen würde.

Wir besprachen auf der Meteor jetzt einen Einsatzplan, wer welche Spezialitäten an Wissen, Apparaten und Instrumenten hatte. Es stellte sich schnell heraus, dass wir auf der Vanguard und der Meteor die besten Operationsmöglichkeiten hatten. Aber wir brauchten für größere Eingriffe den französischen Anästhesisten und notfalls, meinte Vladimir, sei er auch ganz erfahren mit Narkosen, und mit meinem Lachgasgerät könne er umgehen, er habe es daraufhin angeschaut.

Also mussten bei operationsbedürftigen Patienten nur noch die Transportwege geklärt werden, da keines der Schiffe die Ankerstelle verlassen durfte. Aber jedes Schiff hatte schnelle Motorboote an Bord, mit der Patient und Arzt an den Behandlungsort gebracht werden konnten. Wir rechneten aus, dass die Einsatzzeit vom Alarm bis zum möglichen Operationsbeginn etwa drei bis vier Stunden betragen würde, wenn wir eine volle Mannschaft mit Chirurg, Anästhesist und Operationsschwester zusammenstellen müssten. Aber jeder von uns war in der Lage, kleinere Eingriffe mit Bordmitteln und eigenem Personal vorzunehmen. Diese Aufstellung der Möglichkeiten erschien mir ganz beruhigend, und ich freute mich über die unkomplizierte internationale Begegnung und Kooperationsbereitschaft.

Die Stunden flogen rasch vorüber, und die Kollegen wollten zum Abendessen auf ihrem Schiff sein, obwohl ich sie gerne bei mir eingeladen hätte. Da sie so begeistert von den Bieren waren, die ich ihnen angeboten hatte, rief ich den Steward an, der Becks und Jever Pils brachte. Ich wollte die Flaschen verteilen, und so ergab sich das lustige Bild, dass eine Amerikanerin und Vladimir jeweils mit einem vollen Bierkasten auf der Schulter das Fallreep hinunterstiegen. Sie hatten mit ihren Kolleginnen und Kollegen vereinbart, die Geschenke dann an Bord zu teilen. Für den Transport waren die Kisten am geeignetsten.

Ich habe diese Geschichte in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht

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Die Haie und das Essen

Da die Essensreste einfach über Bord gekippt wurden, konnten wir jeden Tag beobachten, wie die Haie heran schossen, sich ihren Teil schnappten und in der Tiefe verschwanden. Diese gefürchteten Seeräuber zu fangen, war in der Freizeit eine Lieblingsbeschäftigung de Besatzung. Deshalb standen die Männer oft mit der Angel an der Reling, und die gefräßige Beute war häufig sehr schwer.

Ein besonders grausames Vergnügen machte es einigen Matrosen, mit dem großen Fleischerhaken zu angeln, an den sie ein dickes Stück Schinken gehängt hatten. Zweimal durchschaute der Hai das Spiel, schnappte sich geschickt den frischen Schinken und biss nicht in den Haken. Das erhöhte natürlich die Wut der Jäger auf dem Schiff. Beim dritten Versuch -oder war es ein anderer Hai?- rammte sich der Haken tief in den Gaumen des Räubers, und der Hai wollte davonschießen.

Der brutale Kampf begann. Der etwa vier Meter lange Riese tobte mit seiner ganzen Kraft an der Stahlleine, die sehr kurz an der Reling festgezurrt war, sonst hätte sie keiner von uns halten können. Ganz langsam zogen die Matrosen mit vereinten Kräften den rasenden Hai immer näher an das Schiff. Das klare blau-grüne Wasser hatte sich blutrot gefärbt und wurde von den heftigen Schwanzschlägen aufgewühlt und regelrecht schaumig umgerührt. Erst als der verwundete Fisch die Bordwand blutig schlug und in ganzer Länge im Freien zappelte, befestigten die Matrosen das Seil so, daß das Raubtier auf halber Höhe des Schiffes in der prallen Sonne hing. Dann holten sie sich ein Bier für die Wartezeit. Es dauerte lange, bis die Kräfte des Riesen erlahmten und er mit deutlich nachlassender Wucht um sein Leben kämpfte.

Während dieser Wartezeit stand ich einigermaßen fassungslos bei diesem tierquälerischen Unternehmen und fragte die Seeleute, warum sie denn so grausam seien. Einer der Matrosen grinste zurück: „Klar, Doc, wenn Sie ins Wasser fallen, geht der auch nicht zimperlich mit Ihnen um. Wir Seeleute hassen den Hai, das ist unser größter Feind. Wir schaden ihm, wo wir können.“ Damit war die Frage beantwortet, und er wandte sich mit breitem Gelächter und gehässigen Bemerkungen wieder dem zappelnden Tier zu.

Nachdem der Hai ermattet war und nur noch schwach zuckte, holten die Matrosen ihn mit gebührendem Abstand und sichtlichem Respekt vor dem tödlichen und immer noch lebendigen Maul über die Reling. Einer der Seeleute nahm eine etwa zehn Zentimeter dicke Holzstange in der Hand und rammte sie in das offene Maul des Haies, um es zu blockieren. Ich konnte die rasiermesserscharfen und in mehreren Reihen unregelmäßig verteilten großen Zahnmonster erkennen, die einem Menschen mit einem Biß den Oberschenkel abtrennen können.

Ich bewunderte die glatte Haut, die dem Hai die herrliche Stromlinienform verkleidete, und die großen klaren Augen. Die winzigen Nasenlöcher ließen nicht ahnen, dass dahinter eines der besten Riechorgane der Entwicklungsgeschichte verborgen war, das über viele Kilometer Sexualduftstoffe und Blut orten kann. Ein gruseliges Wunder der Natur!

Ein anderer Matrose schlug dem Hai mit einer Stahlstange so lange auf den Kopf, bis ich das Krachen der Schädelknochen hören konnte, das Zucken der Schwanzflosse aufhörte und wir die gebrochenen Fischaugen sahen. Wu hatte von der Aktion gehört und war – ungewöhnlich für die Tageszeit! – aus seiner Wäscherei an die Sonne gekommen. Er brachte ein großes Messer mit und schnitt mit gezielter und kraftvoller Bewegung die Rückenflosse ab. Er befestigte sie an einer Schnur zum Trocknen und machte uns grinsend darauf aufmerksam, dass er dafür viel Geld bekommen würde, weil die getrocknete und pulverisierte Flosse „starke Männer“ mache. Er bedachte aber nicht, daß er die Flosse direkt neben eines der Lüftungsrohre für die Mannschaftskabinen hängte, wo in den nächsten Tagen der Verwesungsgestank in die Kajüten zog und die Mannschaft ärgerte. Und deshalb entdeckte Wu eines Morgens, dass die Flosse „ganz zufällig“ fehlte und angeblich keiner Bescheid wusste, wo sie geblieben war. Alle wussten es, und ich denke, Wu ahnte es, dass einer von der Besatzung sie ins Meer geworfen hatte.

Der Hai hatte sein Leben verloren, und ich meine, wir Menschen haben die Würde eingebüßt, die wir uns so oft anmaßen und vielleicht nie hatten: von allen Kreaturen am höchsten entwickelt zu sein. Hier erlebte ich bei den Matrosen den blanken Hass. Das war bestialisches Töten ohne Not, nur aus Zeitvertreib und angestauter Wut. Soweit ich weiß, tötet kein Tier ohne das Gefühl des Hungers oder der existentiellen Notwendigkeit. Die Menschheit hat sich ganz sicher nur weiter entwickelt in der Raffinesse, Brutalität, Anonymität und der technischen Perfektion des Tötens.

Am drastischsten sah ich diese hasserfüllte Barbarei bei einer anderen Gelegenheit, als die Matrosen einen Hai lebend an Bord zogen, ihm mit dem großen Schlachtermesser in einem gewaltigen Zug den Bauch aufschlitzten und ihn blutspritzend sofort wieder ins Wasser warfen. Als ich angewidert fragte, was das denn bedeuten solle, schnappte der Matrose gehässig zurück: „Jetzt wird er bei lebendigem Leib von seinen eigenen Artgenossen gefressen. Das ist das Schlimmste, was ihm passieren kann. Ich hasse Haie!“

Jetzt aber lag der Ozeanriese tot auf den Planken, und der Koch kam und verarbeitete das große Fleischpaket. Der größte Teil wanderte ins Gefrierhaus, und zum Abendessen eine Stunde später gab es unter großem Hallo der Besatzung frische Haifischsteaks. Da spürte ich ein kräftiges Rumoren im Bauch und fühlte mich sehr unwohl. Also war ich mit der Kartoffelsuppe zufrieden, die auf dem Tisch stand, und ging in meine Kajüte.

Eine willkommene Abwechslung an Bord war das Essen tatsächlich, auch wenn die Nahrungsmittelgewinnung selten so dramatisch und spektakulär ablief. Einem schwäbischen Koch hatten wir die ausgezeichnete Qualität der vielseitigen Verpflegung zu verdanken. Samstags gab es meistens eine große indonesische Reisplatte mit allen Leckereien, die das Meer und ein einfallsreicher Koch zu bieten haben. Eine wahrhaft internationale Küche fuhr der Chef der Kombüse auf, und einmal bekam ich in der Nordsee im November sogar meine Lieblingsspeise: Linsen und handgeschabte Spätzle. Er backte hervorragende und sehr leckere Brotsorten, und sonntags genossen wir vorzüglichen frischen Kuchen oder feines Gebäck zum Kaffee.

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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Alltag auf See

Am folgenden Tag, als Heinz nach einer herzlichen Verabschiedung von Bord gegangen war, lichteten wir auf der Meteor den Anker, und die große Reise begann. Alle Schiffe, die Heinz mir im Hafen gezeigt hatte, verließen fast gleichzeitig den Hafen, nachdem sie in den vergangenen Tagen gründlich gebunkert hatten. Das heißt, sie haben Lebensmittel, Wasser, Öl und alles andere neu getankt, was sie für eine längere Zeit auf See ohne Nachschubmöglichkeit brauchen.

Teilweise hatte die Besatzung gewechselt, nur bei uns blieb die Forschungsmannschaft weitgehend gleich. Ihre Mitglieder, Angehörige verschiedener Hamburger Institute, hatten die Forschungsräume eingerichtet und dort während der letzten vier Wochen auf See gearbeitet. Insgesamt fuhren 75 Menschen an Bord mit. Etwa zwei Drittel gehörten zu dem wissenschaftlichen Personal, das dritte Drittel stellte das Stammpersonal der Meteor.

Viele Seemeilen später setzen wir an dem vorgeschriebenen Platz den Tiefseeanker, eine große Stahlplatte an einem dünnen und stabilen Stahlseil, das fast einen Kilometer lang aus mehreren Stücken zusammengehängt werden musste, da der Atlantik an dieser Stelle so tief war.

Der Alltag begann. Für mich war ärztlich kaum etwas zu tun. Im Durchschnitt kam jeden Tag ein Patient mit kleineren Beschwerden: ein bisschen Schnupfen, verspannte Nackenmuskulatur, ein kleiner Riss in der Haut, manchmal Durchfall oder das Gegenteil. Kleinigkeiten, kaum der Rede wert. Schwierige Unfälle oder Erkrankungen wie zum Beispiel Heinz sie erzählt hatte, musste ich glücklicherweise während der ganzen Zeit nicht behandeln. Darüber war ich schon froh. Trotzdem erlebte ich sehr interessante und lehrreiche, lustige und spannende Momente.

Ich wollte mein eigenes Arbeitsprogramm durchhalten, das ich mir vorgenommen hatte. Noch in Wilhelmshaven waren mir zwei frühere Schiffsärzte der Meteor begegnet, die mir viele gute Tipps gegeben hatten. Sie gaben mir einstimmig den Rat: „Du musst dir auf jeden Fall für die ganze Zeit ein Arbeitsprogramm vornehmen und dich etwas abschotten, sonst kommt immer einer von der Besatzung oder den Wissenschaftlern zu dir und lädt dich zum Trinken ein. Einer hat nämlich immer frei, das ist der Arzt, den suchen sie sich, wenn sie Pause oder Freiwache haben. Und dann ist die Gefahr groß, dass du an der Flasche hängst.“

Deshalb hatte ich geplant, während der Meteor-Zeit den Nelson, das beste amerikanische Kinderheilkundelehrbuch mit über 2000 Seiten, durchzuarbeiten und mich damit auch auf meine anschließende Weiterbildung als Kinderarzt vorzubereiten. Meine vertraute Schreibmaschine hatte ich eingepackt, um regelmäßig so ausführlich mit Durchschlag Tagebuch schreiben zu können, dass ich es in den beiden geplanten Hafenpausen nach je vier Wochen heimschicken konnte. 1974 gab es noch keine Computer, die man so rasch mal hätte einpacken können. Heute würde ich den Laptop und einen handlichen Drucker in den Koffer legen.

Ich setzte mich meistens morgens nach dem Bad und dem Frühstück in der Offiziersmesse an den Schreibtisch in meiner Kajüte und arbeitete ein paar Stunden lang. Zwischendurch erfrischte ich mich bei einem Spaziergang an Deck und unterhielt mich mit den Wissenschaftlern, die mir gerne und verständlich ihre Arbeit erklärten.

Diesen  Tagesablauf empfand ich sehr interessant, und ich lernte viel über meteorologische und ozeanografische Fragestellungen und Zusammenhänge, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Ein paarmal hielten die Forschungsgruppenleiter in der Bibliothek auch Fortbildungsvorträge über die laufenden Untersuchungen für alle Interessierten ab, in denen sie ausführlich und für alle Gäste verstehbar ihre Projekte und Arbeitsmethoden erklärten..

Rechtzeitig zu dem Frühschoppen lud ich regelmäßig meine Gäste ein, die offensichtlich gerne am Sonntagmorgen zum Bierchen kamen. Wir besprachen das Leben an Bord, und ich erfuhr so manche Seemannsgeschichte aus vergangenen Zeiten und fernen Ländern. Ich empfand diese Stunden vor dem Mittagessen als nette Unterhaltung ohne wesentlichen Tiefgang, wie es eben an einem Stammtisch so zugeht.

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht

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Die nächtliche Prüfung

In all den Jahren des Studiums hatten wir die angenehme Erfahrung gemacht, dass Professoren so pünktlich zur Prüfung erscheinen wie ihre Studenten. Aber Warten kann auch eine besondere Form der Prüfung sein.

Vier Tage waren allein für die Prüfung in Innerer Medizin angesetzt, und zwei Prüfer sollten sie unabhängig voneinander vornehmen. Wir wurden mit unserer Gruppe bei Professor Heni und Professor Eggstein eingeteilt. Beide waren als gefürchtete Prüfer bekannt.

Wie üblich hatten wir bei jedem Professor zuerst einen Patienten am Krankenbett zu untersuchen und das Krankheitsbild mit allen dazugehörigen Fragen zu besprechen. So lief es an jenem Maimorgen auch bei Professor Eggstein. Die anschließende Fragerunde brachten wir gut hinter uns und erhielten dann einen weiteren Termin für die theoretische Prüfung am selben Tag um 14 Uhr.

Wir standen pünktlich wenige Minuten vor der verabredeten Zeit vor dem Zimmer des Professors, aber er war nicht in seinem Zimmer. Nachdem eine halbe Stunde vergangen war, fragten wir bei einer Sekretärin nach und erfuhren, dass der Professor mit einem Notfall beschäftigt sei und bestimmt bald komme. Wir verbrachten die Zeit auf dem Flur und überlegten, was wir jetzt da draußen in diesem herrlichen Frühlingswetter alles tun könnten. Dann tauchten wieder medizinische Fragen auf, und wir bemühten uns, die Zeit einigermaßen sinnvoll hinter uns zu bringen. Nervosität, Ungeduld und einiger Ärger über die Unpünktlichkeit des Professors und die lästige Warterei wechselten einander ab.

Da kam der Professor schließlich um halb vier den Gang entlang geeilt und war verblüfft, dass wir noch da waren. Er hatte uns vergessen: „Ach, ich soll Sie ja prüfen! Aber das geht jetzt nicht, ich muss noch mal was Dringendes erledigen. Können Sie noch eine Weile warten? Ich komme wieder!“

Wir stimmten zu, und er rauschte davon. Eine weitere Zeit auf dem kahlen Flur tickte monoton wie die Uhr an uns vorbei. Halb fünf, halb sechs wurde es, und kein Professor kam. Ein langer Spaziergang beschäftigte uns. Zehn Meter hin, zehn Meter her. Die fünf langweiligen Kalenderdrucke in den billigen Kaufhausrahmen an den Flurwänden hatten wir mittlerweile so gründlich studiert, dass wir sicherlich eine haargenaue Beschreibung hätten abliefern können. Wir kamen uns vor wie im Gefängnis, wo die Zelle oder der Hof die große weite Welt darstellten. Meine Freunde hatten am offenen Fenster die Zigarettenschachtel leer geraucht und trauten sich nicht, den Flur zu verlassen, um am Automaten Nachschub zu holen. Was hätte das für einen Eindruck gemacht, wenn gerade in diesem Moment der Professor gekommen wäre?

Schließlich kurz vor sechs tauchte er wieder auf, hektisch und mit wehenden Mantelschößen, blieb kurz bei uns stehen und sagte eilig: „Also bitte warten Sie noch eine Weile, es ist mir ja auch nicht recht, aber ich muss noch mal weg.“ Und fort war er.

Was hätten wir auch sagen sollen? Wir hatten lange darüber diskutiert und waren schließlich übereingekommen, dass irgendein Widerspruch von uns nur die Chancen in der ohnehin gefürchteten Prüfung verringern könnte. Und so war uns klar, daß wir die Wartezeit aushalten und gute Miene zum lästigen Spiel machen müssen. Die Minuten tropften in den Nachmittag wie das Wasser aus dem lecken Hahn ins Waschbecken. Zu trinken hatten wir auch nichts!

Wir spielten auf dem Flur Fußball mit einem kleinen Steinchen, dass einem Vorbeilaufenden aus der Schuhsohlenrille gefallen war. Selten kamen Menschen vorbei, denn der Professor hatte sein Zimmer in einem abseits gelegenen Trakt des Hauses. Wir waren ganz auf uns gestellt. Wenn wir das gewusst hätten, wären wir sicherlich auf die eine oder andere Idee gekommen, etwas zum Zeitvertreib mitzubringen. Aber wir hatten nichts zum Lesen dabei und mussten die ganze Zeit stehend verbringen, weil es keine Stühle auf dem Flur gab. Auf den Boden zu sitzen, war angesichts der Lage und unseres schwarzen Anzugs auch nicht ratsam. Natürlich hatten wir angenommen, sofort zur vereinbarten Zeit dran zu kommen wie bei allen anderen Prüfern in den Wochen davor auch.

Die Zeit zog sich in die Länge wie gedehnter Kaugummi, und die häufigen Blicke auf die Uhr ließen sie auch nicht schneller laufen. Wir stellten uns vor, wie gut jetzt unter einem schattigen Baum im Garten ein leckerer Eiskaffee schmecken würde. Dort könnten wir in der Badehose liegen statt hier in diesem kahlen und ungastlichen Flur im dunklen Anzug herumzustehen und auf den großen Meister zu warten. Zwischendurch unterhielten wir uns über einige medizinische Fragen, um geistig „sprungbereit“ zu sein, falls der Herr Professor geruhen sollte, plötzlich aufzutauchen.

Die Stunden verrannen wie Sand im Uhrglas, viel zu langsam und ohne besondere Ereignisse. Je länger es dauerte, umso nerviger wurde die Situation. Die Sonne stieg zum Horizont hinunter, und durch das geöffnete Fenster zog ein kühlere Luft. Die Dämmerung ließ die Konturen des Flures gemächlich grauer und verschwommener werden, und dann entschlossen wir uns, das ungemütliche Flurlicht einzuschalten. Unsere Phantasie von einem kühlen Bierchen und einem ordentlichen Vesper unterhielt uns zwar eine Weile aber verbesserte unsere Stimmung nicht gerade. Wir hatten Hunger und Durst und waren sauer, weil es einfach nicht vorwärts ging und wir außerdem keine neuen Nachrichten hatten, ob wir denn heute überhaupt noch geprüft werden würden. Wir trösteten uns mit der rein theoretischen Überlegung, dass mit fortschreitender Zeit die Wahrscheinlichkeit immer größer wird, dass der mittlerweile ersehnte Professor tatsächlich kommt.

Da hörten wir etwa um zehn Uhr abends wieder Schritte den Gang entlang eilen. Sie kamen auf uns zu, wurden lauter und brachten den Professor mit. Wir waren gespannt auf seine Botschaft. Würde er uns jetzt endlich prüfen oder auf morgen vertrösten? Oder würde er noch einmal wegrennen und nachher vielleicht wiederkommen?

Er sagte freundlich: „Es tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten. Es ging wirklich nicht anders. Also, was machen wir jetzt? Ich will nach Hause, Sie sicher auch, und die Prüfung sollten wir auch hinter uns bringen. Ich weiß, dass Sie das Recht haben, unter diesen Bedingungen nach der langen Wartezeit die Prüfung jetzt zu verweigern, und wir müssten einen neuen Termin vereinbaren. Das müsste ich akzeptieren. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wenn Sie einverstanden sind, prüfe ich Sie jetzt! Wollen Sie?“

Wir schauten einander an und nickten. Bringen wir´s hinter uns! Morgen müssen wir vielleicht wieder warten. Also Augen auf und durch!

Der Professor öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer, und mich traf fast der Schlag! Das war das chaotischste Zimmer eines Chefarztes, das ich je vorher und nachher gesehen habe! Vor lauter Büchern, Zeitungen, Diakästen, Krankenakten und anderem Papierkram sahen wir kaum Möbel. Alle Sitzflächen waren belegt. Das Zimmer sah aus, als hätte eine Einbrecherbande den Goldschatz gesucht und aus lauter Zorn, ihn nicht gefunden zu haben, die Bude verwüstet.

„Jetzt müssen wir zuerst Platz schaffen. Legen Sie die Sachen einfach auf den Boden, dann können wir hinsitzen!“ meinte er und fing an, seinen Kram vom Sessel am Schreibtisch zu schaufeln. Er zog sich seinen Stuhl zu der kleinen Sitzgruppe, die wir freigeräumt hatten. Dafür musste er aber zuerst eine Straße auf dem Boden freipflügen.

Erwartungsvoll beobachteten wir, wie der Professor mit gezieltem Griff ein dickes Buch aus dem überfüllten und unordentlich eingerichteten Schrank zog, sich auf den Sessel fallen ließ, die Beine übereinander schlug und anfing, auf dem oberen Bein in dem schweren Wälzer zu blättern. Ein Blick genügte, um uns klar zu machen, dass wir dieses Buch mit seinen weit über 2000 Seiten sehr gut kannten: Es war der Gross-Jahn, das berühmte Tübinger Lehrbuch der Inneren Medizin. Nach diesem Buch hatten wir gelernt, weil wir wussten, dass fast alle Internisten, die als Prüfer für uns in Frage kamen, auch in diesem Buch als Autoren vertreten waren, so auch Professor Eggstein, der jetzt offensichtlich nach Themen für seine Fragen suchte.

Er ließ wahllos die Finger zwischen den Seiten entlang laufen, überflog Überschriften und stieß dann wie ein Adler auf die Maus zu: „Da!“ sagte er und deutete auf eine Seite, die wir nicht sehen konnten. „Das wär doch was! Also, wer fängt an? Ach, machen wir´s einfach von links nach rechts!“ Und schon schoss er die erste Frage ab wie einen Pfeil, der verwunden, töten oder vorbeifliegen kann. Sein waches Auge beobachtete die Wirkung der knappen Frage wie ein konzentrierter Golfspieler, der dem abgeschlagenen Ball hinterherschaut, um ihn ohne Suchen weiterspielen zu können.

Der erste von uns fing den Ball, Verzeihung: die Frage auf und antwortete kompetent. Der Professor blätterte weiter, fand wieder ein Stichwort, das ihm passte, und schaute auf: „Die nächste Frage! Der nächste Kollege!“ Auch damit konnte mein Freund, der jetzt dran war, gut umgehen. Er antwortete ebenso gut wie sein Vorgänger. Inzwischen hatte ich Zeit, über die Art der Fragen nachzudenken. Mir fiel auf, dass nur Raritäten gefragt wurden, und ich wusste ganz genau aus dem umfangreichen Buch, dass die extrem seltenen Krankheitsbilder, die der Professor wissen wollte, dort mit höchstens zehn Zeilen erwähnt waren. Das war sehr gefährlich!

Ich dachte, wenn der Professor nur „Fußnoten“ aus dem überdimensionalen Buch abfragt, dann spielen wir hier verschärftes Russisches Roulette, nämlich mit fünf scharfen Kugeln und sechs möglichen Schüssen! Ich war gespannt, wie die Qualität der Fragen sich weiter entwickelte, denn ich war der letzte in der ersten Fragerunde. Jeder von uns bekam nur eine Frage in dieser ersten Runde, dann ging das Zielrohr des Professors weiter zum nächsten Kandidaten.

Auch die dritte Frage betraf wieder eine Rarität, und der Dritte in unserem Bunde konnte auch richtig antworten. Dann kam ich dran und erhielt auch eine „Fußnotenfrage“! Aber ich war vorbereitet und schaffte die Runde so gut wie meine Freunde. Wir atmeten auf: Soweit war der Einstieg prima gelaufen. Wie würde es jetzt weitergehen?

Da lehnte sich der Professor zurück und lächelte: „Sie wundern sich wahrscheinlich, warum ich so ausgefallene Fragen stelle. Wissen Sie, ich will nach Hause und Sie auch, und bei der Prüfung am Krankenbett waren Sie alle sehr gut. Ich prüfe Sie jetzt einfach auf eine Eins. Das schaffen Sie oder eben nicht!“ So einfach ist das, dachte ich: Er hatte die Messlatte gleich ganz oben aufgelegt, das konnte ja noch eine heiße Nacht werden! Meine innere Anspannung stieg spürbar.

Professor Eggstein ließ uns keine Zeit zur Erholung: „Also, noch eine Runde!“ Sein suchender Finger und sein rasches Blättern führten ihn zu den nächsten Fragen wie in der ersten Runde auch, und wir spielten mit. Auch bei seinen wenigen Zwischenfragen blieben meine Freunde ihm keine Antwort schuldig. Dann war ich wieder der letzte in diesem Durchgang. Er schlug das Buch zu.

„Herr Weller, was sind chologene Durchfälle?“ Die Frage traf mich wie ein Keulenschlag. Den Begriff kannte ich nicht, und ich war mir sehr sicher, dass dieses Krankheitsbild nicht in unserem Lehrbuch stand.

Wie von einem grellen Blitzlicht beleuchtet schoß mir helfend ein Erlebnis meines Vaters durch den Kopf, das er mir prägend erzählt hatte. Seiner Gruppe war in der Inneren Medizin ein Wiederholer angehängt worden, der bei der ersten Prüfung durchgefallen war. Professor Bock, der frühere Direktor der Tübinger Medizinischen Klinik, fragte diesen Kollegen: „Stellen Sie sich vor, dort auf dem Sofa liegt ein bewusstloser Patient. Sie kommen dazu. Was machen Sie?“

Der Prüfling suchte das Sofa, das nur in der Phantasie des Professors existierte. Nach einer ganzen Weile, in der der Kandidat ratlos und nervös im Raum herumschaute und nach der Antwort suchte, fragte Professor Bock: „Herr Kollege, brauchen Sie ein Buch?“ Froh über den angebotenen Strohhalm griff der Prüfling danach: „Ja, bitte!“ Der Professor zeigte großzügig auf seine überdimensionale Bibliothek, die eine ganze Wand von oben bis unten füllte: „Alles steht zu Ihrer Verfügung!“ Der Prüfling stand auf und begann oben links zu suchen, während der Professor ruhig auf seine Uhr schaute. Nach einer Weile sagte Professor Bock: „Herr Kollege, jetzt sind fünf Minuten um. Der Patient ist tot. Wir brauchen Sie nicht mehr.“

Der Kollege verließ geschlagen den Raum, wohl wissend, dass er nicht nur in dieser Prüfung, sondern wegen der nicht bestandenen Wiederholung endgültig im ganzen Staatsexamen durchgefallen war.

Als die Tür wieder geschlossen war, ließ Professor Bock seinem Ärger freien Lauf: „Wir können keine Ärzte gebrauchen, die in einer Notsituation nicht reagieren und die sich ein solches Gedankenspiel nicht einmal vorstellen können! Ich hätte jede Variante eines Bewusstlosen mitgespielt. Er hatte alle Möglichkeiten, irgendeine Ursache für Bewusstlosigkeit anzunehmen! Selbst das Buch hätte ich ihm noch aus dem Schrank geholt, wenn er mir gesagt hätte, nach welchem er sucht. Denn dass er ´sein Buch´ in meiner riesigen Bibliothek nicht sofort findet, ist logisch!“

Mir war klar: Ich musste mein Wissen um diese Frage herum einsetzen, wenn ich das Zentrum der Frage nicht beantworten konnte. Jetzt war ich hellwach und voll einsatzfähig. Dies war die Stunde der Wahrheit.

Ich begann bedächtig und scheinbar überlegen: „Also chologen bedeutet, dass es von dem griechischen Wort chole = die Galle  kommt. Die Durchfälle werden von der Gallenflüssigkeit hervorgerufen.“ Das war doch ein guter Einstieg.

„Richtig,“ meinte Professor Eggstein, „und wie funktioniert das?“ Ich holte Luft, packte mein ganzes biochemisches und pathophysiologisches[1] Wissen über die Gallensäuren und Erkrankungen der Gallenblase aus und leitete eine Ursachenkette her, die in sich logisch und von deren Richtigkeit ich überhaupt nicht überzeugt war. Ich machte einige Randbemerkungen über verwandte Krankheiten und deren Therapien und versuchte, so viel Wissen wie möglich in meine Antwort hineinzufügen.

Nach einer ganzen Weile beendete ich meine Ausführungen mit einem zusammenfassenden Satz. Wie würde der gestrenge Prüfer reagieren? Ich spürte, dass ich inzwischen schweißnasse Hände und am Rücken ein feuchtes Hemd hatte, und mein Herz raste.

Professor Eggstein lächelte zum zweiten Mal an diesem Abend: „Also, Herr Weller, ich habe gleich gemerkt, dass Sie es nicht wissen, aber es hat mir imponiert, dass Sie sich nicht haben drausbringen lassen. Es war gut, wie Sie Ihr umfassendes Wissen benutzt haben, um die Antwort zu erklären. Die biochemische Kette war in sich völlig logisch, aber Sie sind ganz oben in der Kette in die falsche Stelle eingestiegen. Alles, was Sie über andere Krankheiten erzählt haben, war auch folgerichtig, deshalb weiß ich jetzt, dass Sie logisch und umfassend  medizinisch  und pathophysiologisch denken und kombinieren können, und das ist mir am wichtigsten.

Ich erkläre es Ihnen kurz: Gallensäuren sind hygroskopisch, also wasseranziehend, und wenn der Mensch zu viele Gallensäuren produziert und in den Dünndarm ausscheidet, ziehen sie viel Wasser aus dem Darm und dem umgebenden Gewebe nach sich und verursachen so sehr wässrige Stühle. Chologene Durchfälle sind sehr selten, deshalb habe ich danach gefragt.“

Ach, du meine Güte, das war ja einfach, und ich hatte im Vergleich dazu eine riesige Geschichte hergeleitet! Wie würde Professor Eggstein jetzt weitermachen? Noch eine Fragerunde oder Schluss der Prüfung? Er schaute auf die Uhr: „Oje, schon elf! Machen wir Schluss! Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen allen eine Eins gebe und Sie freundlich rauswerfe, damit wir endlich alle nach Hause kommen?“ Erleichtert stimmten wir zu: „Ja gerne! Danke!“ Wir waren uns natürlich einig: mit der Eins und dem freundlich gemeinten Rauswurf. Wir verabschiedeten uns in guter Stimmung, weil die Prüfung zwar schwierig aber doch sehr sachlich, fair und wesentlich schneller vorüber war als sonst üblich.

Als wir schon die Tür geöffnet hatten und dabei waren hinauszugehen, sah ich, wie Professor Eggstein aus seinem überquellenden Papierchaos auf dem großen Schreibtisch zwischen unzähligen Blättern von losem Papier mit spitzen Fingern ein Dia hervor zog und begeistert ausrief: „Halt, noch eine Frage!“

Wir erschraken! Noch eine Falle?! Was kommt jetzt? Aber da sahen wir sein freundliches Gesicht und hörten, wie er ganz interessiert berichtete: „Heute morgen habe ich ein ganz tolles Dia bekommen, das ich neulich aufgenommen habe. Das will ich Ihnen noch zeigen. Sie verstehen das. Also, keine Angst, die Prüfung ist vorbei, Sie bekommen Ihre Eins, aber trotzdem außer Konkurrenz die Frage: Wer weiß, was das ist?“

Jeder von uns schaute das Bild an, gegen das ungemütlich kalte Licht an der Decke gewandt. Ich sah verwaschene Strukturen, die ich nicht zuordnen konnte. Vielleicht innere Organe? Aber welche? dachte ich und reichte das Dia kopfschüttelnd weiter. Der Professor hatte ja keinerlei Angaben zu der Art der Aufnahme oder dem Patienten gemacht. Drei aus unserer Gruppe wussten keine Antwort. Nur Hami, unser Spezialist für die extrem seltenen Krankheitsbilder, sagte fast sicher und ohne wesentliches Zögern: „Ist das ein Cruveilhier-Baumgarten-Syndrom[2]? Dann müsste es eine Laparoskopie-Aufnahme des Nabels bei Ascites sein, bei der von innen gegen die Bauchwand geschaut wird.“

Professor Eggstein war total überrascht und begeistert über diesen Volltreffer und zeigte seine ehrliche Anerkennung sofort: „Was, das erkennen Sie?! Es ist ja phantastisch! Ich hätte nicht gedacht, dass einer von Ihnen diese Diagnose rauskriegt! Das habe ich hier auch zum ersten Mal im Leben gesehen!“ Er war sichtlich hocherfreut, gar nicht mehr der strenge Professor, sondern der faszinierte Entdecker einer Seltenheit, der sich an der Kennerschaft eines Kollegen mitfreute. Ich war schon beruhigt, dass ich das Syndrom, auch wieder eine „Fußnote“ in unserem Gross-Jahn, genau hätte erklären können, aber ich habe es auf dem Bild nicht identifiziert.

„Also, raus jetzt!“ lachte Professor Eggstein und öffnete die Tür: „Gute Nacht, und weiter alles Gute bei den nächsten Prüfungen!“ Er schickte uns mit einem wohlgemeinten Gruß nach Hause.

Bei aller Erleichterung, diese schwierige Hürde der Prüfung so gut überwunden zu haben, waren wir in unserer Freude sehr aufgewühlt und konnten nicht einfach ins Bett gehen und schlafen. Also schlug ich vor, zu mir zu fahren, denn meine Wirtin war wie oft schon in den Jahren davor für einige Wochen zu Bekannten nach Lübeck gereist, und da durften mein Zimmernachbar Helge und ich auch das große Wohnzimmer benutzen. Das wollten wir heute zur Feier des Tages auch nützen.

Als wir dort ankamen, telefonierte ich trotz der vorgerückten Stunde meinen Eltern, um ihnen von der nächtlichen Prüfung zu berichten. Sie waren noch wach und freuten sich mit uns. Dann öffneten wir die Weinflasche und genossen unseren Sieg, der ja eigentlich nur ein Etappensieg war, denn die meisten der Prüfungen standen uns noch bevor.

Als wir gerade dabei waren, uns noch einmal die Geschichte dieses Nachmittags und Abends zu erzählen, klingelte das Telefon, ich hob ab, und meine Mutter sagte: „Ich will euch nur berichten, dass der Vater so begeistert war von eurer Geschichte, dass er aufgestanden ist und gesagt hat: ´Mit denen muss ich jetzt feiern, da fahr´ ich hin.´ Dann ist er in den Keller gegangen und hat ein paar Flaschen Wein hoch geholt, ein großes Stück Käse eingepackt und einen Laib frisches Brot, den er heute von einem Bauern geschenkt bekommen hat. Jetzt ist er unterwegs zu euch. Er will mit euch ein Viertele trinken und dann wieder heimkommen. Ihr könnt noch nicht ins Bett gehen! Er ist in etwa zwanzig Minuten bei euch!“

Tatsächlich fuhr mein Vater durch die Nacht zu uns, und wir empfanden es wie ein willkommenes Fest, als er hereinkam, seine Gaben auf den Tisch stellte und mit Blick auf die mitgebrachten Weinflaschen schmunzelte: „Ihr müsst sie ja nicht alle sofort austrinken!“ Wir freuten uns, dass er bei uns saß und wir unsere Geschichten erzählten und ihm bei seinen Erinnerungen zuhörten. Nebenbei konnten wir unseren Hunger und Durst stillen. Und das im Holzofen gebackene, würzige Bauernbrot mit der knusprigen Rinde und der frischen Butter, dazu der gespendete Württemberger Trollinger und der große Laib Käse aus jener Nacht sind mir immer noch als Delikatesse in lebhafter Erinnerung. Es wurde für uns eine fröhliche Nacht, auch als mein Vater nach seinem Viertele -oder waren es vielleicht doch zwei?- nach Hause aufgebrochen war.



[1] Pathophysiologie: die Lehre von den krankhaften Stoffwechselvor-
gängen

[2] Nach den Entdeckern benannte Form der Leberzirrhose, die mit an
geborenen offenen Nabelvenen im Bauchraum bei sonst normalem
Nabel verbunden ist. Diese Venen verschließen sich normalerweise
nach der Geburt und stellen in der geschilderten Kombination eine
extreme Rarität dar, die nur bei Operationen oder einer Bauchspie-
gelung (= Laparoskopie) gefunden werden kann. Sehr häufig ent-
steht bei einer fortgeschrittenen Leberzirrhose eiweißhaltiges Was-
ser im Bauch (= Ascites). Es war also, wie wir Ärzte salopp sagen,
eine „Unterwasseraufnahme“ im Bauchraum.

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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Die Eigenschaften der bösartigen Tumoren

Es kann sein, dass man vor lauter Eulen die eigene Eule nicht sieht, wenn man sie nach Athen tragen soll. Das erlebte ich in der Pathologieprüfung im Staatsexamen. Auch hier war die intensive Fragestunde schon fast vorbei, und wir spürten, dass alles unproblematisch lief. Da fragte mich der Professor: „Was sind denn die wesentlichen Kennzeichen eines bösartigen Tumors?“

In der Pathologie ist dies eine umfangreiche und wichtige Frage. Einerseits konnte ich froh sein über eine sowenig einschränkende Frage, denn ich konnte vorerst selbst bestimmen, über welche der Eigenschaften ich reden wollte. Andererseits braucht man zur guten Beantwortung eines solch weit gestellten Themas eine klare Gliederung im Kopf, um sich nicht in der Weite des Feldes zu verirren.

Aber ich war mir sicher und begann. Ich sprach eine ganze Weile konzentriert und nach einem, wie ich meinte, übersichtlichen Schema. Nachdem ich alle wichtigen Details so gut ich konnte dargestellt hatte und noch einmal über die Vollständigkeit meiner Ausführungen nachdachte, meinte der Professor: „Sie haben alles ganz richtig erklärt. Sie haben auch alle wichtigen Gesichtspunkte beschrieben – bis auf einen sehr wichtigen, den bekanntesten. Sagen Sie mir nur das Stichwort zur Vollständigkeit.“

Ich war verblüfft, wiederholte in Gedanken noch einmal meine verschiedenen „Überschriften“, die ich besprochen hatte, und fand das fehlende Stichwort nicht. Der Professor wollte mir helfen und sagte schließlich: „Ich weiß, dass Sie es wissen, weil Sie es vorhin bei einer ganz anderen Frage besprochen haben. Ich dachte nur, Sie könnten es in diesem Zusammenhang noch einmal erwähnen. Es ist nicht schlimm, wenn Sie jetzt nicht draufkommen, aber ich denke, es ist wichtig, dass bösartige Tumoren Metastasen[1] bilden!“

Das Einfachste, Wichtigste hatte ich vergessen zu sagen, die Eigenschaft, die jeder Laie sofort auf Anhieb weiß.

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.


[1] Tochtergeschwülste

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Asozial?

Bis zu diesem Tag war ich der Meinung, dass Medizinstudenten sich selbstverständlich taktvoll benehmen und wissen, was sich gehört. Aber mir stand wieder eine Lektion bevor.

In einer Vorlesung sprach der Direktor der Frauenklinik in Mannheim, Herr Professor Stoll, über die gynäkologische Problematik und Versorgung von Frauen, die viele Kinder haben. „Der Begriff viele Kinder“, so erklärte er, „ist definiert. Das bedeutet in der Medizin und Soziologie in den Industrieländern drei oder mehr Kinder.“

In diesem Moment zischte es scharf im Hörsaal. Die Köpfe flogen herum. Ich begriff gar nicht, warum an dieser Stelle des Vortrags jemand auf die Idee kommen konnte, sein Missfallen so deutlich zum Ausdruck zu bringen. Was war denn an diesem Satz abzulehnen?

Professor Stoll stutzte einen Moment, schaute in die Runde, suchte wohl den Störenfried und sagte ruhig und interessiert: „Warum zischen Sie?“ Da kam aus dem Auditorium von einem Studenten die scharfe Antwort: „Viele Kinder zu haben, ist asozial!“

Der Professor wurde blass und konnte sich ganz offensichtlich nur mühsam beherrschen. Sein Gesicht fror ein. Seine rechte Hand umklammerte die Tafelkreide, und die angespannte Haut über den Knöcheln wurde leichenweiß. Ich bemerkte, wie er blitzschnell seine Reaktion überlegte.

Nach einer Schrecksekunde nagelte er den Studenten mit einem durchdringenden Blick auf den Sitz und sagte, jedes Wort betonend: „Herr Kollege, ich habe sechs Kinder! Halten Sie Ihre Behauptung aufrecht, dass ich asozial bin?“

Wir alle im Hörsaal waren geschockt von der Peinlichkeit der Situation und der Dreistigkeit des Kollegen. Auch wir schauten ihn entsetzt an. Den unnachgiebigen Blick und die bedrohliche Stille, bei der wir das Surren einer Mücke hörten, konnte er wohl nicht aushalten. Mühsam stand er auf und verließ ohne Antwort den Raum.

Nach einer kurzen Weile sprach Professor Stoll über sein begonnenes Thema weiter, als sei nichts geschehen.

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

 

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Die Kochsalzlösung

Ein paar Tage danach gab es in der Physiologie[1] bei Herrn Dr. Pauschinger wieder so eine verblüffende Situation. Die Prüfung war hervorragend gelaufen. Auch schwierige und ausgefallene Fragen konnten wir gut beantworten.

Da sagte der Prüfer zu mir: „Stellen Sie sich mal vor, da stehen ein Topf mit Kochsalz und ein Topf mit Wasser. Sie haben eine Waage. Wie machen Sie physiologische Kochsalzlösung?“

Ich reagierte rasch: „Klar, das ist eine 0,9%-ige Lösung. Da nehme ich …“ und schon stand ich geistig an der Wand. Trotz mehrerer Versuche gelang es mir nicht, das leichte Gedankenspiel durchzuführen. Ich geriet diesmal nicht in Panik, aber verunsichert war ich sehr, weil ich wußte, wie leicht die Aufgabe eigentlich war und wie oft ich in Praktika solche und viel schwierigere Aufgaben im Handumdrehen gelöst hatte. Dr. Pauschinger lachte: „Na, das schaffen Sie nicht, das ist zu leicht für Sie! Es ist doch klar: 0,9 Pro-zent sind 0,9 pro hundert! 0,9 Gramm Kochsalz pro hundert Gramm Wasser oder 9 g Kochsalz auf 1000 g Wasser!“

Er nahm meine Blockade locker, lachte und sagte dann: „Jetzt stelle ich Ihnen wieder eine schwierige Frage, die kriegen Sie raus.“ Und so war es dann auch.

[1] die Lehre von den normalen (= gesunden) Vorgängen im Körper

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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