Supervirtuosen

In diesem Kapitel möchte ich nur über die jüngeren Vertreter dieser Gattung schreiben und eben nicht über Vladimir Horowitz, Artur Rubinstein, Arturo Benedetti Michelangeli und Martha Argerich. Obwohl es natürlich ein Extravergnügen ist, wenn wir heute Martha Argerich zuhören und zuschauen können. Ich hatte im Laufe der vielen Jahre für drei ihrer Konzerte Karten. Zweimal hat sie das Konzert kurzfristig abgesagt, und einmal spielte Igor Levit im Festspielhaus Baden-Baden für sie das Schumann-Klavierkonzert. Aber die Youtube-Aufnahmen und meine zahlreichen Cds von ihr geben wenigstens einen guten Einblick in das immer noch stupende Können dieser jetzt 81-jährigen Ausnahmepianistin.

Ich möchte mit Marc-André Hamelin beginnen, dem Frankokanadier, der 1961 in Montreal geboren wurde und sich als brillanter Pianist und Liebhaber ausgefallener und besonders schwieriger Werke von weitgehend unbekannten Komponisten einen großen Namen geschaffen hat. Hamelin ist ein sehr fleißiger und sorgfältiger Arbeiter, der mit beeindruckender Bescheidenheit besonders Festivals weltweit mit seinen Konzerten bereichert, in denen er Raritäten vorstellt, die kaum ein anderer Pianist zu spielen vermag. Ich denke da an die Jazzetuden von Nikolai Kapustin und die extravaganten Klavierpreziosen von Roslavets, Kaikhosru Sorabji und Ferruccio Busoni. Durch Hamelin werden wieder die kaum gespielten Klavierkonzerte von Max Reger, Anton Rubinstein, Xaver Scharwenka und einigen anderen vergessenen Komponisten bekannt.

Nicht zu vergessen die enorm komplizierten Bearbeitungen der Chopin-Etuden durch den berühmten Virtuosen Leopold Godowsky (1870-1938)! Hier werden wirklich alle Register der extremen Schwierigkeiten auf dem Klavier gezogen. Es ging Godowsky primär darum, die maximal möglichen technischen Fähigkeiten des Klaviers und des Pianisten auszuloten. Das hatte wenig mit der ursprünglichen Absicht Chopins zu tun, der die selbstverständlich vorausgesetzte Technik in den Dienst der Musikalität stellte. – Godowsky kam sogar auf die Idee, Etuden so zu bearbeiten, dass mehrere Chopin-Etuden in einem einzigen Stück gegeneinander laufen, z.B. Op. 10, No. 5 und op. 25, No. 9 oder Op. 10, No. 11 und op.25, No.3! Eine Gesamtaufnahme dieser Chopin-Godowsky-Etuden, die bei Hyperion erschienen ist, gehört in die Sammlung jedes Klavierenthusiasten. Als Hamelin auf die extremen technischen Herausforderungen dieser Etuden angesprochen wurde, meinte er trocken: „Sie können sicher sein, ich habe meine Hausaufgaben gemacht.“

Wer mal fetzige Klaviermusik von Johann Strauß hören möchte, sollte zu den Walzer-Bearbeitungen durch Godowsky greifen!

Hamelin komponiert auch. Er hat sich z.B. 12 Etuden in allen Moll-Tonarten geschrieben. Um diese Übungsstücke spielen zu können, muss man Hamelin heißen. Wer richtig ausflippen will, sollte sich bei Youtube anschauen, wie Hamelin die 2. Ungarische Rhapsodie von Franz Liszt spielt: Sie fängt „ganz normal virtuos“ an, wunderschön gespielt, akkurat, singend, kraftvoll rhythmisiert. Dann gibt es eine kleine Pause. Ist das die Ruhe vor dem Sturm? Nein! Da bricht ein Tornado los, ein Orkan fegt durchs Wohnzimmer, der alle Sinne weghaut mit einer Improvisation von Hamelin über diese Rhapsodie! Nur mit einer starken Zeitlupe ließen sich diese Hände wohl zähmen. Sie spielen glasklar mit einer unfassbaren Leichtigkeit, die sprachlos macht. Und trotz der Rasanz der Töne klingt immer noch herrliche Musik! Das ist ein wahres Extravergnügen für solche Klavierfreaks wie mich.

Der nächste Virtuose ist dagegen an Extrovertiertheit kaum zu überbieten. Ich gestehe, dass ich ihm nur zuhören kann, wenn ich ihn nicht anschaue. Seine manierierten Kopfdrehungen, sein Augenrollen und die gesteigerte Mimik, die Beifall heischenden Blicke ins Publikum während seines brillanten Spiels lenken mich ab, sie stören mich sehr. Ich rede von Lang Lang. Er erinnert mich an ein Zitat von Joachim Kaiser, dem berühmten Musikkritiker. Er schrieb einmal über Glenn Gould: „Wenn ein Läufer sich vor und nach dem 100-m-Lauf benimmt wie ein Blender und die 100 m trotzdem in 10,2 Sekunden läuft, ist er eben kein Blender.“ – Und wenn ein Pianist sich während des Spiels benimmt wie ein beifallsüchtiger Pianist, der auch durch seine Mimik auffallen will und trotzdem brillant spielt, ist er eben doch ein sehr guter Pianist. Aber für mich gehört er vom Habitus her zu beurteilen -bei allem Respekt vor seinem exzellenten technischen Können- zu den Entertainern.

Als Lang Lang im Curtis-Institut in New York bei Garrick Ohlsson studierte, hatte dieser noch eine andere Schülerin, die im Alter von 19 Jahren bereits bei Ihrem Abschlusskonzert eine sensationelle Darbietung der 1. Chopin-Ballade mit der fingerbrecherischen Coda lieferte und inzwischen unbestritten zu den absoluten Ausnahmeerscheinungen in der klassischen Klaviermusik gehört. Diesen Namen muss man sich merken: Yuja Wang, geboren 1987, eine Chinesin aus Peking, die als Kind schon nach New York zum Studium kam. Den endgültigen Durchbruch erreichte sie, als sie im März 2007 kurzfristig für Martha Argerich einsprang und mit dem Boston Symphony Orchestra das 1. Tschaikowski-Klavierkonzert spielte. Ich habe Yuja Wang noch nicht im Konzert erlebt, weil das Konzert, für das ich Karten hatte, wegen der Corona-Pandemie ausfiel. Aber ich verfolge ihre Konzerte, die in großer Zahl in Youtube hochgeladen sind und einen sehr guten Eindruck ihrer überragenden Kunst vermitteln. Die Leichtigkeit in extrem schwierigen Passagen und die nach meiner Meinung sonst unerreichte Virtuosität ihrer Hände, vermischt mit erfrischendem Humor und hoher Sensibilität sind bewundernswert. Es beeindruckt mich tief, wie sie ihren Anschlag innerhalb von Sekundenbruchteilen von Stahl auf Seide und das Leuchten ihres Klaviertons von Blitzlicht auf Glühwürmchen umstellen kann. Flüstern und Kanonendonner liegen so nahe beieinander wie Moos auf Fels. Bedrohliches Hagelprasseln und ein samtwarmes Lüftchen kann sie von einem zum anderen Ton umschalten. Der schlackenfreie, im besten Sinne wunder-schöne Gesang ihrer Finger ist für mich nur mit der Klangkunst von Arturo Benedetti Michelangeli und Grigori Sokolow vergleichbar. Ich habe den Eindruck, diese Pianistin kann einfach alles mit spielerischer Eleganz und tiefer Musikalität spielen.

Und nicht nur das! Sie schafft sogar Megakonzerte, die es meines Wissens so noch nie im Konzertleben gegeben hat: An einem Abend alle drei Bartok-Klavierkonzerte! Sie gehören zu den kompliziertesten Klavierwerken der Literatur. Und am 28. Januar 2023 spielte sie in der Carnegie Hall in New York mit dem Philadelphia Orchestra einen Rachmaninoff-Marathon mit allen vier Klavierkonzerten und noch die Rhapsodie über ein Thema von Paganini dazu! Ein Konzert über viereinhalb Stunden mit Pausen. In Youtube kann man sehen, wie der Dirigent, Yannik Nézet-Séguin, am Ende des Konzerts applaudierend auf dem Podium vor Yuja Wang auf die Knie geht! Das Publikum tobte vor Begeisterung. Und die Pianistin stand nach diesem Klavierteufelsritt lächelnd daneben und sah aus, als wollte sie gerade das Konzert beginnen – völlig unangestrengt, ausgeruht, kraftvoll, ohne einen Schweißtropfen auf der Stirn. Dann schenkte sie dem Publikum noch eine Dreingabe: Tanz der seligen Geister aus Orpheus und Euridike von Gluck, eine samtzarte und sehr schwierige Bearbeitung für Klavier – mit der wunderbaren Melodie, die Yuja Wang auf dem Klavier singt.

Aber nehmen wir es mal ein bisschen „kleiner“: Hören und sehen Sie in Youtube ein paar typische ihrer Dreingaben: Die Prokofiew-Toccata, die sie mit Stahlfingern im unbarmherzig durchgehaltenen Maschinenpistolentempo und trotzdem hochmusikalisch in die Tasten schlägt (toccare heißt auf Italienisch schlagen, berühren!). Oder Gretchen am Spinnrad von Schubert in der Transskription von Franz Liszt. Da zeigt sich, was eine große Künstlerin wirklich kann: die leisen Töne, den Gesang auf dem Klavier und sozusagen nebenbei das absolut untergeordnete Virtuosenspiel – so schlicht und berückend schön. Im Erlkönig packt sie mit Teufelskraft das rasante Tempo an, und wer den Text des Lieds kennt, ist versucht mitzusingen, so ergreifend und dramatisch lässt sie den Zuhörer das Drama des Kindes in allen Stimmungsschwankungen miterleben! Sie sollten auch das berühmte Gershwin-Stück Tea for two hören in der Bearbeitung von Art Tatum! Das ist Unterhaltungsmusik im allerhöchsten Qualitätsstandard! Und die witzige Cziffra-Bearbeitung der Tritsch-Tratsch-Polka von Johann Strauß Sohn, den geradezu beängstigenden Hummelflug von Rimski-Korsakoff und den Türkenmarsch aus der Klaviersonate KV 331 von Mozart, den Arcadi Volodos witzig und hochvirtuos bearbeitet hat. Vor vielen Jahren habe ich Volodos damit in Stuttgart gehört. Das war grandios! Und bei Yuja Wang ist es eine Faszination an sprühendem Humor, flirrender Leichtigkeit und atemraubender Brillanz! Es ist wunderbar, diese tiefe Musikalität zu hören, die auch noch in den virtuosesten Passagen selbstverständlich mitklingt! Die Carmen-Variationen, die Horowitz komponierte und als einziger Pianist damals spielte, legt Yuja Wang in einer so unglaublichen Lockerheit und so spielerisch waghalsig hin, dass man sich kaum vorstellen kann, wie extrem schwierig dieses Stück zu meistern ist. Und sie spielt es fast doppelt so schnell wie Horowitz!

Ein anderer Stern ging am Pianistenhimmel auf, als Daniil Trifonov, 1991 in Russland geboren, nach seinem Studium in Cleveland zuerst 2010 den dritten Preis im Chopin-Wettbewerb in Warschau und im Mai 2011 den 1. Preis im Artur-Rubinstein-Wettbewerb in Tel Aviv und einen Monat später den 1. Preis im Tschaikowski-Wettbewerb in Moskau gewann. Das hatte vor ihm noch keiner geschafft! Ausschnitte aus dem Wettbewerb in Tel Aviv sind auf Youtube zu bewundern. Trifonov ist ein introvertierter Pianist, der beim Spiel scheinbar ins Klavier kriecht, um die Töne noch intensiver zu machen. Er schwitzt beim Spiel stark, weil er sich völlig verausgabt. Aber was für ein Spiel! Nicht ist zu schwer. Trifonovs Debut in der Carnegie-Hall im Februar 2013 war eine Sensation, sie ist auf CD erhalten. Als er vor ein paar Jahren die 12 Études d´exécution transcendante von Liszt einstudiert hatte und in Lyon im Konzert vortrug, überhäuften ihn die Kritiker mit Lob. Das Konzert gibt es auch auf Youtube zu bewundern. Live habe ich Trifonov schon zweimal erlebt. Einmal spielte er in Stuttgart mit einem Kammerorchester (ohne Bläser!) beide Chopin-Konzerte, und obwohl ich dachte, diese Konzerte gut zu kennen, entdeckte ich an diesem Abend ganz neue Varianten von herrlichen Passagen, die ich so noch nie gehört hatte. In einem Konzert in Baden-Baden unter Valeri Gergijev lernte ich durch Trifonov das Klavierkonzert von Scriabin kennen. Es hörte sich an wie ein drittes Klavierkonzert von Chopin, wunderbare Musik meisterhaft interpretiert.

Jetzt muss ich noch von Yunchan Lim berichten, der im März 2004 in Südkorea geboren wurde. Er war schon bei mehreren internationalen Jugendwettbewerben erfolgreich, bis ihm im Sommer 2022 in Fort Worth/Texas die Sensation gelang. Lim gewann The Cliburn. Das ist ein internationaler Klavierwettbewerb, der 1962, wenige Jahre nach dem Gewinn des Ersten Preises durch Van Cliburn beim Moskauer Tschaikowski-Wettbewerb 1958, ins Leben gerufen wurde. Lim bekam den 1. Preis und den Publikumspreis als jüngster Teilnehmer, seit es The Cliburn gibt. In Youtube sind alle seine Konzerte während der einzelnen Runden zu bewundern, insbesondere die wirklich sensationelle Darbietung der Transzendentalen Etuden von Liszt. Hier kann man beobachten, wie ein 18-Jähriger(!) eine Sammlung der kompliziertesten und kraftraubendsten Klavierstücke meistert – locker, scheinbar spielerisch leicht, glasklar, mit hoch differenziertem Klangspektrum und stupender Technik. Ein aussagestarkes Detail: Bei der sechsten Etüde, den Feux Follets, den Irrlichtern, – ein Pianistenschreck erster Klasse!- zaubert Lim an der schwierigsten aller nahezu unspielbaren Stellen ein zufriedenes Lächeln auf das Gesicht, als wolle er sagen: Na, geht doch ganz locker! Das konnte er dann noch steigern: Er spielte in der letzten Runde des Wettbewerbs mit dem Fort Worth Symphony Orchestra unter der berühmten Dirigentin Marin Alsop das Rach3. So wird das extrem schwierige, Kraft raubende und lange 3. Rachmaninoff-Klavierkonzert unter Liebhabern genannt, das der Komponist 1909 für sich und sein Debut als Pianist in New York komponiert hat. Es gelang Lim so mitreißend, dass der Dirigentin am Schluss die Tränen in den Augen standen. In der Kritik wird jetzt diskutiert, ob diese Konzertinterpretation durch Yunchan Lim die neue Referenzaufnahme für das Rach3 ist. Eine Rarität, ein exquisiter Hochgenuss! – Ich denke, Yunchan Lim hat bei diesem Wettbewerb Musikgeschichte geschrieben. Er sieht aus wie ein junger Student und verhält sich bescheiden. Aber wenn er spielt, ist er der Maßstäbe setzende und überzeugende Meister!

Bei Youtube gibt es noch eine kraftvolle und souverän gespielte Live-Aufzeichnung des 5. Klavierkonzertes von Beethoven aus Korea und die Dokumentation von Lims Debut in der Wigmore Hall in London. Er wird jetzt seine internationale Karriere angehen, obwohl er noch weiter an der Musikhochschule studieren will. Die Konzertsäle der Welt stehen für ihn offen! Da kommt bestimmt etwas ganz Großartiges auf uns zu! Ich bin sehr gespannt und freue mich darauf.

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