Herr Hassani

Der Anruf erreichte mich in der Sprechstunde. Eine der Stimme nach junge Frau mit gutem Deutsch und einem leichten arabischen Akzent stellte sich vor, sie sei Ägypterin und hier mit einem Deutschen verheiratet. Ihre Eltern seien vorgestern aus Kairo auf Besuch gekommen, und weil es dem Vater mit starkem Husten und Fieber so schlecht gehe, bitte sie mich, einen Hausbesuch zu machen. Ich stellte noch ein paar Fragen und versprach meinen Besuch unmittelbar nach der Sprechstunde.

Etwa eine Stunde später stand ich in der gepflegten Wohnung, wurde freundlich begrüßt und lernte die Familie kennen. Der Vater, ein untersetzter Herr etwa um sechzig Jahre alt, war Englisch- und Französischlehrer an einem Gymnasium in Kairo, und da er kein Deutsch sprach, nützte ich gerne die Gelegenheit, wieder Englisch zu sprechen, und deshalb hatten wir eine fließende Unterhaltung. Die Mutter sprach nur arabisch, aber Vater und Tochter übersetzten, was nötig war.

Tatsächlich war Herr Hassani, so will ich ihn für diese Geschichte nennen, von bedrohlich klingenden Hustenanfällen geschüttelt, die Schweißperlen standen auf seiner braunen Stirn, und die Angst sprang ihm aus den Augen, beim nächsten Hustenanfall keine Luft mehr zu bekommen. Es war auch für uns Zuschauende schlimm, ihm bei der qualvollen Husterei keine sofortige Linderung schaffen zu können. Jeder Hustenstoß produzierte zähen, gelben Eiter ins Taschentuch. Ein Griff an die Stirn des Patienten zeigte mir, daß er hohes Fieber haben musste. Die Thermometerkontrolle unter der Achsel bestätigte meine Vermutung: 40 Grad. Das Rasseln und Brodeln in seiner Lunge waren auch ohne Stethoskop bei jedem Atemzug deutlich hörbar. Eine gründliche Untersuchung bestätigte meinen Verdacht. Der Brustkorb war vorgewölbt und relativ starr wie bei einem typischen Emphysem: Die Lungenbläschen waren zu einem großen Teil kaputtgegangen, die Oberfläche für die Sauerstoffaufnahme war dadurch deutlich verringert, und der zähe Schleim konnte nicht mehr richtig abgehustet werden. Deshalb hatten sich die Bakterien darin kräftig vermehrt und Herrn Hassani eine typische Komplikation beschert, eine schwere eitrige, hochfieberhafte Emphysembronchitis. Auf dem Rücken fand ich einen fast handtellergroßen Tumor, der durch eine typische verstopfte Talgdrüse hervorgerufen war. Ich sprach darüber und empfahl Herrn Hassani gelegentlich eine operative Entfernung.

Aber jetzt stand die schwere Bronchitis im Vordergrund. Ich hatte in der Praxis vorsorglich Ärztemuster eines Antibiotikums und eines Schleimlösers eingesteckt, weil ich mir schon auf Grund der Schilderung am Telefon gedacht hatte, was Herrn Hassani plagt. Er war nicht über die Krankenkasse versichert, und ich wollte ihm mit den Medikamenten möglichst rasch helfen. Ich erklärte die Dosierung und die nötigen Verhaltensmaßregeln.

Ich ließ mich auf eine kurze Unterhaltung ein und erfuhr, dass Hassanis zum erstenmal in Deutschland waren und ihr Sohn in Kairo als Polizeiarzt arbeitete. Sie hatten sich sehr auf die Reise zur Tochter gefreut und planten, die ganzen Schulferien hier zu verbringen. Tochter und Schwiegersohn stellten Ausflüge in die nähere Umgebung in Aussicht und einen gemeinsamen Urlaub, während das Geschäft des Schwiegersohnes Betriebsferien hatte.

Jetzt waren alle Beteiligten sehr besorgt, ob der gemeinsame Plan auch verwirklicht werden könnte, wenn der Vater so schwer krank sei. Ich versuchte, die Aufregung von Frau Hassani und Ihrer Tochter und die verständlichen Bedenken zu mildern und meinte, es sei doch sehr wahrscheinlich, dass alles gut gehe, wenn die Medikamente wirken. Es würde ein paar Tage dauern, bis die Lunge wieder einigermaßen normal atmet, und morgen wollte ich wiederkommen. Ich wünschte eine gute Besserung und verabschiedete mich.

Am nächsten Morgen kam die Tochter überraschend in die Sprechstunde. „Ich wollte doch zu Ihrem Vater kommen,“ sagte ich interessiert. „Warum kommen Sie zu mir?“ Sie machte ein bedenkliches Gesicht: „Ich muss etwas besprechen, worüber ich im Beisein meiner Eltern nicht reden kann. Mein Vater hat die ganze Nacht nicht geschlafen, er hat weniger Fieber als gestern, und ich denke, langsam geht es ihm besser. Aber er macht sich große Sorgen und denkt darüber nach, sofort wieder nach Kairo zu fliegen. Glauben Sie, daß er so fliegen kann?“

Ich war sehr überrascht und sagte: „Ich kann gut verstehen, dass Ihr Vater sich Gedanken über seine Genesung macht, aber er kann hier genauso gesund werden wie in Kairo. Er ist bei Ihnen gut versorgt und bekommt seine Medikamente, ich schaue regelmäßig nach ihm, und seine Frau ist dabei. Ein Flug über ein paar Stunden in diesem Zustand wäre eine zusätzliche und unnötige Belastung. Warum will er denn unbedingt fliegen?“

Sie druckste ein bisschen herum, wusste wohl nicht, wie sie es sagen sollte, räusperte sich und rieb sich unsicher die Hände: „Ja, wissen Sie, er denkt eben, er sei hier eine Last, und er weiß nicht, ob sein Geld reicht für den langen Aufenthalt.“

Jetzt hatte ich begriffen und steuerte direkt auf meine Vermutung zu: „Darf ich mal raten? Ich denke, das Problem ist: Ihr Vater hat Angst vor meiner Rechnung, weil er nicht weiß, wie hoch sie wird, wenn ich ein paar Hausbesuche bei ihm mache. Und er will rasch nach Hause, um sein Budget nicht zu überlasten. Stimmt´s?“

Ich schaute sie fragend an. Sie nickte und sagte mit deutlich erleichtertem Unterton: „Ich bin ja so froh, dass Sie das gleich verstanden haben.“

Ich war schnell entschlossen: „So etwas habe ich mir schon gedacht. Also, dann sage ich Ihnen jetzt meinen Lösungsvorschlag für das Problem.“ Sie schaute mich überrascht an. Ich sprach weiter: „Ich gebe Ihrem Vater etwas, was er dringend braucht und ich leicht geben kann, nämlich mein Wissen, ein paar Hausbesuche und ein paar Medikamente, die ich von den Pharmafirmen geschenkt bekommen habe. Und er …“

Weiter kam ich nicht, sie unterbrach mich sofort: „Herr Doktor, das wird er nie annehmen! Mein Vater ist sehr stolz und wird sich nicht einfach etwas schenken lassen, auch wenn Sie es gerne tun und er es dringend braucht. Er würde lieber sofort abreisen!“

Ich lächelte zustimmend: „So habe ich ihn auch eingeschätzt. Deshalb möchte ich Ihnen ja auch einen Vorschlag machen. Damit er eine Chance hat, mein Geschenk anzunehmen, bitte ich ihn im Tausch um etwas, was er mir leicht geben kann und was ich schon lange haben möchte, aber hier nicht bekomme.“

„Ja, aber gerne! Sie bekommen alles, was Sie wollen!“ Die Tochter von Herrn Hassani war sofort begeistert, rutschte im Sessel etwas nach vorn und war ganz aufmerksam, was jetzt das Problem ihres Vaters lösen könnte.

Ich erklärte es ihr: „Ich wünsche mir seit vielen Jahren ein Papyprus mit ägyptischen Motiven darauf. Die alte ägyptische Geschichte interessiert mich schon lange, und ich weiß von Freunden, die schon bei den Cheops-Pyramiden waren, dass solche Bilder dort in kleinen Werkstätten gemalt und an Touristenständen verkauft werden. Wenn Ihre Eltern nach dem Urlaub zu Hause sind, könnte mir Ihr Vater solch ein Bild schicken. Ich weiß, das kostet nicht viel, und ich habe ein Andenken an ihn und ein Bild für meine Sammlung.“

Die Tochter reagierte sofort: „Herr Doktor, das ist eine großartige Idee, ich werde gleich nachher zu Hause meinen Bruder in Kairo anrufen und ihn bitten, die Bilder mit dem nächsten Flugzeug zu schicken. Sie bekommen viele Bilder!“ Mein Gast war sichtlich erleichtert, den Aufenthalt für den Vater auf so geschickte Weise retten zu können.

Ich sagte lachend: „Bitte nur ein einziges Bild. Ich habe noch einen anderen Wunsch. Ich würde gerne ein Ankh-Kreuz haben. Sie wissen doch sicherlich, was das ist?“

„Ja, ja,“ meinte sie, „das ist doch dieses Zeichen der alten ägyptischen Heiler, der Kreis, der die Sonne repräsentiert und darunter das nach unten zeigende Kreuz, das die Sonnenstrahlen darstellt, die auf die Erde gerichtet sind. Meinen Sie das?“

„Ja, genau!“ sagte ich. „Ich weiß, dass dieses Kreuz schon auf den alten Hieroglyphenbildern in der Hand des ältesten bekannten ägyptischen Heilers Imhotep gezeichnet wurde. Und weil er das Zeichen an dem Ring oben hielt, heißt es auch Henkelkreuz. Diesem Kreuz wurde zu alten Zeiten magische heilende Kraft zugeschrieben. Es ist eines der ältesten Symbole der Ärzte.“ Ich machte ein kurze Pause und fuhr dann fort: „Ich weiß, dass es heutzutage in Ägypten aus Messing hergestellt und überall an den Souvenirständen verkauft wird. Wenn Sie mir solch ein Kreuz besorgen könnten, würde ich mich sehr freuen. Und dann hätte Ihr Vater eine Möglichkeit, mir eine Gegenleistung zu geben und hier zu bleiben wie geplant. Meinen Sie, dass er diesen Vorschlag annehmen kann?“

Sie antwortete froh: „Aber ja, ganz sicher! Ich werde ihm sofort von Ihrer Idee erzählen, wenn ich zu Hause bin, und er wird sich bestimmt riesig freuen über Ihr großzügiges Angebot. Aber das ist doch nicht genug für Ihre Leistung. Was möchten Sie noch?“

Ich schüttelte den Kopf und lachte: „Nichts! Wenn ich einen praktischen Beitrag zur Völkerverständigung leisten kann, ist das in Ordnung für mich. Vielleicht komme ich ja mal nach Kairo, dann lasse ich mich gerne von Ihrem Vater durch die Stadt führen. Aber hier möchte ich nichts anderes. Würden Sie ihm das so ausrichten?“

Sie verabschiedete sich erleichtert, und ich war zufrieden, so rasch eine gute Lösung für alle Beteiligten gefunden zu haben. Als ich ein paar Stunden später Herrn Hassani besuchte, war er hocherfreut, dass ich ihm eine für ihn annehmbare Möglichkeit geschaffen hatte, sein Gesicht zu wahren und in Deutschland zu bleiben. Er bedankte sich überschwenglich und war offensichtlich sehr befreit. Auch seine Lunge schien sich deutlich zu bessern. Nach ein paar Tagen sagte er: „Ich bin glücklich, daß ich wieder gut atmen kann!“

Inzwischen hatte der Sohn von Herrn Hassani per Luftpost die Bilder mit mythologischen Motiven und ein handtellergroßes Ankh-Kreuz geschickt. Die Gaben wurden mir feierlich überreicht. Ich freute mich sehr und bedankte mich herzlich.

Herr Hassani und seine Frau genossen den Aufenthalt. Nach ein paar Wochen standen sie eines Morgens in der Praxis, und er berichtete mir, die Talgdrüse am Rücken habe sich entzündet, ob ich denn da etwas machen könne. Ich schaute mir den Rücken an und sagte, der Abszess sei so reif, dass ich ihn aufschneiden müsse. Wir müssten eben tägliche Verbandswechsel machen. Herr Hassani war einverstanden und ließ die etwas schmerzhafte Prozedur über sich ergehen. Aus dem Abszess entleerte sich viel Eiter, und ich schälte die Talgdrüse gleich mit heraus. In den folgenden Tagen heilte die Entzündung gut ab, und Herr Hassani war sehr zufrieden, wieder ohne Schmerzen auf dem Rücken liegen zu können.

Als er zwei Tage vor seinem Rückflug nach Kairo zum letzten Verbandswechsel kam, verabschiedete er sich von mir. Er dankte mir für meine großzügige und sehr gute Behandlung, die ich als ganz selbstverständlich empfand, und lud mich ein, ihn und seine Frau jederzeit in Kairo zu besuchen. Sein Sohn sei auch gerne bereit, mir Krankenhäuser und andere ärztliche Institutionen zu zeigen, die mich interessieren.

Als ich seiner Frau die Hand gab, um sie zu verabschieden, ging sie vor mir auf die Knie und küsste meine Hand. Ich war erschrocken, weil ich solche Demutsgebärden nicht gewohnt bin und nicht damit gerechnet hatte. Ich bat sie, wieder aufzustehen und half ihr dabei. Sie schaute mich an und sagte mit ernster Stimme etwas auf Arabisch. Ich bat die Tochter um eine Übersetzung. Sie sagte: „Meine Mutter hat gesagt: `Ich danke meinem Gott, dass er meinen Mann zu Ihnen geschickt hat, und ich bitte ihn, daß er mir zehn Jahre meines Lebens nimmt und sie Ihnen schenkt.´“

Als ich das verstanden hatte, standen mir die Tränen in den Augen, und ich war sehr betroffen. Ich konnte eine ganze Weile nichts sagen. Dann verabschiedeten wir uns herzlich.

Ein paar Jahre später erfuhr ich, dass Herr Hassani inzwischen in Kairo verstorben war. Leider war ich bis heute nicht in Ägypten, aber dieses Land bleibt in meinen Gedanken mit der Familie Hassani verbunden.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Die Geschichte habe ich ihn dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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Ungewöhnlicher Flug nach New York

Auch ein erfahrener Arzt wird bei seiner Arbeit öfters mit unerwarteten Bitten konfrontiert. Das kann sehr schön, angenehm, aufregend, ärgerlich und vieles andere mehr sein. Und so ist jeder Tag eine mögliche Quelle für prägende Erfahrungen. Diesen Vormittag jedenfalls werde ich nie vergessen, denn er brachte ein großzügiges Angebot mit sich. Doch langsam, der Reihe nach!

Frau Lang war eine über achtzigjährige und noch sehr rüstige Dame, die ich seit vielen Jahren als Hausarzt betreut hatte. Sie litt an einer Herzkranzgefäßerkrankung und zu hohem Blutzucker. Regelmäßig verbrachte sie einige Monate im Jahr bei ihrer Tochter und deren Familie in Stamford etwa achtzig Kilometer nördlich von New York im Bundesstaat Connecticut. Die Tochter ist dort seit vielen Jahren mit einem amerikanischen Rechtsanwalt verheiratet, und sie arbeitet als Juristin bei einem US-Konzern. Häufig, wenn die Tochter die Mutter in Deutschland besuchte, kam sie in meine Praxis, und wir sprachen über den Gesundheitszustand der Mutter.

Eines Tages musste ich die Mutter in die Klinik einweisen, und ich benachrichtigte telefonisch die Tochter in den USA. Nachdem es Frau Lang bald schon wieder besser ging, stand eines Morgens Frau Lang-Carter, die Tochter also, in der Praxis. Nach der Begrüßung sagte sie gut gelaunt: „Sie haben doch bestimmt nächste Woche nichts zu tun und Lust, mit meiner Mutter und mir nach New York zu fliegen, oder nicht?“

Ich war sehr verblüfft über die unerwartete Wendung des Gespräches und vermutete zuerst einen Scherz. Aber nein: Frau Lang-Carter bestand darauf, sie meine es ernst. „Meine Mutter kann aus der Klinik entlassen werden, und ich bin jetzt gekommen, um sie mit nach Amerika zu nehmen, damit sie in Deutschland nicht in ein Pflegeheim gehen muss. Da kennt sie doch niemanden. Und Sie haben ja auch am Telefon gesagt, dass das eine gute Lösung wäre.“

Ich stimmte zu und fragte interessiert: „Und warum brauchen Sie mich dazu?“ „Well,“ sagte Frau Lang-Carter, „ich habe mich bei der Delta Airlines nach den Bedingungen erkundigt, unter denen meine Mutter fliegen kann. Der Leiter des Flugmedizinischen Dienstes hat mit dem Kardiologen in der Klinik telefoniert und ist einverstanden, sie in einer Linienmaschine mitzunehmen, wenn ein Arzt dabei sei, der sie notfalls im Flugzeug versorgen kann.“

Sie beobachtete meine Reaktion. Ich hörte aufmerksam zu und begann in Gedanken, in meinem Terminkalender zu blättern.

„Well,“ sagte sie lächelnd, „und jetzt denke ich, Sie sollten mitfliegen. Ich lade Sie ein, Sie können gerne zwei Wochen bei uns Ferien machen. Dann lohnt sich der Flug. Wir geben Ihnen eines von unseren Autos, damit Sie die Umgebung anschauen können, wenn mein Mann und ich arbeiten. Was halten Sie davon?“

Nachdem ich meine erste Verblüffung überwunden hatte, sagte ich: “Nächste Woche habe ich tatsächlich Urlaub geplant und mir noch nichts vorgenommen. Das Angebot ist sehr reizvoll, eigentlich würde ich es gerne annehmen.“

Sie lachte: „Well, dann fliegen wir zusammen! Ich werde 1. Klasse buchen, das ist für Mutti am bequemsten. Wir haben noch drei Tage für die Vorbereitungen. Meine Mutter wird sich freuen, zu Ihnen hat sie ja großes Vertrauen.“

Ich dachte noch einmal darüber nach, dann willigte ich ein, aber ich würde nur eine Woche Zeit haben. Wir besprachen die wesentlichen Details, die ich zu erledigen hatte, und ich machte mir Notizen. Ich müsse unbedingt mit dem Kollegen von der Fluglinie reden und mit dem Kardiologen in der Klinik. Dann brauchte ich die aussagekräftigsten Krankenunterlagen aus meinem Archiv und aus der Klinik für den Hausarzt in Stamford, der Frau Lang dort bis jetzt immer betreut hatte. Einen Notfallkoffer mit allen Medikamenten und Geräten müsste ich mir in einem möglichst kleinen Koffer zusammenstellen, den ich als Handgepäck im Flugzeug unter den Sitz stellen konnte.

Wir vereinbarten, dass sich Frau Lang-Carter um die Tickets und den Transport der Mutter vom Krankenhaus auf den Flugplatz kümmern würde. Und ich wollte die medizinische Versorgung sichern. Nachdem wir die wichtigsten Dinge beredet hatten, verabschiedeten wir uns.

Als ich mit der Sprechstunde fertig war, begann ich mit meinen Telefonaten. Der Kollege vom Medizinischen Dienst der Luftfahrtgesellschaft in Frankfurt klärte mich auf: „An Bord unserer Langstreckenmaschinen gibt es keine Apparaturen zur Wiederbelebung und keine Infusionspumpen. Das müssen Sie mitbringen. Aber sonst helfe ich Ihnen gerne, alles zu organisieren.“ Ich wollte die Gelegenheit nützen, mich auch über seine Maßnahmen genau zu informieren und bat ihn, mir ein bisschen mehr über seine geplanten Aktivitäten zu erzählen.

Er erklärte mir bereitwillig: „Wir werden ausrechnen, wie viel Sauerstoff Sie maximal verbrauchen, wenn Sie der Patientin auf dem ganzen Flug dauernd Sauerstoff geben müssen. Diese Menge werden wir rechtzeitig von Atlanta nach Stuttgart in Ihre erste Maschine und zu dem Flugzeug nach Amsterdam bringen, mit dem Sie von dort nach New York fliegen. Die Sitzplätze um Sie herum werden wir entsprechend buchen, denn Sie brauchen zwei Meter Sicherheitsabstand zu den Rauchern, wenn der Sauerstoff benützt wird.“ Dann ergänzte er beiläufig: „Übrigens haben Sie Glück, dass Sie Ihre Patientin über Island und Grönland und nicht über Zentralafrika transportieren.“

Diese Bemerkung verstand ich nicht. Ich fragte nach: „Wieso das denn?“

„Na ja,“ meinte er trocken, „wenn die Frau sterben sollte und Sie offiziell den Tod feststellen, ist der Pilot verpflichtet, sofort den nächsten Flugplatz anzufliegen, Sie mit der Leiche dort rauszusetzen und gleich weiterzufliegen. Jede Minute, die er auf einem fremden Flugplatz verbringt, kostet die Fluggesellschaft viel Geld, besonders wenn der Aufenthalt unangemeldet ist. Dafür können Sie haftbar gemacht werden, wenn Sie nicht nachweisen können, dass sie an dem plötzlichen Tod unschuldig sind. Und wie wollen Sie das nachweisen?“ Er bemerkte meinen Schweißausbruch nicht und redete unbekümmert weiter:

„Aber zuerst wandern Sie sowieso in Nigeria oder Uganda oder sonstwo im Busch in den Knast, und da geht´s ja nicht gerade zu wie im guten Hotel. Und bis man Sie dort wieder rausgeholt hat, vergehen in ein paar Wochen.“

Da war ich doch sehr verblüfft. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und fragte: „Können Sie mir das mal so erklären, dass ich die Zusammenhänge verstehe? Wieso sperrt man mich denn da ein?“

„Na klar,“ sagte er, „wenn Sie unangemeldet mit einer Leiche auf dem Flugplatz erscheinen, stehen Sie zuerst mal unter Mordverdacht, und deshalb werden Sie eingesperrt, und dann dürfen Sie das Gegenteil beweisen. Wie können Sie beweisen, dass Sie die Frau nicht umgebracht haben? Sie ist doch im Flugzeug unter Ihren Händen gestorben!“

„Ach du meine Güte,“ sagte ich erschrocken, „das sind ja herrliche Aussichten, und wie geht das, wenn wir über Island und Grönland fliegen und die Patientin auf dieser Route sterben sollte?“

„Ach,“ meinte er beruhigend, „da wirft Sie der Pilot zwar auch auf dem nächsten Flughafen raus, aber da geht´s zivilisierter zu. Sie haben eben nur viele Scherereien und zahlen im härtesten Fall die Flughafengebühr, das sind wenigstens 10.000 DM.“ Er machte eine Kunstpause, und ich fühlte, wie ich anfing zu frieren. Dann redete er beschwichtigend weiter: „Sie müssen nur wissen: Wenn die Patientin tief schläft, und Sie ihren Schlaf bewachen, bringt der Pilot Sie nach New York! Vielleicht erkennen Sie den Tod eben gerade erst dann, wenn New York der nächste Flughafen ist. Erkennen Sie, was ich Ihnen vermitteln will?“

Ich lachte: „Also jetzt habe ich die Botschaft verstanden. Vielen Dank, das war klar. Ich werde mich bemühen, die Patientin lebend in die USA zu bringen.“

Er brachte noch ein unerwartetes Thema in die Unterhaltung: „Außerdem schicke ich Ihnen sofort eine Bescheinigung, die Ihnen erlaubt, die Medikamente und Geräte an Bord nehmen und benützen zu dürfen. Das ist wichtig, weil Sie Infusionspumpen und Morphium-Ampullen mitnehmen wollen. Es wäre peinlich, wenn Sie die Flughafenpolizei gleich wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz festnimmt.“

„Oje,“ sagte ich verblüfft, „an solch ein Papier habe ich gar nicht gedacht, aber Sie haben Recht. Ich darf ja keine Betäubungsmittel ausführen.“ Ich bedankte mich für seine guten Ratschläge und die Hilfsbereitschaft, und wir verabschiedeten uns.

Der Kardiologe aus der Klinik, den ich schon lange kannte, klärte mich auf, Frau Lang gehe es sehr gut, mit Komplikationen sei voraussichtlich nicht zu rechnen. Wir besprachen die nötigen Medikamente, und ich besorgte mir zwei tragbare Infusionspumpen, die batteriebetrieben sein mussten, denn an Bord gab es in der Passagierkabine keine Steckdosen. Das wusste ich von dem Kollegen der Delta Airlines. Am Abend vor dem Abflug stellte ich mir das Intubationsbesteck[1], den Beatmungsbeutel und die richtigen Spritzen zusammen. Ich bereitete die Infusionsmischungen vor und legte eine gefüllte Spritze in die Pumpe, sodass ich nur noch auf den Startknopf drücken musste, wenn die Kanüle in der Vene liegt. Zur Sicherheit wechselte ich die Batterien im Gerät gegen neue aus. Ich spielte in Gedanken verschiedene Notfälle durch und versuchte, meinen Handkoffer optimal so zu packen, dass ich alles möglichst schnell griffbereit haben würde, wenn´s wirklich drängt.

Der Gedanke, eine vollständige Notfallversorgung im Flugzeug allein durchführen zu müssen, verursachte mir ein sehr unangenehmes Gefühl. Ich war mir klar darüber, dass die realen Chancen von Frau Lang bei einem Herzstillstand trotz sofortiger Hilfe gering waren, weil so viele Handgriffe gleichzeitig erfolgen müssen, dass ich es allein kaum schaffen würde, rasch genug alles machen zu können. Aber ich half mir mit dem alten Spruch, den ich während meiner Schulzeit in England gelernt hatte: „Man muss den Schirm mitnehmen, damit man ihn nicht braucht.“ So packte ich froh gelaunt alles ein und hoffte, dass ich es nicht benützen müsste.

Ich hatte Frau Lang-Carter darum gebeten, dafür zu sorgen, dass ihre Mutter für den Flug eine kurzärmelige Bluse mit Jacke anzieht. Diese könnte ich rasch öffnen und das Herz abhorchen und in die Ellenbeuge eine Injektion geben oder an den Unterarm eine Infusion anlegen.

Für den Tag des Fluges hatten wir verabredet, Frau Lang in der Klinik abzuholen und mit dem Roten-Kreuz-Wagen liegend zum Flughafen zu transportieren. Dann hätte sie eine optimale Begleitung. Ich wollte auch ihre körperliche Belastung so gering wie möglich halten, um den Sauerstoffbedarf auf ein Minimum zu reduzieren.

Als Frau Lang-Carter und ich an dem Morgen in das Krankenzimmer in der Klinik kamen, stand die alte Dame gut gelaunt und rosig bereit. Ihr Koffer war gepackt, sie musste nur noch die Jacke anziehen. Ich sah beruhigt, dass sie wie vereinbart eine kurzärmelige Bluse mit einer vorderen Knopfleiste trug. Die Rote-Kreuz-Fahrer erschienen pünktlich. Wir brachten Frau Lang im Rollstuhl zum Wagen, legten sie dort auf die Liege und fuhren zum Flugplatz.

Im Flughafen stand ein Rollstuhl bereits am Eingang bereit. Frau Lang-Carter und die Delta Airlines hatten alles hervorragend geplant. Und Frau Lang freute sich auf den Flug, den sie auch in früheren Jahren immer so genossen hatte. Jetzt war sie begeistert, dass ich mitflog, das gab ihr zusätzlich ein gutes Gefühl.

An dem Sitzplatz in der Ersten Klasse hatten die Techniker am Boden die Sauerstofflaschen befestigt. Die Nasenbrille, durch die der Sauerstoff fließt, lag steril verpackt auf dem Sitz. Weiträumig um uns herum waren die anderen Sessel nicht besetzt. Für den Start und auf dem Weg nach Amsterdam gab ich Frau Lang genügend Sauerstoff, um sie richtig „aufzutanken“. Frau Lang sah nur krank aus, wenn sie ihre Nasenbrille aufhatte. Ansonsten machte sie einen genau so gesunden Eindruck wie alle anderen Passagiere.

In Amsterdam wurden wir sofort in die nächste Maschine geführt und erhielten einen Platz in der Business Class, weil dort weniger Sitze reserviert waren als in der Ersten Klasse. Auch lagen die Sauerstoffflaschen schon bereit.

Nach dem Abflug in Amsterdam mit zusätzlichem Sauerstoff in die Nase und einem Drink in den Mund baten wir unsere vergnügte und zufriedene Frau Lang, sich bequem zurückzulegen und sich zu entspannen. Frau Lang-Carter und ich hatten vereinbart, unsere Patientin so gut wie irgend möglich auf natürliche Weise zu beruhigen und überhaupt keine Probleme spüren zu lassen, damit sie sich nicht aufregt und das Herz möglichst wenig beansprucht wird. Frau Lang war mit einem Schläfchen einverstanden und schlummerte bald. Ich beobachtete beruhigt, wie sie gleichmäßig atmete und ihre Haut rosig durchblutet war.

Eine ganze Weile später wachte sie wieder auf, und wir aßen gemeinsam. Frau Lang verspeiste mit gutem Appetit das leckere Mahl und freute sich an der unkomplizierten Reise. Wir genossen gemeinsam die wunderbaren Gletscher- und Schneebilder über Labrador und einen herrlichen Anflug auf New York.

Als die Maschine auf der Rollbahn des John F. Kennedy-Airports aufsetzte, spürte ich meine große Erleichterung, dass der Flug ohne Schwierigkeiten abgelaufen war, und ich sah es auch Frau Lang-Carter an, wie froh sie war, die Mutter problemlos und freudig strahlend nach Hause gebracht zu haben. Darauf tranken wir ein Glas Champagner mit unserer Patientin, die sich herzlich mit uns freute.

Wir fuhren in einem sehr geräumigen Taxi zu dem Haus der Familie durch das grüne Connecticut nach Stamford. Dort wurden wir von Herrn Carter und dem Sohn Daniel herzlich begrüßt. Ich kannte beide schon von ihren früheren Aufenthalten in Deutschland und von dem achtzigsten Geburtstag Frau Langs, zu dem ich eingeladen war.

Ich wollte unbedingt dem Hausarzt von Frau Lang in Stamford einen Besuch abstatten und mit ihm über die neuesten Einzelheiten der Krankenhausbehandlung sprechen. Ich hatte zu Hause für ihn noch eine Zusammenfassung der bisherigen Krankengeschichte und eine Übersetzung des ausführlichen Arztbriefes des Krankenhauskardiologen angefertigt und die aktuellen Röntgenbilder mitgenommen. Wir führten ein ausführliches Gespräch, und so gewann ich den Eindruck, dass Frau Lang in Zukunft gut betreut werden würde.

In den folgenden Tagen wurde ich auf sehr gastfreundliche Weise herumgeführt und erlebte New York von verschiedenen Seiten. Mr. Carter, ein gebürtiger New Yorker, zeigte mir die typischen Sehenswürdigkeiten seiner Heimatstadt. Ich erlebte wenigstens von außen das Lincoln-Center, die Metropolitan Opera und die Carnegie Hall, mit denen mich so viele Konzerterlebnisse auf der Schallplatte und in Bücherberichten verbanden.

Wir machten bei herrlichem Wetter eine Hafenrundfahrt, bummelten durch downtown Mannhattan, und Mr. Carter erklärte mir die spannende Geschichte dieser pulsierenden Metropole. Aus dem Bürohochhaus von Frau Lang-Carter genoss ich vom obersten Stockwerk einen atemberaubenden Blick auf den Central Park. Im Trump Tower sah ich mir die Auslagen der Geschäfte an, und bei Tiffany bekam ich kein Frühstück, sondern „nur“ Juwelen zu sehen.

Leider war meine Zeit bei diesem Aufenthalt sehr begrenzt, und so flog ich nach wenigen Tagen wieder zurück nach Stuttgart. Ich nahm bleibende Erinnerungen an eine herzliche Gastfreundschaft mit.

In den folgenden Jahren hatte ich immer wieder telefonischen Kontakt mit Frau Lang. Ich konnte an die Familie auch ein Au-pair-Mädchen aus der Stuttgarter Gegend vermitteln, das nach dem Abitur ein Jahr lang in der Familie Carter Frau Lang betreute, da sie sich nicht den ganzen Tag alleine zu Hause aufhalten konnte.

Auch wenn die Tochter beruflich in Deutschland zu tun hatte, meldete sie sich regelmäßig bei mir, und ich erfuhr, dass es Frau Lang ihrem Alter entsprechend gut ging. Leider brach sich Frau Lang ein Jahr später das Hüftgelenk, mußte operiert werden, bekam Komplikationen und verstarb einige Tage danach.

[1] Bei der Intubation wird ein Schlauch (= lat. tubus) in die Luftröhre
eingeführt (= lat. intubare), um die Patientin künstlich zu beatmen.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Ich habe diese Geschichte in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

 

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Veronika hat ihren eigenen Willen

„Herr Doktor, heute können Sie Veronika untersuchen. Wir waren neulich schon mal im Wartezimmer, aber da wollte sie nicht zu Ihnen ins Sprechzimmer. Dann sind wir wieder gegangen. Aber für heute habe ich sie gut vorbereitet, sie läßt sich bestimmt untersuchen. Sie ist jetzt dreieinhalb und soll in den Kindergarten gehen, und da brauchen wir doch dieses Attest von Ihnen!“

Die junge Mutter war ganz zufrieden mit ihrer Vorbereitungsarbeit und lächelte zuversichtlich. Ich kannte Veronika gut, diese zierliche Dame, die durch die Männerwelt schritt wie eine Frau, die weiß, was sie will. Sie fesselte meinen Blick mit ihrem und lenkte ihn zielsicher von ihrem korrekten Pagenschnitt im pechschwarzen Haar an dem rot-weiß-blauen Rüschenkleidchen hinunter zu den roten Lackschuhen mit den weißen Söckchen. Den rechten Fuß stellte sie langsam und kokett einen Zentimeter weit vor und ließ ihre schwarzen Augen gefällig darauf ruhen. Dann vergewisserte sie sich mit einem kontrollierenden Blick auf mein Gesicht, ob ich auch gesehen hatte, was sie mir zeigen wollte. Ich fragte bewundernd: „Sind die neu?“ Veronika schaute mich an und hielt mich einer Antwort wohl nicht für würdig. Sie schwieg. Eilig bemühte sich die Mutter um Klärung: „Ja, ja, die haben wir vorhin gekauft, und jetzt wollte sie Ihnen die Schuhe zeigen.“

Veronika war nicht oft krank gewesen. Da ich sie längere Zeit nicht mehr gesehen hatte, wollte ich sie für das Attest gründlich untersuchen. Ich begann die Untersuchung wie gewohnt, während ich zu Ohrspiegel und Mundspatel griff: „Veronika, du weißt ja, dass ich jetzt in deinen Mund und in deine Ohren schauen möchte. Das kennst du.“

Veronika hörte aufmerksam zu, schaute mich mit ihren pfiffigen Augen prüfend an und verzog keine Miene. Sie ließ mich gewähren, hielt die Ohren hin, öffnete den Mund und ließ sich auch Herz und Lunge abhören. Und sie schwieg. Das war sehr verdächtig! Ich wußte doch, dass Veronika sonst mit mir plauderte und auch ihre Mutter ständig mit Reden auf Trab hielt. Was war los mit ihr? Ich wurde noch neugieriger. Aber ich ließ mir nichts anmerken und untersuchte weiter. Veronika bewegte sich, wie ich wollte, kletterte auch gewandt auf die Untersuchungsliege und behielt mich aufmerksam im Blick.

Schließlich, ganz am Ende der Untersuchung, sagte ich interessiert zu ihr: “Du redest heute gar nicht mit mir. Warum nicht?“ Sie schaute mich offen an – und schwieg. Ohne daß ich es merkte, hatte ich an ihrer Angel angebissen. Also machte ich noch einen freundlichen Versuch:

„Aber Veronika, im Kindergarten musst du doch auch reden. Willst du nicht mehr mit mir sprechen?“

Keine Antwort. Ich spürte, wie die Spannung stieg. Veronika sprühte ihren starken Willen aus ihren Augen, die mich so warnend und lockend anschauten, als wollten sie sagen: „Na, mach nur so weiter, du wirst schon sehen, was ich mit dir vorhabe!“

Ich spielte mit, denn jetzt wollte ich es wissen! Dieses Duell wollte ich gewinnen. Mein Ehrgeiz war geweckt. Ich nahm die Herausforderung an und stellte noch eine Frage:

„Wenn die Kindergartentante dich etwas fragt, was sagst du dann?“ – Wieder keine Antwort. Veronika blieb stur auf ihrem Kurs. Offensichtlich hatte sie hervorragende Nerven und einen klaren Plan. Ich kam mir vor, als ob ich den festsitzenden Korken einer Sektflasche langsam und doch mit festem Griff befreien wollte, um endlich das köstliche Getränk genießen zu können.

„Ich muss aber schon hören, dass du sprechen kannst, sonst kann ich das Zeugnis für den Kindergarten nicht schreiben. Dann kannst du nicht in den Kindergarten gehen!“ Ich blieb immer noch freundlich und bekam nur einen ihrer provozierenden Blicke als Antwort. Da kam mir eine Idee. Ich sagte mit gespieltem Ernst:

„Jetzt weiß ich es, du hast vergessen, wie man spricht. Du kannst es gar nicht mehr!“

Blitzartig und sehr bestimmt schoss sie zurück: „Doch!“

Ich hatte gewonnen! Der Sektkorken hatte geknallt! Ich hatte sie zum Sprechen gebracht! Mein Berufsstolz hatte gesiegt! Ach, wie kam ich mir gut vor! Und in diesem lächerlichen inneren Triumph machte ich den entscheidenden Fehler. Statt zufrieden zu sein, ging ich genau einen einzigen Schritt zu weit. Ich spielte den Überraschten und fragte: „Schau mal, es geht! Was kannst du denn sagen?“

Ihre Augen blitzten auf, sie strahlte mich an und flötete: „Arschloch!“ Wenn ein Reporter mich in dieser Sekunde fotografiert hätte, wäre mein Gesicht als Musterbeispiel der Verblüffung in allen Zeitungen auf der Titelseite erschienen. Aber ich hatte meine Gesichtszüge rasch wieder auf den passenden Gleisen.

Ich lachte herzlich: „Jawohl, Veronika, du hast die Prüfung bestanden, du kannst dich wehren, du bekommst dein Zeugnis für den Kindergarten.“

Dann drehte ich mich zum Schreibtisch mit dem peinlichen Gefühl, mich vor mir blamiert zu haben, und mit der heiter-betroffenen Gewissheit, dass natürliche Kinder ihre Wahrheit mutig und experimentierfreudig auf den Punkt bringen. Ich unterschrieb schmunzelnd das Attest.

Die Mutter bekam ein puterrotes Gesicht und stammelte eine Entschuldigung: „Das habe ich ihr aber nicht beigebracht!“ Veronika triumphierte wortlos wie eine Kaiserin, die mit ihren weiblichen Waffen und einem einzigen Wort in der richtigen Sekunde ein Heer von Generälen entmachtet hat. Sie schwebte hinaus mit hoch erhobenem Haupt und strahlte ihren Sieg aus ihren Funkelaugen.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Ich habe diese Geschichte in dem Buch Als Schiffsarzt – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

 

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Das Attest

Der neue Patient kam ins Sprechzimmer und äußerte ohne Umschweife seinen Wunsch: „Herr Doktor, schreiben Sie mir bitte ein Attest, dass ich am 23. Oktober krank bin.“

Ich überlegte kurz und sagte dann verwundert: „Aber das ist in drei Wochen. Woher wissen Sie, dass Sie gerade da einen Tag lang krank sein werden?“

Er meinte gelassen: „Mein Anwalt hat gesagt, Sie sollen dieses Attest so schreiben.“

Da wurde ich hellhörig und hakte nach: „Wie kommt Ihr Anwalt dazu, solch ein verrücktes Attest zu fordern? Es wäre eine Urkundenfälschung, wenn ich es schreiben würde, denn ich darf eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur verbunden mit einer Untersuchung ausstellen. Und so gesund, wie Sie jetzt aussehen, kann ich nicht einmal ahnen, daß Sie in drei Wochen krank sind und schon gar nicht, warum.“

Ich holte Luft und sah mich noch zu einer Erklärung verpflichtet: „Was Sie wollen, ist ein betrügerisches Gefälligkeitsattest, mit dem ich erstens meine Zulassung riskiere und zweitens mich erpressbar mache. Und drittens: Stellen Sie sich mal vor, was Ihr Anwalt mit diesem Attest machen würde, wenn er gegen mich wäre! Er würde mich vor den Kadi zitieren, und da hätte ich nicht den Schimmer einer Chance.“ Mein Gegenüber schaute mich nur an, und ich fragte direkt und noch freundlich: „Also jetzt will ich´s wirklich wissen: Warum wollen Sie dieses Attest?“

Mein Patient blieb ganz ruhig und erzählte, und die Art, wie er berichtete, zeigte mir, daß er sich mit seiner Bitte völlig im Recht fühlte und zunehmenden Unmut wegen meiner Weigerung gegen mich aufbaute. Er meinte:

„An diesem 23. Oktober habe ich eine Vorladung vor Gericht, und da will ich nicht hingehen. Mein Anwalt sagt, das sei ganz einfach mit dem Attest. Und das denke ich auch. Es ist doch nur ein Satz, den Sie schreiben müssen. Was ist schon dabei? Also, kriege ich jetzt den Zettel oder nicht?“

Ich kam langsam in Fahrt, weil ich merkte, wie er mich in die Zange nehmen wollte. Ich musste also noch klarer reagieren. Auf der anderen Seite spürte ich eine gewisse Neugier, die Hintergründe dieses Betrugsversuchs herauszubekommen. Außerdem begannen mich sein Ansinnen und seine Kaltschnäuzigkeit zunehmend zu ärgern. Das wollte ich ihm vermitteln:

„Nein, ich schreibe Ihnen das Attest nicht. Und Ihrem Anwalt sagen Sie bitte einen Gruß, dass ich seine Aufforderung als eine Unverschämtheit empfinde. Eigentlich müsste man sein Vorgehen der Anwaltskammer melden, aber der Aufwand ist mir zu groß. Und so wie ich ihn nach Ihren Erzählungen einschätze, wird er bei einer Nachprüfung zu seiner Aussage auch nicht stehen. Aber sagen Sie mal, was für eine Gerichtsverhandlung ist denn das, vor der Sie sich drücken wollen?“

Mein Gegenüber erklärte weiter ganz gelassen: „Ach, wissen Sie, da bin ich vor ein paar Monaten in der Nähe von Frankfurt geblitzt worden, als ich zu schnell fuhr. Und ich habe auf den Anhörungsbogen und die darauf folgende Post nie reagiert. Jetzt kommt es eben zu einer Verhandlung. Und da müssen Sie doch verstehen, dass ich nicht hingehen will. Also jetzt schreiben Sie halt rasch das Attest, und dann haben wir´s hinter uns!“

Der Dialog begann mir bei allem Ärger über die vergeudete Zeit und die Frechheit des Patienten auch Spaß zu machen. Also führte ich das Gespräch engagiert weiter:

„Nein, dann haben wir´s eben nicht hinter uns, denn möglicherweise geht es dann erst richtig los und zwar für Sie und mich! Was glauben Sie denn, was passiert, wenn dieser Betrug rauskommt?“ Ich machte eine rhetorische Pause und redete dann etwas leiser und noch intensiver weiter: „Und wenn´s ganz dick kommt, ist Ihr Anwalt auch noch dran wegen absichtlicher Verwendung falscher Beweismittel. Das ist ein glatter Betrug!“

Ich wollte dem Gespräch eine konstruktive Wendung geben und sagte verbindlich: „Wissen Sie, ich kann ja verstehen, dass Ihnen der Gerichtstermin nicht passt, aber merken Sie, dass Sie immer tiefer in die Sache verstrickt werden, je mehr Sie sich weigern, einfach zu Ihrem zu schnellen Fahren zu stehen und die Konsequenzen zu tragen? Natürlich ist die Sache schon weit fortgeschritten, aber wenn Sie sich jetzt weiter entziehen, gilt eben auch für Sie das alte Gesetz: Konflikte kommen immer wieder in verschärfter Form, bis wir sie annehmen und lösen.“

Ich machte eine kurze Pause, um ihm eine Chance zu geben, über diesen Grundsatz nachzudenken. Dann redete ich weiter: „Sie merken doch schon an dem Verlauf, den Sie mir berichten, dass das stimmt. Diese Erkenntnis ist sehr unangenehm, aber ganz einfach. Deshalb müssen Sie aus der Spirale aussteigen, so rasch Sie können. Und das ist jetzt!“ Ich bekräftigte noch dazu: „Es wird nicht besser! Das ist dann immer noch die billigste Lösung, obwohl ihr Preis schon hoch ist. Was würde denn passieren, wenn Sie jetzt zu der Verhandlung gehen würden?“

Jetzt wurde er bedrückt und meinte kleinlaut: „Dann würde ich eine saftige Geldstrafe und ein paar Punkte in Flensburg bekommen, und mein Chef würde mich rausschmeißen. Deshalb brauche ich Ihre Hilfe. Bitte geben Sie mir das Attest!“ Er ließ nicht locker. Ich auch nicht:

„Nein, das Attest gebe ich Ihnen nicht, aber ich bin bereit, mit Ihnen zu überlegen, wie Sie aus der Eskalation aussteigen können. Warum würde denn Ihr Chef Sie rauswerfen? Zu schnelles Fahren allein ist kein Kündigungsgrund. Steckt noch was anderes dahinter?“

Er begann zu zögern und meinte dann widerwillig: „Na ja, ich bin so schnell gefahren, dass ich sicherlich für einen Monat den Führerschein abgeben muss, und als Außendienstler brauche ich ihn.“

Ich erwiderte fest: „Das ist schon eher ein Grund, Sie zu entlassen. Aber wenn Sie ein guter Mann sind, wird Ihr Chef Sie mit einem ernsten Wort verwarnen und wahrscheinlich tief innen drin Verständnis für Sie haben, aber Sie deshalb nicht kündigen.“

Mein Patient schüttelte den Kopf: „Das ist es ja, ich bin kein guter Mann, und ich habe Angst, dass mein Chef erfährt, dass ich während der Arbeitszeit bei einer Konkurrenzfirma war, um mich zu bewerben, und einen Kundenbesuch abgerechnet habe.“

Ich hatte Verständnis für seine Bedenken: „Oje, jetzt wird´s aber dick. Das ist natürlich schlimm, das ist ja noch ein Betrug! Aber trotzdem und gerade deshalb frage ich Sie jetzt ganz ernsthaft: Wie viele krumme Sachen wollen Sie noch drehen, um Ihre Verantwortung abzuwälzen, und wie lange wollen Sie eine Lüge nach der anderen mit einer weiteren Lüge vertuschen?“

Ich redete eindringlich und sehr ernsthaft mit ihm, weil ich erreichen wollte, dass er bei aller Problematik die Konsequenzen seines Planes erkannte und sich nicht noch weiter in sein Lügengebäude verstrickte.

Jetzt wurde er wütend und fauchte wie ein Hund, der sich zu sehr in die Ecke gedrängt fühlte: „Also wenn Sie mir jetzt nicht sofort das Attest geben, gehe ich!“

Ich stand ganz ruhig auf, reichte ihm die Hand und sagte: „Dann wünsche ich Ihnen alles Gute!“ und ging zur Tür, um sie zu öffnen.

Da sagte er leise: „Wahrscheinlich haben Sie ja Recht, aber ich kann nicht!“ Er verließ die Praxis, ohne mir die Hand zu geben und ohne zurückzuschauen. Ich dachte, er würde nie wieder kommen.

Im November stand der Mann an einem Montagmorgen plötzlich wieder da und sagte ebenso direkt und ohne vorherige Einleitung wie bei seinem ersten Besuch: „Ich brauche ein Attest, dass ich am Wochenende krank war.“

Ich hatte unsere letzte Unterhaltung noch gut im Gedächtnis und fragte ganz sachlich: „Was haben Sie denn gehabt?“

„Also, wissen Sie,“ meinte er zögernd, „eigentlich so richtig krank war ich nicht, aber ich brauche das Attest, sonst feuert mich mein Chef.“

Einerseits ärgerte ich mich, schon wieder ein Attest mit im Moment noch unklarem Hintergrund schreiben zu sollen, andererseits rechnete ich ihm seine Ehrlichkeit an, denn er hätte mich auch anlügen und die Geschichte von der Magen-Darm-Grippe oder den schlimmen Kopfschmerzen erzählen können. Ich fragte also weiter:

„Na, da bin ich aber gespannt, was wirklich los war. Was ist denn übrigens mit der Gerichtsverhandlung passiert?“

Er holte tief Luft: „ Das ist es ja! Ich bin nicht hingegangen, weil ich kein Attest hatte. Daran sind Sie schuld!“

„Moment mal,“, warf ich ein, „ich habe die Verantwortung dafür, dass ich Ihnen das Attest mit guter Begründung nicht geschrieben habe, das ist richtig. Aber schuldig fühle ich mich deshalb noch lange nicht. Und dass Sie nicht bei der Gerichtsverhandlung waren, ist Ihre Verantwortung. Also weiter, und dann?“

„Ja, und dann standen am Freitag plötzlich die Polizisten vor der Tür, hielten mir einen Haftbefehl unter die Nase und brachten mich übers Wochenende in den Knast, weil ich bei der Verhandlung nicht erschienen war. Am Samstag und Sonntag habe ich es von dort aus mit Hilfe meines Anwaltes geschafft, heute Morgen wieder frei zu kommen. Jetzt sagt mein Anwalt, ich solle von Ihnen ein Attest holen, dass ich übers Wochenende und heute krank war. Sonst erfährt mein Chef, wo ich war.“

Jetzt war ich wirklich wütend und gleichzeitig von der Dreistigkeit dieses zweifelhaften Männerduos betroffen: „Sagen Sie mal, was für einen Winkeladvokaten haben Sie denn da als Anwalt? Der ist ja nicht nur frech und ständig betrugsbereit und verleitet andere zum Betrug, sondern er ist ganz offensichtlich auch gewissenlos!“

Meine Wut sprang mir aus den Augen, und ich kam in Fahrt: „Stellen Sie sich mal vor, ich bescheinige Ihnen eine Krankheit und damit automatisch, dass ich Sie untersucht habe, denn ich darf gar keine Bescheinigung ohne Untersuchung ausschreiben. Und dann kommt durch die Gerichtsakten raus, dass Sie eingesessen sind.“ Ich schaute ihn an. Er wurde langsam wutrot im Gesicht. Ich legte nach:

„Was glauben Sie, machen der Staatsanwalt und der Richter und die Ärztekammer mit mir? Also, für so blöd und selbstzerstörerisch dürfen Sie mich wirklich nicht halten! Das ist doch unglaublich!“

Dann wurde ich wieder versöhnlicher und fragte: „Wollen Sie denn immer noch nicht zu Ihrer Sache stehen, so schlimm sie auch ist? Sie merken doch, dass es immer schwieriger und teurer wird. Ich verstehe ja, dass es wirklich problematisch ist für Sie, aber Sie müssen den Schaden begrenzen und nicht vergrößern!“

Ich bemühte mich um ein gutes Gespräch in der komplizierten Lage des Patienten. Aber er wollte oder konnte nicht auf dieser Ebene mit mir reden. Deshalb polterte er in seiner Hilflosigkeit und jetzt auch sichtbaren Verzweiflung los und schimpfte: „Sie sind mein Hausarzt, Sie müssen mir helfen, Sie sind dazu verpflichtet! Geben Sie mir jetzt sofort das Attest, sonst werde ich wirklich krank!“

Ich blieb ruhig und sehr bestimmt: „Wenn Sie mich als Ihren Hausarzt sehen, sollten wir zueinander Vertrauen haben. Ich habe zu betrügerischem Verhalten kein Vertrauen. Deshalb könnte ich die Behandlung ablehnen. Ich will Ihnen helfen, aber das kann nicht so sein, dass ich in Ihren Betrug einsteige und mich durch eine Urkundenfälschung mitschuldig mache. Dazu bin ich keineswegs verpflichtet. Auch dann nicht, wenn Sie völlig verzweifelt sind!“

Ich sah, dass er anfing, tief einzuatmen zum großen Schrei. Trotzdem machte ich meinen Versuch noch einmal: „Also, lassen Sie uns darüber nachdenken, wie Sie mit dem kleinsten möglichen Schaden und ohne weiteren Betrug aus Ihrer Lage rauskommen.“

Er brauste auf, donnerte die geballte Faust auf den Schreibtisch und wurde laut: „Dann eben nicht!“ Wütend und zornrot im Gesicht sprang er vom Sessel auf, riss die Sprechzimmertür auf, ging hinaus und knallte sie hinter sich wieder zu. Ich holte tief Luft. Das hatte ich so nicht erwartet, aber ich fühlte mich gut, weil ich zu meiner Meinung trotz der Anfeindung gestanden war. So, dachte ich, das war´s, dieser Patient kommt nie wieder.

Irrtum! Ein paar Monate später war er wieder da. Er setzte sich hin und begann die Unterhaltung wieder sehr direkt und fließend: „Also erstens brauche ich meinen Asthma-Spray und bitte Sie um ein Rezept. Und zweitens will ich mich von Ihnen verabschieden. Ich habe meine Strafe abgesessen und meine Schulden bezahlt. Jetzt ziehe ich um. Ich habe die Stelle bei Frankfurt bekommen.“ Er machte ein kurze Pause. Ich hatte anerkennend meine Augenbrauen hochgezogen, da setzte er hinzu: „Danke für Ihre Hilfe. Aber es war schwierig für mich.“

Ich schaute ihn an. Sein Gesicht war klar und ruhig, und er streckte mir langsam über die Tischplatte seine warme und trockene Hand entgegen, die ich gerne annahm. Dann schrieb ich das Rezept, und wir verabschiedeten uns mit einem langen Blick und einem kräftigen Händedruck. Wir hatten einander verstanden.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte hab eich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs- und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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Fahrlässig?

Der Notarztwagen brachte mich an die Unfallstelle. Ich hatte über Funk während der Anfahrt nur gehört, es sei ein schwerer Autounfall gewesen. Meine Nerven waren angespannt. Ich versuchte gedanklich zu ordnen, was zuerst zu tun, zu beachten sei. Trotz langjähriger Erfahrung als Notarzt waren diese Minuten auf dem Weg zu Verletzten immer besonders spannend für mich. Wenn ich an der Unfallstelle bin und weiß, was los ist, kann ich Entscheidungen treffen und handeln und habe keine Zeit mehr, auf meine Verfassung zu achten.

Der Wagen bremste kreischend vor einem großen Müllauto. Eine Menschenmenge hatte sich angesammelt wie so oft an einer Unfallstelle. Ich war häufig wütend gewesen über das rücksichtslos Verhalten der Gaffer, die Rettungsarbeiten behindern.

Einmal hatte mich ein Mann besonders behindert, der sich zu dem Unfallauto vorgedrängt hatte, um auch wirklich alles zu sehen. Ich wies ihn zurecht, und hinterher meinte der Sanitäter: „Herr Doktor, mit dem hätten Sie aber nicht so scharf sein dürfen, das war der Bürgermeister von der Ortschaft!“ Ich meinte damals verärgert: „Dann erst recht müsste er wissen, dass man Rettungsmannschaften nicht behindern soll!“

Aber diesmal gingen die Menschen auseinander, als ich auf den jungen Mann zutrat, der am Boden lag. Ein Mann in mittlerem Alter kniete neben ihm und schluchzte immer wieder: „Junge, du musst es schaffen, bitte, bitte! Was hab ich bloß getan! Verzeih mir!“

Mit einer kurzen Frage erfuhr ich die Geschichte: Der Vater war als Fahrer bei der Müllabfuhr beschäftigt und hatte seinem Sohn einen Ferienjob in der Firma besorgt und ihn in seinem Wagen mitgenommen. Als der Sohn den Vater rückwärts an eine Hauswand einweisen wollte, um die Mülleimer geschickt aufladen und entleeren zu können, wurde der Sohn so unglücklich zwischen Wagen und Wand eingeklemmt, dass die Stellfläche für die Mülleimer ihm direkt in den Bauch gedrückt wurde. Von außen war dem jungen Mann keine Verletzung anzusehen, aber ich wusste, dass gerade sogenannte stumpfe Bauchtraumen besonders heimtückisch waren. Der Patient lag in tiefem Schock und hatte sehr wahrscheinlich innere Verletzungen mit möglicherweise tödlichen Blutungen.

Der Vater war völlig verzweifelt und bat mich sehnlichst, während der Fahrt bei seinem Sohn bleiben zu dürfen. Ich willigte ein, und er stieg vorn auf den Beifahrersitz. Der zweite Rettungssanitäter blieb bei mir und dem Verletzten hinten. Wir öffneten das kleine Fenster im Wagen, und so konnte der Vater während der Fahrt zu uns nach hinten schauen und mit uns sprechen. Nachdem ich den Jungen im Wagen rasch transportfähig gemacht und auf der Liege angeschnallt hatte, fuhren wir los.

Der Blutdruck des Patienten sank rasch, wie ich es befürchtet hatte. Das war für mich auch ein zusätzliches Zeichen für die vermutete Bauchraumblutung. Ich legte zwei zusätzliche Infusionen an und versuchte alles, um den Patienten lebend in die Klinik zu bringen. Der Vater war außer sich vor Selbstvorwürfen, und immer wieder fragte er: „Kommt er durch?“ Er flehte mich an, alles zu tun, noch schneller zu handeln. Und ich hatte schon drei Infusionen mit Blutersatzlösungen zur Kreislaufstabilisierung gleichzeitig laufen!

Bereits beim Abfahren am Unfallort hatten wir die Klinik alarmiert, trotz des vollen Programmes sofort einen Saal freizumachen, damit der Patient unverzüglich operiert werden könne. Als wir ankamen, war alles vorbereitet. Eine rasch durchgeführte Bauchspülung zeigte eine Blutung an. Der junge Mann kam sofort in den hastig umorganisierten Operationssaal. Das Team stand bereit, der lebensentscheidende Kampf begann.

Der erfahrene Oberarzt, die Ruhe in Person und ein sehr geschickter Chirurg, sollte operieren. Bevor er in den Operationsbereich ging, sagte er zu dem besorgten Vater: „Ich werde alles tun, was ich kann, um Ihren Sohn zu retten, aber es ist sehr, sehr ernst!“

Ich saß zeitweise vor dem Operationstrakt bei dem Vater und der inzwischen dazugekommenen Mutter. Ich bot an, mit den Eltern in einen anderen Raum zu gehen, wo sie unbeobachtet sein könnten von den vielen Menschen, die ständig vor dem Operationstrakt hin- und herliefen, aus- und eingingen. Nein, das wollten sie nicht, so nahe wie möglich wollten sie bei dem Jungen sein. Am liebsten wären sie neben dem Operationstisch gestanden.

Der Vater geriet völlig außer sich: „Ich bring mich um, wenn er stirbt. Das ertrag ich nicht!“ Er weinte, betete, jammerte, schluchzte und war nicht zu beruhigen. Ich konnte nichts tun, als immer wieder zu ihnen zu gehen, wenn ich mich von meiner Arbeit in der Ambulanz losreißen konnte. Die Eltern waren mit ihrem Schmerz allein.

Jedesmal, wenn die Tür zu dem Operationsbereich aufging, schauten sie auf und hofften auf eine Nachricht. Und an diesem Morgen lief wie immer werktags ein großes Operationsprogramm in drei Sälen gleichzeitig. Dementsprechend herrschte viel Betrieb, und das Warten wurde länger und schwieriger. Auch die Mutter weinte und versuchte, sich und ihren Mann zu trösten: „Er wird es schaffen, ganz bestimmt, er ist doch immer so stark gewesen! Und die Ärzte tun alles, um ihn zu retten, er wird es schaffen! Wir müssen ihn nicht hergeben. Vertrau drauf!“

Nach endlos scheinender Zeit ging die Tür auf, der Oberarzt kam heraus, noch in seiner grünen Operationskleidung, verschwitzt, abgekämpft und setzte sich neben die Eltern. Er nahm die Hand des Vaters und der Mutter und schaute sie an. Die Eltern waren bis zum Äußersten angespannt: „Und?“ Der Oberarzt schüttelte nur langsam den Kopf.

Sein mitfühlender Satz: „Sie müssen jetzt sehr stark sein!“ ging in einem Aufschrei des Vaters unter, der auf den Boden sank, in sich zusammengekauert wie ein kleines Kind, und wimmerte. Er konnte nicht mehr weinen. Die Mutter kniete neben ihn und umfing ihn schützend, schluchzend. Es war ein Bild der vollständigen Verzweiflung eines Elternpaares.

Die Minuten danach kann und will ich nicht beschreiben. Es wäre nur ein untauglicher Versuch zu schildern, was das Schicksal mit den Gefühlen anrichtet, wenn ein Vater sich am Tod seines geliebten Sohnes schuldig fühlt und mit der Mutter des Kindes den unvorstellbaren Riss im Herzen spürt. Ich denke, ein Außenstehender kann auch nicht annähernd fühlen und schon gar nicht in passende Worte fassen, was in diesen Momenten in und zwischen diesen beiden Menschen ablief. Wir ließen den Eltern Zeit und führten sie dann in einen Raum, wo sie sich, so weit es eben in dieser Verfassung möglich war, ihrer maßlosen Trauer überlassen konnten.

Jahre später erfuhr ich, dass der Vater sich das Leben genommen hatte.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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Reise in die Nordsee und der Orkan

Anfang November verließen wir Hamburg und kreuzten dann von Südengland und den Niederlanden in genau definierten Zickzacklinien durch die gesamte Nordsee bis zu den Orkney-Inseln und den Shetland-Inseln.

Auf der Höhe von Edinburgh wurden wir drei Tage und Nächte lang so von einem Orkan geschüttelt, dass unser kleines Schiff bei Windstärke 10-11 wie im Aufzug ohne Pause viele Meter hoch aufwärts und abwärts geschleudert wurde. Es war ein im doppelten Wortsinn erhebendes Gefühl, von tief unten an der gischtbekränzten Wasserwand empor zu fahren und auf der anderen Seite sofort wieder zehn Meter hinabzurauschen.

Ich spürte bei jeder Bewegung, dass ich einen Magen habe. Glücklicherweise erfuhr ich von erfahrenen Seebären, wie man am besten gegen die Seekrankheit vorbeugt. Man sollte immer wenig im Magen haben, vorzugsweise trockenes Brot, und keine kohlensäurehaltigen Getränke zu sich nehmen, da diese blähen und das Gefühl der Übelkeit verstärken. Auch Alkohol ist zu meiden, da das Gleichgewichtsorgan irritiert und noch empfindsamer wird als es ohnehin schon ist. Das kann man ja leicht feststellen, wenn man zu viel getrunken hat.

Viele der Männer an Bord lagen in ihren Kojen, mehr oder weniger blassgrün und von der Übelkeit geplagt. Ich hatte für mich ausprobiert, welchen Nutzen jetzt das Schwingbett im Lazarett bringen würde und fand heraus, dass es bei diesem Orkan eigentlich keinen hilfreichen Effekt bot. Die Wellen kamen so unregelmäßig von allen Seiten, und das Schiff schwankte und rollte so unkontrolliert in allen Richtungen, dass die lediglich einseitige Ausweichmöglichkeit des Bettes nichts half, um auch nur ein bisschen ruhiger schlafen zu können.

Um den erbrechenden Bordmitgliedern die dringendsten Utensilien zu geben, waren rasch alle verfügbaren Eimer an Bord in den Kammern verschwunden, und wir stellten fest, daß wir zu wenige Eimer dabei hatten. Auch mein Vorrat an Medikamenten gegen Übelkeit schwand ständig. Glücklicherweise kam ich selbst mit einem geringen Unwohlsein davon und konnte mich ohne wesentliche Beeinträchtigung um die Kranken kümmern. Und das einzige wirklich hilfreiche Mittel, nämlich eine ruhige See, hatte auch ich nicht in meinem Medikamentenschrank.

Problematisch war für mich, bei diesem Seegang zu schlafen: eine völlig ungewohnte Aufgabe! Was macht man, wenn das Bett sich ständig auf und ab bewegt und dauernd und ohne festen Rhythmus, auf den man sich einstellen könnte, auch nach den Seiten rollt? Was macht man, wenn der Körper in ständigem Wackeln kopfabwärts, seitlich schräg, dann kopfaufwärts hin- und herpendelt und man zur Abwechslung bei diesem Meerestheater mal gerne schlafen möchte?

Mein Bett in der Koje hatte an der einzigen freien, langen Seite oben und unten eine Leiste, in die ich ein etwa 20 cm hohes und bettlanges Brett einschieben konnte, um beim Seitwärtskippen des Schiffes zu verhindern, dass ich aus dem Bett fiel. Ein erfahrener Matrose hatte mich darauf hingewiesen, ich müsse unbedingt dieses Brett einstecken und es mit einer Decke über die ganze Länge polstern! Ich glaubte ihm nicht so recht, aber ich befolgte trotzdem in der ersten Nacht seinen Rat.

Lange drehte ich mich hin und her und konnte nicht einschlafen, weil ich es natürlich nicht gewohnt war, ausgestreckt zu liegen und ständig auf und ab und hin und her geschüttelt zu werden.

Ich probierte alle möglichen Lagen, Stellungen, Tricks und Kissenpolsterungen aus. Ich hatte festgestellt, dass die beste von allen schlechten Liegepositionen für mich die Bauchlage mit weit ausgestreckten Beinen und Armen war. Also lag ich platt wie eine Flunder mit seitwärts gedrehtem Gesicht auf dem Schüttelbett, versuchte gegen die ständigen Bewegungen meinen Schlaf zu gewinnen und musste doch dauernd mit einem Arm oder einem Bein gegen den Druck wechselnder Kräfte ankämpfen. Damit konnte ich mich noch am ehesten stabilisieren. Nichts half wirklich, und so schlief ich schließlich vor Erschöpfung ein.

Mitten in der Nacht wachte ich schlagartig auf, weil ich im Tiefschlaf wohl so entspannt war, dass ich keine Bewegungsreflexe mehr hatte und deshalb mit dem ganzen Körper und voller Wucht vom seitwärts rollenden Schiff gegen das gepolsterte Sicherheitsbrett geworfen wurde. Da war ich dem Matrosen für seinen Tipp dankbar! Wenn ich das Brett nicht gehabt hätte, wäre ich mit dem Kopf gegen den Schrank geknallt und aus dem Bett gefallen. Und das Bett war ja auch noch einen Meter über dem Fußboden erhöht, um darunter viel Platz für Schubladen zu gewinnen. Man muss sich vorstellen, dass so ein kleines Schiff zwar sehr seetüchtig ist, aber doch bis zu 45 Grad Seitwärtsneigung einnehmen kann, und da fällt alles um.

In dieser Nacht wurde ich zu einem Mann aus der Forschergruppe gerufen, der sein Brett im oberen Stockbett nicht befestigt hatte und herausgeschleudert worden war. Ich rannte zu ihm und war auf schlimmste Verletzungen gefasst. Aber es stellte sich heraus, dass er mit einer harmlosen Prellung des Gesäßes und einem Brummschädel davongekommen war. Auch bei der Beobachtungsphase in den nächsten vierundzwanzig Stunden ergaben sich glücklicherweise keine Komplikationen.

Dieses ständige Rollen des Schiffes und der unaufhörliche Seegang erschwerten natürlich auch jede Form des Essens. Ich lernte bewährte Methoden kennen, wie erfahrene Köche im Orkan kochen und Seeleute bei Windstärke 11 die Suppe essen. Töpfe und Teller wurden nur minimal gefüllt, sodass möglichst nichts herausspritzte, das Tischtuch lag feucht auf dem Tisch, damit die Teller fester standen, und es war auf einer rutschhemmenden Unterlage an der Tischplatte angeklemmt. Sogar das Besteck kullerte manchmal über den Tisch, und trotz aller Vorsichtsmaßnahmen und Balanceakte, die wir mit dem Suppenteller und den anderen Speisen auf der Hand probierten, sah das Tischtuch nach dem Essen aus wie auf einem Schlachtfeld. Beim Weg durch das Schiff erkannte man an den Flecken auf den Hemden und Pullovern, wer gegessen hatte. „Aha, ich sehe, Sie haben schon gegessen?!“ war ein beliebter Gruß.

Wu hatte mehr zu tun als sonst, denn so viel Schmutzwäsche fällt nur beim Orkan an, aber die meisten Besatzungsmitglieder waren nicht so pingelig, und so liefen einige ein paar Tage lang mit Flecken auf dem Hemd herum.

Seltsame Gefühle werden geweckt, wenn man bei solch einem ständigen Wellengang eine Treppe oder gar eine Leiter hoch- oder runterklettern will. Entweder wird man regelrecht hochgeschleudert oder in den Boden gedrückt. Man muß sich dem wechselnden Wellengang anpassen, und es kostete mich einige schmerzhafte Prellungen, bis ich mich so daran gewöhnt hatte, dass ich mich weitgehend gefahrlos im Schiff bewegen konnte. Überall in den engen Gängen gab es harte Gegenstände, gegen die wir geschleudert wurden, wenn wir nicht aufpassten und uns nicht ständig gegen Umfallen sicherten.

Die Stahltüren nach außen auf das Deck waren mit kräftigen Seilen verschlossen, um ein versehentliches Verlassen des Innenraumes und ein Aufreißen der Türen durch den peitschenden Sturm zu verhindern. Es war streng verboten, an Deck zu gehen! Ein Blick auf die tobende See machte mir klar, dass es unmöglich war, einen über Bord gegangenen Menschen von der Brücke aus mit dem Fernglas so kontinuierlich zu verfolgen, daß man ihn bei einem Drehvorgang des Schiffes beobachten konnte. Es war ausgeschlossen, ihn rechtzeitig wieder anzusteuern, einzufangen und an Bord zu holen. Das Schiff war bei diesem meterhohen Wellengang außerdem nur sehr begrenzt manöverierfähig.

Ich erinnerte mich an einen Versuch, den wir im tropischen Atlantik gemacht hatten: Bei spiegelglatter See, wunderbarem Wetter und allgemeiner Vorwarnung warf der Erste Offizier einen Rettungsring, der den Mann über Bord symbolisieren sollte, bei voller Geschwindigkeit des Schiffes ins Wasser. Die Aufgabe bestand darin, den Alarm auszulösen, das Schiff zu drosseln und zu wenden und den Rettungsring wieder an Bord zu holen. Ich war sehr überrascht darüber, wie schnell der Ring und das Schiff sich voneinander entfernten, obwohl doch alles so ruhig aussah. Die Mannschaft hat für das Manöver dreißig Minuten gebraucht. Und das unter besten Bedingungen!

Dreißig Minuten kann ein Mensch im warmen Wasser in der Rettungsweste oder ohne Hilfsmittel ja noch schwimmend gut überleben, wenn er nicht von Haien gefressen wird. Aber hier in der Nordsee hatte das Wasser gerade fünf oder sechs Grad. Das alleine macht schon schwere Herzrhythmusstörungen und kann zum Tod durch Herzstillstand oder Ertrinken führen.

Ein grandioses Schauspiel zauberte uns die Natur mit diesem tosenden Orkan vor die Augen, und die enorme Wucht der ungezähmten Wassermassen und das wilde Chaos beeindruckten mich tief. Auch unsere Machtlosigkeit und das Gefühl, der Spielball dieser Wellen zu sein, ließen mich sehr nachdenklich werden über die Großspurigkeit vieler überheblicher Menschen, die meinen, sie könnten alle Probleme lösen und den Gefahren der Natur erfolgreich Widerstand bieten.

Ich fühlte mich sicher in dem Schiff und hatte keine Angst, aber das Gefühl, dem brodelnden Wasser draußen schutzlos ausgeliefert sein zu können, machte mir Beklemmungen. Ich stellte mir lebhaft vor, welche entsetzlichen Qualen einen Menschen plagen würden, der Angst vor engen und verschlossenen Räumen hat. Seine Panik würde ihn bei dieser unaufhörlichen Orkanschaukelei und dem peinigenden Gefühl, ihr auf unbestimmte Zeit nicht entrinnen zu können, zur Raserei und völligen Verzweiflung treiben können. Nicht einmal ins tosende Meer hätte er springen können, um im Tod die Erlösung zu suchen, denn die Türen waren alle hermetisch verriegelt.

Außerdem dachte ich darüber nach, wie lange wir das noch auszuhalten hätten. Die Wetterprognosen waren schlecht und eine wesentliche Besserung in den nächsten Tagen nicht zu erwarten. Das Forschungsprogramm war vorerst gestrichen, Wasserproben einzuholen wäre ein tödliches Unternehmen gewesen. Und jeder, der es sich an Bord leisten konnte, lag im Bett und kroch nur zu den unbedingt nötigen Verrichtungen oder zum Dienst heraus.

Da es mir relativ gut ging, stand ich oft staunend und mit einer seltsamen Mischung aus grenzenloser Bewunderung der Natur und furchterfülltem Gruseln vor den möglichen Katastrophen neben dem diensthabenden Offizier auf der Brücke. Gigantische Wellenberge mit sprühenden Schaum-kronen rollten auf das Schiff zu, hoben es hoch wie ein kleines Spielzeug und boten auf der anderen Seite eine Riesenrutschbahn, der wir nicht entkommen konnten. Wenn wir im Wellental waren, schlugen die tonnenschweren Wassermassen krachend über dem Schiff zusammen. Manchmal war das ganze Brückenhaus in eiskalte Gischt getaucht.

Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was mit einem Menschen geschehen würde, der sich bei diesem Unwetter an der Reling in eine solche Welle stellen würde. Wir würden nicht einmal sehen, wie er weggespült wird, und schon deshalb könnten wir ihn nicht finden.

Einmal, als ein besonders heftiger Brecher über das Schiff und die Brücke hinweggerollt war, machte ich meinen begeisterten Gefühlen Luft und sagte zu dem Offizier in meiner spontanen Gefühlswallung: „Ist das nicht eine fantastische Natur!“ – Das hätte ich besser nicht gesagt! Er schoß mir einen vernichtenden Blick in die Augen und drehte sich brummend mit einer Bemerkung weg, die ich nicht verstanden habe, aber sie war bestimmt nicht schmeichelhaft für mich. Dann drehte er sich wieder zu mir und fragte mit eisigem Ton: „Haben Sie nicht was anderes zu tun, als hier rumzustehen?“ Das war schlimmer als ein Ohrfeige, und ich spürte diesen Rausschmiß aus seinem Reich der Brücke fast körperlich und verschwand.

In diesem Orkan musste ich auf mein tägliches Wannenbad verzichten, denn das Badezimmer wäre sofort unter Wasser gestanden. Sogar die Nassrasur bei Orkan ist gefährlich! Ich habe mich mehrfach geschnitten, weil der Seegang mich in einem Moment auf die Seite warf, als ich es gerade nicht erwartete. Und dann rutschte mir das Rasiermesser mit einer unkontrollierten Bewegung ins Gesicht.

Der Forschungsleiter und der Kapitän beschlossen wegen des anhaltenden Orkans, den nächsten Hafen anzulaufen und dort zu warten, bis das Wetter besser wird. Das verschaffte uns zwei Tage und Nächte in der Einfahrt nach Edinburgh, wo wir im ruhigen Wasser bei Nieselregen vor Anker lagen und endlich wieder ausschlafen konnten. Ein Landgang war leider nicht möglich. Als es wieder aufklarte, lichteten wir Anker und fuhren zum nächsten genau festgelegten Messplatz.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht

 

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Zu Gast bei Vladimir

Als ich ankam, hatten sich schon die Besatzungsmitglieder versammelt und waren wie verabredet auf dem Weg zur Professor Wiese, die nur ein paar hundert Meter von uns entfernt lag. Dieses Forschungsschiff war relativ alt und wesentlich größer als die Meteor. An Bord trennten wir uns in zwei Gruppen. Die Tischtennismannschaften begannen das geplante Turnier, das unsere Mannschaft schließlich haushoch verlor, aber die spielerische und menschliche Begegnung hat allen Beteiligten großen Spaß bereitet.

Die sowjetische Mannschaft hatte mit dem bordeigenen Kran ein riesiges Netz mit geraden Seitenwänden über das hintere Oberdeck gespannt, sodass dort Ballspiele aller Art stattfinden konnten, ohne dass der Ball ins Meer flog.

Das Forschungspersonal wurde in den Konferenzraum an gedeckte Tische geführt zu Kaffee und Kuchen. Vladimir, der Chirurg aus Leningrad, begrüßte mich herzlich und setzte sich neben mich in den Konferenzraum. Er war etwa Mitte fünfzig, hatte schütteres graubraunes Haar und eine schlanke Figur, die mit einem weißen kurzärmeligen Hemd und einer mittelbraunen Hose bekleidet war. Seine feingliedrigen Hände fielen mir auf und seine klaren grau-blauen Augen, mit denen er mich immer wieder musterte. Unsere Blicke trafen sich oft, und ich spürte, daß dies eine besondere Begegnung war. Ich war gespannt auf den weiteren Verlauf des Tages. Würden wir die von mir gewünschte Gelegenheit haben, unter vier Augen zu reden?

Der Kapitän hielt eine kurze Begrüßungsansprache auf englisch, der Forschungsleiter der Sowjets berichtete über die bordeigenen Messmethoden und bereits vorliegende Ergebnisse. Dann hatten wir eine Diskussionsmöglichkeit, und ich erfuhr auf meine Frage, dass Professor Wiese ein berühmter sowjetischer Meteorologe war, dem zu Ehren dieses Schiff seinen Namen erhalten hatte.

Nach dem offiziellen Programm wurde das kalte Buffet eröffnet, und ich war sehr überrascht und gleichzeitig erfreut, dass Vladimir mich auf die Seite zog und mir bedeutete, ich solle doch mitkommen, er habe ein separates Essen für mich bestellt. Ich ließ mich von ihm durch das Schiff führen, und er zeigte mir einen bescheidenen medizinisch eingerichteten Raum, sein Sprechzimmer.

Dann führte er mich in seine winzige Kammer, in der zwei Betten übereinander standen. Er als Schiffsarzt durfte diesen Raum luxuriöserweise als Einzelzimmer benutzen. In der Enge des Raumes hatte zwischen Betten und Schrank ein kleiner Tisch Platz, und wir saßen auf Vladimirs Bett. Der Tisch war sauber gedeckt, und auf jedem Teller lag ein paniertes, kaltes Schnitzel, das rundherum über den Tellerrand ragte.

Vladimir, der recht gut englisch mit dem rollenden harten russischen Akzent sprach, öffnete zuerst einmal die große Wodkaflasche, goß die Wassergläser voll und prostete mir zu: „Auf die internationale Kollegialität! Ich bin Vladimir!“ Ich hob das Glas und nickte ihm freundlich zu: „Ja, auf die internationale Kollegialität! Ich heiße Dietrich!“

Dann sagte er sehr ernst: „Ich bin sehr froh, alleine mir dir reden zu können, und ich freue sich sehr, dass ich bei dir auf der Meteor sein durfte. Ich habe es extra so eingerichtet, dass wir jetzt hier sitzen und nicht bei den anderen Gästen, denn dort sind wir nicht frei, weil jeder weit offene Ohren hat.“

Er machte mich auch gleich darauf aufmerksam, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass jeden Moment die Tür aufgeht und ein Offizier hereinkommt, um mich zu begrüßen. Dieser werde mich bestimmt in ein Gespräch verwickeln, um mich auszuhorchen und ihn, Vladimir, zu kontrollieren. Ich solle mich bitte daran nicht stören und gute Miene zum unvermeidlichen Ablauf machen.

Ich höre noch heute, wie Vladimir mich direkt anschaute und eindringlich und leise sagte: „Ich will nicht über Politik mit dir sprechen. Ich will als Arzt mit einem Kollegen und als Mann mit einem Freund sprechen!“ Und er hob wieder das Glas und trank mir zu. Dann bedeutete er mir, dass wir hier nicht so laut sein dürften, „weil alle Wände viele Ohren haben“.

So begannen wir zu essen und zu reden. Die Stunden sind mir trotz der vielen Jahre, die seither vergangen sind, als sehr persönliche Unterredung in lebhafter Erinnerung, und ich spürte, dass wir beide auf der menschlichen Ebene eine gute Übereinstimmung empfanden.

Vladimir erzählte von seiner schwierigen Arbeit unter schlechten Bedingungen in der Klinik als Chirurg und von seiner Abkommandierung auf das Schiff, die ihm gar nicht recht gewesen sei. Denn, und da wurde er noch leiser und sehr traurig, er habe seine Frau in einer psychiatrischen Klinik zurücklassen müssen, weil sie dringend behandlungsbedürftig sei. Immer wieder trank er mir zu, und ich spürte, wie der Wodka mir ins Blut floß und in den Kopf stieg.

Wir waren mitten im vertraulichen Gespräch, da klopfte es, und tatsächlich geschah genau das, was Vladimir vorhergesagt hatte. Ein Offizier trat ein, begrüßte mich freundlich, setzte sich selbstverständlich zu uns, trank auch einen Wodka und noch einen und redete über die wunderbaren Errungenschaften des Kommunismus und die schreckliche Bedrohung der Welt durch den Kapitalismus. Die entscheidende Botschaft war klar: Kommunismus ist gut, Kapitalismus ist schlecht und muss bekämpft werden. Ich wartete bei seiner Glorienscheinrede nur noch darauf, dass er mir erklärte, wie der Kommunismus in Zukunft auch das Wetter bestimmt. Der Offizier riss das Gespräch vollständig an sich und stellte nur eine einzige Frage, die er gleich selbst beantwortete: „Sie kommen von der Meteor, oder nicht?“ Ich nickte, und das auch nur aus Höflichkeit.

Ich hatte den Eindruck, Vladimir und ich dachten gleich: Wir lassen ihn reden und ins Leere laufen und warten einfach, bis er geht. Ich hörte mir die Propaganda an wie eine Wahlkampfrede, dachte mir meinen Teil und sah überhaupt keine Veranlassung, zu diskutieren oder einen konträren Standpunkt zu verteidigen. Das hätte die Zeit mit diesem geistig vernagelten Funktionär nur verlängert. Nach einiger Zeit und einem abgespulten Politmonolog auf die Segnungen des allmächtigen Marxismus-Leninismus verabschiedete sich unser ungeladener Gast, und wir waren wieder allein. Darauf mussten wir gleich natürlich diesen vorzüglichen Wodka trinken und uns zuprosten.

Ich weiß nur noch wenige Einzelheiten aus diesem Gespräch, aber sie sind mir heute nicht mehr so wichtig. Das Entscheidende an der nächtlichen Begegnung war für mich die unerwartete Vertrautheit, die emotionale Ebene, auf der zwei fremde Menschen sich in einem fast geschützten Raum treffen konnten und erlebten, dass trotz so entgegengesetzter politischen Richtungen sehr einfache und lebendige Verständigungsmöglichkeiten existieren und fast wortlose Drähte des wechselseitigen Verstehens harmonisch schwangen.

Obwohl wir uns vorher nie begegnet waren, fühlte ich mich in Vladimirs Gegenwart sofort wohl und hatte keinerlei Bedenken, mit ihm offen zu sprechen. Andererseits hatte ich nichts zu verbergen und empfand mich nicht als Geheimnisträger, obwohl ich wusste, dass ich rein rechtlich gesehen als Soldat automatisch einer war. Ich dachte daran, dass man uns bei der Grundausbildung in der Sanitätsakademie in München eingeschärft hatte, beim Kontakt mit Sowjets äußerst vorsichtig zu sein, um nicht unversehens in eine Spionageaffäre verwickelt zu werden.

Da Vladimir erzählt hatte, dass er aus Leningrad stammt, bot sich für mich sofort das Thema der Musik an und die weltberühmten Leningrader Philharmoniker unter dem damals im Westen schon legendären Jewgenii Mrawinski. Heute weiß ich, dass dieser große Dirigent 50 Jahre lang, nämlich von 1938 bis 1988, der Chef dieses Orchesters war und damit länger als jeder andere Dirigent in der Geschichte der Orchestermusik bei irgend einem Orchester. Er hat die Leningrader zu Weltruhm geführt und unschätzbare Konzerte geleitet und großartige Tondokumente hinterlassen.

Bei dem Stichwort Leningrader Philharmoniker begannen Vladimirs Augen zu leuchten, und wir sprachen lange über seine Konzerterlebnisse und von meinen Plattenaufnahmen der Tschaikowski-Sinfonien mit diesem grandiosen Orchester. Da ich sehr gerne original russische Aufnahmen gehabt hätte, fragte ich ihn schließlich: „Was hältst du davon, wenn wir Schallplatten austauschen? Ich könnte dir doch deutsche Platten schicken und du mir russische?“ Seine Antwort war ernüchternd und bestand aus in einem einzigen traurigen Satz: „Meine und deine Platten werden nie ankommen, weil der sowjetische Zoll und der KGB sie gut gebrauchen können.“

Im Laufe der Stunden genoss ich das frisch gebackene, fast schwarze Vollkornbrot, das Vladimir aufgetischt hatte. Es schmeckte nicht nur kernig, sondern ich versprach mir auch eine verzögerte Aufnahme des Wodkas davon, den Vladimir in seiner herzlichen Gastgeberstimmung immer reichlich nachschenkte. Ich genoss es, mit einem Brocken des Brotes den ganzen Mund voll von diesem kräftigen Geschmack zu haben und herzhaft auf das grob gemahlene Korn beißen zu können.

Als ich Vladimir in meiner spontanen Begeisterung sagte: „So ein knuspriges und würziges Brot habe ich schon lange nicht mehr gegessen. Das ist eine Delikatesse!“ strahlte er, stand auf, verschwand für einen Moment und kam mit einem ganzen Laib zurück, gab ihn mir in die Hand und sagte: „Heute gebacken! Ich habe es vom Koch extra für dich geholt. Nimm es mit, und wenn du isst, denk an mich.“ Ich war gerührt und bedankte mich herzlich.

Schließlich schaute ich auf die Uhr. Es war Mitternacht geworden, die Flasche war leer, und Vladimir wollte eine zweite öffnen. Das konnte ich mit viel Überredungskunst verhindern. Ich musste noch zur Meteor gehen! Ich war mir nicht so sicher, ob ich das schaffen würde, das Schiff schwankte so seltsam. Aber trotzdem fühlte ich mich klar.

Ich erinnere mich noch genau, dass ich Vladimir fragte: „Darf ich dir einen Brief nach Leningrad schreiben, wenn ich wieder zu Hause bin? Gibst du mir deine Adresse?“ Er schüttelte langsam den Kopf und sagte nachdenklich: „Ich würde dich gerne oft wiedersehen und mit dir sprechen. Ich würde mich auch riesig freuen, wenn wir regelmäßig in Briefen einen Gedankenaustausch haben könnten. Aber es würde mich auf jeden Fall in große Probleme bringen, wenn mein Westkontakt bekannt wird. Und er ist nicht zu verbergen.“ Er machte ein kurze Pause, dann erklärte er: „Mit deinem ersten Brief an mich stehe ich automatisch auf der Liste beim KGB und werde lückenlos überwacht, und der KGB liest deinen Brief vor mir, wenn ich ihn überhaupt erhalte.“ Ich war sehr betroffen, nicht nur über seine Ablehnung, die ich bei dieser Begründung sofort einsah, sondern besonders über die menschenverachtenden Umstände, unter denen er lebte.

Vladimir legte seine Hand auf meine und sagte eindringlich: „Lass uns diesen Abend im Gedächtnis bewahren als einmaliges Erlebnis! Lass uns dankbar sein für diese menschliche Begegnung in einer feindlichen Welt und hoffen, dass unsere Völker vielleicht eines Tages wieder friedlich zusammensitzen können wie wir beide heute Abend.“ Er machte eine kleine Pause, ich nehme an, damit seine Worte in meinem Herzen die von ihm beabsichtigte Wirkung entfalten konnten.

Dann sprach er feierlich weiter: „Ich danke dir, dass du gekommen bist, und ich werde dir oft in Gedanken gute Wünsche schicken. Wir werden uns nie wieder treffen. Ich möchte mich hier von dir verabschieden. Draußen kann ich das nicht so tun, wie ich es fühle.“

Er nahm mich in seine Arme, drückte mich kräftig an sich, und ich erwiderte die Umarmung herzlich. Als er mich langsam losließ, sah ich, wie seine Augen feucht waren. Dann hob er andachtsvoll seine rechte Hand, streckte sie langsam zu meinem Kopf und zeichnete mir mit seinem Daumen ein kleines Kreuz auf die Stirn. „Gott segne dich!“ flüsterte er. Wir schauten einander lange in die Augen, und ich spürte, wie eine Träne an meiner Wange abwärts glitt.

Er begleitete mich schweigend durch das Schiff an die Reling und ging mit mir das Fallreep hinunter. Ein paar Meter neben dem genau beobachtenden Wachposten standen wir einander gegenüber. Jetzt war mir klar, warum die Verabschiedung in der Kabine stattfinden musste. Vladimir schaute mich an. Seinen Blick sehe ich noch heute: Wehmut, Trauer, Freundschaft, Leid, Leidenschaft begegneten mir in dieser Sekunde, eine große russische Seele. Er gab mir die Hand, drückte kräftig, verbeugte sich und ließ langsam los. Ich hatte ebenso wortlos seinen Gruß erwidert, und nach einem intensiven Blick drehte ich mich um und ging in Gedanken versunken zur Meteor. Bevor ich um die nächste Ecke bog, schaute ich noch einmal zurück. Vladimir stand noch an derselben Stelle, und wir winkten einander ein letztes Mal zu. Ich hatte nie wieder Kontakt mit ihm.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Ich habe die Geschichte in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht

 

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Zahnärztliche Behandlung

Glücklicherweise hatte Bernd, mein zahnärztlicher Kollege in Wilhelmshaven, die Idee gehabt, mir vor meinem Einsatz auf der Meteor in zwei Sitzungen alle meine vier sehr tief und schräg liegenden Weisheitszähne zu ziehen, damit sie mir auf See keinen Ärger machen. Dabei hat er mir noch Privatunterricht gegeben, wie man eine Leitungsanaesthesie im Mundbereich richtig setzt, und er lehrte mich, Zähne zu ziehen. Er hatte mir sorgfältig die verschieden geformten Zangen und Hilfsmittel erklärt und sich Mühe gegeben, mich ordentlich auf Zahnpatienten vorzubereiten. Ich durfte bei einigen seiner Operationen zuschauen und auch selbst Hand anlegen.

Sicherheitshalber hatte Bernd mir ein gutes Zahnheilkundebuch mitgegeben, in dem zahnärztliche Notfälle und ihre Therapie beschrieben waren. Ich traute mir Eingriffe an den Zähnen nicht zu, weil ich überhaupt keine Erfahrung damit hatte. Sie waren in meinem Medizinstudium nicht vorgesehen. Wir hatten nur ein paar theoretische Zahnmedizinvorlesungen zu besuchen, und ich muß gestehen, daß ich sie langweilig fand und zu diesen warmen Nachmittagsstunden in jenem Sommersemester meistens im Freibad lag.

Es kam, wie es kommen musste. Ich hatte den Eindruck, dass meine Angst, eine Zahnbehandlung machen zu müssen, genau diese Situation anzog. Eines Tages stand einer der Matrosen mit dicker Wange vor meiner Tür und meinte kleinlaut: „Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen wegen meiner Zahnschmerzen, und die fünf Aspirin-Tabletten wirken auch nicht mehr.“ Er stöhnte ganz entnervt und erschöpft: „Doc, Sie müssen mir helfen, ich halt´ es nicht mehr aus. Machen Sie, was Sie wollen, aber befreien Sie mich von den Schmerzen! Sonst springe ich über Bord oder renne mit dem Kopf an die Wand!“

Einesteils tat mir der Mann ja wirklich leid, nicht nur weil er offensichtlich stark unter seiner Pein litt, sondern auch weil er keinen besseren Zahnarzt bekam als gerade mich, wo ich doch mit dieser Arbeit überhaupt keine Erfahrung besaß. Das hatte er nicht verdient! Ich wusste nicht einmal, wie tief ich bohren musste.

Und da fiel mir noch Bernds Satz ein: „Wenn du das Loch gebohrt hast, schmierst du es einfach dicht mit Amalgam sorgfältig zu, das ist unproblematisch!“

Andererseits war diese Situation meine Chance: Mein Patient konnte nicht wählerisch sein, wir waren geradezu schicksalshaft aneinander geknüpft. Ich musste ihm helfen, ich wollte es ja auch gern tun, und so gestand ich ihm vorweg, dass ich sehr unsicher sei, mich ganz und gar nicht traue, seinen Zahn fachgerecht zu versorgen und es mir eigentlich lieber sei, er würde noch einen Versuch mit einer stärkeren Tablette machen.

Mein Patient merkte natürlich sofort, dass ich mich vor einem Eingriff drücken wollte, den ich nicht beherrschte und der ihm vielleicht schaden oder zumindest nicht helfen würde. Mit dem Rest seiner Kraft widersprach er mir heftig: „Nein! Das kommt überhaupt nicht in Frage! Ich will, dass Sie jetzt sofort den Zahn aufbohren oder gleich ziehen! Keine Stunde länger halte ich das aus!“

Also ließ ich ihn auf den Stuhl sitzen, der eine Nackenstütze hatte, und holte das zahnärztliche Besteck heraus. Mit der Operationslampe konnte ich die Mundhöhle gut ausleuchten, und ich setzte zuerst eine den Unterkiefer betäubende Spritze. Dann baute ich mein Instrumentarium auf und kam mir dabei sehr unbeholfen vor. Aber was macht man nicht alles, wenn kein anderer da ist, an den man die Aufgabe delegieren kann!?

Die Spritze saß gleich richtig, und mein Patient atmete erleichtert auf, als er spürte, dass die Schmerzen rasch verschwanden. Er ließ seine hochgezogenen Schultern sinken und beobachtete aufmerksam meine Vorbereitungen. Ich versuchte, möglichst wenige Geräte bereit zu legen, um ihn nicht zu schrecken, und die vielen Zangen zum Ziehen der Zähne ließ ich vorerst im Schrank, um ihm nicht noch mehr Angst zu machen als ich schon hatte.

Er muss wohl meine Schweißperlen auf der Stirn gesehen haben, denn er sagte beruhigend: „Doc, Sie machen das jetzt richtig, den Daumen meines Kollegen haben Sie neulich auch hingekriegt!“ Das war ja großartig: Der Patient sprach dem Arzt Mut zu! Aber vielleicht war es die Hoffnung des Verzweifelten, die ihn dazu veranlasste, unsere Schicksalsgemeinschaft zu stärken. Und ich musste mit ihm jetzt diese Situation möglichst gut durchstehen, wenn es auch nur eine alltägliche Prozedur für einen Zahnarzt war. Aber ich bin kein Zahnarzt!

Ich hängte mir das Bohrmaschinchen um den Hals, wählte die Bohrkrone, die mir passend erschien, mein Patient öffnete tapfer seinen Mund, und ich begann ebenso mutig unser gemeinsames Wagnis. Zuerst säuberte ich die Umgebung des kranken Zahnes, tupfte das Zahnfleisch und die Kaufläche trocken und begann zu bohren. Mein Patient hielt den Kopf ruhig, und ich kam mit dem Bohrer gut voran. Die Maschine war einfach konstruiert, baumelte mir etwas lästig um den Hals, aber sie leistete gute Dienste. Als mir das Loch groß genug und die Ränder glatt erschienen, säuberte ich die Innenseiten des Loches und ließ die Mundhöhle spülen. Dann nahm ich das bereitstehende Amalgam und füllte es sorgfältig hinein. Es ging alles viel einfacher und schneller, als ich mir das vorgestellt hatte. Ich polierte die neue Kaufläche glatt und war tatsächlich im Moment mit meinem Patienten und sogar mit mir zufrieden.

„Jetzt müssen wir nur abwarten, ob die Schmerzen auch dann weg sind, wenn die Narkose im Kiefer nachlässt. Vielleicht muss ich ja noch tiefer bohren! Ich bin mir wirklich nicht sicher.“ Ich wollte meinem Patient keine Angst machen, aber ich fühlte mich wenigstens verpflichtet, ehrlich zu sein.

Er verstand das und sagte gequält lächelnd: „Das hoffe ich auch! Wenn´s nicht funktioniert, komme ich wieder! Auf jeden Fall mal danke, dass Sie es überhaupt gemacht haben!“ Er wandte sich zur Tür, und ich sagte: „Können wir uns in ein paar Stunden wieder sehen? Ich will wissen, was mit Ihren Schmerzen geschieht!“ Er versprach, später noch einmal vorbeizukommen.

Erleichtert für den Moment räumte ich die Instrumente auf und war froh, daß der Eingriff ohne Komplikationen abgelaufen war. Einige Stunden später kam der Matrose zurück und berichtete, er habe wieder das volle Gefühl in der Wange und im Zahnfleisch, und die Schmerzen seien verschwunden! Da hatten wir aber Glück gehabt! Ich bat ihn, den Zahn zu Hause bei seinem Zahnarzt kontrollieren zu lassen. Tatsächlich kamen die Schmerzen auch in den folgenden Tagen und Wochen nicht wieder, und mein Patient erzählte später, als er in Hamburg beim Zahnarzt gewesen war, ich hätte es wirklich richtig gemacht.

 

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Diese Geschichte habe ich in meinem Buch als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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Beginn der ersten Reise als Schiffsarzt

Eine meiner eindrucksvollsten Reise erlebte ich, weil ich während meiner meist eintönigen Wehrpflichtzeit bei der Marine rasch entschlossen die Gelegenheit ergriff, als Arzt auf dem Forschungsschiff Meteor über vier Monate lang in den tropischen Atlantik und etwas mehr als einen Monat in die winterliche Nordsee zu fahren.

Ich flog mit ein paar Besatzungsmitgliedern mit einer Linienmaschine nachts nach Dakar im Senegal, weil das Schiff dort im Hafen lag, als mein Auftrag begann. Auf der Meteor traf ich Heinz, meinen Vorgänger, der mir in drei gemeinsamen Tagen an Bord alles Wichtige zeigte und erklärte, bevor er selbst nach Deutschland zurückkehrte.

Zuerst führte er mich durch das sehr kompakt wirkende Schiff mit den vielen Antennen an Bord. Ein Hubschrauberlandeplatz war zum Sonnen und Tischtennisspielen umfunktioniert, da wir keinen Helikopter an Bord hatten. Im Inneren des Schiffes waren die Mannschaftskabinen und die Kajüten des zugestiegenen Forschungspersonals und die Instrumentenräume für die wissenschaftlichen Versuche untergebracht.

Dann lernte ich in mein zukünftiges Zuhause kennen, ein „Medizin-Appartement“ mit mehreren Räumen. Da gab es für mich eine holzverkleidete Kajüte mit speziell angefertigten Nußbaummöbeln. Ein genügend großer Schreibtisch ermöglichte Arbeit am Tageslicht unter den großen Fensterluken. Die eingebaute Eckbank lud zum gemütlichen Gedankenaustausch ein. Und in dem geräumigen Einbauschrank und den vielen Schubladen unter dem erhöhten Bett in der Koje hatte ich reichlich Platz für meine Kleider und Wäsche zur Verfügung. Alle Einrichtungsgegenstände waren so eingebaut oder befestigt, daß auch bei hohem Wellengang nichts durch das Zimmer flog. Sogar an dem kleinen Bücherregal sorgte eine Sicherheitsleiste dafür, dass die Bücher dahinter sturmfest verstaut waren. Der Raum war bis auf den letzten Zentimeter sinnvoll genützt. Wie wichtig diese sorgfältig geplanten und ausgeführten Kleinigkeiten waren, sollte mir später bei einem Orkan in der Nordsee erst sichtbar werden. Das war also meine Wohnung für die nächsten sechs Monate! Ich empfand sie als sehr einladend, praktisch und gerade groß genug. Ich fühlte mich sofort wohl.

Nebenan war das Krankenzimmer eingerichtet. Zwei Betten standen da, eines davon konnte bei hohem Seegang aus der seitlichen Verankerung gelöst werden, sodass seekranke Besatzungsmitglieder nicht so sehr vom Schaukeln des Schiffes betroffen waren, weil das Bett relativ zum Wellengang an einer Längsachse mitschwang und der Patient einigermaßen still liegen konnte. Das allerdings setzte voraus, dass die Wellen immer von der Seite kamen. Es war also nicht für jede Form von Seegang geeignet. In diesem Raum stand auch das kleine Röntgengerät, das als handlicher Tischapparat bei Knochenbrüchen recht passable Aufnahmen lieferte, wie Heinz mir gleich zeigte, als wir meine Hand als Probebeispiel röntgten.

Im dritten Raum, dem Sprechzimmer, stand in der Mitte ein nach allen Richtungen verstellbarer Operationstisch, den ich je nach Bedarf für Untersuchungen und Eingriffe benützen konnte. Ich war ganz verwundert, welche Überraschungen hier in diesem Raum eingebaut waren, alles auf kleinstem Raum und sehr praktisch angeordnet.

Heinz öffnete den großen Medikamentenschrank: „Schau mal, hier sind alle nötigen Medikamente und Verbandmittel, die du brauchen könntest. Auch die Ampullensammlung in dieser Schublade und die Betäubungsmittel hier im Giftschrank habe ich überprüft. Da liegt das Buch für die Verwendung der Morphiumampullen.“ Es war für alles gesorgt. Heinz erklärte weiter: „Das Narkosegerät arbeitet mit Lachgas und ist auf Rollen beweglich. Jetzt siehst du, wie es mit dem Gurt wegen des Wellengangs an der Wand befestigt ist.“ Heinz wandte sich zu einem tischhohen Schubladenschrank und zog nacheinander die Fächer auf: „Da sind die Kästen mit den Instrumenten für Eingriffe aller Art. Ich hab sie alle neu sterilisiert mit dem Steri, den du hier stehen siehst.“ Er deutete neben den Schrank. „Und sie sind so beschriftet, dass du schnell die passenden Päckchen findest, die ich für typische Operationen gepackt habe.“ Ich staunte, welch eine Vielfalt an kleinen und großen Instrumenten hier lagen, eine ausreichende und von einem Kenner zusammengestellte Sammlung für alle denkbaren Noteingriffe.

„Schau, und da ist die Zahnausrüstung!“ Ich spürte, wie Heinz stolz war auf seine Ausrüstung, die er gepflegt hatte und mir jetzt übergab. „Da liegen alle Bohrer, Zangen, Häkchen, Mundspiegel, die du brauchst. Und hier ist die Bohrmaschine.“ Er nahm das faustgroße Gerät in die Hand und hängte es mir mit einer kleinen Gurte um den Hals. „Sie ist zwar nicht ganz so modern, aber sie funktioniert prima. Die Bohrer sind ganz einfach auszuwechseln.“ Mit ein paar gezielten Griffen nahm er einen Bohraufsatz aus der Leiste in der Schublade und setzte ihn in die Halterung. „Halt, lass mich auch mal“, sagte ich und wiederholte den Bohrerwechsel. „Ich muss das selbst machen, dann lerne ich es schneller.“

Dann gingen wir in den vierten Raum, das Badezimmer mit WC und Waschbecken. Hier gab es sogar eine Badewanne und einen eingebauten Schrank mit den wichtigsten Laborgeräten. „Donnerwetter, welch ein Luxus!“ Ich war begeistert.

Nachdem wir das ganze Appartement angeschaut hatten, besprachen wir im „Wohnzimmer“ an Hand der Karteikarten die einzelnen Personen an Bord. Eigentlich gab es keine besonderen Vorkommnisse oder Komplikationen zu erwarten, da alle Mitglieder der Stammbesatzung und die Wissenschaftler vor der Reise sorgfältig auf Seetauglichkeit untersucht worden waren und keine gesundheitlichen Probleme hatten. Es ging also jetzt nur noch darum, unerwartet auftretende Ereignisse zu behandeln.

„Was könnte das sein?“ fragte ich. „Na ja,“ meinte Heinz, „da ist natürlich alles drin vom harmlosen Unfall bis zum akuten Blinddarm. Während meiner zwei Monate hier an Bord gab es nur einen einzigen Unfall, aber der hat mir schwer zu schaffen gemacht. Der Chief, das ist der Leitende Maschineningenieur, wollte eine große Batterie öffnen, und dabei ist ihm die Säure ins Gesicht gespritzt. Seine Gesichtshaut konnte ich ja relativ schnell reinigen, aber seine Augen machten mir große Sorgen.“ Heinz zeigte eine bedenkliche Miene und sprach dann weiter: „Er lag ein paar Tage mit verbundenen Augen hier im Lazarett, und ich hatte wirklich Angst, er würde beidseitig erblinden. Glücklicherweise ist es gut gegangen, er sieht wieder normal. Du wirst ihn kennen lernen.“

Bei dieser knappen Schilderung der bangen Tage spürte ich, wie mir heiß wurde. Solche Notsituationen sind auch für den Arzt sehr schlimm, nicht nur für den Patienten! Welche Chancen würde ich haben, rasch kompetente Hilfe zu bekommen, wenn ich allein nicht mehr weiter weiß? Denn es war geplant, dass das Schiff auf hoher See zweimal jeweils für vier Wochen vor Anker liegt, um meteorologische Forschungsdaten zu sammeln, also gar nicht zu einem nächstliegenden Hafen fahren kann.

„Das ist relativ einfach!“ meinte Heinz und erklärte mir die Lage: „Stell dir vor, in ein paar Tagen, wenn ihr alle wieder auf dem Posten seid, liegen da draußen etwa tausend Kilometer von hier entfernt die zehn Schiffe aus den verschiedenen Ländern, die du hier im Hafen siehst, so beieinander.“ Er malte mit seinem Finger ein Achteck auf die Tischdecke und setzte zwei Punkte in die Mitte. „Eines dieser Schiffe hier in der Mitte ist die Meteor.“ Ich fragte: „Und welche Entfernungen liegen zwischen diesen beiden Schiffen?“ Er antwortete: „Auch das ist einfach: Es liegt gerade hinter dem Horizont. Aber der Funkkontakt ist gut, und mit dem Motorboot, das draußen an der Reling hängt, ist man rasch da. Die anderen Schiffe auf den Eckpunkten sind wesentlich weiter weg, etwa zwei bis drei Stunden Fahrt.“

Das war interessant, und ich wollte mehr wissen: „Und welche Kollegen sind an Bord der anderen Schiffe, was sind das für Schiffe, woher kommen sie, welche Ausbildung haben die anderen Kollegen, was machen die Forscher bei diesem Unternehmen alle zusammen? Ich bin nicht genau informiert worden, wie dieser Forschungsverbund hier arbeitet.“ Plötzlich brachen alle meine Fragen hervor, die ich mir bis jetzt nicht beantworten konnte.

Heinz lächelte und meinte: „Das sind aber viele Fragen auf einmal. Ich will mal sehen, ob ich dir in Kürze einen Überblick geben kann. Also, es gibt GARP.“ Er schrieb mit dem Zeigefinger die Buchstaben auf die Tischdecke und erklärte: „Das heißt Global Atmospheric Research Programme, das ist wie der Name sagt, ein weltumspannendes Forschungsprogramm der UNO, um über Jahre hinweg die meteorologischen Zusammenhänge in der Atmosphäre besser kennen zu lernen. Ein Teil dieses GARP heißt GATE.“ Er schrieb diesen Namen daneben, und in der Tischdecke blieben leichte Eindrücke bestehen. „Das ist die Abkürzung für Global Atmospheric Tropical Experiment. Dabei werden von Forschungsschiffen verschiedener Nationen meteorologische Daten hier im tropischen Atlantik erfasst. Und so weit ich das weiß, läuft zur Zeit ein ähnliches Programm im Pazifik.“

Ich fragte: „Und welchen Sinn verfolgt das ganze Unternehmen?“ Heinz sagte: „Die Untersuchungen sollen dazu dienen, die Wetterentwicklung langfristiger vorausberechnen zu können. Man erwartet davon genaue Informationen, um zum Beispiel Schiffe und Flugzeuge sicherer um die entstehenden Gewitter herumleiten zu können.“

Heinz war in Fahrt gekommen und erzählte weiter: „Für Deutschland sind zwei Schiffe dabei, die Meteor vom Deutschen Hydrographischen Institut, dem DHI in Hamburg, und das Fischereiforschungsschiff Planet, auf dem überwiegend meeresbiologische Forschung betrieben wird. Die anderen Schiffe kommen aus der Sowjetunion, Brasilien, Frankreich, England und den USA.“

„Und warum gibt es auf diesem zivilen Schiff Militärärzte wie wir beiden?“ Diese Frage wollte ich schon lange beantwortet haben. „Na ja,“ meinte Heinz schmunzelnd, „du weißt ja sicherlich, dass die Bundeswehr von dem DHI um Amtshilfe gebeten wurde, weil der Reeder, und das ist das DHI selbst, eigentlich private Schiffsärzte vom freien Markt einstellen müsste. Aber damit hatten sie wohl in der Vergangenheit immer Pech, und deshalb fahren jetzt abkommandierte Stabsärzte wie du und ich mit. So entsteht die etwas kuriose Situation, dass der Doc hier an Bord Soldat im Dienst unter lauter Zivilisten ist.“

Heinz rutschte ein Stückchen auf der Bank nach vorn und sagte: „Übrigens, ganz wichtig: Du wirst sicherlich Gelegenheit haben, die anderen Ärzte kennen zu lernen. Da sind sehr nette Kollegen dabei, die ich bei meinem letzten Treffen hier in Dakar vor einem Monat kennengelernt habe. Die Vanguard ist übrigens auch da.“

Er machte einen Moment Pause, um die Wirkung seiner letzten Worte auf mich zu sehen. Ich fragte ganz verblüfft: „Ich kenne den Namen nicht. Ist das ein besonderes Schiff?“ „Aber ja,“ meinte er und erklärte, „das ist eines der Schiffe, von denen aus die Mondladung gesteuert wurde, ein riesiges schwimmendes Laboratorium mit einer unvorstellbar aufwendigen technischen Ausrüstung an Bord. Die NASA hatte damals rund um den Erdball ein paar Schiffe aufgestellt, die mit dem entsprechenden Personal an Bord das gesamte Mondprojekt hätten leiten können, wenn in Houston etwas ausgefallen wäre. Die Vanguard liegt jetzt im Militärhafen von Dakar, da kommst du nur rein, wenn du Beziehungen hast. Ruf den Arzt dort an, er kann dich mitnehmen.“

Das waren ja spannende Aussichten! Ich nahm mir vor, bei der nächsten Gelegenheit die Kollegen der anderen Schiffe kennen zu lernen. Aber vielleicht konnte ich jetzt noch mehr Informationen bekommen, die nützlich sein würden. „Kennst du einige der Kollegen?“ fragte ich Heinz. Er schüttelte den Kopf: „Leider nicht viele. Aber ich kann dir sehr raten, mit den Sowjets Kontakt aufzunehmen. Auf der Professor Wiese ist ein sympathischer Chirurg dabei. Den habe ich kurz kennengelernt. Aber mir ist jetzt wichtig, dich hier an Bord gut einzuführen und morgen noch einen Ausflug ins Land zu machen. Hast du Lust mitzufahren?“

Ich war gleich dabei: „Ja, gerne, ich war noch nie im Senegal, klar fahr ich mit. Hast du was Bestimmtes geplant?“ Wir hatten nur noch zwei Tage im Hafen, und die wollte ich nützen, um ein bisschen von Land und Leuten zu sehen. Heinz sagte: „Ich habe keinen Plan, aber ich denke, wenn wir uns ein billiges Taxi nehmen und von dem Fahrer ein paar Sehenswürdigkeiten zeigen lassen, sind wir wahrscheinlich ganz gut bedient. Das sehen wir morgen, jetzt bringe ich dich noch zum Kapitän, damit du dich vorstellen kannst. Dann fahren wir in die Stadt und essen was.“

Er stand auf und wollte auf den Flur hinausgehen. Da deutete er auf die Wand zum Krankenzimmer nebenan und sagte: „Übrigens, die beiden nächsten Nächte kannst du in einem der Lazarettbetten nebenan schlafen. Ich muss nur noch dem Steward sagen, dass er dir ein Bett beziehen soll.“ Ich war total verblüfft: „Wie bitte? Er bezieht mein Bett? Ich denke, das mache ich selbst.“ Heinz lachte: „Aber nein, hier an Bord haben wir einen exzellenten Service. Der Steward putzt hier und räumt auf, er macht die Betten und schrubbt dir auch die Badewanne, wenn du sie benutzt hast. Wenn du ihm ab und zu ein Bier spendierst, klappt das hervorragend. Und dann ziehst du hier ein, wenn ich weg bin.“ Er machte eine einladende Geste und bot mir seine komfortable Kajüte an.

Heinz hatte schon die Türklinke in der Hand, aber ich stellte noch eine Frage: „Ja, und wie ist das mit Uniform? Wir sind doch beide Bundeswehrsoldaten. In Wilhelmshaven haben sie mir gesagt, ich solle Tropenuniform mitnehmen, und der Spieß hat extra für mich einen Soldaten mit Auto freigestellt, mit dem ich einen Tag lang nach Hamburg in die Sonderkleiderkammer gefahren bin, um eine Tropenkleiderkiste zu packen. Ich habe noch ein paar Bücher und meine Schreibmaschine reingelegt, damit ich hier gut arbeiten kann. Die Kiste müsste übrigens irgendwo hier sein, ich habe sie vor dem Auslaufen in Hamburg an Bord bringen lassen und hier noch nicht gesehen.“

Heinz beruhigte mich: „Ja, die Kiste steht nebenan im Lazarett unter einem Bett. Und die Uniform kannst du vergessen. Hier an Bord trägt keiner Uniform, höchstens bei einem offiziellen Anlass. Bei der tropischen Sommerhitze sind tagsüber die Badehose und vielleicht ein leichtes Hemd deine Kleidung, abends hast du eine kurze Hose und ein kurzärmeliges Hemd an, das ist alles. Du bist der einzige Soldat an Bord. Da machst du dich mit einer Uniform nur lächerlich.“

Das leuchtete mir ein, und ich war froh, es so unkompliziert zu haben. Wenn ich daran dachte, wie kurios wir Ärzte und die Gefreiten uns immer vorkamen, in der Sanitätsstaffel morgens vor der Sprechstunde in voller Uniform auf Kommando des Spießes den Frühsport absolvieren zu müssen, ging es mir hier ja richtig bequem.

Heinz setzte sich wieder hin, und ich spürte, dass ich ihn aufhielt. Er wollte mich zum Kapitän bringen. Aber er erzählte trotzdem bereitwillig weiter: „Noch was: Der wichtigste Mann für dich ist der Funker, er hat nämlich die Kasse, aus der du dein Geld bekommst. Der Steward bringt dir das Bier hierher, wenn du es willst. Und deine Wäsche gibst du Wu, dem chinesischen Wäscher, der im Untergrund seine Wäscherei hat. Er ist sehr nett, spricht nur gebrochen deutsch, besser englisch, aber er kommt selten an Deck. Er versorgt deine Kleider hervorragend und sehr preiswert.“

„Gibt es etwas, was ich besonders beachten muß, so einbestimmtes Fettnäpfchen, in das ich nicht tappen darf?“ wollte ich wissen. Heinz überlegte kurz, dann sagte er mit gespieltem Ernst: „Ja, ganz wichtig ist, daß du am Sonntag hierher an diesen Tisch die Leitenden zum Frühschoppenbier einlädst, also den Kapitän, den Ersten Offizier, den Chief und den Professor, der das Forschungsprogramm leitet. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz, so etwas wie der Ersatzgottesdienst beim Doktor.“ Heinz erhob den Zeigefinger, so als wollte die enorme Bedeutung dieses Ereignisses unterstreichen. Dabei sprach er weiter: „Sie erwarten das, wollen aber jeden Sonntag wieder neu eingeladen werden. Wenn du es vergisst, sind sie bestimmt beleidigt.“

„Na, das kann ich ja gerne machen!“ lachte ich. „Wenn das meine einzige Pflicht ist, geht´s mir ja gut. Also jetzt würde ich gerne den Kapitän kennen lernen.“

Wir verließen das Arztappartement und stiegen zur Kapitänskajüte hinauf. Dort begrüßte uns der Kapitän sehr freundlich und lud uns zu einem kleinen Drink ein. Wir plauderten eine Weile und fuhren dann mit einem Taxi in die Stadt zu einem Bummel.

Außerhalb der klimatisierten Schiffsräume traf uns die glühende Hitze des senegalesischen Hochsommers wie ein kräftiger Keulenschlag und ein heißer, nasser Waschlappen, der von einem warmen Föhn angeblasen wurde und doch nie trocknete. Die malerisch bekleideten Menschen bewegten sich in der unnachahmlichen Geschmeidigkeit der Schwarzen durch das Straßengewimmel von schrottreifen Autos, hupenden Taxis, kreuz und quer daher schießenden Fahrrädern, schreienden Kindern und feilschenden Markthändlern, die im Staub ihre Waren feilboten.

Wir ließen uns in dem lebhaften Alltagstrubel treiben, blieben da und dort stehen, schauten uns Auslagen an und fanden schließlich in einem sehr gepflegten Hotel einen lauschigen Platz unter Palmen im Garten, wo wir uns niederließen und gepflegt zu Abend aßen. Dabei erfuhr ich auch, daß Heinz jetzt am Ende seiner Wehrdienstzeit war und im nächsten Monat in München seine Weiterbildung zum Kinderarzt beginnen würde.

Ein Taxi brachte uns zu später Stunde zum Schiff zurück. In der vergangenen Nacht hatte ich im Flugzeug wenig geschlafen, und ich sank jetzt müde und erschöpft von den vielen neuen Eindrücken und dem ungewohnten Tropenklima rasch in den Schlaf.

Am nächsten Tag fanden wir für unseren Ausflug tatsächlich einen Taxifahrer, der uns für einen vorher vereinbarten Festpreis einen Tag lang die Landschaft zeigte. Als wir ihm sagten, dass wir auch gerne schwimmen würden, brachte er uns zu einem Neckermann-Urlaubszentrum südlich von Dakar, wo wir ein paar Stunden Ferien genossen.

Heinz musste noch packen, denn sein Flugzeug war für morgen geplant. Und ich nützte die Zeit, um mich auf und in dem Schiff umzuschauen und mit den Räumen und Wegen vertraut zu machen. Dabei lernte ich die Menschen an Bord kennen, und ich ließ mich gerne da und dort auf eine Unterhaltung ein.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Ich habe die Geschichte in meinem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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Der Kapitänleutnant und sein Soldat

Die tragischste Geschichte, die ich während meiner Zeit als wehrpflichtiger Stabsarzt in Wilhelmshaven erlebte, ereignete sich an einem nieseligen Tag.

Der Spieß, der Chef in der Schreibstube, holte mich ans Telefon, ein Notfall sei passiert, der sofort unsere Hilfe erfordere. Bei einem Manöver an der Nordseeküste sei ein Panzer verunglückt, man brauche einen Suchtrupp und einen Arzt. Mehr erfuhr ich im Moment nicht. Ich wurde abkommandiert, mit einem Hubschrauber in die Nähe der Unfallstelle zu fliegen. Dort empfing mich ein Kapitänleutnant, und er stellte sich als der Kommandeur der Kompanie vor, die das Manöver veranstaltet hatte. Er berichtete mir, was geschehen war:

Mit Marinelandungsbooten hatten die Soldaten das Landemanöver von Leichtpanzern geübt. Mit diesen speziellen Schiffen, die vorn besonders flach waren und sich deshalb ganz nah auf den Strand schieben konnten, waren die Panzer über Laderampen an seichten Stellen an Land gesetzt worden. Mehrfach hatte die Übung im Laufe des Vormittags schon gut geklappt. Die kleinen und wendigen Panzer fuhren ein paarmal am Strand entlang und dann wieder auf das bereit stehende Landungsboot hinauf. Da geschah es.

Während der Panzer langsam gerade auf die herab gesenkte Rampe des Bootes zufuhr, steuerte der Panzerführer stehend von der Luke aus das schwere Gefährt. In dem Moment, als der Panzer unmittelbar vor der Bootsauffahrt stand, kam von hinten eine große Welle auf das Schiff zu, hob es hoch und schob es so weit nach vorn, dass die Stahlrampe an der Front des Panzers entlang nach oben glitt und den Panzerführer mitten im Brustkorb in zwei Hälften spaltete. Mit der Wucht der Wasserwelle wurden der obere und untere Teil des Körpers ins Meer gespült. Alles ging viel schneller, als irgend jemand hätte reagieren können.

Die Besatzung konnte sich aus der plötzlichen Überflutung des Panzerinnenraumes durch die freigewordene Luke retten, und die Männer, der Kapitänleutnant und ich saßen jetzt geschockt in einer nahe gelegenen Unterkunft. Wir sprachen kaum. Was hätten wir sagen sollen? Das Entsetzen stand allen im Gesicht. Und ich war auch ratlos.

Als klar war, dass der Leichnam nicht gefunden werden konnte, faltete der Kapitänleutnant langsam seine Hände, als wollte er beten. Dann schaute er mich an und sagte nach einer langen Pause leise: „Jetzt muss ich das den Eltern des Soldaten sagen! Ich werde sie anrufen.“ Er war blass, ja aschfahl geworden, fast stimmlos, er wirkte um Jahre gealtert. Dann stand er schwerfällig wie ein alter Mann auf und ging mit schleppenden Bewegungen in den Nebenraum, wo das Telefon stand.

Ich fragte noch: „Kann ich Ihnen helfen, indem ich mitgehe?“ Er schaute sich langsam um, blickte mir gerade ins Gesicht und schüttelte bedächtig den Kopf: „Nein, da bin ich allein, auch wenn Sie dabei sind. Das muss ein Kompaniechef allein machen. Danke für das Angebot.“ Seine Stimme war weich und sicher, leise und bestimmt. Er öffnete langsam die Tür, ging hinüber in das Zimmer und schloss ganz sacht wieder die Klinke.

Wir anderen saßen beieinander, und doch hatte jeder sich innerlich abgesondert, war in sich versunken und versuchte, mit dieser katastrophalen Situation ins Reine zu kommen. Wir sprachen nicht, schauten vor uns hin, und obwohl  gut geheizt war in dieser Unterkunft, zitterte auch ich. Die Kameraden des Toten kauerten mit noch teilweise nassen Haaren in warme Decken eingemummt auf den Betten, andere trauerten am Tisch, die Köpfe in den Händen vergraben. Einige Zigaretten waren in den Aschenbechern ungeraucht ausgegangen, manche glimmten noch in den zitternden Händen der erschöpften Soldaten. Ich vermute, dass sie darüber nachdachten, dass alle Männer in dem überschwemmten Panzer hätten ertrinken können. In den Tassen war der Kaffee kalt geworden, kaum einer hatte getrunken. Auf dem nassen Strand draußen spazierten die grauweißen Möven auf und ab, als sei überhaupt nichts geschehen.

Nach einer Zeitspanne, die mir endlos erschien, ging langsam die Tür wieder auf, und der Kapitänleutnant kam zurück. Er hatte sich offensichtlich Zeit gelassen, um sich zu sammeln, bevor er wieder seinen Soldaten gegenüber trat. Und doch sah ich die roten Ränder seiner Lider, hörte seine leicht vibrierende Stimme und bemerkte das feine Zittern der schlanken Hände, als er beim Hinsetzen nach einer Tasse griff und sie mit beiden Händen zum Mund führte und bedächtig trank. Es war so leise in dem Raum, dass wir sein Schlucken hören konnten, und wir beobachteten, wie er vorsichtig die halb volle Tasse auf den Tisch stellte.

Seine Soldaten schauten ihn aufmerksam und regungslos aus den Augenwinkeln an, sie waren traurig, hellwach und wohl auch recht hilflos. Sie erhofften sich vielleicht eine seelische Stütze, ein helfendes und tröstendes Wort von ihm. Erst nach einer langen Zeit des bedrückten und beklemmenden Schweigens sagte der Kapitänleutnant mit noch schwankender Stimme in den karg möblierten Raum hinein, ohne jemanden von uns direkt anzusprechen: „Das war das schwierigste Telefongespräch meines Lebens.“

Eine lähmende Stimmung lag in der verrauchten Luft, lange wagte keiner von uns, etwas zu sagen. Nur das unverminderte Kreischen der Möven draußen auf dem leeren braunen Strand klang gedämpft durch die verschlossenen Fenster. Schließlich stand der Kapitänleutnant auf, schaute seine Männer der Reihe nach an und sagte: „Bitte, richten Sie Ihre Sachen, wir fahren nachher mit dem Auto zurück.“

Er grüßte mich mit einem bedächtigen Nicken, einem festen Händedruck und einem „Danke für die Hilfe!“ und verließ mit festen Schritten den Raum.

Der zweigeteilte Körper des Panzerfahrers wurde meines Wissens nie gefunden.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Die Geschichte habe ich in meinem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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