Benützen Sie die psychosomatische Sprache

Es ist sehr hilfreich, die Stimmung, Körpersprache, Modulation der Sprache und die Wortbilder des Patienten wahrzunehmen. Dann können wir uns mit unserer Körpersprache und seinen sprachlichen Bildern auf den Kommunikationspartner einstellen und gleiche
Ebenen der Verständigung schaffen und signalisieren, dass wir „auf seiner Wellenlänge“ sind und mit einem Wortschatz sprechen, den auch er benützt oder zumindest leicht versteht:

Patient: „Ich bekomme keine Luft. Mich drückt etwas auf die Brust.“

Arzt / Schwester: „Wer oder was drückt denn auf Ihre Brust?“

Wenn Sie dabei noch eine drückende, die Brust bedrohende Geste macht, wird die Assoziationskraft des Patienten gesteigert, und er kommt oft noch schneller auf die auslösende Ursache, die dann in einem psychosomatisch orientierten Gespräch erörtert werden kann. Dabei ist selbstverständlich, dass eine körperliche Untersuchung dazu gehört, um eine organische Ursache von einem rein psychisch ausgelösten Globusgefühl zu unterscheiden.

Wir hören oft Formulierungen wie

„Ich habe Kopfschmerzen!“

„Mir ist übel!“

„Ich habe Verdauungsbeschwerden!“

„Ich habe Schmerzen im Nacken!“

Die Lektüre des bekannten Buches „Krankheit als Weg“ von Thorwald Dethlefsen und Dr. med. Rüdiger Dahlke hat mir eine ganz neue Welt eröffnet, meinen Patienten und mir selbst zuzuhören. Dabei habe ich erkannt, dass unser Unterbewusstsein uns immer die richtigen Bilder „auf die Zunge legt“ nach dem alten Gesetz „wie innen so außen“.

Wenn Sie wirklich interessiert sind, auf Ihre Patienten ganzheitlich einzugehen, werden Sie in diesem Buch eine Fülle von verblüffenden Hinweisen und Vorschlägen erhalten, auf die psychosomatische Sprache besser einzugehen und sie in die Diagnostik und Therapie konstruktiv einzubauen. Dann können Sie zum Beispiel bei den oben genannten Sätzen antworten:

„Worüber zerbrechen Sie sich den Kopf?“

„Was liegt Ihnen denn so schwer im Magen? Warum ist Ihnen zum Kotzen?“ (Ich scheue mich nicht, dieses letzte Wort zu benützen, weil es den Sachverhalt drastisch und damit sehr anschaulich macht. Die Patienten verstehen das sehr gut.)

„Welche Eindrücke können Sie nicht verdauen?“

„Wer oder was sitzt Ihnen im Nacken? Was haben Sie sich auf die Schultern geladen?“

Damit erreichen Sie eine rasche Annäherung an die Wirklichkeitsebene des Patienten und geben ihm sehr schnell das Gefühl, ihn zu verstehen, und damit sind einem ganzheitlichen Gespräch Tür und Tor geöffnet.

Seit ich dieses Buch gelesen und in der Praxis täglich angewendet habe, wurde meine Beziehung zu den Patienten und zu mir grundsätzlich verändert. Es ist sicherlich eines der wichtigsten Bücher in meinem Leben. Sie sollten auch den zweiten Band von Dr. med. Rüdiger Dahlke „Krankheit als Sprache der Seele“ lesen.

Fairerweise möchte ich Sie warnen: Diese Bücher sind kompromisslos, geradlinig und für einen eingefleischten Schulmediziner schwierig anzunehmen, weil sie einiges an Althergebrachtem nicht nur in Frage stellen, sondern klar widerlegen. Sie müssen damit rechnen, dass sich Ihr Weltbild und die Sicht Ihrer bisherigen Tätigkeit grundlegend verändern. Wenn Sie das Wissen konsequent anwenden, garantiere ich Ihnen eine Veränderung Ihres Sprachbewusstseins und Ihres Umgangs mit Kranken. Noch einen Hinweis: Erkenntnisse kann man nicht rückgängig machen!

Zurück zur psychosomatischen Sprache: Wir müssen also immer an diesen Satz denken und ihn umsetzen: Begegnen Sie den Patienten auf der gleichen Ebene! Wenn Sie sich mit einem Menschen in einem Haus verabreden, werden Sie ihn logischerweise auf der Etage suchen, auf der er sich befindet. Ebenso müssen wir uns auf die emotionale und rationale Ebene des Gesprächspartners einstellen, um mit ihm optimal kommunizieren zu können.

Wenn Ihr Patient emotionales Verhalten zeigt wie Angst, Trauer, Zweifel, Wut, Freude, Ratlosigkeit, sollten Sie Interesse, Verständnis, Betroffenheit oder/und Empathie zeigen:

Patient: „Ich habe solche Angst vor dem Flug nach Kenia!“

Arzt:

Was macht Ihnen solche Angst?

Können Sie mir das genauer erklären?“

Hatten Sie schon einmal ein schlimmes Flugerlebnis?“

Haben Sie bei der Angst auch körperliche Symptome?“

„Ich habe den Eindruck, dass Sie sich deshalb gar nicht auf den Urlaub freuen können.“

In diesem Beispiel verschlechtern rationale Argumente die Kommunikation, wie Sie an den folgenden Sätzen leicht erkennen:

Die Angst ist unnötig, weil bewiesen ist, dass das Flugzeug das sicherste Verkehrsmittel ist.“

Das ist nicht schlimm, es geht ja wieder vorbei.“

Ja, das haben viele Patienten.“

Auch wenn Sie Ihre eigene Meinung dominieren lassen, fühlt sich der Patient unverstanden oder unterlegen:

Mein letzter Flug war herrlich. Ihrer wird sicher auch schön.“

Durch solche, wenn auch gut gemeinte Antworten, wird der Patient verprellt und verun-sichert. Verallgemeinerungen, Übertragungen von eigenen Meinungen und Erfahrungen anderer Menschen helfen dem Patienten meistens nicht, sich als Individuum angenommen zu fühlen. Sie bringen den Patienten entweder dazu, unbefriedigt die Praxis zu verlassen oder durch weitere Betonung seiner Angst dem Wunsch nach Verständnis Nachdruck zu verleihen. Das erschwert und verlängert das Gespräch.

Wenn sich Ihr Gesprächspartner auf der rationalen Ebene befindet, also z.B. informative Fragen stellt, sachlich schildert oder vernunftbetont argumentiert, sollten Sie Interesse und Sachkenntnis zeigen, klare und direkte Antworten geben oder gezielte Zusatzfragen stellen:

Patient: „Wie wird diese Magenspiegelung  durchgeführt?“

Arzt:

Das erkläre ich Ihnen gerne. ….“

„Haben Sie noch andere Fragen?“

Wir müssen bedenken, dass hinter solchen Sachfragen manchmal Angst steckt. Danach sollten wir fragen, um wirklich empathisch reagieren zu können. Wenn wir nicht fragen, wird ein wesentlicher Aspekt des Patienten außer Acht gelassen:

„Haben Sie Bedenken wegen der Operation?“

„Ich habe den Eindruck, Sie sind besorgt wegen der Operation. Stimmt das?“

Damit begeben wir uns dann gemeinsam auf die Gefühlsebene und können dort die Kom-munikation weiterführen.

Der Satz „Sie brauchen keine Angst zu haben!“ reicht im Allgemeinen nicht aus und wirkt oft bevormundend und bagatellisierend, auch wenn er gut gemeint ist. Außerdem hat der Patient dann möglicherweise den Eindruck, nicht ernst genommen zu werden. Abgesehen davon ist Angst als Folge fehlender oder ungenügender Information ein häufiger Grund für mangelhafte Mitarbeit.

 

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Kommunikation in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , | Schreib einen Kommentar

Wie erreichen wir optimale Aufmerksamkeit beim Patienten? – Empathie

 

Die Persönlichkeit des Arztes und der Schwester strahlt nach außen und bewirkt schon allein dadurch Aufmerksamkeit oder nicht. Wenn wir im Gespräch rasch die richtige Kommunikationsebene treffen, ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Aufmerksamkeit erfüllt. Dazu ist unsere Wachheit für die Situation des Patienten unerlässlich. Dann können wir ihm signalisieren, dass wir seine Lage erkannt haben.

Wenn wir private und fachliche Interessen des Patienten besprechen, soweit das für die Stabilisierung der Beziehung und für die Festlegung der Therapie nötig ist, erlangen wir auch seine Aufmerksamkeit. Fragen Sie nach seinen Arbeitsbedingungen, Aufgaben und Schwierigkeiten. Nebenbei lernen Sie auch noch viel über andere Berufe.

Wir sollten besondere Informationen über das verordnete Medikament geben und auf die persönlichen Belange des Patienten eingehen. Wenn Sie zum Beispiel einem trockenen Alkoholiker alkoholhaltige Tropfen verordnen, produzieren Sie eine Katastrophe.

Auch mit einer originellen Demonstration oder Veranschaulichung der Erkrankung oder Medikamentenwirkung können wir die Aufmerksamkeit erwecken.

Dazu ein kleines Beispiel: Als die Gyrasehemmer [1] neu auf den Markt kamen, fragte mich ein Pharmareferent, der mir gegenüber saß und die drei Finger seiner rechten Hand zusammengekniffen hatte: „Soll ich Ihnen zeigen, wie Gyrasehemmer funktionieren?“ Damit hatte er schon meine Aufmerksamkeit, denn er hielt die Finger so demonstrativ in die Luft, dass ich gespannt war, was da jetzt auf mich zukommen würde. In diesem Moment machte er die Finger auf, und ein kleines Gummiringchen fiel heraus. Er sagte: „Stellen Sie sich einfach vor, dass das Gummiringchen die DNS in der Zelle ist. Jetzt kommt der Gyrasehemmer und sprengt das Gefüge. Damit ist die Zelle zerstört.“

Aus der Tatsache, dass ich mich an diese kleine Szene nach über 20 Jahren Jahren immer noch erinnere, erkennen Sie, wie nachhaltig die Demonstration auf mich wirkte.

Um die Kommunikation optimal zu gestalten, müssen wir die Wirklichkeit des Gesprächs-partners möglichst gut erfassen. Deshalb gilt:

Empathie ist die Grundlage einer guten Kommunikation.

Empathie bedeutet das vollständige Einfühlen in den Bezugsrahmen eines anderen Men-schen mit der Wahrnehmung der gefühlsmäßigen Komponenten und Bedeutungen als ob man der Andere wäre, ohne allerdings den Als-ob-Zustand zu verlassen.

Carl Rogers

Wenn es ein Geheimnis des Erfolgs gibt, dann ist es das: Den Standpunkt des Anderen zu verstehen und die Dinge mit seinen Augen zu sehen.

Henry Ford

Die Aufgabe der Empathie besteht also darin, dass wir uns so gut wie möglich in die Ge-danken, Empfindungen und sozialen Bedingungen des Gesprächspartners hineinversetzen – als ob wir in seiner Lage wären. Damit können wir seine Ebene der Wirklichkeit erreichen und erkennen, was auf ihn wirkt. Nur so kann ein echtes Verstehen zustande kommen. Gleichzeitig müssen wir uns bewusst sein, dass wir nicht in seiner Situation sind. Dieses Einfühlen und Verstehen müssen wir dem Gesprächspartner vermitteln, damit er weiß, dass seine Botschaft angekommen ist. Sonst wird er es weiter versuchen, zum Beispiel mit Eindringlichkeit, mehr Beschwerden, hysterischen, hypochondrischen, ungeduldigen, ärger-lichen, ängstlichen oder depressiven Mechanismen.

Die Distanz der beiden Persönlichkeiten muss gewahrt werden. Das ist nötig, um uns vor fremden Gefühlen, Gedanken und Identifikationen mit anderen Menschen zu schützen. Sonst wird ein kritischer Rat unmöglich, und die Last der übernommenen Probleme würde uns rasch erdrücken.

Im Gegensatz zur Empathie steht die Sympathie. Sie bedeutet wertende Zustimmung zu den Gefühlen, Ideen und Werten des Anderen.

Der empathisch reagierende Mensch wird bei einem weinenden Patienten versuchen, dessen emotionale, rationale und soziale Gründe zu erfassen und ihm taktvoll distanziert zeigen, dass er die Hintergründe verstanden hat oder verstehen möchte. Der sympathisch reagierende Mensch wird sich in die Lage des Patienten versetzen, sich damit identifizieren und zum Beispiel mitweinen.

Dabei ist wichtig zu bemerken, dass beide Reaktionen menschlich richtig und authentisch sind. Wir müssen uns nur darüber bewusst sein, welche Vor- und Nachteile die jeweiligen Reaktionen haben.

Bewusst zwischen Empathie und Sympathie zu unterscheiden und beide je nach Anforderung und Einschätzung gezielt einzusetzen, erlebe ich als eine der ganz großen Künste menschlichen Zusammenlebens. Empathie tatsächlich zu empfinden und zu vermitteln ist mit Sicherheit eine der besonderen Herausforderungen ärztlichen Fühlens, Denkens und Handelns. Diese Kunst zu lernen und ständig zu verbessern, lohnt sich, weil dadurch die Beziehung zwischen Arzt und Patient erheblich intensiviert wird und der Patient sich viel besser in seiner psychosozialen Rolle verstanden fühlt. Außerdem kann der Arzt ganzheitlich behandeln, wenn er die ganze Situation des Patienten erfasst hat.

Wir können Empathie leichter entwickeln und pflegen, wenn wir gelassen, gesellig, selbstkritisch, reflexionsfreudig und seelisch stabil sind.

Beispiele für Empathie

Um uns in die Lage des Patienten hinein zu versetzen und ihm zu zeigen, dass wir seine Wirklichkeitsebene erreichen möchten, bieten sich z. B. folgende Möglichkeiten an:

„Wenn ich Ihnen zuhöre, habe ich den Eindruck, dass Sie ärgerlich (traurig, erfreut, überrascht, enttäuscht…) sind. Stimmt das?“

„Habe ich richtig verstanden, dass … ?“

Wenn Sie streng nach Rogers vorgehen, sind Fragen nicht vorgesehen, sondern der Thera-peut vermittelt nur seine eigenen Eindrücke im Sinne einer Rückmeldung. Er spürt in sich hinein, welches Gefühl bei ihm „ankommt“ und formuliert es etwas weniger ausgeprägt:

„Sie sind jetzt ärgerlich.“

Wir vermitteln also dem Patienten, was wir verstanden haben und geben ihm die Mög-lichkeit, unseren Eindruck zu korrigieren oder zu bestätigen. Das zeigt dem Patienten auch unsere Bereitschaft, unsere Eindrücke zu hinterfragen und eine echte Begegnung auf der gleichen Wirklichkeitsebene zu ermöglichen:

Bitte erklären Sie mir das genauer!“

Was haben Sie dabei empfunden?“

Diese beiden Formulierungen ermöglichen es uns, mehr Informationen über die Gedanken und Gefühle des Patienten zu erhalten, also näher an seine Wirklichkeitsebene heran zu kommen:

„Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie in dieser Situation ärgerlich (enttäuscht, niedergeschlagen…) reagiert haben.“

Hier bieten wir dem Patienten eine Möglichkeit aus unserer eigenen Reaktions- und Denkweise an und versuchen, sie mit der des Patienten in Übereinstimmung zu bringen. Dabei ist aber wichtig, dass der empathische Arzt seine persönliche Meinung nicht in den Vordergrund stellt, sondern die vermutete Reaktion und Empfindung des Patienten.

Alle diese Reaktionsweisen sind nur möglich, wenn wir uns aktiv und emotional bewusst an dem Gespräch beteiligen, also vollständig „auf Empfang“ schalten und uns auf die Wellenlänge des Patienten einzustellen versuchen. Es ist schwierig und eine echte Herausforderung an die Konzentrationsfähigkeit und die Bereitschaft des Arztes, in diesem Moment ganz bewusst zu sein. Diese Fähigkeiten werden an der Universität nicht gelehrt und während der Ausbildung im Allgemeinen nicht vermittelt. Welche Auswirkungen das hat, sehen wir jeden Tag bei der Arbeit und im Privatleben.

Bei einer Fortbildungsveranstaltung zu dem Thema Kommunikation in der Arztpraxis habe ich einmal erlebt, wie niedergelassene Ärzte sich über mehrere Stunden an praktischen Beispielen aus dem Praxisalltag abgeplagt haben, auch nur die Gefühlsebene von der Vernunft-ebene in den Aussagen der Patienten zu unterscheiden. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig es auch für mich ist, immer voll konzentriert auf den Patienten einzugehen.

 

[1] Gyrasehemmer sind eine Gruppe von Antibiotika, die dadurch wirken dass sie ein wichtiges Enzym, die Gyrase, in der Zelle hemmen.

 

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Kommunikation in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , | Schreib einen Kommentar

Die Kommunikationsgesetze von Paul Watzlawick

Kommunikation ist leben miteinander.

Prof. Dr. Karl Jaspers

Kommunikation ist Verhalten zueinander.

Unbekannt

Wir sehen also, dass der Begriff der Kommunikation sehr weit gefasst ist und eben nicht nur etwas mit reden zu tun hat. Der gesamte Bereich der nonverbalen Verständigung, also zum Beispiel die Körpersprache, die Wirkung unserer Umgebung auf uns und die Patienten, die äußeren Erscheinungsformen unserer Person und die Menschen, mit denen wir uns umgeben, stellen einen Teil unserer Kommunikation dar und beeinflussen damit unsere Wirkung auf uns selbst und unsere Umwelt. Jede Verhaltensform einem anderen Menschen gegenüber hat etwas zu bedeuten in unserer Beziehung zu ihm:

  • ob ich am Telefon freundlich oder ruppig bin;
  • ob ich einen Brief sofort beantworte oder erst nach einer Mahnung;
  • ob ich seine Fragen emotional zugewandt oder rein sachlich behandle;
  • ob ich in einer sauberen Praxis / Station arbeite;
  • ob der Patient sich in einer gemütlichen Praxis wohl fühlt;
  • ob er sich durch meine nachlässige Kleidung abgestoßen fühlt;
  • ob ich den vereinbarten Termin pünktlich einhalte.
  • ob ich ein Chaos oder Ordnung auf dem Schreibtisch habe.

Das entspricht dem 1. Gesetz von Watzlawick.

Wenn Sie nicht wissen, was das ist: Merken Sie, wie diese Art der Kommunikation jetzt in Ihnen eine Reaktion auslöst? Das ist wahrscheinlich die gleiche Reaktion, die Ihr Patient entwickelt, wenn Sie ihm etwas Unverständliches sagen. Ich bitte Sie also jetzt um Geduld für ein paar weitere Sätze. Dabei können Sie ebenfalls Ihre Frustrationstoleranz testen, die Ihr Verhalten in Praxis und Privatleben beeinflusst.

Einer der wichtigsten Sätze, die ich bei der Planung meiner Praxis 1981 von Reinhold Wolff gelernt und inzwischen bestätigt gefunden habe, lautet:

Sie bekommen die Patienten, die zu Ihnen passen.

Wie Schwingungen Resonanz erzeugen, ziehen wir Menschen an, mit denen wir auf glei-cher „Wellenlänge“ liegen. Deshalb bekommen wir, was für uns nötig ist und was wir ver-dienen, um uns weiterzuentwickeln, selbst wenn es manchmal sehr unangenehm erscheint. Das ist auch der Grund, warum wir die Mitarbeiter, die Partner und die Umwelt erhalten, die wir brauchen. Ein Arzt, der sich und seine Praxis gut organisiert und konsequent handelt, hat eine andere Klientel als ein Arzt, der eher zu den unorganisierten und inkonsequenten gehört. Dieser wird eher unpünktliche, sozial bedürftige, süchtige und unstrukturierte Patienten anziehen.

Um diese Zusammenhänge besser zu erklären, möchte ich ihnen jetzt die

Kommunikationsgesetze von Paul Watzlawick

vorstellen, die ich vorhin schon erwähnt habe, und ich danke Ihnen, dass Sie bis hierher gewartet haben. Paul Watzlawick ist ein in Kalifornien lebender Philosoph und Philologe, der 1921 in Villach (Kärnten) geboren wurde und Weltruf erlangt hat mit seinen Forschungen und Büchern über die zwischenmenschliche Beziehung und Kommunikation und über die Entstehung seelischer Krankheiten.

1. Gesetz:

Man kann nicht nicht kommunizieren.

Das heißt auch, ein Telefonat nicht zu führen oder einen Hausbesuch erst nach drei Tagen zu machen oder eine Antwort nicht zu geben, hat einen Aussagewert und stellt eine Kom-munikation dar. Außerdem sollten wir bedenken, dass es zum Beispiel als Aggression an-gesehen wird, wenn wir einen fragenden Patienten einfach stehen lassen. Überlegen Sie, wie sie selbst reagieren würden, wenn sich Ihr Lebenspartner kommentarlos einer von Ihnen gewünschten Unterhaltung durch Verlassen des Raumes entzieht.

Eine andere Konsequenz dieses Gesetzes besteht darin, dass der Patient innerhalb der ersten Minute nach Betreten der Praxis oder der Klinik einen Eindruck bekommt von der Kommunikation, die in dieser Praxis herrscht. Dieser Eindruck entscheidet wesentlich über die weitere Beziehung zwischen Patient und Praxisteam.

Dies wurde mir einmal deutlich, als ich in die Praxis eines benachbarten Kollegen ging, um etwas mit ihm über einen gemeinsamen Patienten zu besprechen. Ich betrat den Vorraum mit einem freundlichen Gruß und war zu diesem Zeitpunkt allein mit der Helferin, die in den Terminkalender versunken am Schreibtisch saß. Ich wartete direkt vor ihr an der Rezeption stehend ab, um zu sehen, was geschehen würde. Nach drei Minuten (!) sah sie auf und fragte, was ich wolle. Als ich mich vorstellte, rannte sie mit hochrotem Kopf davon, um ihren Chef zu holen.

2. Gesetz:

Jede Kommunikation hat Aspekte, die Beziehung, Appell, Selbstoffenbarung und Inhalt enthalten.

a) Beziehung

Dieser Aspekt beantwortet die Frage: Wie stehen wir zueinander? Die Beziehungsebene hilft, einander zu verstehen.

Spüren Sie den Unterschied zwischen dem Schild Eintritt verboten! und der Aufschrift Bitte nicht eintreten! Welche Beziehung, welche Einstellung signalisieren Sie Ihren Patienten mit den beiden Schildern?

Oder ein anderes Beispiel:

„Gehen Sie nach Zimmer 3!“

„Frau Müller, wenn Sie jetzt bitte sich in Zimmer 3 ausziehen, werde ich Sie gleich untersuchen.“

Daran erkennen Sie, welche innere Beziehung oder welche Hierarchievorstellung Sie zu dem Patienten haben. Schon allein Ihr Tonfall oder Ihre Mimik zeigen Ihre Beziehung zu den Mitmenschen. Ebenso sollten wir darauf achten -und wir tun es häufig unbewusst-, wie sich die Beziehung unserer Mitmenschen zu uns äußert:

„Herr Schulze, Sie müssen heute noch zu mir kommen! Ich habe Fieber.“

„Herr Doktor Schulze, ich habe Fieber. Was kann ich tun?“

Ich will absichtlich diese Beziehungen nicht näher erklären, um Ihnen beim Lesen die Ge-legenheit zu geben, in sich hineinzuspüren, was Sie dabei empfinden. Wie würden Sie re-agieren? Beachten Sie auch bitte bewusst, dass Ihre Reaktion abhängig ist von der Beziehung, die Sie zu der redenden Person haben. Die Aussage, also der Inhalt des Satzes allein, bestimmt nicht ausschließlich Ihre Reaktion.

b) Appell

Dieser Appell antwortet auf die Frage: Welche Handlung will ich von dir? Die Appellebene hilft, den Partner aufzufordern.

In dem Satz „Herr Doktor Müller, ich habe Fieber.“ steckt für den Patienten möglicherweise der Appell, dass Sie einen Hausbesuch machen sollen, oder dass Sie gestern ein nicht wirksames Mittel rezeptiert haben, oder der Vorwurf, dass Sie eine Fehldiagnose gestellt haben und es jetzt endlich richtig machen sollten.

Wenn Sie den Appell nicht richtig einschätzen, fühlt der Patient sich unverstanden. Er erwartet im Allgemeinen, dass Sie den Appell erkennen und befolgen, auch wenn er ihn gar nicht ausgesprochen hat. Wenn Sie den Appell weder verstehen noch bewusst oder unbewusst befolgen, ergeben sich die Folgen einer schlechten Kommunikation: Missverständnisse und Ärger und möglicherweise sogar der Verlust des Patienten für die Praxis.

c) Selbstoffenbarung

Die Selbstoffenbarung antwortet auf die Frage: Was sage ich über mich? Die Selbstoffenbarung hilft, mich selbst zu verstehen.

Wenn der Patient Ihnen erzählt, dass er Fieber hat, sagt er aus, dass ihm diese Information wichtig ist und dass er vielleicht sogar selbst die Temperatur gemessen hat. Damit kann der Patient sich besser beobachten, wenn er seine Aussagen reflektiert, und wir haben eine Gelegenheit, seine Prioritäten und Maßstäbe kennen zu lernen.

Dabei ist auch interessant, darüber nachzudenken, was der Patient nicht erzählt, obwohl es doch zum Beispiel Ihnen als dem Zuhörer wichtig ist oder Sie es bereits von jemand anderem wissen und jetzt erwarten, dass der Patient es berichtet. Dabei können Sie bewusste Fehlinformationen und unterlassene Informationen entdecken. Auch Verdrängungsmechanismen sind bemerkbar.

d) Information

Die Informationsebene antwortet auf die Frage: Welchen Sachinformation vermittle ich? Die Sachinformationsebene hilft, einander zu verständigen.

Natürlich ist es für uns wichtig, ob der Patient Fieber hat und wie viel. Wir fragen sogar noch, wo und wann die Temperatur gemessen wurde. Wir wollen wissen, ob die Messung vor oder nach dem Fieberzäpfchen war, ob der Patient genügend getrunken habe und vieles mehr.

Wichtig ist es für jeden guten Kommunikator, diese vier Ebenen der Kommunikation zu beachten, weil sie nicht nur eine Fülle von Missverständnissen ermöglichen, die wir ja ver-meiden wollen, sondern weil wir eben gerade so viele Informationen über die verschiedenen Ebenen der Patienten erfahren wollen wie möglich. Denn nur dadurch können wir seine Wirk-lichkeitsebene erfassen, also das, was auf ihn wirkt, seine Wirk-lichkeit.

3. Gesetz:

Jeder der Beteiligten gewichtet die Kommunikationsabläufe verschieden.

Das können wir rasch verstehen, wenn wir einsehen, dass eben jeder von uns unterschied-liche Erfahrungen und Wertmaßstäbe erlernt hat. Damit erübrigt sich auch die Frage, wer mit seiner Einschätzung der Situation Recht hat. Denn jeder hat aus seiner Sicht Begründungen für seine Meinung. Ausnahmen sind rein beweisbare Fakten, aber auch hier ist die unterschiedliche Wertung der Tatsachen wichtig. Und die Abläufe einer Kommunikation sind immer subjektiv bewertbar. Denken Sie an Ihr letztes Missverständnis, als Sie etwas ganz anders aufgefasst haben als es Ihr Gesprächspartner gemeint hat.

Für eine gute Kommunikation bedeutet das, dass unser Gesprächspartner aus seiner Sicht ebenso Recht hat wie wir. Wir können also nur über die verschiedene Einschätzung eines Sachverhaltes diskutieren.

Wir müssen dabei erkennen, dass mehrere Meinungen als richtig nebeneinander stehen können und eine richtige Meinung nicht gleich ausschließt, dass es noch eine andere und auch richtige Meinung geben kann.

4. Gesetz:

Jede Kommunikation enthält Aspekte der analogen und der digitalen Kommunikation.

Unter analogen Anteilen verstehen wir nonverbale Parameter wie Gestik, Mimik, Körper-sprache, Tonlage, Atempausen, Atemrhythmus, Atemfehler, Sprechpausen, Sprechge-schwindigkeit und andere Parameter, die sozusagen „nebenher“ in der Rede ablaufen und den Verlauf der Kommunikation meist unbewusst und deshalb umso stärker beeinflussen.

Die digitalen Anteile enthalten die eigentliche Information der gesprochenen Wörter.

Dabei ist leicht erkennbar, dass die analogen Anteile häufig unterschätzt werden, weil sie eben nicht oder nur nebenbei beachtet und nicht bewusst ausgewertet und genützt werden. Das sollte für uns therapeutisch Tätigen ein wesentlicher Teil der Diagnostik sein.

5. Gesetz:

Die zwischenmenschliche Kommunikation ist komplementär oder symmetrisch.

Das bedeutet, dass die Beteiligten bei einer symmetrischen Kommunikation gleichartiges Verhalten austauschen. Wenn zum Beispiel der eine ärgerlich ist, reagiert der andere auch mit Ärger.

Bei der komplementären Kommunikation tauschen die Beteiligten ergänzendes Verhalten aus. Der eine Partner ist zum Beispiel in der Primärposition als Arzt und der andere in der Sekundärposition als Patient. Das Beispiel der Mutter-Kind-Kommunikation trifft hier auch zu.

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Kommunikation in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , | Schreib einen Kommentar

Die schwierigste Aufgabe

Die schwierigste Aufgabe

 Die fast achtzig Jahre alte Dame kommt mir auf dem Gang entgegen, als ich sie zur Sprechstunde herein bitten möchte. Frau Altenburg trägt einen beigen Pullover und einen braunen Rock, das volle graubraune Lockenhaar ist gut gekämmt. Mit unsicherem, leicht schwankendem Gang sucht sie mit den Händen nach der Wand und dem Türrahmen, dann setzt sie sich langsam auf den Stuhl mir gegenüber am Schreibtisch. Ich weiß, dass man ihr vor zwanzig Jahren das linke Auge nach Melanommetastasen entfernt hat. Jetzt trägt sie eine gute Epithese an der Brille, sodass nur der gut Beobachtende das Kunstauge vom sehenden Auge unterscheiden kann. Aber auch dieses sieht nur vierzig Prozent. Die Sehschwäche und eine Polyneuropathie lassen Frau Altenburg unsicher gehen. Und seit vor einem halben Jahr ein Meningeom entfernt wurde, leidet sie unter Gedächtnisschwäche und einer deutlichen Belastbarkeitsminderung. Sie lebt in einfachen Verhältnissen mit dem neunzehnjährigen Enkel zusammen, für den sie sorgt, und sie soll jetzt im Rahmen einer teilstationären Rehabilitation Hilfe zu mehr Selbständigkeit erhalten.

Nach einer kurzen Begrüßung  komme ich zu meinem Hauptthema, das ich mir vorgenommen hatte, mit ihr zu besprechen: „Wir haben vorhin im Team der Therapeuten darüber nachgedacht, dass es gut wäre, eine Haushilfe für Sie zu besorgen, was halten Sie denn davon?“

Sie schüttelt entschieden den Kopf: „Das kann ich nicht annehmen. Ich will alles allein machen können.“

„Glauben Sie, dass Sie es wirklich allein schaffen?“

Sie ganz nachdenklich: „Nein, eigentlich nicht.“

„Warum können Sie denn die Hilfe nicht annehmen?“

Sie seufzt tief: „Weil ich es doch gar nicht verdient habe!“

„Sie haben mir aber doch neulich erzählt, dass sie in Ihrem ganzen Leben immer etwas für andere Menschen getan haben.“

Frau Altenburg nickt: „Ja. Da kann ich nicht nein sagen.“ – „Und wenn es gut geht, können Sie vielleicht noch zehn Jahre leben.“

„Ja, das wäre schön.“ – „Zuerst haben Sie noch Ihren schwer krebskranken Mann gepflegt, bis er starb.“

Das bestätigt sie mit einem Kopfnicken: „Ja, so war´s.“

„Und ich weiß doch von Ihnen, dass Sie nicht nur Ihre Tochter großgezogen haben, sondern auch deren beiden kleinen Kinder, als Ihre Tochter mit 32 Jahren so plötzlich nach drei Herzinfarkten innerhalb von einem Jahr starb.  Sie haben es geschafft, obwohl Sie selbst damals Ihr linkes Auge entfernen lassen mussten.“

„Ja, und ich habe die Kinder versorgt, obwohl ich ganz wenig Geld hatte. Das war ja meine Aufgabe.“

„Richtig, und jetzt überlege ich mir, dass die Natur immer einen Ausgleich sucht. Bis jetzt haben Sie immer nur gegeben. Wär´s da nicht an der Zeit, dass Sie auch mal was annehmen, zum Beispiel Hilfe im Haushalt?

Sie lehnt entschieden ab: „Nein, ich darf das nicht!“

Ich lasse nicht locker: „Stellen Sie sich mal vor, da sitzt auf dem Stuhl neben Ihnen eine Frau und erzählt Ihnen eine ganz ähnliche Lebensgeschichte, wie Sie sie erlebt haben. Was würden Sie ihr raten, die Haushaltshilfe anzunehmen oder abzulehnen?

Frau Altenburg reagiert rasch: „Annehmen natürlich!“

„Und warum dürfen Sie selbst die Hilfe dann nicht annehmen?“

Sie schluckt, unterdrückt die Tränen und sagt gepresst: „Weil ich gar nicht existiere!“

„Das macht mich aber sehr betroffen: Ich erinnere mich, dass Ihr erwachsener Enkel, den ich neulich kennen gelernt habe, Sie als eine ganz liebevolle Omi geschildert hat, die auch heute noch immer für ihn da ist. Da haben Sie doch sehr wohl existiert mit Ihrem warmen Herz auf der rechten Fleck, oder nicht?

Sie räumt ein: „Ja, für ihn schon und für den anderen Enkel auch, aber ich habe die Hilfe nicht verdient.“

„Überlegen Sie mal: Wenn Sie in den sechzig Jahren Ihres Lebens als Erwachsene für Ihre Tochter die Mutter waren und für die Enkelkinder auch noch und für den Ehemann gesorgt haben, dann wäre meine Rechnung noch nicht einmal ausgeglichen, wenn Sie in den nächsten zehn Jahren Hilfe annehmen würden.“

Sie denkt nach und lächelt zum erstenmal: „Ja, da haben Sie recht. Aber ich hab doch eine Aufgabe zu erledigen!“

„Welche?“ – „Für meine Enkel zu sorgen.“

Ich entgegne: „Die sind doch jetzt erwachsen, der jüngste ist neunzehn, der ältere ist verheiratet. – Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen sage, dass Sie jetzt die Aufgabe haben, endlich etwas für sich selbst zu tun?“

Sie zuckt zusammen und sagt erschrocken: „Das ist ja die schwierigste Aufgabe, die es gibt!“

Ich lächle sie an: „Haben Sie in den vergangenen Jahren bemerkt, dass Sie zu den vielen großen Aufgaben immer auch die Kraft bekommen haben, diese Aufgaben zu bewältigen?

Sie überlegt: „Ja, das ist richtig. Ich hab es immer geschafft, auch wenn´s sehr schwierig war.“

„Also, wie schätzen Sie dann die Chance ein, dass Sie diese große Aufgabe, etwas für sich zu tun, indem sie Hilfe anzunehmen, auch schaffen werden?“

Sie denkt nach, dann steht sie langsam auf und sagt mit einem Strahlen im Gesicht: „Ja, ich glaube, das schaffe ich auch noch.“

Sie zögert noch einen Moment, dann deutet sie auf die Tür: „Jetzt gehe ich aber mit ganz vollem Herz da raus, ich hab´ verstanden, was Sie mir sagen wollten. Vielen Dank.“

Zwei Tage später kommt sie zu mir und sagt zufrieden lächelnd: „Herr Doktor, ich habe mein Ich wieder gefunden. Ich werde es mit nach Hause nehmen und gut darauf aufpassen.“

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte habe ich in meinem Buch Ich versteh Sie! Kommunikation in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht

 

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , , , | Schreib einen Kommentar

Warum ist gute Kommunikation in Praxis und Klinik wichtig?

 

Die Zukunft der Menschen liegt in ihrer erfolgreichen Kommunikation miteinander, sonst haben sie keine Zukunft.

Wir leben in einem Zeitalter der Informationsexplosion und der rapiden Weitergabe von Informationen rund um die Welt. Dass jedoch das Verstehen – also die Verarbeitung der Information – nicht klappt, sehen wir an den zunehmenden Konflikten und den fehlenden Lösungen weltweit. Wie sollte es auch funktionieren, wenn wir schon in dem kleinen Rahmen einer Arztpraxis, einer Klinikstation oder einer Familie große Schwierigkeiten haben, einander zu verstehen und zu verständigen, mit Krisen richtig umzugehen und Ärger zu minimieren.

Zunehmende Konkurrenz, steigende Kosten, sinkende Umsätze, Gewinnverluste von durchschnittlich 20% in der Arztpraxis, eine arzt- und patientenfeindliche Gesundheitspolitik und selbstbewusstere Patienten mit kritischer Vernunft und vermehrter Information über medizinische Zusammenhänge machen es immer schwieriger, eine menschlich und finanziell erfolgreiche Praxis oder Klinik zu führen.

Wir sehen immer häufiger Ärzte, die sich aus wirtschaftlichen Gründen zu Gemeinschaftspraxen zusammenschließen, und immer mehr Kliniken, die unter dem Finanz- und Konkurrenzdruck schließen müssen. Dieser Druck ist politisch gewollt. Man nennt das „Marktbereinigung“ und „Gesetz der Marktwirtschaft“. Die Politik verlangt immer noch sehr gute Qualität von den Ärzten und schränkt andererseits die Möglichkeiten dafür konsequent ein.

Die zweizüngige Gesundheitspolitik steuert zusätzliche Unsicherheit und Verstimmung unter allen Beteiligten bei. Dazu nur zwei Beispiele.

Einerseits versucht die Politik gegen Alkohol und Nikotin mit hohen Preisen vorzugehen, weil der Finanzminister dringend die 13,6 Mrd. Euro [1] braucht, die allein 2004 als Steuern erlöst wurden. Und die Regierung überlegte sofort, ob die Erhöhung des Zigarettenpreises gut war, als die Steuereinnahmen 2004 um ein paar Mio. Euro zurückgingen. Außerdem klagt die deutsche Regierung gegen das Tabakwerbeverbot. Andererseits wird der Tabakanbau im Jahr mit etwa 900 Mio. Euro aus der EU-Kasse subventioniert. Bei ca. 17 Mrd. Euro volkswirtschaftlichen Kosten durch tabakbedingte Krankheiten und Todesfälle und 20,2 Mrd. Euro (das entspricht 1,1% des Bruttosozialproduktes!) ist das eine bemerkenswerte Tatsache. Jährlich sterben in Deutschland etwa 74.000 Menschen durch Alkoholkonsum allein und etwa 110.000 bis 140.000 Menschen an den Folgen des Tabakverbrauches. 22 % aller männlichen und etwa 55 aller weiblichen Todesfälle sind tabakbedingt. Wenn ein Nahrungsmittel so viele Tote und Krankheiten produzieren würde wie Tabak und Alkohol, wäre es längst verboten. Aber da man richtig viel Geld damit machen kann und ein Verbot von Tabak und Alkohol nicht durchsetzbar ist, wird die Chance, an der Sucht zu verdienen, auch vom Staat genützt.[2]

Einerseits wird dem Patienten von den Krankenkassen (fast) alles versprochen, andererseits werden Ärzte und Kliniken kontrolliert (unter Anderem, weil es auch in diesen Kreisen schwarze Schafe gibt, die das System ausnützen!) und finanziell zur Rechenschaft gezogen, wenn Sie ihren Handlungsspielraum auch nur gering zu Gunsten des Patienten ausdehnen. Und die Verflechtungen zwischen Politik und Pharmaindustrie sind so raffiniert, dass die Pharmaindustrie längst die politischen Entscheidungen gut im Griff hat. [3]

Deshalb ist es überlebensnotwendig, alle Reserven zur Stabilisierung und Sanierung der Praxis und Klinik zu mobilisieren und zu nützen!

Der richtige Umgang mit den Patienten stellt eine menschenfreundliche und überzeugende Methode dar, Patienten zu gewinnen und zu binden. Dies ist in unserer derzeitigen sehr schwierigen gesundheitspolitischen Situation unerlässlich für das wirtschaftliche Überleben einer Praxis und einer Klinik. Es ist also wichtig, auch so scheinbar nebensächliche Möglichkeiten wie die Verbesserung der Kommunikation in Betracht zu ziehen, um unsere Patienten menschenwürdig und praxisbewusst zu betreuen.

In Wirklichkeit ist die Kommunikation mit unseren Patienten die wichtigste Bindungsmög-lichkeit. Wenn die Patienten sich von einem anderen Arzt oder in einer anderen Klinik menschlich besser betreut fühlen, gehen sie dorthin.

Was unser Gesetzgeber über die Zuwendung zum Patienten denkt, erkennen Sie nicht nur an der bisherigen Gesundheits- und Abrechnungspolitik, sondern auch an solch kleinen Beispielen wie dem folgenden.

Im Gegensatz zur bisherigen Berechnung des Personals auf der Basis der Planbetten wird jetzt die „Leistung am real vorhandenen Patienten“ in Minutenwerten berechnet. In der Pflegepersonalregelung des Bundesministeriums für Gesundheit (Stand 22.6.1992, also noch vor dem GSG) heißt es:

„Für das Begleiten des Patienten in der Phase des Sterbens stehen 4,42 Minuten, für die erweiterte Leistung 8,9 Minuten und für besondere Leistungen 9,39 Minuten zur Verfügung.“

Ich bitte Sie, sich dieses Zitat konkret in den Alltag umgesetzt vorzustellen, zum Beispiel angewandt auf den zuständigen Minister und auf Sie selbst als Patienten.

Bei jeder Form der Kommunikation ist zu berücksichtigen, dass die Dauer eines Gespräches nicht gleichzeitig eine gute Qualität bewirkt. Wir wissen aus unserem Alltag, dass ein kurzes und zielsicheres, aufmerksames Gespräch viel besser und wirksamer sein kann. Ebenso kann eine wortlose Kommunikation vollständig ausreichen und sinnvoller und aussagekräftiger sein als viel Gerede. Äußerst fragwürdig erscheint es mir allerdings, für die Zeit am Sterbebett Richtwerte mit Hundertstel Minuten einzusetzen, zumal eine Definition dieser Tätigkeit meines Wissens nicht existiert.

Der Satz „Ich habe keine Zeit für eine gute Kommunikation“ zeigt, dass das Wesen einer guten Kommunikation nicht verstanden wurde.

Der Weg zum Erfolg für Arzt und Patient kann nur über eine Verbesserung von Organisation, Planung und Kommunikation in der Praxis und Klinik führen. Unsere Patienten wollen in ihrer psychosozialen Situation besser verstanden werden und erwarten mehr professionelles Eingehen auf ihre ganzheitliche Problematik. Sie wollen in erster Linie eine freundliche und empathische Reaktion vom ganzen Praxis- oder Stationsteam erfahren.

Fragen Sie sich selbst: Würden Sie sich als Patient in Ihrer eigenen Praxis, auf ihrer eigenen Klinikstation geborgen und menschlich und medizinisch gut versorgt fühlen?

Wenn Sie jetzt mit der Antwort nur zögern, haben Sie ein Problem, das Sie schnellstmöglich bewältigen müssen.

Die altbekannte Regel „Umsatz rauf – Kosten runter!“ zur Bewältigung einer wirtschaftlichen Krise ist in der Lage der Ärzte nur beschränkt umsetzbar. Besser funktioniert die Maxime von Alfred Herrhausen, dem früheren Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank: „Qualität rauf – Kosten runter!“

Und dass die Qualität der Kommunikation in den Arztpraxen dringend verbesserungsbe-dürftig ist, zeigen alle Untersuchungen der vergangenen Jahre. Der Druck auf die Ärzte wird immer größer werden, und die Patienten werden mit den Füßen abstimmen, wo sie sich am besten verstanden und versorgt fühlen. Der Umgang Ihres ganzen Teams mit Ihren Patienten entscheidet darüber, ob die Patienten zu Ihnen kommen oder zum Nachbarkollegen gehen oder geschickt werden.

Gute Kommunikation erhöht die Lebensqualität, die Freude an der Arbeit und sichert Ihr Einkommen. Dieses ganzheitliche Konzept ist der Weg zum umfassenden Umgang mit den Patienten, die Ihrer Praxis oder Klinik gerne treu bleiben und Ihnen zu finanziellem und persönlichem Erfolg verhelfen!

Alle Umfragen der letzten Jahre zeigen deutlich, dass die Mehrzahl der Patienten besonders großen Wert legt auf eine vertrauensvolle Beziehung zu ihrem Arzt und auf eine gute Gesprächsatmosphäre. Sie verbinden damit die Adjektive sympathisch, herzlich, aufgeschlossen, nett, liebevoll. Besonders wichtig ist es für sie, dass der Arzt gut zuhört, ehrlich ist, über alles mit den Patienten redet und die Patienten ganzheitlich betreut.

Mit ganzheitlicher Betreuung ist gemeint, dass der Arzt auf die körperlichen, seelischen, geistigen und sozialen Gesichtspunkte des Patienten eingeht. Das heißt: Die Patienten wollen in ihrer Ganzheit als Mensch wahrgenommen und betreut werden. Sie haben wenig Verständnis dafür, wenn sie lediglich als „die Niere“ oder „das Gipsbein“ betrachtet und abgefertigt werden.

Die WHO hat bei ihrer Gründung den Begriff Gesundheit auch aus einer ganzheitlichen Sicht heraus definiert:

„Gesundheit ist ein Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheiten.“

Dies hat Prof. Dr. med. H. E. Bock aus seiner klinischen Sicht gemeint, als er sagte:

„Wie der Mensch als Ganzheit in seinem Lebensraum steht, so wird er als Ganzheit auch von Krankheit betroffen, selbst wenn sie sich nur lokal bemerkbar macht, durch Chronifizierung abgeschwächt verläuft und durch Gewöhnung unterschwellig geworden ist.“

Die Patienten erwarten zum weitaus größten Teil eine stabile menschliche Beziehung zum Arzt. Das ist ihnen im Allgemeinen wichtiger als die technische Ausrüstung der Praxis oder der Klinik. Jeder Mensch, also auch unsere Patienten, hat ein Grundbedürfnis nach menschlicher Zuwendung. Dieses müssen wir erfüllen, wenn wir eine gute Beziehung aufbauen und bewahren wollen.

Eine gute Kommunikation ist Grundlage für jede Form der erfolgreichen Zusammenarbeit im Alltag, denn nur ein informierter Mensch kann kooperativ sein.

Das persönliche Band zwischen zwei Menschen wird durch die Form ihrer Kommunikation gekennzeichnet. Das gilt auch dann, wenn es sich um eine rein sachliche Angelegenheit wie eine Röntgenaufnahme oder das Anlegen eines Gipsverbandes geht.

Die gute Kommunikation ist nicht nur wichtig, um den menschlichen Umgang und den Erfolg der angestrebten Therapie zu optimieren. Wenn wir gut miteinander kommunizieren, fühlen sich alle Beteiligten besser verstanden und werden frei, authentisch zu reagieren.

Wenn wir eine Entscheidung aufschieben, weil wir sie nicht treffen wollen oder können, haben wir damit wirkungsvoll und unbewusst entschieden, dass es bleibt, wie es ist. Wir haben also doch eine Entscheidung getroffen, es uns aber nicht bewusst gemacht. Dann müssen wir damit rechnen, dass andere für uns entscheiden, wie es ihnen gefällt.

Da das persönliche Verhältnis im Umgang mit dem Patienten prägend ist für das Vertrauen, das der Patient in das gesamte Praxis- oder Stationsteamteam hat, ist es grundsätzlich wichtig, diese Basis sehr bewusst herzustellen und zu pflegen. Leider ist es ein weit verbreiteter Irrtum, es genüge, mit dem Patienten einfach zu reden.

Die Gefahr bei der guten Kommunikation besteht in der Illusion, sie sei schon erreicht.

G. B. Shaw



[1] Das ist nach der Mineralölsteuer die ertragreichste Verbrauchsteuer.

[2] www.kreuzbund.de

[3] Vollborn und Georgescu, Die Gesundheitsmafia. Wie wir als Patienten betrogen werden, S. Fischer 2005.

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Kommunikation in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

 

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , | Schreib einen Kommentar

Wanderung in die Harmonie

Der strahlende Sommersonntag war schon einige Stunden aus dem Tau erwacht, die kräftigen Sonnenstrahlen hatten bereits das weite Tal um Gstaad erfüllt. Wir saßen im Morgengottesdienst in der kleinen Kirche in Saanen, die den vom Saanenmöser herabschauenden Gast schon von weitem mit ihrem achteckigen Türmchen grüßt. Eine zierliche Kirche mitten im Dorf, umgeben von dem alten Friedhof, eine weltabgeschiedene ruhige Stätte des Friedens und der Einkehr liegt im Tal. Wer es nicht weiß, würde nicht auf die Idee kommen, dass Yehudi Menuhin, der große Geiger und Humanist, gerade hierher seit 1959 seine Freunde und Musikliebhaber einlud zu Festwochen, die in die Welt hinaus leuchten, so wie die Sonne an jenem Morgen das Tal übergoss.

 Als Student hatte ich mehrere Jahre hintereinander die Freude, mit der Familie meines Studienfreundes die Sommerfreien in einem Bauernhaus in Lauenen verbringen zu dürfen, hoch über Gstaad in einem Seitental, fern ab vom Touristentrubel. Wir erlebten täglich die Proben in der Saanener Kirche und oft in den Konzerten am Abend Musik der Weltklasse. Vormittags und nachmittags verwandelte sich das Innere des Gotteshauses in einen Probenraum, in dem mit äußerster Intensität und in entspannter Atmosphäre klassische Musik erarbeitet wurde. Und wir Zuhörer genossen die Unmittelbarkeit des Erlebens: Wir spürten die harten Kirchenbänke nicht mehr, so sehr versanken wir in die angeregte Freude, die sich zwischen den Musikern während des Spiels aufbaute und auf uns übersprang. Uns erschien die Atmosphäre locker, freundlich, kameradschaftlich, und doch fühlten wir, wie hoch konzentriert alle Musiker bei der Sache waren.

Obwohl uns diese Stimmung so vertraut war, wird dieser Vormittag vor über dreißig Jahren immer wieder in meinem Gedächtnis aus den unzähligen Konzerterlebnissen herausragen wie ein leuchtendes Sonnenbild.

Nach dem Gottesdienst reservierten wir unsere Plätze, um bei einem kleinen Spaziergang im Kirchgarten den schönen Morgen genießen und das Eintreffen der Gäste und Musiker beobachten zu können. Da das Kirchlein nur wenige hundert Plätze fasst, war es wichtig, auch für Proben Sitzflächen zu belegen, damit wir wirklich von den vorderen Reihen alles genau sehen und hören konnten, was sich da vor dem Altar und neben dem Taufbecken abspielte. Glücklicherweise liefen diese Vorbereitungen immer sehr unkompliziert ab. Und so hatten wir uns angewöhnt, möglichst oft an den Proben teilzunehmen, weil wir spürten, dass wir bei diesen seltenen Gelegenheiten am besten hautnah erleben konnten, wie große Musiker ihre großartigen Interpretationen schaffen.

Wir wussten, dass an diesem Vormittag das Zürcher Kammerorchester unter seinem langjährigen Leiter Edmond de Stoutz proben würde. Dieses Ensemble war uns sehr vertraut, gehörte es doch seit vielen Jahren zu den regelmäßigen Gästen des Festivals. Auf dem Programm stand noch Hephzibah Menuhin, Yehudis Schwester, die sich als Pianistin einen außergewöhnlichen Ruf erworben hatte. Ich hatte sie schon in Stuttgart an einem unvergesslichen Duo-Abend mit ihrem Bruder zusammen erlebt. Damals ist mir wie nie zuvor klar geworden, in welchem überwältigenden Ausmaß sich die seelische Übereinstimmung zwischen zwei Menschen in einer vollendeten Harmonie im Zusammenspiel spiegeln konnte. Und so war ich natürlich voller Erwartung, sie jetzt als Solistin in Beethovens viertem Klavierkonzert mit diesem großartigen Kammerorchester erleben zu können.

Langsam füllte sich die Kirche mit Menschen, die wir teilweise aus den Jahren zuvor und den vergangenen Tagen kannten. Wir fühlten uns als Teil einer kleinen Gemeinde, die sich regelmäßig im Sommer in diesem weltbekannten Wallfahrtsort für Musiker und Musikliebhaber traf.

Die Orchestermusiker kamen herein, packten ihre Instrumente und Notenständer aus, stimmten und machten sich bereit zu der üblichen Probe. Wir alle konnten nicht wissen, dass uns etwas ganz Besonderes bevorstand.

Eine natürliche Geschäftigkeit ohne Eile und freundliche Stimmung breiteten sich nach dem feierlichen Gottesdienst in dem Kirchenschiff aus. Edmond de Stoutz, der erfahrene und hoch geschätzte Orchesterdirigent, kam in lockerer Freizeitkleidung. Sein weißes gewelltes Haar leuchtete in den Sonnenstrahlen, die durch das bemalte Glas der schlanken Fenster herein schienen. Er begrüßte seine Musiker und einige der Zuhörer in seiner offenherzigen Art.

Da hörte ich ein leises Raunen hinter mir: “Sie kommt!” sagte die Stimme einer älteren Dame. Und Bewunderung und Respekt schwangen mit. Hephzibah Menuhin betrat die Kirche, und die Gäste wurden leiser. Zierlich in der Gestalt, mit ausdrucksvollem Gesicht und offenen, klaren Augen schritt sie langsam zum Altar vor, nickte grüßend in die Reihen, zog ihre einfache hellbraune Anorakjacke aus und hängte sie über die Lehne ihres Klavierstuhles. Sie trug eine Sommerbluse ohne Schmuck über ihrem schlichten beigen Faltenrock und feste Wanderhalbschuhe. Sie fuhr sich einmal mit beiden Händen durch ihre kurz geschnittenen welligen Haare. So wirkte sie jugendlich mit ihren 48 Jahren. Es sah für mich aus, als hätte sie an diesem Vormittag eine Wanderung geplant und sei versehentlich in die Kirche geraten. Sie begrüßte die Musiker und Herrn de Stoutz und drehte sich mit einer fragenden Geste zum Steinway-Flügel, als wollte sie sagen: “Worauf warten wir?”

Sie setzte sich ohne Umschweife vor den Flügel, rückte mit einem Griff den Stuhl zurecht und blickte zu dem Dirigenten. In diesem Moment verstummte auch der Letzte in der Kirche, die Musiker griffen nach ihren Instrumenten, de Stoutz hob mit einem prüfenden Blick in die Runde den Taktstock. Als er sah, dass alle auf ihn konzentriert waren, ließ er langsam den Stock sinken und nickte Hephzibah Menuhin zu mit einem leisen: “Probieren wir mal!”

Wer das Konzert kennt, weiß, dass es mit einem kurzen Solo der Klavierstimme beginnt. Hephzibah Menuhin senkte langsam die Hände zu dem schlichten G-Dur-Akkord, der mit kleinen harmonischen Veränderungen mehrfach wiederholt wird. Diese langsamen Anfangstakte sind auch für einen weniger geübten Klavierspieler einfach.

Als die Pianistin jedoch den ersten Akkord anschlug, begann eine Klangfarbe zu leuchten, wie ich sie nur selten zuvor erlebt hatte. Hier vermischte sich eine bewundernswerte Schlichtheit mit dem Ausdruck einer großer Seele. Piano und dolce hat Beethoven hier vorgeschrieben. Nicht Süßliches, hörte ich, nichts Kitschiges. Nein, eine wohlige Reife des Klanges entströmte leise und doch mit der Stimme einer in sich ruhenden Frau dem Konzertflügel. Es schien mir, als würde eine selbstsichere Musikerin in aller Bescheidenheit und doch ihrer Kraft wohl bewusst ihre Visitenkarte abgeben. Diese Frau strahlte eine wohltuende und souveräne Wärme aus. Sie ließ die ersten Akkorde verklingen, die wie eine Frage an das Orchester gerichtet sind, wie eine Einladung zum Gespräch.

Und die Musiker setzten mit der gleichen Schlichtheit ein wenig leiser ein und begannen auf ihre Art den Dialog. Schon im ersten langsamen Orchesterakkord ist die Spannung vorprogrammiert: Das d, das zum G-Dur-Dreiklang gehören würde, rückt um eine halbe Note zum dis empor und zieht die Melodie, die Stimmung vorwärts, höher, weiter und entwickelt die vom Klavier eingeführte Stimme fort, erzählt das ganze Thema. Die Bläser nehmen es nacheinander auf, spielen damit. Und noch einmal bringt das Klavier ein abgewandeltes Thema in den Dialog, wieder schlicht, und langsam beschleunigend kommt der ganze Klavierpart zur Geltung und vermengt sich zu einem wunderbaren leuchtenden Zwiegespräch, das den ganzen ersten Satz bestimmt.

Ich saß gebannt auf der Kirchenbank und beobachtete, wie Hephzibah Menuhin mit totaler Konzentration, Ruhe und gezügelter Kraft diesen Dialog mit dem Orchester führte. Nein, sie sang ihn mit aller Inbrunst so überzeugend, dass ihre Spielweise, diese Art, Musik zu leben, seit diesem Morgen für mich das Sinnbild für echte und große Schlichtheit und Bescheidenheit darstellen.

Die Sommersonne schickte ihre warmen Strahlen ins kühle Kirchlein, und Hephzibah Menuhins Gesicht wurde beleuchtet wie mit einem großen warmen Scheinwerfer. Sie ließ dieses Licht aus ihren Händen, aus dem Flügel weiter in das Publikum fließen. Tiefer Ernst und herzliche Menschlichkeit zeichneten ihr Gesicht. Ich spürte, wie die Kirche erfüllt wurde von einer würdigen Andacht, wie sie mancher Pfarrer gerne erzeugen würde. Wir erlebten einen wahren Dienst an der Musik, großartige Harmonie aller Spieler, verschmelzende Einheit.

Die Fermate des Orchesters verklang vor der Kadenz, Hephzibah Menuhin setzte mit  verhaltener Kraft ein und steigerte sich mit glitzernder Brillanz in die Läufe und punktierten Rhythmen. Die unscheinbare Wanderin entpuppte sich zur souveränen Virtuosin. Die Hände flogen, die Finger rannten über die Tasten und zauberten glasklare Tonlinien, bis sie sich nach dem erlösenden Triller wieder mit dem Orchesterklang vereinigten und in der Coda zum Schluss des Satzes zielten.

Mein Freund und ich schauten einander wortlos und verblüfft an: Wir hatten eine Probe erwartet mit vielen Unterbrechungen, Wiederholungen, Verbesserungen. Und dieser Satz war in einem großen Fluss ruhig und tief in uns hineingeströmt.

Nach kurzer Pause lächelte de Stoutz Hephzibah Menuhin an, sie nickte freundlich zurück. Die beiden waren sich offensichtlich einig. Der Dirigent hob erneut den Taktstock, um das Orchester zur Aufmerksamkeit für den nächsten Dialog zu führen, der diesmal mit einem kurzen Orchesterthema begann. Es klingt streng punktiert und gibt für den Dialog mit dem Klavier einen langsamen und doch straffen Rhythmus vor. Das Klavier antwortet jedoch mit einer weichen und verhaltenen Melodie in warmen Akkorden. Das Orchester bringt den ersten Gedanken noch einmal, als wolle es die Klavierstimme überzeugen. Zwischen Orchester und Klavier entstehen anfänglich Pausen, die Stimmen sind getrennt. Das Klavier aber bleibt bei seinem verbindlichen Ton, und bei der nächsten Wiederholung setzt schon beim Verklingen des letzten Klavierakkordes das Orchester ein. Und in der Folge nähert sich das Orchester immer mehr der Klaviermelodie und dem weichen Ton an. Nach und nach vereinigen sich die Dialogpartner zu einer verbindlichen und verbindenden Gesprächsführung. Dieser Satz des Konzertes ist für mich ein herrliches Beispiel, wie eine weiche und warme Stimme mit ihrer Sicherheit und inneren Ruhe einen straffen, forsch drängenden Gesprächspartner beeinflussen und den Dialog zu einem einvernehmlichen Ende führen kann. Eine wahre musikalische Wanderung in die Harmonie.

Daraus entfloss am Ende des Satzes die punktierte Orchestermelodie wie am Anfang, aber kürzer, weicher und in wunderbarem Einklang mit der leisen Klavierstimme, die sich am Schluss loslöst vom Orchester und in einem spannungsvoll verzögerten Arpeggio hinüberführt zum Rondo, das fröhlich und vivace mit virtuosen Läufen die verschiedenen musikalischen Gedanken erzählt.

De Stoutz dirigierte einerseits überlegen und ordnete sich andererseits völlig unter, um dieser großartigen Pianistin ein guter Begleiter zu sein. Das Konzert führte die Partner auf großartige Weise weiter, und diese so unscheinbare Frau an dem großen Konzertflügel atmete, sang, brillierte mit der Musik, dass es eine wahre Freude war. Sie steigerte sich und das Orchester in ein großes Finale hinein, und als der letzte Akkord langsam in den kühlen Winkeln der Kirche und den warmen Herzen der Zuhörer verklang, hörte ich ein leises Aufseufzen im Publikum: Die enorme Spannung löste sich langsam.

Wir saßen zuerst eine ganze Weile stumm da. Dann erhob sich aus der Stille ein tosender Beifall, wir alle standen auf und waren glücklich und dankbar über dieses besondere und unerwartete Erlebnis.

Die Orchestermusiker applaudierten der Künstlerin, de Stoutz streckte ihr mit strahlendem Gesicht beide Hände herzlich dankend entgegen. Hephzibah Menuhin nahm sie an und nickte dann zu uns herüber, verbeugte sich einmal, gab den Konzertmeistern kurz und freundlich die Hand, zog ihre Anorakjacke wieder an und verließ mit gezielten Schritten die Kirche.

Nur eine einfache Probe hatten wir erwartet. Und was hatten wir bekommen? Ein vollkommenes Konzert. Wir waren Zeugen einer musikalischen Sternstunde geworden.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Die Geschichte habe ich in meinem Buch Das Geständnis, Betulius Verlag veröffentlicht.

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , , , , | Schreib einen Kommentar

Der Augendialog

Es gibt kurze Momente im Leben, die wie Diamanten im gezielten Sonnenstrahl hell aufblitzen und mit ihrem einmaligen und kostbaren Glanz wie eine Blüte lebendig werden. Die denkwürdige Sekunde wird hervorgehoben aus den wechselvollen Wogen des dahin treibenden Geschehens. Sie entzündet unsere Wachheit und schnellt sie aus dem bloßen Gleichmaß der Aufmerksamkeit auf den einsamen Gipfel der vollständigen und intensivsten Anteilnahme. Eine neue, höhere Form des Bewusstseins wird sprungartig erreicht, so wie durch den Zufluss von Energie ein Atom auf das nächste Orbital gehoben wird und damit ein neues Molekül entstehen kann. Alle schon geweckten Sinne werden verdichtet und zugespitzt auf diesen einen Brennpunkt des Ereignisses, wie die geschliffene Linse das diffuse Licht bündelt und zur zündenden Glut entfacht. Die lebendigen Bilder, die sich so klar geprägt vor unserem Auge entwickeln, werden unauslöschbar eingestanzt in unser Gedächtnis wie ein Loch, das von einem Brennglas in Papier eingeglimmt wird.

Von einem dieser unvergesslichen Momente will ich erzählen. Auch wenn er nicht wirklich wichtig oder folgenschwer war, so taucht die Szene doch seit Jahrzehnten immer wieder aus dem Schatz meiner Erinnerungen vor meinem geistigen Auge auf.

Artur Rubinstein, der weltberühmte Ausnahmepianist, hatte mich in der Straßburger Konzerthalle reich beschenkt mit einem funkelnden Kaleidoskop romantischer Werke, darunter die wuchtige f-Moll-Klaviersonate von Johannes Brahms, die ich  erstmals und prägend für mein Leben in mir aufgenommen hatte. Ich glaube, es war 1968 oder 1969, und ich fühlte mich beschenkt, ihn auf der Bühne erleben zu dürfen, war er doch einer der bedeutendsten Pianisten dieses Jahrhunderts, damals mit über achtzig Jahren ein würdiger alter Herr und seinem Versprechen treu geblieben, nach dem Holocaust nie mehr in Deutschland zu spielen. So pilgerten die Liebhaber der klassischen Klaviermusik, zu denen ich mich seit früher Kindheit zähle, ins Nachbarland, wenn er in den Grenzstädten der Schweiz, Frankreichs oder der Niederlande ein Konzert ankündigte.

 Während meiner Schulzeit in Liverpool saß ich einen Abend lang im Bann seines unvergleichlichen Chopin-Spiels. Später als Student nutzte ich ein günstiges Angebot des ASTA in Tübingen und fuhr mit einer kleinen Schar Musik liebender Kommilitonen im Bus nach Zürich, wo Rubinstein in der Tonhalle an einem Abend das e-Moll-Konzert von Chopin und das Es-Dur-Konzert von Beethoven zelebrierte, diese beiden Preziosen der romantischen und klassischen Klavierperiode.

Jetzt aber stand ich, der junge Student, wie viele der begeistert applaudierenden Zuhörer in Straßburg nach dem offiziellen Programm im Gedränge vorn an der Rampe direkt unterhalb des Flügels, um von diesem großen Abend auch wirklich alles zu sehen, zu hören, in mich aufzunehmen. Schon drei oder vier Dreingaben hatten wir ihm abgejubelt, dem Generösen, der nicht müde zu werden schien trotz der enormen körperlichen und geistigen Leistung, die er bereits ausgeschöpft hatte. Er kam noch einmal auf die Bühne, hob in seiner typischen weltoffenen Weise beide Hände zum Dank und Gruß, und sein weißes Lockenhaupt leuchtete über der breiten hohen Stirn und den hellen kleinen Augen. Rubinstein strahlte, und ich spürte seine Freude an dem gelungenen Konzert und an unserer begeisterten Teilnahme. Das fein gefurchte Gesicht erzählte vom erfüllten Leben dieses großartigen Musikers, der als Bonvivant und Gourmet, als Kosmopolit und Grand old man weltweit von seiner Gemeinde verehrt wurde. Am Revers seines schwarzen Fracks blinkte das rote Abzeichen der französischen Ehrenlegion, und die Diamantknöpfe auf der gestärkten Hemdenbrust und an den Manschetten funkelten im Rampenlicht: Hier hielt ein eleganter Grandsigneur hof.

Rubinstein war umringt von Zuhörern: Auf der Bühne hinter dem kostbaren Steinway-Flügel standen dicht beieinander viele zusätzliche Stühle in mehreren Reihen, um möglichst zahlreichen Konzertbesucher an dem außergewöhnlichen Ereignis teilnehmen zu lassen. Alle standen jetzt und feierten mit bewunderndem, drängendem Applaus und vielen Bravorufen den berühmten Künstler. Natürlich wollten wir, die Unersättlichen, immer noch ein Stück hören und noch eins. Selbstverständlich wären wir stundenlang stehen geblieben, um auch den letzten herrlichen Ton, das letzte seiner klingenden Vermächtnisse dankbar anzunehmen, die er uns so großzügig, fast verschwenderisch und mit hinreißender Freude am eigenen Spiel darbot. Er ließ sich Zeit, den Triumph genüsslich schwelgend auszukosten.

Ganz offensichtlich freute er sich auch an der Blütenpracht, die eine ältere Dame knapp neben mir ihm schenkte. Während er sich herabbeugte und den Strauß mit einem charmanten Gruß entgegennahm, sagte sie etwas zu ihm, was ich wegen des lauten Applauses nicht verstand, aber ihre Geste erklärte alles: Sie deutete vorsichtig, taktvoll, ja eher zaghaft auf Rubinstein und führte ihn bildlich mit einer bittenden Bewegung ihres brillantgeschmückten Handgelenkes zum Klavierhocker. Rubinstein zögerte einen Augen-blick, dann überflog ein großzügig gewährendes Lächeln sein Gesicht. Er nickte kaum sichtbar und drehte sich entschlossen zum Flügel. Während er die zwei Schritte ging, brandete eine Woge der Begeisterung durch den Saal: Ja, er wird noch einmal spielen!

Als Rubinstein sich setzte, brach der Applaus ab, als sei er ausgeschaltet, und eine fast heilige Stille senkte sich über uns Zuhörer. Die Andacht der Glücklichen, die Erwartung der Liebhaber, das Sehnen nach einem weiteren musikalischen Leckerbissen waren für mich hörbar, fühlbar, denn ich verallgemeinerte meine eigenen Empfindungen auf alle anderen Menschen im Saal. Kein Ton, keine noch so feine Klangfarbe sollte ungehört bleiben. Es war, als hätten wir Zuhörer aufgehört zu atmen, um besser hören zu können.

Ich stand so ideal, dass ich Rubinsteins Gesicht und seine großen ausdrucksstarken Hände gut beobachten konnte, die so schmeichelnd und zärtlich, so donnernd und leidenschaftlich eben jenen Zauber der Töne und Klänge schufen, für die Rubinstein zurecht als einer der Besten unter den ganz Großen gerühmt wurde.

Als er sich setzte, erstarrte seine Mimik, sie fror ein zu einer lebendigen Maske der absoluten Konzentration. Blass waren plötzlich die Furchen auf seiner Stirn. Ich erschrak, weil mich diese wächserne Starre an eine Totenmaske erinnerte. Doch nein, er lebte, und wie quicklebendig er das Feuer aus seinen Fingern sprühen ließ! Blitzartig waren sie niedergezuckt und meißelten die vertrackten Rhythmen, die teilweise schreienden Dissonanzen und rasenden Perlenläufe von Polichinelle, einem Clowntanz des brasilianischen Komponisten Villa-Lobos, in die Tasten. Die Töne prasselten, Rubinsteins Finger flogen schneller als ich beobachten konnte. Sein Körper saß aufrecht und unbeweglich, die Augen waren geschlossen, sicherlich den Blick hellwach auf die innere Partitur gerichtet. Und ich war immer noch irritiert von der Totenmaske eines Mannes, der scheinbar blind und mit packender und doch scharf gezügelter Leidenschaft eines Erfahrenen dieses rasante Stück vor unseren Augen und Ohren entstehen ließ.

In diesem Moment schwebte unter den glitzernden Klängen einer brillanten Tonkaskade ein zierliches Mädchen, bestimmt nicht älter als fünf Jahre, langsam von ihrem Platz in der ersten Reihe auf der Bühne nach vorn, an der Spitze des Flügels vorbei, an seiner Einbuchtung zum Publikum hin vorwärts und blieb gebannt so neben der Tastatur stehen, dass ich ihr und Rubinsteins Gesicht sehen konnte. Sie trug ein blütenweißes langes Kleid­chen, weiße Schuhe und Strümpfe und bot so neben dem strengen Schwarz des Flügels und des Fracks einen wohltuenden, fast heiteren Kontrast. Ich sah, wie sie zuerst fasziniert auf die fliegenden Hände und die hetzenden, trommelnden, dann zart tastenden Finger schaute. Schließlich wanderte ihr Blick an den Armen hoch zu den ruhenden Schultern in das fahlblasse, unbewegliche Gesicht mit den geschlossenen Lidern. Sie schaute Rubinstein an, direkt, offen, verwundert, abwartend, und sie war wohl von diesem totengleichen Antlitz noch mehr gebannt als von der entfesselten Virtuosität der Hände. Sie konnte ihren Blick nicht mehr abwenden und erstarrte selbst in dieser Haltung.

Wieder erschrak ich, denn ich stellte mir plötzlich vor, wie Rubinstein verwirrt wäre, wenn er mitten in seinen komplizierten Rhythmen die Augen öffnen und dieses kleine Geschöpf so nahe bei sich entdecken würde. Vielleicht bräche sein Spielfluss auseinander, könnte ein erschreckter Fehlgriff sein Wunderwerk zerstören. Ich spürte, wie mir die Schweißperlen auf die Stirn traten, weil ich beklemmende Angst fühlte, diese witzig virtuose Dreingabe könnte von der ihn verblüffenden Anwesenheit dieses unschuldigen Kindes jäh zerrissen werden.

Mein Blick flog kurz hinüber zu dem Vater der Kleinen, der leicht nach vorn gebeugt mit angewinkeltem Bein auf dem Sprung saß, bereit, sein Kind dort von der heiligen Stätte weg zu holen. Aber er getraute sich offensichtlich nicht einzugreifen, wohl ahnend, dass sein väterlicher Zugriff ganz sicher die kostbare Sekunde zerschlagen würde.

Immer noch funkelte Rubinsteins wunderbares Spiel, es zuckte, toste, ebbte ab und brach neu los zu einem überwältigenden und witzigen Glitzerlauf der straff punktierten Tonketten.

In diesem Sekundenbruchteil, mitten in diesem flirrenden Perlentongewirr, an dem auch große Virtuosen oft scheitern, geschah das Unfassbare, für mich das eigentliche Erlebnis an diesem so überreichen Konzertabend, der voll war von klanglichen Einmaligkeiten und spielerischen Höhepunkten. Mitten in dieser höchsten nervlichen Anspannung und maximalen Konzentration auf die höllischen Gefahren der Finger mordenden Teufels­passage, die so herrlich leichtfüßig verspielt klingen soll, ereignete sich ohne Übergang, ohne vermittelnde, ankündigende Geste das Großartige. So wie wir mit einem Knipsen am Schalter im Dunkeln das Licht plötzlich hell leuchten lassen, verwandelte sich Rubinsteins Maskengesicht. Mit einer sanften Drehung des greisen Hauptes zu dem zierlichen weißen Püppchen hin öffneten sich seine gütig blickenden Augen, und ein strahlendes Lächeln huschte von seinem plötzlich so lebendigen Gesicht in die staunenden Augen des Mädchens, als wollte er sagen: „Schön, dass es dir gefällt!”

Ich weiß nicht, wann er sie bemerkt hatte, jedenfalls war er keineswegs überrascht, dass sie so dicht bei ihm stand. Rubinsteins weicher Blick erschien mir, als hätte der liebevolle Großvater seine Enkeltochter herzlich umarmt und in gütige Wärme eingebettet. Ich kann mir keinen größeren Gegensatz denken, als den frappierenden Widerspruch zwischen der ruhevollen Zärtlichkeit in Rubinsteins Augen und der virtuosen Rasanz in seinen Händen. Hier wurde ein Kontrast sichtbar zwischen zwei gleichzeitig in einem einzigen Menschen lebendigen und miteinander scheinbar nicht zu vereinbarenden Wesenszügen. Seine Augen sangen ein wunderbares largo amabile, seine Hände preschten ein virtuoses presto con fuoco.

Jetzt, da er alle seine Sinne, jede Faser seines Körpers und jede Zelle seines Gehirns brauchte, um die wahnwitzige Virtuosenfalle zu meistern, nahm er sich geruhsam Zeit und Muße, einem Kind zuzulächeln. Als hätte er nichts anderes zu schaffen, leistete er sich den menschlichen Luxus einer ebenso ungeteilten Konzentration, um an diesen weißen Konzertengel einen liebevollen, Ruhe und Wärme ausstrahlenden Blick zu schicken. Nicht irgendein zufällig hingeworfener Seitenblick war das, nichts Unpersönliches, was auch uns manchmal aus den umher schweifenden Augen unbewusst entflieht. Nein, ich sah es, ich fühlte es unmissverständlich: Rubinstein meinte dieses Mädchen. Er schenkte ihr ganz bewusst und ungeteilt diesen einen Herzensblick, als wäre es eine für sie verstehbare, erfühlbare Gabe, wenn schon die Musik so fremd, so kompliziert für sie sein mochte. Mit uns, dem erwachsenen Publikum, sprach er die brillante, die höchst vollkommene Sprache der Musik und gleichzeitig -das war das Einmalige, das Grandiose!- öffnete er sein Herz und seine Augen, um nur diesem einen Mädchen in ihrer Sprache des Kinderherzens zu begegnen.

Das Kind zuckte verblüfft zurück, setzte zu einem kleinen Schritt rückwärts an, blieb aber doch stehen. Ein flüchtiges Rot flog über ihre Wangen, als fühlte sie sich bei einer unerlaubten Beobachtung ertappt. Dann erwiderte sie freudig das Lächeln mit ihrer unverstellten kindlichen Offenheit.

Dies alles ereignete sich im wörtlichsten Sinne während zweier Augenblicke, in einem Blitzblicktausch, umrauscht von unverminderter virtuoser Brillanz. Dies war die in meiner Erinnerung unauslöschliche und an jenem Abend so flüchtige Sekunde höchster Intensität und heiterster Leichtigkeit.

Rubinstein drängte während dieses Augendialogs souverän, zielstrebig und ohne Blick auf die Tasten in seinem rasenden Tongefunkel weiter, und ein leises Raunen der Freude und Überraschung entrang sich den Umstehenden, die Zeuge dieser kurzen Augenbegegnung geworden waren. In diesem Moment erlosch Rubinsteins Gesicht wieder, als sei nichts gewesen. Das Licht in seiner herzlichen Mimik verschwand so plötzlich, wie es entflammt war. Und mit maskenhafter Konzentration jagte er das Musikstück in seine letzte furiose Passage, die in einem frenetischen Jubel des stehenden Publikums ausklang.

Heute bin ich in der glücklichen Lage, mir wenigstens eine bruchstückhafte Wiederholung jener Szene zu verschaffen. Denn ich besitze einen Konzertmitschnitt dieses Stückes, das Rubinstein in jenen Jahren aufnehmen ließ. Und beim Hören bin ich heute noch verzaubert von seinem packenden Spiel, das in diesem brasilianischen Clowntanz gerade mal eineinhalb Minuten dauert.

Nachsatz im Mai 2021: Leider erst jetzt habe ich eine Videoaufnahme bei Youtube gefunden, in der Rubinstein am 01. Oktober 1964 im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums dieses Musikstück Policinelle gespielt hat. Hier ist der Link https://www.youtube.com/watch?v=uYeU1VEgV-Q

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte ist in meinem Buch Das Geständnis, Betulius Verlag erschienen.

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Das verzögerte Ja-Wort

Trauungen finden in Bilderbüchern und Illustrierten immer bei Kaiserwetter statt. Es ist meistens Hochsommer, und die Sonne freut sich mit den Hochzeitsgästen und lässt ihre wärmenden Strahlen verschwenderisch über das Rathaus und die Kirche nebenan scheinen.

Stellen Sie sich einen herrlichen Kirchplatz vor, umsäumt mit den sachkundig restaurierten Fachwerkfassaden. Eines der alten Häuser hat man vor Jahren sogar wegen Baufälligkeit abgerissen und nach alten Plänen originalgetreu wieder aufgebaut. Die Geschäfte rund um die Kirche und den Markt sind gepflegt. Doch der genaue Blick zeigt, dass hier wenig Kundschaft kauft. Das nahe gelegene Einkaufszentrum und die verkehrsberuhigende Parkplatzpolitik des Gemeinderats haben dafür gesorgt, dass es erschreckend ruhig um die Kirche und den angrenzenden Marktplatz geworden ist. Diese Postkartenidylle zeigt das Alltagsbild. Hier ist nichts los. Es sei denn, jemand will heiraten wie heute.

Jetzt am Samstag kurz nach dem Mittagessen stehen hier vor der Kirche nur wenige Menschen. Dort drüben vor der Eisdiele versuchen ein paar junge Leute, sich in der prallen Sonne mit einem Eisbecher abzukühlen. Und am unteren Ende des Marktplatzes schauen die Gäste der Krone neugierig zu dem Geschehen vor der Kirche herüber.

Denn hier treffen jetzt nach und nach festlich gekleidete Herrschaften ein. Sie begrüßen einander herzlich und wie alte Bekannte. Die jungen Frauen freuen sich, dass sie die leichten Kleider anziehen dürfen. Louis hat das Trachtenjackett gleich im Wagen gelassen und ziert sein offenes weißes Hemd mit besonders breiten Hosenträgern. Die weiß-blauen Rauten und die eingestanzten Enzianblüten zeigen allen Beobachtern, welches sein Lieblingsbundesland ist. „Da braucht man jetzt bei der Hitz´n ein Weiz´n!“ erklärt er den Umstehenden.

Die Braut des heutigen Tages heißt Patricia und wird jetzt mit ihrem Bräutigam Pierre im blumengeschmückten Auto herangefahren. Sie steigen unter dem Beifall der Hochzeitsgesellschaft würdevoll aus.

Patricia ist im besten Heiratsalter, hat gerade ihre Ausbildung als Erzieherin absolviert und strahlt mit ihren schwarzen Augen ihr ganzes Glück in die Welt. Der Friseur hat heute morgen drei Stunden gezaubert, um das volle Haar der Braut zu zähmen. Unter dem breitkrempigen Hut quellen verschwenderisch schwarze Locken hervor, und das mit Brillanten besetzte Armband am linken Handgelenk blitzt im Sonnenlicht auf.

Sie hat es gestern von ihren Eltern nach der standesamtlichen Trauung feierlich überreicht bekommen: „Du weißt,“ hat ihr Vater in seiner Tischrede betont, „mein Vater hat es meiner Mutter zur Hochzeit geschenkt, und sie haben beide bestimmt, dass du es als ihre einzige Enkelin zur Hochzeit erhalten sollst.“

Das Brautkleid umhüllt Patricias gertenschlanken Körper mit einem hochweißen Kleid, in dem kleine Herzen Ton in Ton den Grund des Festes verkünden. Der runde Halsausschnitt wird durch eine kostbare Perlenkette zum Blickfang, die sie ebenfalls gestern von ihrer Schwiegermutter aus deren Familienschatz umgehängt bekam.

Die Braut hat es sich nicht nehmen lassen, ein Kleid mit einer Schleppe zu kaufen, die mit feinen Spitzen besetzt und nicht wie üblich ein verlängerter Schleier, sondern am Gürtel befestigt ist. Sie wird von ihren kleinen Nichten mit spitzen Fingern überaus gefühlvoll getragen.

Ein niedliches Zwillingspärchen sind die beiden, gerade mal fünf Jahre alt, und in ihren rosa langen Kleidchen mit den Spitzenkragen und den handgeflochtenen Margeritenkränzchen im blonden Haar ziehen sie alle Aufmerksamkeit auf sich. Um ihre zierlichen Handgelenkchen hängen liebevoll geschmückte und mit Blütenblättern gefüllte Bastkörb­chen. Daraus sollen sie nachher, hat Mama gesagt, „wenn Patricia und Pierre richtig verheiratet sind“ dem Braut­paar Blumen auf den Weg streuen, „damit sie glücklich werden.“

„Schau mal, wie süß sie sind!“ Tanta Martha deutet auf die beiden Mädchen, ist ganz entzückt und sagt es jedem, auch denen, die es schon ein paar mal gehört haben. Sie fächelt sich mit ihren durchbrochenen Handschuhen an den feisten Armen Luft in ihr aufgedunsenes und rot glühendes Kugelgesicht und seufzt: „Ach Gottchen, mein Blutdruck! Mein Doktor sagt immer, ich soll nicht in die Wärme stehen. Oje, ist das heute schwül!“

Sie wischt sich den Schweiß ab, der ihre teuren Dauerwellen anklebt und an ihrem wulstigen Nacken herunterläuft. Die Falten im Gesicht hat sie von der Kosmetikerin sorgfältig dekorieren -im Klartext: übertünchen- lassen. Ein triftiger Fall zum Liften ist sie noch nicht, aber ihrer Freundin hat sie neulich einmal anvertraut, dass sie jeden Monat eine bestimmte Summe auf ein Konto legt, um die doch sicher unvermeidliche Schönheitsoperation bezahlen zu können, wenn´s nötig wird. Die schwere Goldkette glänzt auf dem nassen Dekolleté über dem schwer atmenden Busen. Das Brokatkleid stammt aus dem vorigen Jahrhundert, ist viel zu warm und macht sie noch matroniger. Aber sie musste es anziehen! Wann hat man schon die Gelegenheit, der Verwandtschaft zu zeigen, was man besitzt!

„Hat der Doktor dir auch gesagt, dass du abnehmen sollst?“ fragt Florian, das ist Patricias zwölfjähriger Bruder, so von unten herauf, und sein verschmitztes Lächeln erstirbt sofort, als seine Mutter ihn scharf zurechtweißt: „Aber Flori, so was sagt man doch nicht!“

Er fragt in aller gebotenen Harmlosigkeit zurück: „Wieso, Mama, du sagst doch immer, wenn ich etwas wissen will, soll ich fragen!“

Die Mama dreht sich verlegen zur Seite. Immer dieser vorlaute Kerl, denkt sie. Er ist in letzter Zeit so frech! Aber Martha sieht ja auch wirklich schrecklich aufgedonnert aus!

Der Bräutigam steht schüchtern und doch mit bewundernden Blicken für seine junge Frau inmitten der Gesellschaft. Er ist sehr stolz, dass er seine geliebte Patricia heute zum Traualtar führen darf. Bei diesem Gedanken bemerkt er, wie sich seine schmale Brust um Millimeter hebt und die hellblaue Weste, die silbergraue Krawatte mit den hellen Punkten und das dunkelblaue Jackett nach vorn drückt.

Er öffnet den obersten Knopf am Hemd, holt vorsichtig sein weißes Taschentuch aus der Hose und tupft sich verstohlen die Schweißperlen von der Stirn. Es ist so ungewohnt für ihn, einen Anzug zu tragen, denn an seinem Schreibtisch im Finanzamt braucht er nie eine solch formelle Kleidung. Ein leiser Seufzer entfleucht seinen blutleeren Lippen.

Patricias Vater schaut in die Runde und sieht, wie Pfarrer Sebastino aus der Kirche kommt, um das Paar abzuholen. Er begrüßt die Gesellschaft und lädt die Gäste ein, sich in die Kirche zu setzen.

Als der Pfarrer mit dem Brautpaar allein im Portal steht, fasst Patricia ihren Pierre zärtlich an der Hand und flüstert nervös: „Jetzt geht´s los! Hoffentlich fange ich nicht wieder vor Freude an zu weinen wie gestern auf dem Standesamt!“ Sie nestelt nervös an ihrem Ausschnitt und an ihren Haaren und versucht dabei zu verbergen, dass sie vor lauter Aufregung einen Schweißausbruch hat. Dann wechselt sie ständig die weiße bestickte Tasche von einer Hand in die andere, so dass die kunstvollen Handschuhe etwas zerknittert sind. Ihr Atem wird schneller, und ihre Brust hebt sich unregelmäßig. Sie stöhnt: „Oh Gott, wie ist es heiß hier! Lass uns ins Kühle gehen.“

Sie dreht sich vorsichtig zum Portal und achtet darauf, dass die beiden Nichten mit der Schleppe nachkommen. Man könnte glauben, sie schwebe über das Steinpflaster, würden nicht ihre Stöckelabsätze wie leise Pistolenschüsse unter ihrem langen Rock knallen.

Die Orgel beginnt mit dem traditionellen Hochzeitsmarsch „Treulich geführt“, die Gäste erheben sich von den Kirchenbänken, und der Pfarrer schreitet mit dem Brautpaar feierlich den langen Gang zum Altar nach vorn. Patricias Mama wischt sich ein paar Tränen aus den Augen.

Als die beiden glücklichen Menschen nebeneinander vor dem Altar stehen, schauen sie sich verliebt an, und jeder, der diesen Blick sieht, spürt, dass sich das richtige Pärchen gefunden hat. Pierre ist in froher Erwartung, dass sein sehnlichster Wunsch jetzt gleich in Erfüllung geht. Dann beobachtet er, wie sich ein blasser Schatten über Patricias Gesicht legt. Ihre Schweißperlen sind nicht zu übersehen, schon deshalb weil sie feuchte Straßen in das kunstvolle Make-up gravieren. Patricias Halsschlagadern pulsieren so heftig, dass es sogar seinem medizinisch ungeübten Blick auffällt.

„Liebling, was ist mit dir?“ flüstert Pierre besorgt und greift nach der Hand seiner Braut. Er rutscht dabei an ihren verschwitzten und kalten Händen ab. Ihr heißer Atem fließt stoßweise, die Blässe wird durch den  roten Lippenstift noch deutlicher. Ihre Finger verkrampfen sich in seiner Hand.

„Nichts, nichts,“ stößt sie hervor, nur ein bisschen schwindelig!“ Sie sinkt auf den Stuhl und schnappt nach Luft. Und Pierre sieht, wie ihre Augen angstvoll geweitet sind.

„Sie bekommt zu wenig Luft!“ sagt Pierre zu dem Pfarrer, der ebenfalls bemerkt hat, dass es der Braut nicht gut geht. Er nimmt Patricias Hand und redet ihr ruhig zu: „Keine Sorge, wir machen eine kleine Pause. Schließen Sie mal einen Moment Ihre Augen! Atmen Sie ganz ruhig durch.“ Seine wohltuende Stimme wirkt wie Balsam auf Patricias aufgeregte Atmung, und die Farbe kehrt langsam  wieder in ihr Gesicht zurück. Nach einer kleine Weile nickt sie ihm zu: „Ich glaube, jetzt geht´s!“

Pfarrer Sebastino steht vor dem Altar und eröffnet mit feierlicher Stimme den Gottesdienst: „Wir beginnen im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!“

Seine weiteren Worte und die Predigt fließen teilweise an Patricia vorbei. Sie konzentriert sich auf ihren dringenden Wunsch, unbedingt ganz beherrscht zu sein. Und Pierre, der sie immer wieder aus dem Augenwinkel betrachtet, erkennt, wie seine Frau immer schneller atmet. Auch Patricias Mutter, die schräg hinter ihr sitzt, blickt mit sorgenvollem Ausdruck in den Augen zu ihrer Tochter.

Jetzt bemerkt der Pfarrer die wiederkehrende Unruhe der Braut. Er versucht, mit einer beruhigenden Handbewegung auf Patricia einzuwirken und kommt schneller als üblich zu der eigentlichen Trauzeremonie. Er will die belastende Situation für die Braut abkürzen: „Und jetzt bitte ich Sie, zu dem Trauversprechen nach vorn zu treten!“

Patricia will aufstehen, fällt wieder zurück, Pierre stützt sie, lässt sie wieder auf den Stuhl sinken, schaut angstvoll zu seiner Frau und den Eltern dahinter. Jetzt sehen alle, dass die Braut in Not ist und Pierre in großer Sorge.

Patricia stöhnt: „Oje, mir ist so schlecht. Ich bekomm keine Luft!“

„Aber dann müssen wir mehr Luft reinlassen!“ fordert der Bräutigam mit zitternder Stimme. Die Eltern des Brautpaares und einige Gäste eilen nach vorn und stehen unruhig um die Braut herum. Jeder hat einen anderen Rat: „Du musst noch schneller atmen!“ meint Louis und hält sich wichtigtuerisch an seinen Hosenträgern fest. „Nein, nimm doch mein Duftwässerchen!“ widerspricht Tante Martha und nestelt in ihrem Handtäschchen. „Aber nein, das ist doch völlig falsch! Sie braucht eine Spritze!“ – Ihr müsst sie hinlegen!“ – Nein, sie muss sitzen bleiben!“ – „Sie soll herumlaufen!“ – Aber nicht doch, das ist ein Herzinfarkt, da muss man liegen!“ weiß Louis ganz überlegen.

Die hektischen Stimmen schreien durcheinander, und die arme Patricia ist so mit sich und dem verzweifelten Versuch beschäftigt, ihre Fassung zu bewahren, die sie eigentlich schon längst verloren hat, dass sie überhaupt nichts mehr hört, was um sie herum geschieht. Sogar der an Aufregung gewöhnte Pfarrer Sebastino wird etwas ratlos. So viel Trubel hat auch er in den vielen Jahren noch nicht erlebt. Er schaut zuerst unsicher zu und geht nervös hin und her. Dann sagt er sehr bestimmt mit einem Blick zur Festgemeinde: „Ich glaube, wir brauchen einen Notarzt!“

„Mach ich!“ sagt der Mann mit den festlichen Hosenträgern, zieht sein Telefon aus Tasche, hält es so hoch, dass der Pfarrer sieht, wie rasch sein Wunsch befolgt wird, und geht mit schnellen Schritten in den hinteren Teil der Kirche, um zu telefonieren.

Plötzlich ist es ruhig im Raum, aber nur eine Schrecksekunde lang, dann beginnt das Geschnatter um so hektischer wieder von Neuem. Alle Anwesenden sind von einer solchen Aufregung erfasst, dass sie einander beiseite boxen. „Wir müssen jetzt ganz ruhig sein,“ faucht Tante Martha, „damit die arme Patricia sich fangen kann!“

„Dann sei doch mal endlich still!“ entfährt es scharf dem Bräutigam, und am meisten erschrickt er selbst über seinen Mut, dem aufgeplusterten Familienfeldwebel zu widersprechen.

„Also, hör mal, was erlaubst du dir!“ Tante Martha lässt ihre Stimme schrill überschnappen, und sie hebt ihren großen Busen noch ein paar Zentimeter höher, als wolle sie den frechen Bräutigam körperlich in Schranken weisen.

Patricia ist inzwischen in ihrem Stuhl noch weiter nach unten gesunken, sie fällt fast auf den Boden, klammert sich verzweifelt mit rutschenden Handschuhen an die Lehnen und ringt hektisch atmend nach Luft. „Mein Gesicht wird so eng!“ seufzt sie mit einer weinerlichen Stimme. „Es kribbelt so! Ich brauch´ mehr Luft!“

Da kommt Louis mit dem Telefon zurück und verkündet: „Der Not­arzt kommt gleich. Wir sollten ein bisschen Platz für ihn machen.“ Und mit einer freundlich bestimmten Geste deutet er auf die Eingangstür: „Ich denke, wir sollten die Braut in Ruhe lassen. Der Bräutigam und ich bleiben hier.“

Aber die Gäste verstehen die Aufforderung nicht, sie werden nur noch nervöser und schnattern auf die arme Patricia genau so besserwisserisch und hektisch ein wie vorhin. Da hören sie aus der Ferne schon das Martinshorn rasch näherkommen. Der Notarztwagen und ein Krankenwagen stoppen nach kurzer Zeit vor der Kirche, die Gäste rennen aufgeregt ans Portal: „Sie kommen!“ Der Möchtegern-Bayer brummt mit nachgeahmtem Dialekt vor sich hin: „Dös hamma scho´ g´hört!“

Pierre kniet mit Tränen in den Augen neben seiner Patricia: „Was soll ich denn tun, Liebes, du kannst doch jetzt keinen Herzinfarkt haben. Wir wollen doch heiraten! Ich liebe dich doch!“

Mit raschen Schritten stehen die Männer vom Roten Kreuz und der Notarzt bei Patricia, die weinend versucht, sich auf dem Stuhl zu halten.

Der Arzt hat mit einem raschen Blick die schnelle und tiefe Atmung, die verkrampften Hände, das schweißnasse Gesicht und den angstvollen Blick der Braut erfasst. Er beugt sich über sie: „Ich bin Dr. Petersen, guten Tag! Ich weiß, dass Sie sehr aufgeregt sind. Aber es ist nichts Schlimmes! Wenn Sie tun, was ich Ihnen sage, kann ich Ihnen rasch helfen!“

„Aber das ist sehr schlimm, Herr Doktor, wie können Sie so etwas sagen! Sie müssen ihr sofort eine Spritze geben!“ Pierre ist außer sich vor Sorge.

Dr. Petersen bleibt ruhig: „Es geht wahrscheinlich auch ohne Spritze, wenn Ihre Frau langsamer atmet und in diese Tüte bläst.“ Er greift in seine Jackentasche, zieht eine kleine Plastiktüte heraus und erklärt: „Sie haben in der Aufregung viel zu schnell geatmet. Das ist wie wenn Sie ein Luftmatratze oder einen Luftballon zu schnell aufblasen. Dann wird es Ihnen auch schwindelig. Wenn sie in die Tüte atmen und dieselbe Luft wieder einatmen, können sich die Calciumionen wieder aus den Bindung ans Eiweiß in Ihrem Blut freisetzen. Dann geht es Ihnen rasch besser, und ich brauche Ihnen keine Spritze zu geben. Sie müssen nur richtig flach und langsam atmen.“

Er will die Tüte über Patricias Mund und Nase halten. Aber da schreit Patricia auf: „Nein! Dann bekomm´ ich doch gar keine Luft!“ Sie schlägt ihm die Tüte aus der Hand. Dr. Petersen weicht zurück. Er erkennt, dass er mit seinem vernünftigen Vorschlag keinen Erfolg hat. Und seine medizinischen Erklärungen kommen jetzt in dieser hektischen Situation bei Patricia nicht an.

Dr. Petersen wendet sich zu dem Rettungssanitäter und sagt knapp: „Also Calcium i.v.!“ Dieser hat auf das Kommando schon gewartet, und der Koffer mit den Medikamenten und Spritzen steht bereits offen. Mit ein paar geübten Handgriffen zieht der junge Mann die Flüssigkeit aus der Ampulle in die Spritze und setzt eine Kanüle auf. Mittlerweile hat Dr. Petersen den Stauschlauch um den Oberarm der Braut geschlungen und festgezurrt. Die Vene ragt prall in der Ellenbeuge hervor, und Dr. Petersen hält mit einer Hand den Arm fest und sticht mit der Kanüle zielsicher in das Gefäß. Während er langsam injiziert, sagt er zu Patricia: „So das hilft jetzt gleich. Wenn es warm wird, sagen Sie es mir, dann kann ich etwas langsamer spritzen.“

Er beobachtet die Patientin. Pierre hält sie liebevoll fest, und die meisten anderen Hochzeitsgäste sind inzwischen ruhig geworden und schauen gespannt zu, was hier geschieht. Eine Notfallbehandlung am Traualtar erlebt man schließlich nicht bei jeder Hochzeit!

Und Tante Martha hat sich auf die Bank in der dritten Reihe zurückgezogen, fächelt sich frische Luft und Mut zu und stöhnt vor sich hin: „Nein, so was! Dass ich das auf meine alten Tage noch erleben muss!“

Tatsächlich! Patricia wird wieder etwas rosiger im Gesicht und sagt: „Ich glaube, es geht ein bisschen besser!“ Dr. Petersen drückt den Rest der Spritze vollends in die Vene, zieht die Kanüle heraus, beobachtet die Braut und sagt lächelnd: „Na, können Sie jetzt heiraten?“

Pierre streichelt liebevoll Patricias Gesicht: „Liebling, meinst du, das geht jetzt?“ Sie überlegt und flüstert zaghaft: „Ich will´s versuchen!“

Pierre spürt nicht sehr viel Überzeugung in ihren Worten, aber er spielt mit in der Hoffnung, dass es klappt: „Also, Herr Pfarrer, bitte helfen Sie uns!“ Und zu Dr. Petersen gewandt sagt er: „Bitte, bleiben Sie da! Für alle Fälle! Es dauert ja nicht lang!“

Dr. Petersen nickt, gibt seinen vier Rettungssanitätern ein Zeichen mit der Hand in Richtung Kirchenbank, und die fünf Herren setzen sich in die erste Reihe. Keiner von ihnen hat je eine Hochzeit im Notdienst miterlebt.

Pfarrer Sebastino klatscht in die Hände und sagt mit erhobener Stimme: „Liebe Hochzeitsgemeinde, bitte kommen Sie zu Ihren Plätzen zurück. Wir wollen die Zeremonie fortsetzen.“

Während die Gäste aus der ganzen Kirche zusammeneilen und der Mann mit den Hosenträgern rasch seine Zigarette ausdrückt, bevor er die Kirche betritt, sieht Dr. Petersen, wie Patricia wieder anfängt, schneller und tiefer zu atmen. Er beugt sich vor und flüstert ihr zu: „Langsam und flach! Das ist wichtig!“

Sie schaut zu ihm herüber, nickt mit ängstlichem Blick und merkt nicht, wie ihre Atmung noch rascher wird. Pfarrer Sebastino beginnt: „Bitte, liebes Brautpaar, erheben Sie sich. Ich werde Sie jetzt fragen, ob Sie die Ehe miteinander eingehen wollen!“

Das Brautpaar steht langsam auf, und Patricia stöhnt: „Mir ist so eng im Gesicht! Es geht wieder los!“ Sie klammert sich an Pierre, der erschrocken zu Dr. Petersen schaut.

Da steht der Arzt auf und sagt freundlich zu Pfarrer Sebastino: „Ich glaube, das wird heute nichts. Ich möchte die Braut mit in die Klinik nehmen, damit sie zur Ruhe kommen kann. Sie sollten die kirchliche Hochzeit verschieben.“

„O nein!“ weint Patricia los und zittert am ganzen Leib. „Ich will nicht in die Klinik. Ich will doch heiraten!“ Sie verdreht die Augen, und Pierre und Dr. Petersen könne sie gerade noch auffangen, bevor sie gebremst von den starken Männerarmen auf den roten Teppich vor dem Altar gleitet. Sie atmet tief und schnell, ihre Hände sind krampfartig gestreckt.

Dr. Petersen kommandiert leise und bestimmt seine Sanitäter: „Trage und Calcium mit Braunüle!“ Zwei Rettungssanitäter rennen hinaus, um die Trage aus dem Wagen zu holen, der dritte zieht noch einmal eine Ampulle auf. Innerhalb von Sekunden sitzt auch diese Injektion mit einer Kanüle, die Dr. Petersen in der Vene liegen lassen kann. Er beobachtet, wie das Medikament langsam hineinfließt.

Die Trage rattert durch den Kirchengang. Die Sanitäter heben Patricia hinauf, schlagen die Gurten um sie herum, um sie zu sichern. Und die Gäste schauen zu, wie die Braut mit nachgeschleifter Schleppe aus der Kirche gefahren wird. Einer der Rettungssanitäter tritt versehentlich darauf, und der Stoff reißt krachend vom Kleid.

In dem engen Gang rennt Pierre hinter seiner Braut her und ruft: „Liebling, ich fahr euch sofort nach! Hörst du mich?“

Sie antwortet nicht, weil sie weinend die Hände vors Gesicht geschlagen hat. Mit wenigen Griffen wird sie in den Notarztwagen geschoben. Die Türen klappen zu. Der Wagen fährt ab.

Pierre und die anderen Hochzeitsgäste rennen zu ihren Wagen, steigen in aller Hektik ein, die Motoren springen an, und die Kolonne setzt sich in Bewegung. Voraus rast der Notarztwagen mit Martinshorn und Blaulicht. Dann folgt der Krankenwagen.

Dahinter sitzt Pierre im Hochzeitsauto. Schon beim Anfahren hört er ein schreckliches Geklapper. Zuerst denkt er, der Motor sei kaputt, dann hat er den Geistesblitz: „Dosen an der Stoßstange!“

Tatsächlich sitzt im nachfolgenden Wagen Florian und weiß nicht so recht, ob seine Idee wirklich gut war, zwanzig Dosen an das Auto zu binden. Aber er freut sich wenigstens über das Schild, das er kunstvoll mit „Just married“ gemalt hat. Es klebt auf der Heckscheibe.

Die Passanten drehen sich um, als sie den ungewöhnlichen Konvoi an sich vorbeirasen sehen. Florian erschrickt: Die Dosen überschlagen sich wild in den Kurven und reißen sich durch die schneller Fahrt los. Eine Dose knallt einem Kind auf dem Bürgersteig an den Kopf. Die Platzwunde blutet sofort. Das Kind schreit.

Weiter geht die Jagd ins Krankenhaus. Im Notarztwagen liegt Patricia mit ihrem zerrissenen Hochzeitskleid auf der Trage und weint. Der Rettungssanitäter reißt ein Heftpflaster von einer Halterung ab und klebt den klaffenden Schlitz an der Seite einfach zu: „Sieht nicht schön aus, aber hält!“ sagt er mehr für sich als zu Patricia.

Sie ist inzwischen durch die beiden Spitzen wieder so weit hergestellt, dass sie Dr. Petersen zuhören kann, der beruhigend auf sie einredet: „Bitte, glauben Sie mir doch. Sie Sache mit der Tüte sieht zwar komisch aus, aber sie hilft wirklich. Probieren Sie es wenigstens!“

„Also gut!“ Patricia gibt nach und greift nach der Tüte. Dr. Petersen lässt die selbst die Tüte über Mund und Nase halten, und zuerst sehr ungläubig atmet sie langsam in die Tüte und zieht die Luft wieder ein. „Prima!“ lobt Dr. Petersen, „und jetzt ganz langsam weiter!“ Patricia spürt, dass sie genügend Luft bekommt und dass sie sich sogar von Atemzug zu Atemzug wohler fühlt. Sie schaut den Arzt mit verwunderten Augen an, und er sieht, dass sie zuversichtlicher wird.

Er versucht noch einen nächsten Schritt: „Und jetzt halten sie mal kurz die Luft an, dann steigt der Kohlendioxidspiegel in ihrem Blut, und sie bekommen noch mehr Calciumionen frei!“ Er weiß nicht, ob sie diese Erklärung versteht, aber Patricia stoppt tatsächlich ihre Atmung für kurze Zeit, beobachtet Dr. Petersen dabei, und als er nickt, atmet sie langsam wieder aus. „Na also, klappt doch!“ ermuntert er sie, und Patricia kann sogar schon ein bisschen lächeln.

Der Notarztwagen biegt in die Krankenwageneinfahrt der Klinik, die Tür schließt sich automatisch. Die Rettungssanitäter steigen aus und ziehen die Trage mit der Patientin heraus. Sie fahren gemeinsam zur Ambulanz, wo Patricia rasch in eine leere Kabine geschoben wird.

Pierre ist inzwischen mit den anderen Hochzeitsgästen auch auf dem Klinikparkplatz eingetroffen. Sie rennen zur Pforte: „Ich bin der Bräutigam! Wo ist meine Frau?“ ruft er angstvoll der Pförtnerin zu. Diese deutet zum Lift: „Zweiter Stock, Innere Ambulanz! Und alles Gute!“ Die Verwandten zwängen sich in den Aufzug, fahren hoch, klingeln an der Anmeldung und werden freundlich zurückgewiesen: „Bitte, warten Sie noch einen Moment, bis die Patientin sprechbereit ist!“ Pierre ist entsetzt: „Aber meine Frau braucht mich! Lassen Sie mich hinein, nur wenigstens mich!“ bittet er inständig! „Also gut, kommen Sie rein,“ gibt die Schwester nach und öffnet die Tür.

Patricia liegt jetzt ruhiger auf der Trage, und Dr. Petersen hält ihre Hand: „Na schauen Sie mal, da ist ja Ihr Mann!“ – Pierre stößt einen Seufzer der Erleichterung aus, als er sieht, das es seiner Patricia wieder besser geht. Aber Patricia bricht in Tränen aus und umarmt ihren Pierre: „Liebling, was für eine Schande! Ich hab dir die ganze Hochzeit verdorben. Wie kann ich das wieder gut machen!“

Pierre nimmt sie herzlich in seine Arme: „Indem du mich bei der allernächsten Gelegenheit nochmal heiratest!“ Er macht ein kurze Pause und fügt lachend hinzu: „Wir sind doch seit gestern schon verheiratet, falls du das in deiner Aufregung vergessen hast.“

Und mit einem schelmischen Blick zu Dr. Petersen sagt er: „Das nächste Mal heiraten wir in der Krankenhauskapelle, und Sie sind herzlich dazu eingeladen. Einverstanden?“

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht.

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , , | Schreib einen Kommentar

Aktion Erdmann

(Dies ist eine Geschichte meiner Frau Birgit, die wir in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht haben.)

Schon als Kind konnte ich nicht ruhig auf dem Stuhl sitzen bleiben. Obwohl ich ein zierliches Mädchen war und alle Bekannten mich für ein lebendiges Püppchen hielten, suchte ich ständig nach Abenteuern. Ich war meistens mit den Buben zusammen und kletterte an den gefährlichsten Hängen, Dächern und Bäumen herum. Alle Familien mit gleichaltrigen Kindern kannten mich in der Umgebung, weil ich regelmäßig fast überall zu Gast war. Auch heute noch meine ich, dass ich ein richtige kindliche Streunerin war. Und im Rahmen meiner vielfältigen Aktivitäten ist die Aktion Erdmann eines meiner wichtigsten Kindheitserlebnisse.

Ich war acht Jahre alt, als ich mit meinen Eltern und meinen beiden Geschwistern in dem Block einer Wohnsiedlung lebte. Beamte, Angestellte der Gemeinde und einiger Firmen, Arbeiter, auch Menschen aller Altersstufen wohnten hier friedlich beieinander. Wir Kinder spielten unabhängig von unseren sozialen Herkunft gern und regelmäßig miteinander. Auf der Straße veranstalteten wir Rollschuhwettrennen, weil wir auf der großen Wiese vor dem Haus nicht spielen durften und immer von dem Hausmeister mit wütenden Worten verjagt wurden. Er achtete auch darauf, dass wir keinen Lärm machten und die Mittagsruhe einhielten. Obwohl in unseren Häuserblocks viele Kinder lebten, verhielten sich manche Erwachsene recht kinderfeindlich.

Eines Tages sah ich, wie Roswitha mal wieder mit einem völlig verdreckten Kleid und vom Schweiß verklebten Haaren auf der Straße stand. In der einen Hand hielt sie ein Brot und mit dem Zeigefinger der anderen holte sie sich die Würze dazu aus der Nase.

Das rotweiße Kleid Roswithas war durch die Schmutzflecken mit einer Einheitsfarbmischung getüncht, einer Mischung aus grau und braun, Öl und Straßendreck. Zwei der Knöpfe waren abgerissen, und deshalb konnte ich das schmutzige Unterhemd durch den vorderen Kleiderschlitz blitzen sehen. Die Unterhose hing unter dem Kleid hervor und war so groß, dass sie eigentlich nur von einem der älteren Brüder Roswithas stammen konnte. Abgesehen davon wusste ich, wie diese Unterhose roch, denn Roswitha war noch nicht ganz trocken, trug häufig keine Windel und ließ ihren Bedürfnissen freien Lauf. Schon allein deshalb wollten wir gerade mit ihr nicht gern spielen.

Roswitha gehörte zur Familie Erdmann aus unserem Haus und war drei Jahre alt. Sie hatte zwei ältere Brüder, nämlich Herbert und Franz, und ihre jüngeren Schwestern Angelika und Sabine. Ich wusste, dass auch Erdmanns Wohnung ähnlich aussah und roch wie Roswithas Kleid.

Während ich Roswitha beobachtete, stand ich in unserer Wohnung am Fenster, aß einen knackigen Apfel und spürte plötzlich, wie mir der Apfel fast wieder hochkam. Ich konnte einfach nicht mehr weiteressen.

Mir schoss der Gedanke durch den Kopf: So kann es mit den Kindern nicht weitergehen! Jetzt muss etwas geschehen! Mir war klar, dass die Familie sich offensichtlich nicht selbst helfen konnte. Also überlegte ich, wie ich mit meinen acht Jahren einen Beitrag leisten könnte, um diese Zustände in der Familie Erdmann zu verbessern. Da kam mir eine Idee.

Ich rief meine Freundin an, die direkt über Erdmanns wohnte: „Veronika, ich muss unbedingt mit dir reden! Wir müssen uns sofort am Baum hinterm Haus treffen und etwas Wichtiges besprechen!“

Sie antwortete: „Birgit, ich muss aber für meine Mama einkaufen!“

Ich ließ mich nicht abwimmeln: „Also gut, dann gehe ich mit zum Einkaufen, und wir reden auf dem Weg! Es ist sehr wichtig! Es muss dringend etwas passieren!“

Als wir zum Bäcker und Metzger gingen, besprachen wir meinen Plan. Veronika war sofort begeistert und meinte: „Dazu brauchen aber Wolfgang, Alexander und die Ursula! Die machen bestimmt mit! Wir müssen gleich mit ihnen reden!“

Auf dem Rückweg machten wir einen Umweg über den Spielplatz, weil wir hofften, dass die drei dort sind. Wir hatten Glück und konnten unser Vorhaben tatsächlich bei der Schaukel besprechen.

„Ja, wann machen wir´s denn?“, fragte Wolfgang, als der Plan klar ausgeheckt war. „Um vier Uhr morgen Nachmittag, weil Frau Erdmann dann zur Spätschicht geht!“ war meine Antwort. Alle waren einverstanden, und wir verabredeten uns wie Verschwörer zum nächsten Tag: „Wir machen Aktion Erdmann! Aber das bleibt unser Geheimnis!“

Als wir gerade wieder auseinander gehen wollten, wurde Ursula nachdenklich: „Und wie kommen wir in die Wohnung?“

Ich schlug vor: „Wir müssen es Herbert sagen, der lässt uns rein.“

Am nächsten Nachmittag trafen wir uns pünktlich um vier Uhr vor dem Haus. Als wir sahen, dass Frau Erdmann ums Eck verschwunden war, stürmten wir die Treppe zu ihrer Wohnung hoch und klingelten: Herbert öffnete und fragte verwundert: „Was wollt ihr denn alle?“

„Wir machen Aktion Erdmann!“ flüsterten wir fast wie aus einem Mund -denn im Treppenhaus sollte das natürlich niemand hören- und drängten ihn zur Seite. „Lass uns rein! Wir erklären dir alles!“

Als die Tür hinter uns zu war, überschütteten wir ihn mit unserem Plan. Wir redeten alle gleichzeitig, weil es uns doch so wichtig war. Aber Herbert verstand sofort und war begeistert: „Das ist klasse! Da muss ich schon keine Hausaufgaben machen und nicht alleine spülen! Also los geht´s!“ Er warf seine Hefte in die Schultasche.

Wir wollten uns an den Tisch setzen und besprechen, in welcher Reihenfolge wir vorgehen. Aber da mussten wir erst mal aufräumen, denn auf den Stühlen lagen Kleider und klebten Essensreste. Auf dem Tisch stand noch das schmutzige Geschirr vom Mittagessen, und an den Resten sahen wir, dass es bei Erdmanns nichts Gutes zum Essen gab.

„Was habt ihr denn heute gegessen? fragte ich Herbert. Er murrte: „Nur eine Fertigbrühe und Brot. Ich hab das Essen schnell nach der Schule gemacht, weil Mama noch im Bett lag. Und wir hatten alle Hunger!“

„Wisst ihr was, wir müssen zuerst mal die ganze Wohnung anschauen, und dann überlegen wir, wo wir anfangen!“ Ich übernahm unbewusst die Leitung der Aktion.

In der kleinen Küche stand auf allen möglichen Flächen sehr viel ungespültes Geschirr, an dem die verkrusteten Speisereste festgetrocknet waren. Seit mehreren Tagen hatte hier niemand mehr gespült. Der Herd war von altem Fett verklebt, die Platten waren auch am Rand verschmiert, und ich konnte ihre Abgrenzungen nicht mehr erkennen. Die Vorhänge konnten wir an einem Zipfel ziehen, und sie waren so starr vor Dreck, dass wir nicht einmal eine Vorhangstange brauchten, um den Stoff gerade zur Seite zu bewegen. Die Schränke waren sicherlich schon seit Erdmanns Einzug vor ein paar Jahren nicht mehr gereinigt worden.

Im Wohnzimmer lagen und standen leere Bierflaschen auf dem Boden und auf dem Tisch. In den Ecken hatte sich Müll angesammelt, den wir in diesem Moment noch nicht genau anschauten.

In den beiden Zimmern, in denen die fünf Kinder schliefen, standen zwei Stockbetten und ein Säuglingsbett, in dem Sabine gerade ihre schmutzigen Zehen in den Mund steckte. Die Bettwäsche war verdreckt und lag zerknüllt herum. Ich konnte erkennen, wie die Kinder mit ihren Fetthänden an den Fenstern auf- und abgefahren waren. Wahrscheinlich hingen sie oft am Fensterbrett und warteten auf die Eltern.

In der Badewanne lagen schmutzige Windeln und verbreiteten einen Gestank wie ein volles Toilettenhäuschen in der prallen Sonne. Der Dreck am Wannenrand ließ uns vermuten, dass man bei einem Bad schmutziger herauskommt als man hineinsteigt. Nachdem wir das alles gesehen hatten, getrauten wir uns nicht mehr, die Toilette zu besichtigen.

„Oje! Was hab ich uns da eingebrockt!“ Ich stand mit offenem Mund im Flur und war ratlos: „Das schaffen wir nie!“

Aber Herbert gab uns wieder Mut: „Wir können ja in der Küche anfangen! Das ist doch schon mal was! Wir teilen ein, wer was macht!“

Also bekamen die Jungs die leichteren Aufgaben wie Staub wischen und saugen und Aufräumen im Wohnzimmer. Wir Mädchen gingen in die Küche und übernahmen die Spülarbeiten und das Entfernen der Fettschichten an allen Wänden und Stellflächen.

Am Anfang kostete es uns sehr viel Kraft und Zeit, die festgeklebten Krusten abzukratzen und die Fliesen abzuseifen. Aber schließlich erkannten wir, dass der Erfolg zwar sichtbar, aber doch nicht vollständig sein konnte. Unser Ekel vor dem verschmierten Dreck schwand mit jedem sauberen Zentimeter, den wir der Schmuddelküche abringen konnten.

Zwischendurch schauten wir nach den Jungen und gaben ihnen Ratschläge, wo sie den Müll und die noch brauchbaren Gegenstände hinräumen sollten, die wahllos herumlagen. Und in den Schlafzimmern zogen wir die übel riechende Bettwäsche ab und wechselten sie gegen saubere, so weit wir überhaupt welche fanden.

„Das macht ja richtig Spaß!“ sagte Veronika, als wir langsam sahen, wie unsere Heinzelmännchenarbeit sichtbar wurde.

Nach ein paar Stunden, als wir uns gerade überlegten, wann wir wiederkommen und weiterarbeiten würden, hörten wir, wie Herr Erdmann versuchte, im Flur den Wohnungsschlüssel in das Schloss zu stecken. Nach mehreren Anläufen schaffte er es schließlich und kam herein. Er schwankte auf uns zu und lallte: „Was macht ihr dann da?!“ Wir drückten uns in ein Eck in der Küche, weil wir Angst vor ihm hatten, wenn er betrunken war. Er schimpfte dann oft sehr ungeduldig mit uns.

Herbert kam uns zuvor: „Wir haben aufgeräumt, Papa, schau mal!“ Er zeigte mit Stolz in die Küche und das Wohnzimmer. Herr Erdmann starrte mit glasigen Augen in die Wohnung, verströmte seinen Alkoholatem und brauchte eine ganze Weile, bis er verstand, was hier geschehen war. Dann hellte sich sein hochrotes Gesicht mit der blauen Nase etwas auf, und er murrte schon etwas freundlicher: „Da könnt ihr mal wiederkommen! Aber jetzt müsst ihr zum Abendessen nach Hause!“

Wir verabschiedeten uns und beratschlagten draußen, dass es am besten wäre, die Wohnung nach und nach auf Vordermann zu bringen. Immerhin hatten wir jetzt erlebt, dass wir es doch schaffen könnten, wenn wir zusammenhalten und gezielt vorgehen.

„Wir brauchen schöne Tischdecken, das Plastiktuch war ganz zerrissen, und ich konnte es gar nicht mehr sauber machen,“ klagte Wolfgang. „Ich frag mal meine Mama, ob sie eins hergeben kann.“

„Nein, das machst du nicht!“ widersprach ich. „Wir erzählen zu Hause überhaupt nichts. Die Aktion Erdmann ist unser Geheimnis! Wir fragen, ob manche Sachen, die noch gut sind, weggeworfen werden können, und dann bringen wir sie zu Erdmanns!“

Auf diese Art und Weise sammelten wir in den nächsten Tagen und Wochen aus den verschiedenen Haushalten heimlich zahlreiche Gegenstände, die unsere Muttis dank unserer Überredungskunst reif für den Lumpensack oder den Mülleimer hielten: Handtücher, Servietten, kleine Küchenutensilien, Bettwäsche, Blumenvasen und vieles andere, was wir für Erdmanns nützlich und zu Hause entbehrlich fanden.

Unsere Eltern wussten über Monate nichts von unserer heimlichen Tätigkeit. Sie wunderten sich immer wieder, wo wir Kinder denn seien, und offensichtlich konnten wir sie mit unseren ständig neuen Ausreden zufriedenstellen.

Herbert war unser Verbindungsmann und sagte uns, wann ein neuer Einsatz nötig war. Dann riefen wir die Kinder zusammen und veranstalteten eine neue Aktion Erdmann. So schafften wir es tatsächlich, die Wohnung etwas gemütlicher und sauberer zu gestalten, obwohl sie doch dauernd wieder verschmutzt wurde. Wir stellten kleine Blumensträuße auf und entfernten den Müll, der in so vielen Ecken lag. Dann wuschen wir die Küchenschränke aus. Die Schlafzimmerschränke glichen einem Mülllager. Wir räumten sie aus, sortierten die Wäsche, wuschen und bügelten sie und stapelten sie wieder sorgfältig in die Fächer.

Auch der Balkon war zum Müllplatz umfunktioniert. Ziemlich planmäßig brachten wir bei jeder Säuberungsaktion einigen Müll aus der Wohnung und verteilten ihn auf die Mülleimer der verschiedenen Familien, soweit es dort Platz gab. Und durch die regelmäßigen Sperrmülltransporte der Gemeinde konnten wir erreichen, dass die Wohnung allmählich wieder leerer wurde.

Frau Erdmann wusste natürlich inzwischen von unserer kameradschaftlichen Gemeinschaftsarbeit und ließ uns gewähren. Eines Mittags, als wir wieder zu einer neuen Aktion Erdmann anrückten, lag Herberts Mama wie so oft noch im Bett und stöhnte: „Räumt schon mal auf, ich schaff´ es wirklich nicht alleine. Ich muss jetzt ins Geschäft.“ Sie schob uns die leeren Bierflaschen auf dem Nachttisch entgegen, quälte sich aus dem Bett und verschwand im Badezimmer.

Dann kam Ostern. Wir Nachbarskinder wussten, dass die Familie Erdmann sehr wenig Geld hatte, und wir ahnten, dass die Eltern ihren Kindern sicherlich gar keine Geschenke kaufen konnten. Deshalb überlegten wir heimlich, wie wir gemeinsam für die Kinder ein Osterfest gestalten könnten.

„Das ist klar, wir müssen unser Taschengeld zusammenlegen und was kaufen. Und das meiste müssen wir selbst basteln.“ Ich machte den Vorschlag, und alle waren einverstanden. Also legten wir unsere kleinen Ersparnisse auf den Tisch und kauften davon Pappe, Bast, Papier und noch einige Kleinigkeiten, die wir nicht zu Hause hatten. Vom Wald brachten wir frisches Moos mit.

Dann verwandelten wir Veronikas Zimmer in eine Osterbastelstube. Unsere Wangen müssen geglüht haben, so begeistert waren wir bei der Sache. Plötzlich war es auch mir gar nicht mehr wichtig, draußen zu spielen, und selbst bei schönem Wetter blieb ich gern bei Veronika und bastelte. Wir bemalten hartgekochte Eier mit unseren Wasserfarben, bauten Nestchen aus der Pappe, dem grünen Glanzpapier und dem duftigen Moos und setzten in jedes noch einen Schokoladenhasen.

Am Ostersonntag versteckten wir morgens die Gaben im Garten, ohne dass der Hausmeister uns bemerkte, klingelten dann bei Erdmanns und sagten zu den Kindern, die öffneten: „Der Osterhase hat was versteckt! Jetzt dürft ihr alle Kinder suchen!“

Mit großem Hallo stürmten Herbert, Franz, Angelika und Roswitha hinunter, und wir waren glücklich zu sehen, wie sie eifrig durch den Garten liefen und jubelten, wenn sie ein Osternestchen gefunden hatten.

Herr und Frau Erdmann waren langsam nachgekommen und standen etwas beschämt an der Hauswand: „Das habt ihr aber wirklich sehr lieb gemacht! Vielen Dank!“ Frau Erdmann schaute uns mit feuchten Augen an und verschwand nach oben in die Wohnung. Nach einer Weile kam sie wieder und sagte zu uns: „So, und jetzt dürfen die Kinder was suchen, die Osternestchen gebastelt haben. Kommt mal mit!“

Wir schauten einander verwundert an, denn damit hatten wir wirklich nicht gerechnet. Aber natürlich gingen wir gern mit. Frau Erdmann führte uns in ihre Wohnung und sagte: „Im Wohnzimmer hat der Osterhase etwas versteckt.“ Wir kannten natürlich die Ecken sehr gut von unseren Aufräumarbeiten und fanden schnell zwei Schokoladenhasen. Einen davon bekam ich, und er war für mich ein so wichtiges Andenken an Erdmanns und unsere Aktion, dass ich ihn jahrelang als wertvolle Trophäe aufbewahrte, obwohl mein Bruder regelmäßig drängte, den Hasen endlich zu schlachten.

„Das ist aber toll! Vielen Dank, dass Sie für uns auch was haben!“ Wir bedankten uns herzlich, weil wir spürten, wie Frau Erdmann ihre Dankbarkeit für unsere Einsätze zeigen wollte. Sie nahm uns etwas unbeholfen in ihre Arme: „Es ist schön, dass ihr uns so helft. Ich hab noch was! Wollt ihr zum Essen bleiben?“

Wir waren hin und her gerissen zwischen Verwunderung, Begeisterung und dem Gefühl, eigentlich nach Hause zum Mittagessen gehen zu müssen. „Ja, gern,“ stotterte ich, „aber dann muss ich meiner Mutti Bescheid sagen! – „Ja, ich auch,“ riefen die anderen Kinder.

„Also, dann kommt in ein paar Minuten wieder!“ Frau Erdmann öffnete uns die Tür, und wir rannten davon, um zu Hause unsere frohe Botschaft zu verkünden. Es kostete uns zwar einige Überredungskunst, unsere Eltern davon zu überzeugen, dass wir unbedingt am Ostersonntag mit den Nachbarkindern essen müssen, aber sie sahen es schließlich ein.

Wir deckten bei Erdmanns gemeinsam den Esstisch mit einer unserer mitgebrachten Decken, verteilten die Papierservietten mit den bunten Osterhäschen, die ich mir aus dem Schrank meiner Mutti rasch noch eingeschoben hatte, stellten saubere Saftgläser dazu und holten mehr Stühle aus Veronikas Wohnung.

Wir freuten uns riesig, schon allein die Vorbereitung zu dem Osterfestessen miteinander gestalten zu dürfen.

Frau Erdmann hatte inzwischen eine große Portion Spaghetti in kochendes Wasser geschüttet, und wir rührten eine Tomatensauce aus dem Päckchen an. Herbert verteilte Sprudel und Apfelsaft.

Schließlich saßen wir einträchtig um den großen Tisch, und Frau Erdmann gab jedem von uns Spaghetti auf den Teller und goss Sauce darüber. Ich erinnere mich genau, wie ich mich in diesem Moment zu dieser Familie gehörig fühlte. Und ich sah, wie meine Freude und Freundinnen und sogar Herr Erdmann mit glücklichen Augen am Tisch saßen und aßen.

Veronika sagte: „Jetzt sind wir eine richtige große Familie!“

Und Frau Erdmann erwiderte: „Ja, und das haben wir euch zu verdanken!“

Dieser Ostersonntag war einer der Höhepunkte unserer Aktion Erdmann.

Etwa ein halbes Jahr später kam Herbert eines Tages zu uns und sagte traurig: „Mein Papa ist heute auf der Toilette gestorben. Er hat Schlaftabletten genommen und Alkohol getrunken!“ Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Ich weiß gar nicht, wie das mit uns weitergehen soll!“

Wir behielten unsere Aufräumarbeiten bei und veränderten sie nach Bedarf. Nach und nach hatten die anderen Kinder keine Lust mehr mitzumachen, und eine Zeit lang arbeitete ich allein bei Erdmanns. Aber dann wurde auch meine Belastung in der Schule größer, und ich beendete die Aktion Erdmann.

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , , | Schreib einen Kommentar

Schöne Bescherung!

„Billa,” sagt die Mutter an der Wohnungstür, „ich geh mal rasch zu Frau Sandler hinüber und besorge noch Butter und Sahne. Das habe ich vorhin vergessen. Bleibst du so lange da? Dann können wir anschließend mittagessen, und später gehen wir zum Weihnachtsgottesdienst.”

Billa nickt nur leicht mit ihrem blonden Lockenschopf: „Ja, ja, ich muss noch meine Puppen fürs Fest umziehen!” Auf diese Gelegenheit hatte sie gewartet! Jetzt kann sie endlich nachschauen, ob ihr Plan funktioniert. Deshalb blickt sie kaum vom Boden auf, wo sie mit ihren puppenmütterlichen Aufgaben beschäftigt ist.

Billa wartet eine Weile, bis sie unten die Haustür zuklappen hört, dann geht sie zielsicher in Mamas Schlafzimmer. Ihr Herz pocht, weil sie ganz genau spürt, dass sie etwas streng Verbotenes vorhat. Aber sie kann die Spannung einfach nicht mehr aushalten.

Billa weiß, dass Mama im Schlafzimmerschrank ihre Geschenke versteckt, ganz oben in dem Fach, wo Kinder nicht hinaufreichen können. Billa zieht sich Mamas Stuhl vom Ankleidetisch heran, klettert hoch, öffnet die Tür, und da entdeckt sie genau, was sie vermutet hatte.

Viele kleine und größere Päckchen liegen da, bunt mit Weihnachtspapier dekoriert. Überall hängen die kleinen Schildchen dran mit den Namen der Menschen, denen Mama etwas schenken will. Und Billa muss gar nicht lange suchen. Ganz vorne liegt das Päckchen, das sie unbedingt sehen will. Genau hatte sie sich im Schaufenster des Puppengeschäftes Form und Größe der Schachtel eingeprägt. Es gibt nur ein einziges Paket in dem Schrank, das zu der Puppe passt, die sich Billa so sehnlich von Mama gewünscht hat. Und Mama hat „Billa” auf das Schild am Paket geschrieben. Alle anderen Päckchen interessieren Billa nicht.

Sie spürt, wie ihr die Freude ins Gesicht schießt und ihre Augen glücklich leuchten. Ja, ihr Plan wird gelingen! Sie hat es sich genau überlegt. Das wird ein wunderbares Fest werden.

Sie schließt die Tür des Schrankes, steigt vom Stuhl und geht wieder in ihr Zimmer. Als Mama zurückkommt, sind die Puppen mit ihren schönsten Kleidchen angezogen. „Das hast du aber schön gemacht,” lobt Mama. „Mit deinen sieben Jahren bist du schon eine prima Puppenmutter!”

Billa ist zufrieden mit sich, sie hat sich nichts anmerken lassen von ihrem heimlichen Blick in den Schrank. Sie hört nicht, dass Mama ins Schlafzimmer geht, um sich umzuziehen. Billa ist so sehr auf ihren Plan konzentriert, während sie auf dem Teppichboden mit ihren Puppen spielt, dass sie richtig zusammenzuckt, als Mama plötzlich neben ihr steht und mit strenger Stimme faucht: „Sybilla! Du warst am Schlafzimmerschrank!”

Oje, denkt Billa, wenn Mama Sybilla sagt, dann gibt´s fürchterlichen Ärger! Wie hat sie das bloß gemerkt? Billa weiß, dass ihr Gesicht wie eine rote Lampe leuchtet und sie verrät. Sie stottert nur: „Aber, Mama, ich wollte doch nur …” Weiter kommt sie nicht.

Mama schreit: „Du hast den Stuhl vor dem Schrank stehen lassen! Du hast mir das ganze Fest verdorben!” Sie packt Billa am Pulli und wirft sie sehr unsanft auf dem Boden um. Billa kann sich gerade noch abstützen, sonst würde sie mit dem Gesicht auf den Teppich fallen. Sie ist starr vor Schreck und spürt, wie die Angst vor noch mehr Streit sie lähmt. Sie kann gerade noch Clarissa, ihre Lieblingspuppe, in den Arm schließen, um sich bei ihr zu trösten.

Billa hört, wie Mama mit ihrer Wut ins Schlafzimmer rennt. Dort schlagen die umherfliegenden Päckchen auf den Boden, und dann kommt Mama mit stampfenden Schritten zurück zu Billas Zimmer. Billa sitzt auf dem Boden, als die Tür auffliegt und Mama von der Türschwelle her mit einem Schwung alle Geschenke so heftig vor Billa hinwirft, dass sie auf dem ganzen Zimmerboden herumkullern. Und Mama schreit aus vollem Hals und mit zitternder Stimme: „Sybilla, das war für dich Weihnachten!”

Billa erkennt gerade noch, wie Tränen über Mamas wutrotes Gesicht fließen. Da knallt die Tür ins Schloss, und Billa ist allein. Sie sinkt mit dem Schlag der Tür in sich zusammen wie ein platzender Luftballon. Erst nach einer ganzen Weile löst sich die Starre ihres Erschreckens, und sie beginnt zuerst zögernd und dann hemmungslos zu weinen. Ihre ganze Trauer fließt in das Kopfkissen.

Nur von weit dringt Mamas Schluchzen aus dem Wohnzimmer zu ihr. Billa hat schon oft seit dem Sommer erlebt, als Papi nicht mehr von der Geschäftsreise zurückkam, dass sie und Mama getrennt voneinander weinen und dann wieder zusammenfinden. Mama ist manchmal richtig ungerecht. Aber Billa spürt, dass Mama immer noch über Papis Tod sehr traurig ist. Es war ja auch schrecklich, als die Polizisten erzählten, er sei von einem Betrunkenen auf dem Gehweg überfahren worden. Und dann der Moment, als die Männer in den schwarzen Anzügen Papi im Sarg in die Erde versenkt haben! Bei diesem Gedanken schüttelt es Billa, und sie schluchzt noch heftiger.

Nach einer ganzen Weile wischt sich Billa ihre Tränen aus dem Gesicht, sie schnieft einmal kräftig die Nase hoch und schaut die Fotografie von Papi an, der sie von der Wand her anlacht. Sie löst das Bild vom Haken, legt sich damit auf ihr Bett und sagt: „Papi, bitte hilf mir. Ich hab´s doch nicht böse gemeint!”

Billa weiß in ihrem wunden Herzen, dass sie Mama unbedingt ihren Plan mit der Puppe erklären muss. Sie zieht sich das Paket, in dem die Puppe eingepackt ist, ins Bett und weint über Papi, über Mama und über den Schmerz, gerade an Weihnachten mit Mama Streit zu haben. Billa spürt die wühlenden Messer des Unrechts und die wohltuende Wärme der Erinnerung an glückliche Tage. Billa kann Mamas Wut und Traurigkeit kaum aushalten. Zum ersten Mal Weihnachten ohne Papi und ohne Omi! Und dann auch noch solchen Ärger!

Billa weint sich in den Schlaf. Es dauert einige Zeit, in denen Billa sich hin- und herwälzt, weil sie viele Bilder im Traum mit verwirrenden Gefühlen quälen.

Inzwischen legt der Schnee am Nachmittag einen weißen Teppich auf die Straßen und die Bäume, und die Kerzen in den Fenstern und auf den weihnachtlichen Tischen lassen ein warmes Licht in die Stuben strömen. Nur in Billas Zimmer wird es immer dunkler.

Sie hört nicht, wie leise die Tür aufgeht. Sie wacht erst auf, als Mamas Hand zärtlich über ihr Haar streicht: „Billa, es tut mir leid, ich wollte nicht so garstig zu dir sein.”

Billa schlingt dankbar ihre Arme um Mamas Hals und küsst sie. Mama drückt Billa an sich und sagt: „Weißt du, Billa, als Kind habe ich auch manchmal heimlich gespickt, welche Geschenke Omi verpackt hatte. Ich kann dich verstehen. Aber ich habe mich so geärgert, weil ich dich mit den Geschenken überraschen und dir eine Freude machen wollte.”

Billa schluckt, fasst sich ein Herz und gesteht: „Ich habe doch nur wegen Omi geschaut!”

Mama runzelt die Stirn: „Wegen Omi? Das versteh ich nicht!”

Billa rutscht näher zu Mama hin und erklärt ihr wie einer Mitverschwörerin: „Ich hatte doch einen Plan! Ich verrate ihn dir. Aber du darfst mir nicht böse sein! Versprichst du mir das?” Billa hielt Mama die offene Hand hin.

„Also gut, versprochen!” Mama nimmt zärtlich Billas Hand und schaut sie aufmerksam an, und Billa spürt, wie liebevoll Mama doch ist.

Billa erzählt: „Seit Omi im Pflegeheim liegt, besuche ich sie doch immer wieder mit Clarissa zusammen.” Billa deutet auf ihre Lieblingspuppe und fährt fort:

„Omi erkennt mich oft nicht, und fragt immer wieder, wer ich bin. Das ist doch so schlimm für mich. Erst wenn ich ihr sage, dass wir doch Billa und Clarissa sind, nimmt sie uns in den Arm und weiß dann, dass wir zu ihr gehören. Dann holt sie immer ganz vorsichtig Clarissa aus meinem Arm und streichelt sie. Und neulich hat Omi langsam gesagt: ´Mein ganzes Leben lang habe ich mir so eine schöne Puppe gewünscht wie deine Clarissa!´”

Billa macht eine kleine Pause und beobachtet neugierig, ob Mama jetzt den Plan schon erkennt. Mama nickt: „Und jetzt willst du …?”

„Ja,” sagt Billa begeistert, „und da hab ich gedacht, ich wünsche mir von dir die Puppe aus dem Laden und bringe Clarissa zu Omi, und dann hat Omi auch eine Puppe! Und vielleicht erkennt sie mich dann besser!”

„Oh Billa,” seufzt Mama und umarmt sie, „dann hab ich dir ja schrecklich Unrecht getan mit meiner Wut! Verzeihst du mir?”

„Ja, Mama!” Billa fühlt sich plötzlich so viel leichter! Jetzt wird ihr Plan doch noch Wirklichkeit werden, und Mama freut sich auch! Mit ihrer ganzen Begeisterung strahlt Billa: „Gehen wir nachher zu Omi und feiern mit ihr und mit Clarissa Weihnachten?”

„Aber gern, Billa!” lacht Mama. Doch dann fragt sie ernst: „Bist du dir sicher, dass du Clarissa hergeben willst?”

Billa nickt energisch mit dem Kopf: „Ja, Mama, das habe ich mir gut überlegt. Für Oma mache ich das gern. Und ich kann die beiden ja immer besuchen, wenn ich will. Ich verliere Clarissa nicht, sie wohnt nur in einem anderen Haus und macht Oma glücklich. Das ist doch gut, oder nicht?”

Auch Mama ist inzwischen ernst geworden und sagt nachdenklich: „Ja, Billa. Das ist sehr gut. Du hast es ganz richtig gedacht. Wir müssen jetzt in Zukunft immer gemeinsam entscheiden, damit wir miteinander unser Leben meistern. Und ich sehe schon, du bist ein sehr vernünftiges Kind, das auch mit dem Herzen denkt.”

Da schaut Billa Mama fragend an: „Erfüllst du mir noch einen Wunsch, Mama?”

Mama nickt: „Gern, wenn du noch so eine gute Idee hast!”

„Ja,” lacht Billa, „ich hab eine zweite Überraschung. Ich möchte jetzt einen geschmückten Zweig von unserem Weihnachtsbaum mitnehmen, mit dir im Schnee zu Papis Grab gehen und dort eine Kerze anzünden. Schau mal, was ich habe!”

Billa zieht eine Schublade an ihrem Schreibtisch auf und holt aus dem hintersten Eck eine Bienenwachskerze, auf die sie einen Weihnachtszweig geformt hatte: „Ich habe die Kerze selbst gegossen. Tante Bertel hat mir in ihrer Werkstatt gezeigt, wie das geht. Meinst du, Papi würde sich darüber freuen?”

Mama lächelt mit Tränen in den Augen: „Aber ja, Billa, du bist ein Schatz! Deine Pläne sind wunderbar. Genau so werden wir es machen!”

Billa umarmt Mama: „Ja, und dieses Bild von Papi nehmen wir zu Omi mit, dann sind wir alle beieinander!” Sie drückt Mama noch einen herzhaften Kuss auf die Wange und rennt hinaus an die Garderobe, um sich für den Besuch bei Papi und Omi warm anzuziehen.

Sie hört und sieht nicht, wie Mama auf dem Bett Papis Bild in die Hände nimmt und unter Tränen sagt: „Danke, dass ich dieses Kind von dir habe! So bist du immer bei mir!”

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht.

Veröffentlicht unter Prosa | Verschlagwortet mit , , , , , | Schreib einen Kommentar