Die Kommunikationsgesetze von Paul Watzlawick

Kommunikation ist leben miteinander.

Prof. Dr. Karl Jaspers

Kommunikation ist Verhalten zueinander.

Unbekannt

Wir sehen also, dass der Begriff der Kommunikation sehr weit gefasst ist und eben nicht nur etwas mit reden zu tun hat. Der gesamte Bereich der nonverbalen Verständigung, also zum Beispiel die Körpersprache, die Wirkung unserer Umgebung auf uns und die Patienten, die äußeren Erscheinungsformen unserer Person und die Menschen, mit denen wir uns umgeben, stellen einen Teil unserer Kommunikation dar und beeinflussen damit unsere Wirkung auf uns selbst und unsere Umwelt. Jede Verhaltensform einem anderen Menschen gegenüber hat etwas zu bedeuten in unserer Beziehung zu ihm:

  • ob ich am Telefon freundlich oder ruppig bin;
  • ob ich einen Brief sofort beantworte oder erst nach einer Mahnung;
  • ob ich seine Fragen emotional zugewandt oder rein sachlich behandle;
  • ob ich in einer sauberen Praxis / Station arbeite;
  • ob der Patient sich in einer gemütlichen Praxis wohl fühlt;
  • ob er sich durch meine nachlässige Kleidung abgestoßen fühlt;
  • ob ich den vereinbarten Termin pünktlich einhalte.
  • ob ich ein Chaos oder Ordnung auf dem Schreibtisch habe.

Das entspricht dem 1. Gesetz von Watzlawick.

Wenn Sie nicht wissen, was das ist: Merken Sie, wie diese Art der Kommunikation jetzt in Ihnen eine Reaktion auslöst? Das ist wahrscheinlich die gleiche Reaktion, die Ihr Patient entwickelt, wenn Sie ihm etwas Unverständliches sagen. Ich bitte Sie also jetzt um Geduld für ein paar weitere Sätze. Dabei können Sie ebenfalls Ihre Frustrationstoleranz testen, die Ihr Verhalten in Praxis und Privatleben beeinflusst.

Einer der wichtigsten Sätze, die ich bei der Planung meiner Praxis 1981 von Reinhold Wolff gelernt und inzwischen bestätigt gefunden habe, lautet:

Sie bekommen die Patienten, die zu Ihnen passen.

Wie Schwingungen Resonanz erzeugen, ziehen wir Menschen an, mit denen wir auf glei-cher „Wellenlänge“ liegen. Deshalb bekommen wir, was für uns nötig ist und was wir ver-dienen, um uns weiterzuentwickeln, selbst wenn es manchmal sehr unangenehm erscheint. Das ist auch der Grund, warum wir die Mitarbeiter, die Partner und die Umwelt erhalten, die wir brauchen. Ein Arzt, der sich und seine Praxis gut organisiert und konsequent handelt, hat eine andere Klientel als ein Arzt, der eher zu den unorganisierten und inkonsequenten gehört. Dieser wird eher unpünktliche, sozial bedürftige, süchtige und unstrukturierte Patienten anziehen.

Um diese Zusammenhänge besser zu erklären, möchte ich ihnen jetzt die

Kommunikationsgesetze von Paul Watzlawick

vorstellen, die ich vorhin schon erwähnt habe, und ich danke Ihnen, dass Sie bis hierher gewartet haben. Paul Watzlawick ist ein in Kalifornien lebender Philosoph und Philologe, der 1921 in Villach (Kärnten) geboren wurde und Weltruf erlangt hat mit seinen Forschungen und Büchern über die zwischenmenschliche Beziehung und Kommunikation und über die Entstehung seelischer Krankheiten.

1. Gesetz:

Man kann nicht nicht kommunizieren.

Das heißt auch, ein Telefonat nicht zu führen oder einen Hausbesuch erst nach drei Tagen zu machen oder eine Antwort nicht zu geben, hat einen Aussagewert und stellt eine Kom-munikation dar. Außerdem sollten wir bedenken, dass es zum Beispiel als Aggression an-gesehen wird, wenn wir einen fragenden Patienten einfach stehen lassen. Überlegen Sie, wie sie selbst reagieren würden, wenn sich Ihr Lebenspartner kommentarlos einer von Ihnen gewünschten Unterhaltung durch Verlassen des Raumes entzieht.

Eine andere Konsequenz dieses Gesetzes besteht darin, dass der Patient innerhalb der ersten Minute nach Betreten der Praxis oder der Klinik einen Eindruck bekommt von der Kommunikation, die in dieser Praxis herrscht. Dieser Eindruck entscheidet wesentlich über die weitere Beziehung zwischen Patient und Praxisteam.

Dies wurde mir einmal deutlich, als ich in die Praxis eines benachbarten Kollegen ging, um etwas mit ihm über einen gemeinsamen Patienten zu besprechen. Ich betrat den Vorraum mit einem freundlichen Gruß und war zu diesem Zeitpunkt allein mit der Helferin, die in den Terminkalender versunken am Schreibtisch saß. Ich wartete direkt vor ihr an der Rezeption stehend ab, um zu sehen, was geschehen würde. Nach drei Minuten (!) sah sie auf und fragte, was ich wolle. Als ich mich vorstellte, rannte sie mit hochrotem Kopf davon, um ihren Chef zu holen.

2. Gesetz:

Jede Kommunikation hat Aspekte, die Beziehung, Appell, Selbstoffenbarung und Inhalt enthalten.

a) Beziehung

Dieser Aspekt beantwortet die Frage: Wie stehen wir zueinander? Die Beziehungsebene hilft, einander zu verstehen.

Spüren Sie den Unterschied zwischen dem Schild Eintritt verboten! und der Aufschrift Bitte nicht eintreten! Welche Beziehung, welche Einstellung signalisieren Sie Ihren Patienten mit den beiden Schildern?

Oder ein anderes Beispiel:

„Gehen Sie nach Zimmer 3!“

„Frau Müller, wenn Sie jetzt bitte sich in Zimmer 3 ausziehen, werde ich Sie gleich untersuchen.“

Daran erkennen Sie, welche innere Beziehung oder welche Hierarchievorstellung Sie zu dem Patienten haben. Schon allein Ihr Tonfall oder Ihre Mimik zeigen Ihre Beziehung zu den Mitmenschen. Ebenso sollten wir darauf achten -und wir tun es häufig unbewusst-, wie sich die Beziehung unserer Mitmenschen zu uns äußert:

„Herr Schulze, Sie müssen heute noch zu mir kommen! Ich habe Fieber.“

„Herr Doktor Schulze, ich habe Fieber. Was kann ich tun?“

Ich will absichtlich diese Beziehungen nicht näher erklären, um Ihnen beim Lesen die Ge-legenheit zu geben, in sich hineinzuspüren, was Sie dabei empfinden. Wie würden Sie re-agieren? Beachten Sie auch bitte bewusst, dass Ihre Reaktion abhängig ist von der Beziehung, die Sie zu der redenden Person haben. Die Aussage, also der Inhalt des Satzes allein, bestimmt nicht ausschließlich Ihre Reaktion.

b) Appell

Dieser Appell antwortet auf die Frage: Welche Handlung will ich von dir? Die Appellebene hilft, den Partner aufzufordern.

In dem Satz „Herr Doktor Müller, ich habe Fieber.“ steckt für den Patienten möglicherweise der Appell, dass Sie einen Hausbesuch machen sollen, oder dass Sie gestern ein nicht wirksames Mittel rezeptiert haben, oder der Vorwurf, dass Sie eine Fehldiagnose gestellt haben und es jetzt endlich richtig machen sollten.

Wenn Sie den Appell nicht richtig einschätzen, fühlt der Patient sich unverstanden. Er erwartet im Allgemeinen, dass Sie den Appell erkennen und befolgen, auch wenn er ihn gar nicht ausgesprochen hat. Wenn Sie den Appell weder verstehen noch bewusst oder unbewusst befolgen, ergeben sich die Folgen einer schlechten Kommunikation: Missverständnisse und Ärger und möglicherweise sogar der Verlust des Patienten für die Praxis.

c) Selbstoffenbarung

Die Selbstoffenbarung antwortet auf die Frage: Was sage ich über mich? Die Selbstoffenbarung hilft, mich selbst zu verstehen.

Wenn der Patient Ihnen erzählt, dass er Fieber hat, sagt er aus, dass ihm diese Information wichtig ist und dass er vielleicht sogar selbst die Temperatur gemessen hat. Damit kann der Patient sich besser beobachten, wenn er seine Aussagen reflektiert, und wir haben eine Gelegenheit, seine Prioritäten und Maßstäbe kennen zu lernen.

Dabei ist auch interessant, darüber nachzudenken, was der Patient nicht erzählt, obwohl es doch zum Beispiel Ihnen als dem Zuhörer wichtig ist oder Sie es bereits von jemand anderem wissen und jetzt erwarten, dass der Patient es berichtet. Dabei können Sie bewusste Fehlinformationen und unterlassene Informationen entdecken. Auch Verdrängungsmechanismen sind bemerkbar.

d) Information

Die Informationsebene antwortet auf die Frage: Welchen Sachinformation vermittle ich? Die Sachinformationsebene hilft, einander zu verständigen.

Natürlich ist es für uns wichtig, ob der Patient Fieber hat und wie viel. Wir fragen sogar noch, wo und wann die Temperatur gemessen wurde. Wir wollen wissen, ob die Messung vor oder nach dem Fieberzäpfchen war, ob der Patient genügend getrunken habe und vieles mehr.

Wichtig ist es für jeden guten Kommunikator, diese vier Ebenen der Kommunikation zu beachten, weil sie nicht nur eine Fülle von Missverständnissen ermöglichen, die wir ja ver-meiden wollen, sondern weil wir eben gerade so viele Informationen über die verschiedenen Ebenen der Patienten erfahren wollen wie möglich. Denn nur dadurch können wir seine Wirk-lichkeitsebene erfassen, also das, was auf ihn wirkt, seine Wirk-lichkeit.

3. Gesetz:

Jeder der Beteiligten gewichtet die Kommunikationsabläufe verschieden.

Das können wir rasch verstehen, wenn wir einsehen, dass eben jeder von uns unterschied-liche Erfahrungen und Wertmaßstäbe erlernt hat. Damit erübrigt sich auch die Frage, wer mit seiner Einschätzung der Situation Recht hat. Denn jeder hat aus seiner Sicht Begründungen für seine Meinung. Ausnahmen sind rein beweisbare Fakten, aber auch hier ist die unterschiedliche Wertung der Tatsachen wichtig. Und die Abläufe einer Kommunikation sind immer subjektiv bewertbar. Denken Sie an Ihr letztes Missverständnis, als Sie etwas ganz anders aufgefasst haben als es Ihr Gesprächspartner gemeint hat.

Für eine gute Kommunikation bedeutet das, dass unser Gesprächspartner aus seiner Sicht ebenso Recht hat wie wir. Wir können also nur über die verschiedene Einschätzung eines Sachverhaltes diskutieren.

Wir müssen dabei erkennen, dass mehrere Meinungen als richtig nebeneinander stehen können und eine richtige Meinung nicht gleich ausschließt, dass es noch eine andere und auch richtige Meinung geben kann.

4. Gesetz:

Jede Kommunikation enthält Aspekte der analogen und der digitalen Kommunikation.

Unter analogen Anteilen verstehen wir nonverbale Parameter wie Gestik, Mimik, Körper-sprache, Tonlage, Atempausen, Atemrhythmus, Atemfehler, Sprechpausen, Sprechge-schwindigkeit und andere Parameter, die sozusagen „nebenher“ in der Rede ablaufen und den Verlauf der Kommunikation meist unbewusst und deshalb umso stärker beeinflussen.

Die digitalen Anteile enthalten die eigentliche Information der gesprochenen Wörter.

Dabei ist leicht erkennbar, dass die analogen Anteile häufig unterschätzt werden, weil sie eben nicht oder nur nebenbei beachtet und nicht bewusst ausgewertet und genützt werden. Das sollte für uns therapeutisch Tätigen ein wesentlicher Teil der Diagnostik sein.

5. Gesetz:

Die zwischenmenschliche Kommunikation ist komplementär oder symmetrisch.

Das bedeutet, dass die Beteiligten bei einer symmetrischen Kommunikation gleichartiges Verhalten austauschen. Wenn zum Beispiel der eine ärgerlich ist, reagiert der andere auch mit Ärger.

Bei der komplementären Kommunikation tauschen die Beteiligten ergänzendes Verhalten aus. Der eine Partner ist zum Beispiel in der Primärposition als Arzt und der andere in der Sekundärposition als Patient. Das Beispiel der Mutter-Kind-Kommunikation trifft hier auch zu.

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Kommunikation in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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Die schwierigste Aufgabe

Die schwierigste Aufgabe

 Die fast achtzig Jahre alte Dame kommt mir auf dem Gang entgegen, als ich sie zur Sprechstunde herein bitten möchte. Frau Altenburg trägt einen beigen Pullover und einen braunen Rock, das volle graubraune Lockenhaar ist gut gekämmt. Mit unsicherem, leicht schwankendem Gang sucht sie mit den Händen nach der Wand und dem Türrahmen, dann setzt sie sich langsam auf den Stuhl mir gegenüber am Schreibtisch. Ich weiß, dass man ihr vor zwanzig Jahren das linke Auge nach Melanommetastasen entfernt hat. Jetzt trägt sie eine gute Epithese an der Brille, sodass nur der gut Beobachtende das Kunstauge vom sehenden Auge unterscheiden kann. Aber auch dieses sieht nur vierzig Prozent. Die Sehschwäche und eine Polyneuropathie lassen Frau Altenburg unsicher gehen. Und seit vor einem halben Jahr ein Meningeom entfernt wurde, leidet sie unter Gedächtnisschwäche und einer deutlichen Belastbarkeitsminderung. Sie lebt in einfachen Verhältnissen mit dem neunzehnjährigen Enkel zusammen, für den sie sorgt, und sie soll jetzt im Rahmen einer teilstationären Rehabilitation Hilfe zu mehr Selbständigkeit erhalten.

Nach einer kurzen Begrüßung  komme ich zu meinem Hauptthema, das ich mir vorgenommen hatte, mit ihr zu besprechen: „Wir haben vorhin im Team der Therapeuten darüber nachgedacht, dass es gut wäre, eine Haushilfe für Sie zu besorgen, was halten Sie denn davon?“

Sie schüttelt entschieden den Kopf: „Das kann ich nicht annehmen. Ich will alles allein machen können.“

„Glauben Sie, dass Sie es wirklich allein schaffen?“

Sie ganz nachdenklich: „Nein, eigentlich nicht.“

„Warum können Sie denn die Hilfe nicht annehmen?“

Sie seufzt tief: „Weil ich es doch gar nicht verdient habe!“

„Sie haben mir aber doch neulich erzählt, dass sie in Ihrem ganzen Leben immer etwas für andere Menschen getan haben.“

Frau Altenburg nickt: „Ja. Da kann ich nicht nein sagen.“ – „Und wenn es gut geht, können Sie vielleicht noch zehn Jahre leben.“

„Ja, das wäre schön.“ – „Zuerst haben Sie noch Ihren schwer krebskranken Mann gepflegt, bis er starb.“

Das bestätigt sie mit einem Kopfnicken: „Ja, so war´s.“

„Und ich weiß doch von Ihnen, dass Sie nicht nur Ihre Tochter großgezogen haben, sondern auch deren beiden kleinen Kinder, als Ihre Tochter mit 32 Jahren so plötzlich nach drei Herzinfarkten innerhalb von einem Jahr starb.  Sie haben es geschafft, obwohl Sie selbst damals Ihr linkes Auge entfernen lassen mussten.“

„Ja, und ich habe die Kinder versorgt, obwohl ich ganz wenig Geld hatte. Das war ja meine Aufgabe.“

„Richtig, und jetzt überlege ich mir, dass die Natur immer einen Ausgleich sucht. Bis jetzt haben Sie immer nur gegeben. Wär´s da nicht an der Zeit, dass Sie auch mal was annehmen, zum Beispiel Hilfe im Haushalt?

Sie lehnt entschieden ab: „Nein, ich darf das nicht!“

Ich lasse nicht locker: „Stellen Sie sich mal vor, da sitzt auf dem Stuhl neben Ihnen eine Frau und erzählt Ihnen eine ganz ähnliche Lebensgeschichte, wie Sie sie erlebt haben. Was würden Sie ihr raten, die Haushaltshilfe anzunehmen oder abzulehnen?

Frau Altenburg reagiert rasch: „Annehmen natürlich!“

„Und warum dürfen Sie selbst die Hilfe dann nicht annehmen?“

Sie schluckt, unterdrückt die Tränen und sagt gepresst: „Weil ich gar nicht existiere!“

„Das macht mich aber sehr betroffen: Ich erinnere mich, dass Ihr erwachsener Enkel, den ich neulich kennen gelernt habe, Sie als eine ganz liebevolle Omi geschildert hat, die auch heute noch immer für ihn da ist. Da haben Sie doch sehr wohl existiert mit Ihrem warmen Herz auf der rechten Fleck, oder nicht?

Sie räumt ein: „Ja, für ihn schon und für den anderen Enkel auch, aber ich habe die Hilfe nicht verdient.“

„Überlegen Sie mal: Wenn Sie in den sechzig Jahren Ihres Lebens als Erwachsene für Ihre Tochter die Mutter waren und für die Enkelkinder auch noch und für den Ehemann gesorgt haben, dann wäre meine Rechnung noch nicht einmal ausgeglichen, wenn Sie in den nächsten zehn Jahren Hilfe annehmen würden.“

Sie denkt nach und lächelt zum erstenmal: „Ja, da haben Sie recht. Aber ich hab doch eine Aufgabe zu erledigen!“

„Welche?“ – „Für meine Enkel zu sorgen.“

Ich entgegne: „Die sind doch jetzt erwachsen, der jüngste ist neunzehn, der ältere ist verheiratet. – Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen sage, dass Sie jetzt die Aufgabe haben, endlich etwas für sich selbst zu tun?“

Sie zuckt zusammen und sagt erschrocken: „Das ist ja die schwierigste Aufgabe, die es gibt!“

Ich lächle sie an: „Haben Sie in den vergangenen Jahren bemerkt, dass Sie zu den vielen großen Aufgaben immer auch die Kraft bekommen haben, diese Aufgaben zu bewältigen?

Sie überlegt: „Ja, das ist richtig. Ich hab es immer geschafft, auch wenn´s sehr schwierig war.“

„Also, wie schätzen Sie dann die Chance ein, dass Sie diese große Aufgabe, etwas für sich zu tun, indem sie Hilfe anzunehmen, auch schaffen werden?“

Sie denkt nach, dann steht sie langsam auf und sagt mit einem Strahlen im Gesicht: „Ja, ich glaube, das schaffe ich auch noch.“

Sie zögert noch einen Moment, dann deutet sie auf die Tür: „Jetzt gehe ich aber mit ganz vollem Herz da raus, ich hab´ verstanden, was Sie mir sagen wollten. Vielen Dank.“

Zwei Tage später kommt sie zu mir und sagt zufrieden lächelnd: „Herr Doktor, ich habe mein Ich wieder gefunden. Ich werde es mit nach Hause nehmen und gut darauf aufpassen.“

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte habe ich in meinem Buch Ich versteh Sie! Kommunikation in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht

 

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Warum ist gute Kommunikation in Praxis und Klinik wichtig?

 

Die Zukunft der Menschen liegt in ihrer erfolgreichen Kommunikation miteinander, sonst haben sie keine Zukunft.

Wir leben in einem Zeitalter der Informationsexplosion und der rapiden Weitergabe von Informationen rund um die Welt. Dass jedoch das Verstehen – also die Verarbeitung der Information – nicht klappt, sehen wir an den zunehmenden Konflikten und den fehlenden Lösungen weltweit. Wie sollte es auch funktionieren, wenn wir schon in dem kleinen Rahmen einer Arztpraxis, einer Klinikstation oder einer Familie große Schwierigkeiten haben, einander zu verstehen und zu verständigen, mit Krisen richtig umzugehen und Ärger zu minimieren.

Zunehmende Konkurrenz, steigende Kosten, sinkende Umsätze, Gewinnverluste von durchschnittlich 20% in der Arztpraxis, eine arzt- und patientenfeindliche Gesundheitspolitik und selbstbewusstere Patienten mit kritischer Vernunft und vermehrter Information über medizinische Zusammenhänge machen es immer schwieriger, eine menschlich und finanziell erfolgreiche Praxis oder Klinik zu führen.

Wir sehen immer häufiger Ärzte, die sich aus wirtschaftlichen Gründen zu Gemeinschaftspraxen zusammenschließen, und immer mehr Kliniken, die unter dem Finanz- und Konkurrenzdruck schließen müssen. Dieser Druck ist politisch gewollt. Man nennt das „Marktbereinigung“ und „Gesetz der Marktwirtschaft“. Die Politik verlangt immer noch sehr gute Qualität von den Ärzten und schränkt andererseits die Möglichkeiten dafür konsequent ein.

Die zweizüngige Gesundheitspolitik steuert zusätzliche Unsicherheit und Verstimmung unter allen Beteiligten bei. Dazu nur zwei Beispiele.

Einerseits versucht die Politik gegen Alkohol und Nikotin mit hohen Preisen vorzugehen, weil der Finanzminister dringend die 13,6 Mrd. Euro [1] braucht, die allein 2004 als Steuern erlöst wurden. Und die Regierung überlegte sofort, ob die Erhöhung des Zigarettenpreises gut war, als die Steuereinnahmen 2004 um ein paar Mio. Euro zurückgingen. Außerdem klagt die deutsche Regierung gegen das Tabakwerbeverbot. Andererseits wird der Tabakanbau im Jahr mit etwa 900 Mio. Euro aus der EU-Kasse subventioniert. Bei ca. 17 Mrd. Euro volkswirtschaftlichen Kosten durch tabakbedingte Krankheiten und Todesfälle und 20,2 Mrd. Euro (das entspricht 1,1% des Bruttosozialproduktes!) ist das eine bemerkenswerte Tatsache. Jährlich sterben in Deutschland etwa 74.000 Menschen durch Alkoholkonsum allein und etwa 110.000 bis 140.000 Menschen an den Folgen des Tabakverbrauches. 22 % aller männlichen und etwa 55 aller weiblichen Todesfälle sind tabakbedingt. Wenn ein Nahrungsmittel so viele Tote und Krankheiten produzieren würde wie Tabak und Alkohol, wäre es längst verboten. Aber da man richtig viel Geld damit machen kann und ein Verbot von Tabak und Alkohol nicht durchsetzbar ist, wird die Chance, an der Sucht zu verdienen, auch vom Staat genützt.[2]

Einerseits wird dem Patienten von den Krankenkassen (fast) alles versprochen, andererseits werden Ärzte und Kliniken kontrolliert (unter Anderem, weil es auch in diesen Kreisen schwarze Schafe gibt, die das System ausnützen!) und finanziell zur Rechenschaft gezogen, wenn Sie ihren Handlungsspielraum auch nur gering zu Gunsten des Patienten ausdehnen. Und die Verflechtungen zwischen Politik und Pharmaindustrie sind so raffiniert, dass die Pharmaindustrie längst die politischen Entscheidungen gut im Griff hat. [3]

Deshalb ist es überlebensnotwendig, alle Reserven zur Stabilisierung und Sanierung der Praxis und Klinik zu mobilisieren und zu nützen!

Der richtige Umgang mit den Patienten stellt eine menschenfreundliche und überzeugende Methode dar, Patienten zu gewinnen und zu binden. Dies ist in unserer derzeitigen sehr schwierigen gesundheitspolitischen Situation unerlässlich für das wirtschaftliche Überleben einer Praxis und einer Klinik. Es ist also wichtig, auch so scheinbar nebensächliche Möglichkeiten wie die Verbesserung der Kommunikation in Betracht zu ziehen, um unsere Patienten menschenwürdig und praxisbewusst zu betreuen.

In Wirklichkeit ist die Kommunikation mit unseren Patienten die wichtigste Bindungsmög-lichkeit. Wenn die Patienten sich von einem anderen Arzt oder in einer anderen Klinik menschlich besser betreut fühlen, gehen sie dorthin.

Was unser Gesetzgeber über die Zuwendung zum Patienten denkt, erkennen Sie nicht nur an der bisherigen Gesundheits- und Abrechnungspolitik, sondern auch an solch kleinen Beispielen wie dem folgenden.

Im Gegensatz zur bisherigen Berechnung des Personals auf der Basis der Planbetten wird jetzt die „Leistung am real vorhandenen Patienten“ in Minutenwerten berechnet. In der Pflegepersonalregelung des Bundesministeriums für Gesundheit (Stand 22.6.1992, also noch vor dem GSG) heißt es:

„Für das Begleiten des Patienten in der Phase des Sterbens stehen 4,42 Minuten, für die erweiterte Leistung 8,9 Minuten und für besondere Leistungen 9,39 Minuten zur Verfügung.“

Ich bitte Sie, sich dieses Zitat konkret in den Alltag umgesetzt vorzustellen, zum Beispiel angewandt auf den zuständigen Minister und auf Sie selbst als Patienten.

Bei jeder Form der Kommunikation ist zu berücksichtigen, dass die Dauer eines Gespräches nicht gleichzeitig eine gute Qualität bewirkt. Wir wissen aus unserem Alltag, dass ein kurzes und zielsicheres, aufmerksames Gespräch viel besser und wirksamer sein kann. Ebenso kann eine wortlose Kommunikation vollständig ausreichen und sinnvoller und aussagekräftiger sein als viel Gerede. Äußerst fragwürdig erscheint es mir allerdings, für die Zeit am Sterbebett Richtwerte mit Hundertstel Minuten einzusetzen, zumal eine Definition dieser Tätigkeit meines Wissens nicht existiert.

Der Satz „Ich habe keine Zeit für eine gute Kommunikation“ zeigt, dass das Wesen einer guten Kommunikation nicht verstanden wurde.

Der Weg zum Erfolg für Arzt und Patient kann nur über eine Verbesserung von Organisation, Planung und Kommunikation in der Praxis und Klinik führen. Unsere Patienten wollen in ihrer psychosozialen Situation besser verstanden werden und erwarten mehr professionelles Eingehen auf ihre ganzheitliche Problematik. Sie wollen in erster Linie eine freundliche und empathische Reaktion vom ganzen Praxis- oder Stationsteam erfahren.

Fragen Sie sich selbst: Würden Sie sich als Patient in Ihrer eigenen Praxis, auf ihrer eigenen Klinikstation geborgen und menschlich und medizinisch gut versorgt fühlen?

Wenn Sie jetzt mit der Antwort nur zögern, haben Sie ein Problem, das Sie schnellstmöglich bewältigen müssen.

Die altbekannte Regel „Umsatz rauf – Kosten runter!“ zur Bewältigung einer wirtschaftlichen Krise ist in der Lage der Ärzte nur beschränkt umsetzbar. Besser funktioniert die Maxime von Alfred Herrhausen, dem früheren Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank: „Qualität rauf – Kosten runter!“

Und dass die Qualität der Kommunikation in den Arztpraxen dringend verbesserungsbe-dürftig ist, zeigen alle Untersuchungen der vergangenen Jahre. Der Druck auf die Ärzte wird immer größer werden, und die Patienten werden mit den Füßen abstimmen, wo sie sich am besten verstanden und versorgt fühlen. Der Umgang Ihres ganzen Teams mit Ihren Patienten entscheidet darüber, ob die Patienten zu Ihnen kommen oder zum Nachbarkollegen gehen oder geschickt werden.

Gute Kommunikation erhöht die Lebensqualität, die Freude an der Arbeit und sichert Ihr Einkommen. Dieses ganzheitliche Konzept ist der Weg zum umfassenden Umgang mit den Patienten, die Ihrer Praxis oder Klinik gerne treu bleiben und Ihnen zu finanziellem und persönlichem Erfolg verhelfen!

Alle Umfragen der letzten Jahre zeigen deutlich, dass die Mehrzahl der Patienten besonders großen Wert legt auf eine vertrauensvolle Beziehung zu ihrem Arzt und auf eine gute Gesprächsatmosphäre. Sie verbinden damit die Adjektive sympathisch, herzlich, aufgeschlossen, nett, liebevoll. Besonders wichtig ist es für sie, dass der Arzt gut zuhört, ehrlich ist, über alles mit den Patienten redet und die Patienten ganzheitlich betreut.

Mit ganzheitlicher Betreuung ist gemeint, dass der Arzt auf die körperlichen, seelischen, geistigen und sozialen Gesichtspunkte des Patienten eingeht. Das heißt: Die Patienten wollen in ihrer Ganzheit als Mensch wahrgenommen und betreut werden. Sie haben wenig Verständnis dafür, wenn sie lediglich als „die Niere“ oder „das Gipsbein“ betrachtet und abgefertigt werden.

Die WHO hat bei ihrer Gründung den Begriff Gesundheit auch aus einer ganzheitlichen Sicht heraus definiert:

„Gesundheit ist ein Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheiten.“

Dies hat Prof. Dr. med. H. E. Bock aus seiner klinischen Sicht gemeint, als er sagte:

„Wie der Mensch als Ganzheit in seinem Lebensraum steht, so wird er als Ganzheit auch von Krankheit betroffen, selbst wenn sie sich nur lokal bemerkbar macht, durch Chronifizierung abgeschwächt verläuft und durch Gewöhnung unterschwellig geworden ist.“

Die Patienten erwarten zum weitaus größten Teil eine stabile menschliche Beziehung zum Arzt. Das ist ihnen im Allgemeinen wichtiger als die technische Ausrüstung der Praxis oder der Klinik. Jeder Mensch, also auch unsere Patienten, hat ein Grundbedürfnis nach menschlicher Zuwendung. Dieses müssen wir erfüllen, wenn wir eine gute Beziehung aufbauen und bewahren wollen.

Eine gute Kommunikation ist Grundlage für jede Form der erfolgreichen Zusammenarbeit im Alltag, denn nur ein informierter Mensch kann kooperativ sein.

Das persönliche Band zwischen zwei Menschen wird durch die Form ihrer Kommunikation gekennzeichnet. Das gilt auch dann, wenn es sich um eine rein sachliche Angelegenheit wie eine Röntgenaufnahme oder das Anlegen eines Gipsverbandes geht.

Die gute Kommunikation ist nicht nur wichtig, um den menschlichen Umgang und den Erfolg der angestrebten Therapie zu optimieren. Wenn wir gut miteinander kommunizieren, fühlen sich alle Beteiligten besser verstanden und werden frei, authentisch zu reagieren.

Wenn wir eine Entscheidung aufschieben, weil wir sie nicht treffen wollen oder können, haben wir damit wirkungsvoll und unbewusst entschieden, dass es bleibt, wie es ist. Wir haben also doch eine Entscheidung getroffen, es uns aber nicht bewusst gemacht. Dann müssen wir damit rechnen, dass andere für uns entscheiden, wie es ihnen gefällt.

Da das persönliche Verhältnis im Umgang mit dem Patienten prägend ist für das Vertrauen, das der Patient in das gesamte Praxis- oder Stationsteamteam hat, ist es grundsätzlich wichtig, diese Basis sehr bewusst herzustellen und zu pflegen. Leider ist es ein weit verbreiteter Irrtum, es genüge, mit dem Patienten einfach zu reden.

Die Gefahr bei der guten Kommunikation besteht in der Illusion, sie sei schon erreicht.

G. B. Shaw



[1] Das ist nach der Mineralölsteuer die ertragreichste Verbrauchsteuer.

[2] www.kreuzbund.de

[3] Vollborn und Georgescu, Die Gesundheitsmafia. Wie wir als Patienten betrogen werden, S. Fischer 2005.

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Kommunikation in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

 

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Wanderung in die Harmonie

Der strahlende Sommersonntag war schon einige Stunden aus dem Tau erwacht, die kräftigen Sonnenstrahlen hatten bereits das weite Tal um Gstaad erfüllt. Wir saßen im Morgengottesdienst in der kleinen Kirche in Saanen, die den vom Saanenmöser herabschauenden Gast schon von weitem mit ihrem achteckigen Türmchen grüßt. Eine zierliche Kirche mitten im Dorf, umgeben von dem alten Friedhof, eine weltabgeschiedene ruhige Stätte des Friedens und der Einkehr liegt im Tal. Wer es nicht weiß, würde nicht auf die Idee kommen, dass Yehudi Menuhin, der große Geiger und Humanist, gerade hierher seit 1959 seine Freunde und Musikliebhaber einlud zu Festwochen, die in die Welt hinaus leuchten, so wie die Sonne an jenem Morgen das Tal übergoss.

 Als Student hatte ich mehrere Jahre hintereinander die Freude, mit der Familie meines Studienfreundes die Sommerfreien in einem Bauernhaus in Lauenen verbringen zu dürfen, hoch über Gstaad in einem Seitental, fern ab vom Touristentrubel. Wir erlebten täglich die Proben in der Saanener Kirche und oft in den Konzerten am Abend Musik der Weltklasse. Vormittags und nachmittags verwandelte sich das Innere des Gotteshauses in einen Probenraum, in dem mit äußerster Intensität und in entspannter Atmosphäre klassische Musik erarbeitet wurde. Und wir Zuhörer genossen die Unmittelbarkeit des Erlebens: Wir spürten die harten Kirchenbänke nicht mehr, so sehr versanken wir in die angeregte Freude, die sich zwischen den Musikern während des Spiels aufbaute und auf uns übersprang. Uns erschien die Atmosphäre locker, freundlich, kameradschaftlich, und doch fühlten wir, wie hoch konzentriert alle Musiker bei der Sache waren.

Obwohl uns diese Stimmung so vertraut war, wird dieser Vormittag vor über dreißig Jahren immer wieder in meinem Gedächtnis aus den unzähligen Konzerterlebnissen herausragen wie ein leuchtendes Sonnenbild.

Nach dem Gottesdienst reservierten wir unsere Plätze, um bei einem kleinen Spaziergang im Kirchgarten den schönen Morgen genießen und das Eintreffen der Gäste und Musiker beobachten zu können. Da das Kirchlein nur wenige hundert Plätze fasst, war es wichtig, auch für Proben Sitzflächen zu belegen, damit wir wirklich von den vorderen Reihen alles genau sehen und hören konnten, was sich da vor dem Altar und neben dem Taufbecken abspielte. Glücklicherweise liefen diese Vorbereitungen immer sehr unkompliziert ab. Und so hatten wir uns angewöhnt, möglichst oft an den Proben teilzunehmen, weil wir spürten, dass wir bei diesen seltenen Gelegenheiten am besten hautnah erleben konnten, wie große Musiker ihre großartigen Interpretationen schaffen.

Wir wussten, dass an diesem Vormittag das Zürcher Kammerorchester unter seinem langjährigen Leiter Edmond de Stoutz proben würde. Dieses Ensemble war uns sehr vertraut, gehörte es doch seit vielen Jahren zu den regelmäßigen Gästen des Festivals. Auf dem Programm stand noch Hephzibah Menuhin, Yehudis Schwester, die sich als Pianistin einen außergewöhnlichen Ruf erworben hatte. Ich hatte sie schon in Stuttgart an einem unvergesslichen Duo-Abend mit ihrem Bruder zusammen erlebt. Damals ist mir wie nie zuvor klar geworden, in welchem überwältigenden Ausmaß sich die seelische Übereinstimmung zwischen zwei Menschen in einer vollendeten Harmonie im Zusammenspiel spiegeln konnte. Und so war ich natürlich voller Erwartung, sie jetzt als Solistin in Beethovens viertem Klavierkonzert mit diesem großartigen Kammerorchester erleben zu können.

Langsam füllte sich die Kirche mit Menschen, die wir teilweise aus den Jahren zuvor und den vergangenen Tagen kannten. Wir fühlten uns als Teil einer kleinen Gemeinde, die sich regelmäßig im Sommer in diesem weltbekannten Wallfahrtsort für Musiker und Musikliebhaber traf.

Die Orchestermusiker kamen herein, packten ihre Instrumente und Notenständer aus, stimmten und machten sich bereit zu der üblichen Probe. Wir alle konnten nicht wissen, dass uns etwas ganz Besonderes bevorstand.

Eine natürliche Geschäftigkeit ohne Eile und freundliche Stimmung breiteten sich nach dem feierlichen Gottesdienst in dem Kirchenschiff aus. Edmond de Stoutz, der erfahrene und hoch geschätzte Orchesterdirigent, kam in lockerer Freizeitkleidung. Sein weißes gewelltes Haar leuchtete in den Sonnenstrahlen, die durch das bemalte Glas der schlanken Fenster herein schienen. Er begrüßte seine Musiker und einige der Zuhörer in seiner offenherzigen Art.

Da hörte ich ein leises Raunen hinter mir: “Sie kommt!” sagte die Stimme einer älteren Dame. Und Bewunderung und Respekt schwangen mit. Hephzibah Menuhin betrat die Kirche, und die Gäste wurden leiser. Zierlich in der Gestalt, mit ausdrucksvollem Gesicht und offenen, klaren Augen schritt sie langsam zum Altar vor, nickte grüßend in die Reihen, zog ihre einfache hellbraune Anorakjacke aus und hängte sie über die Lehne ihres Klavierstuhles. Sie trug eine Sommerbluse ohne Schmuck über ihrem schlichten beigen Faltenrock und feste Wanderhalbschuhe. Sie fuhr sich einmal mit beiden Händen durch ihre kurz geschnittenen welligen Haare. So wirkte sie jugendlich mit ihren 48 Jahren. Es sah für mich aus, als hätte sie an diesem Vormittag eine Wanderung geplant und sei versehentlich in die Kirche geraten. Sie begrüßte die Musiker und Herrn de Stoutz und drehte sich mit einer fragenden Geste zum Steinway-Flügel, als wollte sie sagen: “Worauf warten wir?”

Sie setzte sich ohne Umschweife vor den Flügel, rückte mit einem Griff den Stuhl zurecht und blickte zu dem Dirigenten. In diesem Moment verstummte auch der Letzte in der Kirche, die Musiker griffen nach ihren Instrumenten, de Stoutz hob mit einem prüfenden Blick in die Runde den Taktstock. Als er sah, dass alle auf ihn konzentriert waren, ließ er langsam den Stock sinken und nickte Hephzibah Menuhin zu mit einem leisen: “Probieren wir mal!”

Wer das Konzert kennt, weiß, dass es mit einem kurzen Solo der Klavierstimme beginnt. Hephzibah Menuhin senkte langsam die Hände zu dem schlichten G-Dur-Akkord, der mit kleinen harmonischen Veränderungen mehrfach wiederholt wird. Diese langsamen Anfangstakte sind auch für einen weniger geübten Klavierspieler einfach.

Als die Pianistin jedoch den ersten Akkord anschlug, begann eine Klangfarbe zu leuchten, wie ich sie nur selten zuvor erlebt hatte. Hier vermischte sich eine bewundernswerte Schlichtheit mit dem Ausdruck einer großer Seele. Piano und dolce hat Beethoven hier vorgeschrieben. Nicht Süßliches, hörte ich, nichts Kitschiges. Nein, eine wohlige Reife des Klanges entströmte leise und doch mit der Stimme einer in sich ruhenden Frau dem Konzertflügel. Es schien mir, als würde eine selbstsichere Musikerin in aller Bescheidenheit und doch ihrer Kraft wohl bewusst ihre Visitenkarte abgeben. Diese Frau strahlte eine wohltuende und souveräne Wärme aus. Sie ließ die ersten Akkorde verklingen, die wie eine Frage an das Orchester gerichtet sind, wie eine Einladung zum Gespräch.

Und die Musiker setzten mit der gleichen Schlichtheit ein wenig leiser ein und begannen auf ihre Art den Dialog. Schon im ersten langsamen Orchesterakkord ist die Spannung vorprogrammiert: Das d, das zum G-Dur-Dreiklang gehören würde, rückt um eine halbe Note zum dis empor und zieht die Melodie, die Stimmung vorwärts, höher, weiter und entwickelt die vom Klavier eingeführte Stimme fort, erzählt das ganze Thema. Die Bläser nehmen es nacheinander auf, spielen damit. Und noch einmal bringt das Klavier ein abgewandeltes Thema in den Dialog, wieder schlicht, und langsam beschleunigend kommt der ganze Klavierpart zur Geltung und vermengt sich zu einem wunderbaren leuchtenden Zwiegespräch, das den ganzen ersten Satz bestimmt.

Ich saß gebannt auf der Kirchenbank und beobachtete, wie Hephzibah Menuhin mit totaler Konzentration, Ruhe und gezügelter Kraft diesen Dialog mit dem Orchester führte. Nein, sie sang ihn mit aller Inbrunst so überzeugend, dass ihre Spielweise, diese Art, Musik zu leben, seit diesem Morgen für mich das Sinnbild für echte und große Schlichtheit und Bescheidenheit darstellen.

Die Sommersonne schickte ihre warmen Strahlen ins kühle Kirchlein, und Hephzibah Menuhins Gesicht wurde beleuchtet wie mit einem großen warmen Scheinwerfer. Sie ließ dieses Licht aus ihren Händen, aus dem Flügel weiter in das Publikum fließen. Tiefer Ernst und herzliche Menschlichkeit zeichneten ihr Gesicht. Ich spürte, wie die Kirche erfüllt wurde von einer würdigen Andacht, wie sie mancher Pfarrer gerne erzeugen würde. Wir erlebten einen wahren Dienst an der Musik, großartige Harmonie aller Spieler, verschmelzende Einheit.

Die Fermate des Orchesters verklang vor der Kadenz, Hephzibah Menuhin setzte mit  verhaltener Kraft ein und steigerte sich mit glitzernder Brillanz in die Läufe und punktierten Rhythmen. Die unscheinbare Wanderin entpuppte sich zur souveränen Virtuosin. Die Hände flogen, die Finger rannten über die Tasten und zauberten glasklare Tonlinien, bis sie sich nach dem erlösenden Triller wieder mit dem Orchesterklang vereinigten und in der Coda zum Schluss des Satzes zielten.

Mein Freund und ich schauten einander wortlos und verblüfft an: Wir hatten eine Probe erwartet mit vielen Unterbrechungen, Wiederholungen, Verbesserungen. Und dieser Satz war in einem großen Fluss ruhig und tief in uns hineingeströmt.

Nach kurzer Pause lächelte de Stoutz Hephzibah Menuhin an, sie nickte freundlich zurück. Die beiden waren sich offensichtlich einig. Der Dirigent hob erneut den Taktstock, um das Orchester zur Aufmerksamkeit für den nächsten Dialog zu führen, der diesmal mit einem kurzen Orchesterthema begann. Es klingt streng punktiert und gibt für den Dialog mit dem Klavier einen langsamen und doch straffen Rhythmus vor. Das Klavier antwortet jedoch mit einer weichen und verhaltenen Melodie in warmen Akkorden. Das Orchester bringt den ersten Gedanken noch einmal, als wolle es die Klavierstimme überzeugen. Zwischen Orchester und Klavier entstehen anfänglich Pausen, die Stimmen sind getrennt. Das Klavier aber bleibt bei seinem verbindlichen Ton, und bei der nächsten Wiederholung setzt schon beim Verklingen des letzten Klavierakkordes das Orchester ein. Und in der Folge nähert sich das Orchester immer mehr der Klaviermelodie und dem weichen Ton an. Nach und nach vereinigen sich die Dialogpartner zu einer verbindlichen und verbindenden Gesprächsführung. Dieser Satz des Konzertes ist für mich ein herrliches Beispiel, wie eine weiche und warme Stimme mit ihrer Sicherheit und inneren Ruhe einen straffen, forsch drängenden Gesprächspartner beeinflussen und den Dialog zu einem einvernehmlichen Ende führen kann. Eine wahre musikalische Wanderung in die Harmonie.

Daraus entfloss am Ende des Satzes die punktierte Orchestermelodie wie am Anfang, aber kürzer, weicher und in wunderbarem Einklang mit der leisen Klavierstimme, die sich am Schluss loslöst vom Orchester und in einem spannungsvoll verzögerten Arpeggio hinüberführt zum Rondo, das fröhlich und vivace mit virtuosen Läufen die verschiedenen musikalischen Gedanken erzählt.

De Stoutz dirigierte einerseits überlegen und ordnete sich andererseits völlig unter, um dieser großartigen Pianistin ein guter Begleiter zu sein. Das Konzert führte die Partner auf großartige Weise weiter, und diese so unscheinbare Frau an dem großen Konzertflügel atmete, sang, brillierte mit der Musik, dass es eine wahre Freude war. Sie steigerte sich und das Orchester in ein großes Finale hinein, und als der letzte Akkord langsam in den kühlen Winkeln der Kirche und den warmen Herzen der Zuhörer verklang, hörte ich ein leises Aufseufzen im Publikum: Die enorme Spannung löste sich langsam.

Wir saßen zuerst eine ganze Weile stumm da. Dann erhob sich aus der Stille ein tosender Beifall, wir alle standen auf und waren glücklich und dankbar über dieses besondere und unerwartete Erlebnis.

Die Orchestermusiker applaudierten der Künstlerin, de Stoutz streckte ihr mit strahlendem Gesicht beide Hände herzlich dankend entgegen. Hephzibah Menuhin nahm sie an und nickte dann zu uns herüber, verbeugte sich einmal, gab den Konzertmeistern kurz und freundlich die Hand, zog ihre Anorakjacke wieder an und verließ mit gezielten Schritten die Kirche.

Nur eine einfache Probe hatten wir erwartet. Und was hatten wir bekommen? Ein vollkommenes Konzert. Wir waren Zeugen einer musikalischen Sternstunde geworden.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Die Geschichte habe ich in meinem Buch Das Geständnis, Betulius Verlag veröffentlicht.

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Der Augendialog

Es gibt kurze Momente im Leben, die wie Diamanten im gezielten Sonnenstrahl hell aufblitzen und mit ihrem einmaligen und kostbaren Glanz wie eine Blüte lebendig werden. Die denkwürdige Sekunde wird hervorgehoben aus den wechselvollen Wogen des dahin treibenden Geschehens. Sie entzündet unsere Wachheit und schnellt sie aus dem bloßen Gleichmaß der Aufmerksamkeit auf den einsamen Gipfel der vollständigen und intensivsten Anteilnahme. Eine neue, höhere Form des Bewusstseins wird sprungartig erreicht, so wie durch den Zufluss von Energie ein Atom auf das nächste Orbital gehoben wird und damit ein neues Molekül entstehen kann. Alle schon geweckten Sinne werden verdichtet und zugespitzt auf diesen einen Brennpunkt des Ereignisses, wie die geschliffene Linse das diffuse Licht bündelt und zur zündenden Glut entfacht. Die lebendigen Bilder, die sich so klar geprägt vor unserem Auge entwickeln, werden unauslöschbar eingestanzt in unser Gedächtnis wie ein Loch, das von einem Brennglas in Papier eingeglimmt wird.

Von einem dieser unvergesslichen Momente will ich erzählen. Auch wenn er nicht wirklich wichtig oder folgenschwer war, so taucht die Szene doch seit Jahrzehnten immer wieder aus dem Schatz meiner Erinnerungen vor meinem geistigen Auge auf.

Artur Rubinstein, der weltberühmte Ausnahmepianist, hatte mich in der Straßburger Konzerthalle reich beschenkt mit einem funkelnden Kaleidoskop romantischer Werke, darunter die wuchtige f-Moll-Klaviersonate von Johannes Brahms, die ich  erstmals und prägend für mein Leben in mir aufgenommen hatte. Ich glaube, es war 1968 oder 1969, und ich fühlte mich beschenkt, ihn auf der Bühne erleben zu dürfen, war er doch einer der bedeutendsten Pianisten dieses Jahrhunderts, damals mit über achtzig Jahren ein würdiger alter Herr und seinem Versprechen treu geblieben, nach dem Holocaust nie mehr in Deutschland zu spielen. So pilgerten die Liebhaber der klassischen Klaviermusik, zu denen ich mich seit früher Kindheit zähle, ins Nachbarland, wenn er in den Grenzstädten der Schweiz, Frankreichs oder der Niederlande ein Konzert ankündigte.

 Während meiner Schulzeit in Liverpool saß ich einen Abend lang im Bann seines unvergleichlichen Chopin-Spiels. Später als Student nutzte ich ein günstiges Angebot des ASTA in Tübingen und fuhr mit einer kleinen Schar Musik liebender Kommilitonen im Bus nach Zürich, wo Rubinstein in der Tonhalle an einem Abend das e-Moll-Konzert von Chopin und das Es-Dur-Konzert von Beethoven zelebrierte, diese beiden Preziosen der romantischen und klassischen Klavierperiode.

Jetzt aber stand ich, der junge Student, wie viele der begeistert applaudierenden Zuhörer in Straßburg nach dem offiziellen Programm im Gedränge vorn an der Rampe direkt unterhalb des Flügels, um von diesem großen Abend auch wirklich alles zu sehen, zu hören, in mich aufzunehmen. Schon drei oder vier Dreingaben hatten wir ihm abgejubelt, dem Generösen, der nicht müde zu werden schien trotz der enormen körperlichen und geistigen Leistung, die er bereits ausgeschöpft hatte. Er kam noch einmal auf die Bühne, hob in seiner typischen weltoffenen Weise beide Hände zum Dank und Gruß, und sein weißes Lockenhaupt leuchtete über der breiten hohen Stirn und den hellen kleinen Augen. Rubinstein strahlte, und ich spürte seine Freude an dem gelungenen Konzert und an unserer begeisterten Teilnahme. Das fein gefurchte Gesicht erzählte vom erfüllten Leben dieses großartigen Musikers, der als Bonvivant und Gourmet, als Kosmopolit und Grand old man weltweit von seiner Gemeinde verehrt wurde. Am Revers seines schwarzen Fracks blinkte das rote Abzeichen der französischen Ehrenlegion, und die Diamantknöpfe auf der gestärkten Hemdenbrust und an den Manschetten funkelten im Rampenlicht: Hier hielt ein eleganter Grandsigneur hof.

Rubinstein war umringt von Zuhörern: Auf der Bühne hinter dem kostbaren Steinway-Flügel standen dicht beieinander viele zusätzliche Stühle in mehreren Reihen, um möglichst zahlreichen Konzertbesucher an dem außergewöhnlichen Ereignis teilnehmen zu lassen. Alle standen jetzt und feierten mit bewunderndem, drängendem Applaus und vielen Bravorufen den berühmten Künstler. Natürlich wollten wir, die Unersättlichen, immer noch ein Stück hören und noch eins. Selbstverständlich wären wir stundenlang stehen geblieben, um auch den letzten herrlichen Ton, das letzte seiner klingenden Vermächtnisse dankbar anzunehmen, die er uns so großzügig, fast verschwenderisch und mit hinreißender Freude am eigenen Spiel darbot. Er ließ sich Zeit, den Triumph genüsslich schwelgend auszukosten.

Ganz offensichtlich freute er sich auch an der Blütenpracht, die eine ältere Dame knapp neben mir ihm schenkte. Während er sich herabbeugte und den Strauß mit einem charmanten Gruß entgegennahm, sagte sie etwas zu ihm, was ich wegen des lauten Applauses nicht verstand, aber ihre Geste erklärte alles: Sie deutete vorsichtig, taktvoll, ja eher zaghaft auf Rubinstein und führte ihn bildlich mit einer bittenden Bewegung ihres brillantgeschmückten Handgelenkes zum Klavierhocker. Rubinstein zögerte einen Augen-blick, dann überflog ein großzügig gewährendes Lächeln sein Gesicht. Er nickte kaum sichtbar und drehte sich entschlossen zum Flügel. Während er die zwei Schritte ging, brandete eine Woge der Begeisterung durch den Saal: Ja, er wird noch einmal spielen!

Als Rubinstein sich setzte, brach der Applaus ab, als sei er ausgeschaltet, und eine fast heilige Stille senkte sich über uns Zuhörer. Die Andacht der Glücklichen, die Erwartung der Liebhaber, das Sehnen nach einem weiteren musikalischen Leckerbissen waren für mich hörbar, fühlbar, denn ich verallgemeinerte meine eigenen Empfindungen auf alle anderen Menschen im Saal. Kein Ton, keine noch so feine Klangfarbe sollte ungehört bleiben. Es war, als hätten wir Zuhörer aufgehört zu atmen, um besser hören zu können.

Ich stand so ideal, dass ich Rubinsteins Gesicht und seine großen ausdrucksstarken Hände gut beobachten konnte, die so schmeichelnd und zärtlich, so donnernd und leidenschaftlich eben jenen Zauber der Töne und Klänge schufen, für die Rubinstein zurecht als einer der Besten unter den ganz Großen gerühmt wurde.

Als er sich setzte, erstarrte seine Mimik, sie fror ein zu einer lebendigen Maske der absoluten Konzentration. Blass waren plötzlich die Furchen auf seiner Stirn. Ich erschrak, weil mich diese wächserne Starre an eine Totenmaske erinnerte. Doch nein, er lebte, und wie quicklebendig er das Feuer aus seinen Fingern sprühen ließ! Blitzartig waren sie niedergezuckt und meißelten die vertrackten Rhythmen, die teilweise schreienden Dissonanzen und rasenden Perlenläufe von Polichinelle, einem Clowntanz des brasilianischen Komponisten Villa-Lobos, in die Tasten. Die Töne prasselten, Rubinsteins Finger flogen schneller als ich beobachten konnte. Sein Körper saß aufrecht und unbeweglich, die Augen waren geschlossen, sicherlich den Blick hellwach auf die innere Partitur gerichtet. Und ich war immer noch irritiert von der Totenmaske eines Mannes, der scheinbar blind und mit packender und doch scharf gezügelter Leidenschaft eines Erfahrenen dieses rasante Stück vor unseren Augen und Ohren entstehen ließ.

In diesem Moment schwebte unter den glitzernden Klängen einer brillanten Tonkaskade ein zierliches Mädchen, bestimmt nicht älter als fünf Jahre, langsam von ihrem Platz in der ersten Reihe auf der Bühne nach vorn, an der Spitze des Flügels vorbei, an seiner Einbuchtung zum Publikum hin vorwärts und blieb gebannt so neben der Tastatur stehen, dass ich ihr und Rubinsteins Gesicht sehen konnte. Sie trug ein blütenweißes langes Kleid­chen, weiße Schuhe und Strümpfe und bot so neben dem strengen Schwarz des Flügels und des Fracks einen wohltuenden, fast heiteren Kontrast. Ich sah, wie sie zuerst fasziniert auf die fliegenden Hände und die hetzenden, trommelnden, dann zart tastenden Finger schaute. Schließlich wanderte ihr Blick an den Armen hoch zu den ruhenden Schultern in das fahlblasse, unbewegliche Gesicht mit den geschlossenen Lidern. Sie schaute Rubinstein an, direkt, offen, verwundert, abwartend, und sie war wohl von diesem totengleichen Antlitz noch mehr gebannt als von der entfesselten Virtuosität der Hände. Sie konnte ihren Blick nicht mehr abwenden und erstarrte selbst in dieser Haltung.

Wieder erschrak ich, denn ich stellte mir plötzlich vor, wie Rubinstein verwirrt wäre, wenn er mitten in seinen komplizierten Rhythmen die Augen öffnen und dieses kleine Geschöpf so nahe bei sich entdecken würde. Vielleicht bräche sein Spielfluss auseinander, könnte ein erschreckter Fehlgriff sein Wunderwerk zerstören. Ich spürte, wie mir die Schweißperlen auf die Stirn traten, weil ich beklemmende Angst fühlte, diese witzig virtuose Dreingabe könnte von der ihn verblüffenden Anwesenheit dieses unschuldigen Kindes jäh zerrissen werden.

Mein Blick flog kurz hinüber zu dem Vater der Kleinen, der leicht nach vorn gebeugt mit angewinkeltem Bein auf dem Sprung saß, bereit, sein Kind dort von der heiligen Stätte weg zu holen. Aber er getraute sich offensichtlich nicht einzugreifen, wohl ahnend, dass sein väterlicher Zugriff ganz sicher die kostbare Sekunde zerschlagen würde.

Immer noch funkelte Rubinsteins wunderbares Spiel, es zuckte, toste, ebbte ab und brach neu los zu einem überwältigenden und witzigen Glitzerlauf der straff punktierten Tonketten.

In diesem Sekundenbruchteil, mitten in diesem flirrenden Perlentongewirr, an dem auch große Virtuosen oft scheitern, geschah das Unfassbare, für mich das eigentliche Erlebnis an diesem so überreichen Konzertabend, der voll war von klanglichen Einmaligkeiten und spielerischen Höhepunkten. Mitten in dieser höchsten nervlichen Anspannung und maximalen Konzentration auf die höllischen Gefahren der Finger mordenden Teufels­passage, die so herrlich leichtfüßig verspielt klingen soll, ereignete sich ohne Übergang, ohne vermittelnde, ankündigende Geste das Großartige. So wie wir mit einem Knipsen am Schalter im Dunkeln das Licht plötzlich hell leuchten lassen, verwandelte sich Rubinsteins Maskengesicht. Mit einer sanften Drehung des greisen Hauptes zu dem zierlichen weißen Püppchen hin öffneten sich seine gütig blickenden Augen, und ein strahlendes Lächeln huschte von seinem plötzlich so lebendigen Gesicht in die staunenden Augen des Mädchens, als wollte er sagen: „Schön, dass es dir gefällt!”

Ich weiß nicht, wann er sie bemerkt hatte, jedenfalls war er keineswegs überrascht, dass sie so dicht bei ihm stand. Rubinsteins weicher Blick erschien mir, als hätte der liebevolle Großvater seine Enkeltochter herzlich umarmt und in gütige Wärme eingebettet. Ich kann mir keinen größeren Gegensatz denken, als den frappierenden Widerspruch zwischen der ruhevollen Zärtlichkeit in Rubinsteins Augen und der virtuosen Rasanz in seinen Händen. Hier wurde ein Kontrast sichtbar zwischen zwei gleichzeitig in einem einzigen Menschen lebendigen und miteinander scheinbar nicht zu vereinbarenden Wesenszügen. Seine Augen sangen ein wunderbares largo amabile, seine Hände preschten ein virtuoses presto con fuoco.

Jetzt, da er alle seine Sinne, jede Faser seines Körpers und jede Zelle seines Gehirns brauchte, um die wahnwitzige Virtuosenfalle zu meistern, nahm er sich geruhsam Zeit und Muße, einem Kind zuzulächeln. Als hätte er nichts anderes zu schaffen, leistete er sich den menschlichen Luxus einer ebenso ungeteilten Konzentration, um an diesen weißen Konzertengel einen liebevollen, Ruhe und Wärme ausstrahlenden Blick zu schicken. Nicht irgendein zufällig hingeworfener Seitenblick war das, nichts Unpersönliches, was auch uns manchmal aus den umher schweifenden Augen unbewusst entflieht. Nein, ich sah es, ich fühlte es unmissverständlich: Rubinstein meinte dieses Mädchen. Er schenkte ihr ganz bewusst und ungeteilt diesen einen Herzensblick, als wäre es eine für sie verstehbare, erfühlbare Gabe, wenn schon die Musik so fremd, so kompliziert für sie sein mochte. Mit uns, dem erwachsenen Publikum, sprach er die brillante, die höchst vollkommene Sprache der Musik und gleichzeitig -das war das Einmalige, das Grandiose!- öffnete er sein Herz und seine Augen, um nur diesem einen Mädchen in ihrer Sprache des Kinderherzens zu begegnen.

Das Kind zuckte verblüfft zurück, setzte zu einem kleinen Schritt rückwärts an, blieb aber doch stehen. Ein flüchtiges Rot flog über ihre Wangen, als fühlte sie sich bei einer unerlaubten Beobachtung ertappt. Dann erwiderte sie freudig das Lächeln mit ihrer unverstellten kindlichen Offenheit.

Dies alles ereignete sich im wörtlichsten Sinne während zweier Augenblicke, in einem Blitzblicktausch, umrauscht von unverminderter virtuoser Brillanz. Dies war die in meiner Erinnerung unauslöschliche und an jenem Abend so flüchtige Sekunde höchster Intensität und heiterster Leichtigkeit.

Rubinstein drängte während dieses Augendialogs souverän, zielstrebig und ohne Blick auf die Tasten in seinem rasenden Tongefunkel weiter, und ein leises Raunen der Freude und Überraschung entrang sich den Umstehenden, die Zeuge dieser kurzen Augenbegegnung geworden waren. In diesem Moment erlosch Rubinsteins Gesicht wieder, als sei nichts gewesen. Das Licht in seiner herzlichen Mimik verschwand so plötzlich, wie es entflammt war. Und mit maskenhafter Konzentration jagte er das Musikstück in seine letzte furiose Passage, die in einem frenetischen Jubel des stehenden Publikums ausklang.

Heute bin ich in der glücklichen Lage, mir wenigstens eine bruchstückhafte Wiederholung jener Szene zu verschaffen. Denn ich besitze einen Konzertmitschnitt dieses Stückes, das Rubinstein in jenen Jahren aufnehmen ließ. Und beim Hören bin ich heute noch verzaubert von seinem packenden Spiel, das in diesem brasilianischen Clowntanz gerade mal eineinhalb Minuten dauert.

Nachsatz im Mai 2021: Leider erst jetzt habe ich eine Videoaufnahme bei Youtube gefunden, in der Rubinstein am 01. Oktober 1964 im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums dieses Musikstück Policinelle gespielt hat. Hier ist der Link https://www.youtube.com/watch?v=uYeU1VEgV-Q

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte ist in meinem Buch Das Geständnis, Betulius Verlag erschienen.

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Das verzögerte Ja-Wort

Trauungen finden in Bilderbüchern und Illustrierten immer bei Kaiserwetter statt. Es ist meistens Hochsommer, und die Sonne freut sich mit den Hochzeitsgästen und lässt ihre wärmenden Strahlen verschwenderisch über das Rathaus und die Kirche nebenan scheinen.

Stellen Sie sich einen herrlichen Kirchplatz vor, umsäumt mit den sachkundig restaurierten Fachwerkfassaden. Eines der alten Häuser hat man vor Jahren sogar wegen Baufälligkeit abgerissen und nach alten Plänen originalgetreu wieder aufgebaut. Die Geschäfte rund um die Kirche und den Markt sind gepflegt. Doch der genaue Blick zeigt, dass hier wenig Kundschaft kauft. Das nahe gelegene Einkaufszentrum und die verkehrsberuhigende Parkplatzpolitik des Gemeinderats haben dafür gesorgt, dass es erschreckend ruhig um die Kirche und den angrenzenden Marktplatz geworden ist. Diese Postkartenidylle zeigt das Alltagsbild. Hier ist nichts los. Es sei denn, jemand will heiraten wie heute.

Jetzt am Samstag kurz nach dem Mittagessen stehen hier vor der Kirche nur wenige Menschen. Dort drüben vor der Eisdiele versuchen ein paar junge Leute, sich in der prallen Sonne mit einem Eisbecher abzukühlen. Und am unteren Ende des Marktplatzes schauen die Gäste der Krone neugierig zu dem Geschehen vor der Kirche herüber.

Denn hier treffen jetzt nach und nach festlich gekleidete Herrschaften ein. Sie begrüßen einander herzlich und wie alte Bekannte. Die jungen Frauen freuen sich, dass sie die leichten Kleider anziehen dürfen. Louis hat das Trachtenjackett gleich im Wagen gelassen und ziert sein offenes weißes Hemd mit besonders breiten Hosenträgern. Die weiß-blauen Rauten und die eingestanzten Enzianblüten zeigen allen Beobachtern, welches sein Lieblingsbundesland ist. „Da braucht man jetzt bei der Hitz´n ein Weiz´n!“ erklärt er den Umstehenden.

Die Braut des heutigen Tages heißt Patricia und wird jetzt mit ihrem Bräutigam Pierre im blumengeschmückten Auto herangefahren. Sie steigen unter dem Beifall der Hochzeitsgesellschaft würdevoll aus.

Patricia ist im besten Heiratsalter, hat gerade ihre Ausbildung als Erzieherin absolviert und strahlt mit ihren schwarzen Augen ihr ganzes Glück in die Welt. Der Friseur hat heute morgen drei Stunden gezaubert, um das volle Haar der Braut zu zähmen. Unter dem breitkrempigen Hut quellen verschwenderisch schwarze Locken hervor, und das mit Brillanten besetzte Armband am linken Handgelenk blitzt im Sonnenlicht auf.

Sie hat es gestern von ihren Eltern nach der standesamtlichen Trauung feierlich überreicht bekommen: „Du weißt,“ hat ihr Vater in seiner Tischrede betont, „mein Vater hat es meiner Mutter zur Hochzeit geschenkt, und sie haben beide bestimmt, dass du es als ihre einzige Enkelin zur Hochzeit erhalten sollst.“

Das Brautkleid umhüllt Patricias gertenschlanken Körper mit einem hochweißen Kleid, in dem kleine Herzen Ton in Ton den Grund des Festes verkünden. Der runde Halsausschnitt wird durch eine kostbare Perlenkette zum Blickfang, die sie ebenfalls gestern von ihrer Schwiegermutter aus deren Familienschatz umgehängt bekam.

Die Braut hat es sich nicht nehmen lassen, ein Kleid mit einer Schleppe zu kaufen, die mit feinen Spitzen besetzt und nicht wie üblich ein verlängerter Schleier, sondern am Gürtel befestigt ist. Sie wird von ihren kleinen Nichten mit spitzen Fingern überaus gefühlvoll getragen.

Ein niedliches Zwillingspärchen sind die beiden, gerade mal fünf Jahre alt, und in ihren rosa langen Kleidchen mit den Spitzenkragen und den handgeflochtenen Margeritenkränzchen im blonden Haar ziehen sie alle Aufmerksamkeit auf sich. Um ihre zierlichen Handgelenkchen hängen liebevoll geschmückte und mit Blütenblättern gefüllte Bastkörb­chen. Daraus sollen sie nachher, hat Mama gesagt, „wenn Patricia und Pierre richtig verheiratet sind“ dem Braut­paar Blumen auf den Weg streuen, „damit sie glücklich werden.“

„Schau mal, wie süß sie sind!“ Tanta Martha deutet auf die beiden Mädchen, ist ganz entzückt und sagt es jedem, auch denen, die es schon ein paar mal gehört haben. Sie fächelt sich mit ihren durchbrochenen Handschuhen an den feisten Armen Luft in ihr aufgedunsenes und rot glühendes Kugelgesicht und seufzt: „Ach Gottchen, mein Blutdruck! Mein Doktor sagt immer, ich soll nicht in die Wärme stehen. Oje, ist das heute schwül!“

Sie wischt sich den Schweiß ab, der ihre teuren Dauerwellen anklebt und an ihrem wulstigen Nacken herunterläuft. Die Falten im Gesicht hat sie von der Kosmetikerin sorgfältig dekorieren -im Klartext: übertünchen- lassen. Ein triftiger Fall zum Liften ist sie noch nicht, aber ihrer Freundin hat sie neulich einmal anvertraut, dass sie jeden Monat eine bestimmte Summe auf ein Konto legt, um die doch sicher unvermeidliche Schönheitsoperation bezahlen zu können, wenn´s nötig wird. Die schwere Goldkette glänzt auf dem nassen Dekolleté über dem schwer atmenden Busen. Das Brokatkleid stammt aus dem vorigen Jahrhundert, ist viel zu warm und macht sie noch matroniger. Aber sie musste es anziehen! Wann hat man schon die Gelegenheit, der Verwandtschaft zu zeigen, was man besitzt!

„Hat der Doktor dir auch gesagt, dass du abnehmen sollst?“ fragt Florian, das ist Patricias zwölfjähriger Bruder, so von unten herauf, und sein verschmitztes Lächeln erstirbt sofort, als seine Mutter ihn scharf zurechtweißt: „Aber Flori, so was sagt man doch nicht!“

Er fragt in aller gebotenen Harmlosigkeit zurück: „Wieso, Mama, du sagst doch immer, wenn ich etwas wissen will, soll ich fragen!“

Die Mama dreht sich verlegen zur Seite. Immer dieser vorlaute Kerl, denkt sie. Er ist in letzter Zeit so frech! Aber Martha sieht ja auch wirklich schrecklich aufgedonnert aus!

Der Bräutigam steht schüchtern und doch mit bewundernden Blicken für seine junge Frau inmitten der Gesellschaft. Er ist sehr stolz, dass er seine geliebte Patricia heute zum Traualtar führen darf. Bei diesem Gedanken bemerkt er, wie sich seine schmale Brust um Millimeter hebt und die hellblaue Weste, die silbergraue Krawatte mit den hellen Punkten und das dunkelblaue Jackett nach vorn drückt.

Er öffnet den obersten Knopf am Hemd, holt vorsichtig sein weißes Taschentuch aus der Hose und tupft sich verstohlen die Schweißperlen von der Stirn. Es ist so ungewohnt für ihn, einen Anzug zu tragen, denn an seinem Schreibtisch im Finanzamt braucht er nie eine solch formelle Kleidung. Ein leiser Seufzer entfleucht seinen blutleeren Lippen.

Patricias Vater schaut in die Runde und sieht, wie Pfarrer Sebastino aus der Kirche kommt, um das Paar abzuholen. Er begrüßt die Gesellschaft und lädt die Gäste ein, sich in die Kirche zu setzen.

Als der Pfarrer mit dem Brautpaar allein im Portal steht, fasst Patricia ihren Pierre zärtlich an der Hand und flüstert nervös: „Jetzt geht´s los! Hoffentlich fange ich nicht wieder vor Freude an zu weinen wie gestern auf dem Standesamt!“ Sie nestelt nervös an ihrem Ausschnitt und an ihren Haaren und versucht dabei zu verbergen, dass sie vor lauter Aufregung einen Schweißausbruch hat. Dann wechselt sie ständig die weiße bestickte Tasche von einer Hand in die andere, so dass die kunstvollen Handschuhe etwas zerknittert sind. Ihr Atem wird schneller, und ihre Brust hebt sich unregelmäßig. Sie stöhnt: „Oh Gott, wie ist es heiß hier! Lass uns ins Kühle gehen.“

Sie dreht sich vorsichtig zum Portal und achtet darauf, dass die beiden Nichten mit der Schleppe nachkommen. Man könnte glauben, sie schwebe über das Steinpflaster, würden nicht ihre Stöckelabsätze wie leise Pistolenschüsse unter ihrem langen Rock knallen.

Die Orgel beginnt mit dem traditionellen Hochzeitsmarsch „Treulich geführt“, die Gäste erheben sich von den Kirchenbänken, und der Pfarrer schreitet mit dem Brautpaar feierlich den langen Gang zum Altar nach vorn. Patricias Mama wischt sich ein paar Tränen aus den Augen.

Als die beiden glücklichen Menschen nebeneinander vor dem Altar stehen, schauen sie sich verliebt an, und jeder, der diesen Blick sieht, spürt, dass sich das richtige Pärchen gefunden hat. Pierre ist in froher Erwartung, dass sein sehnlichster Wunsch jetzt gleich in Erfüllung geht. Dann beobachtet er, wie sich ein blasser Schatten über Patricias Gesicht legt. Ihre Schweißperlen sind nicht zu übersehen, schon deshalb weil sie feuchte Straßen in das kunstvolle Make-up gravieren. Patricias Halsschlagadern pulsieren so heftig, dass es sogar seinem medizinisch ungeübten Blick auffällt.

„Liebling, was ist mit dir?“ flüstert Pierre besorgt und greift nach der Hand seiner Braut. Er rutscht dabei an ihren verschwitzten und kalten Händen ab. Ihr heißer Atem fließt stoßweise, die Blässe wird durch den  roten Lippenstift noch deutlicher. Ihre Finger verkrampfen sich in seiner Hand.

„Nichts, nichts,“ stößt sie hervor, nur ein bisschen schwindelig!“ Sie sinkt auf den Stuhl und schnappt nach Luft. Und Pierre sieht, wie ihre Augen angstvoll geweitet sind.

„Sie bekommt zu wenig Luft!“ sagt Pierre zu dem Pfarrer, der ebenfalls bemerkt hat, dass es der Braut nicht gut geht. Er nimmt Patricias Hand und redet ihr ruhig zu: „Keine Sorge, wir machen eine kleine Pause. Schließen Sie mal einen Moment Ihre Augen! Atmen Sie ganz ruhig durch.“ Seine wohltuende Stimme wirkt wie Balsam auf Patricias aufgeregte Atmung, und die Farbe kehrt langsam  wieder in ihr Gesicht zurück. Nach einer kleine Weile nickt sie ihm zu: „Ich glaube, jetzt geht´s!“

Pfarrer Sebastino steht vor dem Altar und eröffnet mit feierlicher Stimme den Gottesdienst: „Wir beginnen im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!“

Seine weiteren Worte und die Predigt fließen teilweise an Patricia vorbei. Sie konzentriert sich auf ihren dringenden Wunsch, unbedingt ganz beherrscht zu sein. Und Pierre, der sie immer wieder aus dem Augenwinkel betrachtet, erkennt, wie seine Frau immer schneller atmet. Auch Patricias Mutter, die schräg hinter ihr sitzt, blickt mit sorgenvollem Ausdruck in den Augen zu ihrer Tochter.

Jetzt bemerkt der Pfarrer die wiederkehrende Unruhe der Braut. Er versucht, mit einer beruhigenden Handbewegung auf Patricia einzuwirken und kommt schneller als üblich zu der eigentlichen Trauzeremonie. Er will die belastende Situation für die Braut abkürzen: „Und jetzt bitte ich Sie, zu dem Trauversprechen nach vorn zu treten!“

Patricia will aufstehen, fällt wieder zurück, Pierre stützt sie, lässt sie wieder auf den Stuhl sinken, schaut angstvoll zu seiner Frau und den Eltern dahinter. Jetzt sehen alle, dass die Braut in Not ist und Pierre in großer Sorge.

Patricia stöhnt: „Oje, mir ist so schlecht. Ich bekomm keine Luft!“

„Aber dann müssen wir mehr Luft reinlassen!“ fordert der Bräutigam mit zitternder Stimme. Die Eltern des Brautpaares und einige Gäste eilen nach vorn und stehen unruhig um die Braut herum. Jeder hat einen anderen Rat: „Du musst noch schneller atmen!“ meint Louis und hält sich wichtigtuerisch an seinen Hosenträgern fest. „Nein, nimm doch mein Duftwässerchen!“ widerspricht Tante Martha und nestelt in ihrem Handtäschchen. „Aber nein, das ist doch völlig falsch! Sie braucht eine Spritze!“ – Ihr müsst sie hinlegen!“ – Nein, sie muss sitzen bleiben!“ – „Sie soll herumlaufen!“ – Aber nicht doch, das ist ein Herzinfarkt, da muss man liegen!“ weiß Louis ganz überlegen.

Die hektischen Stimmen schreien durcheinander, und die arme Patricia ist so mit sich und dem verzweifelten Versuch beschäftigt, ihre Fassung zu bewahren, die sie eigentlich schon längst verloren hat, dass sie überhaupt nichts mehr hört, was um sie herum geschieht. Sogar der an Aufregung gewöhnte Pfarrer Sebastino wird etwas ratlos. So viel Trubel hat auch er in den vielen Jahren noch nicht erlebt. Er schaut zuerst unsicher zu und geht nervös hin und her. Dann sagt er sehr bestimmt mit einem Blick zur Festgemeinde: „Ich glaube, wir brauchen einen Notarzt!“

„Mach ich!“ sagt der Mann mit den festlichen Hosenträgern, zieht sein Telefon aus Tasche, hält es so hoch, dass der Pfarrer sieht, wie rasch sein Wunsch befolgt wird, und geht mit schnellen Schritten in den hinteren Teil der Kirche, um zu telefonieren.

Plötzlich ist es ruhig im Raum, aber nur eine Schrecksekunde lang, dann beginnt das Geschnatter um so hektischer wieder von Neuem. Alle Anwesenden sind von einer solchen Aufregung erfasst, dass sie einander beiseite boxen. „Wir müssen jetzt ganz ruhig sein,“ faucht Tante Martha, „damit die arme Patricia sich fangen kann!“

„Dann sei doch mal endlich still!“ entfährt es scharf dem Bräutigam, und am meisten erschrickt er selbst über seinen Mut, dem aufgeplusterten Familienfeldwebel zu widersprechen.

„Also, hör mal, was erlaubst du dir!“ Tante Martha lässt ihre Stimme schrill überschnappen, und sie hebt ihren großen Busen noch ein paar Zentimeter höher, als wolle sie den frechen Bräutigam körperlich in Schranken weisen.

Patricia ist inzwischen in ihrem Stuhl noch weiter nach unten gesunken, sie fällt fast auf den Boden, klammert sich verzweifelt mit rutschenden Handschuhen an die Lehnen und ringt hektisch atmend nach Luft. „Mein Gesicht wird so eng!“ seufzt sie mit einer weinerlichen Stimme. „Es kribbelt so! Ich brauch´ mehr Luft!“

Da kommt Louis mit dem Telefon zurück und verkündet: „Der Not­arzt kommt gleich. Wir sollten ein bisschen Platz für ihn machen.“ Und mit einer freundlich bestimmten Geste deutet er auf die Eingangstür: „Ich denke, wir sollten die Braut in Ruhe lassen. Der Bräutigam und ich bleiben hier.“

Aber die Gäste verstehen die Aufforderung nicht, sie werden nur noch nervöser und schnattern auf die arme Patricia genau so besserwisserisch und hektisch ein wie vorhin. Da hören sie aus der Ferne schon das Martinshorn rasch näherkommen. Der Notarztwagen und ein Krankenwagen stoppen nach kurzer Zeit vor der Kirche, die Gäste rennen aufgeregt ans Portal: „Sie kommen!“ Der Möchtegern-Bayer brummt mit nachgeahmtem Dialekt vor sich hin: „Dös hamma scho´ g´hört!“

Pierre kniet mit Tränen in den Augen neben seiner Patricia: „Was soll ich denn tun, Liebes, du kannst doch jetzt keinen Herzinfarkt haben. Wir wollen doch heiraten! Ich liebe dich doch!“

Mit raschen Schritten stehen die Männer vom Roten Kreuz und der Notarzt bei Patricia, die weinend versucht, sich auf dem Stuhl zu halten.

Der Arzt hat mit einem raschen Blick die schnelle und tiefe Atmung, die verkrampften Hände, das schweißnasse Gesicht und den angstvollen Blick der Braut erfasst. Er beugt sich über sie: „Ich bin Dr. Petersen, guten Tag! Ich weiß, dass Sie sehr aufgeregt sind. Aber es ist nichts Schlimmes! Wenn Sie tun, was ich Ihnen sage, kann ich Ihnen rasch helfen!“

„Aber das ist sehr schlimm, Herr Doktor, wie können Sie so etwas sagen! Sie müssen ihr sofort eine Spritze geben!“ Pierre ist außer sich vor Sorge.

Dr. Petersen bleibt ruhig: „Es geht wahrscheinlich auch ohne Spritze, wenn Ihre Frau langsamer atmet und in diese Tüte bläst.“ Er greift in seine Jackentasche, zieht eine kleine Plastiktüte heraus und erklärt: „Sie haben in der Aufregung viel zu schnell geatmet. Das ist wie wenn Sie ein Luftmatratze oder einen Luftballon zu schnell aufblasen. Dann wird es Ihnen auch schwindelig. Wenn sie in die Tüte atmen und dieselbe Luft wieder einatmen, können sich die Calciumionen wieder aus den Bindung ans Eiweiß in Ihrem Blut freisetzen. Dann geht es Ihnen rasch besser, und ich brauche Ihnen keine Spritze zu geben. Sie müssen nur richtig flach und langsam atmen.“

Er will die Tüte über Patricias Mund und Nase halten. Aber da schreit Patricia auf: „Nein! Dann bekomm´ ich doch gar keine Luft!“ Sie schlägt ihm die Tüte aus der Hand. Dr. Petersen weicht zurück. Er erkennt, dass er mit seinem vernünftigen Vorschlag keinen Erfolg hat. Und seine medizinischen Erklärungen kommen jetzt in dieser hektischen Situation bei Patricia nicht an.

Dr. Petersen wendet sich zu dem Rettungssanitäter und sagt knapp: „Also Calcium i.v.!“ Dieser hat auf das Kommando schon gewartet, und der Koffer mit den Medikamenten und Spritzen steht bereits offen. Mit ein paar geübten Handgriffen zieht der junge Mann die Flüssigkeit aus der Ampulle in die Spritze und setzt eine Kanüle auf. Mittlerweile hat Dr. Petersen den Stauschlauch um den Oberarm der Braut geschlungen und festgezurrt. Die Vene ragt prall in der Ellenbeuge hervor, und Dr. Petersen hält mit einer Hand den Arm fest und sticht mit der Kanüle zielsicher in das Gefäß. Während er langsam injiziert, sagt er zu Patricia: „So das hilft jetzt gleich. Wenn es warm wird, sagen Sie es mir, dann kann ich etwas langsamer spritzen.“

Er beobachtet die Patientin. Pierre hält sie liebevoll fest, und die meisten anderen Hochzeitsgäste sind inzwischen ruhig geworden und schauen gespannt zu, was hier geschieht. Eine Notfallbehandlung am Traualtar erlebt man schließlich nicht bei jeder Hochzeit!

Und Tante Martha hat sich auf die Bank in der dritten Reihe zurückgezogen, fächelt sich frische Luft und Mut zu und stöhnt vor sich hin: „Nein, so was! Dass ich das auf meine alten Tage noch erleben muss!“

Tatsächlich! Patricia wird wieder etwas rosiger im Gesicht und sagt: „Ich glaube, es geht ein bisschen besser!“ Dr. Petersen drückt den Rest der Spritze vollends in die Vene, zieht die Kanüle heraus, beobachtet die Braut und sagt lächelnd: „Na, können Sie jetzt heiraten?“

Pierre streichelt liebevoll Patricias Gesicht: „Liebling, meinst du, das geht jetzt?“ Sie überlegt und flüstert zaghaft: „Ich will´s versuchen!“

Pierre spürt nicht sehr viel Überzeugung in ihren Worten, aber er spielt mit in der Hoffnung, dass es klappt: „Also, Herr Pfarrer, bitte helfen Sie uns!“ Und zu Dr. Petersen gewandt sagt er: „Bitte, bleiben Sie da! Für alle Fälle! Es dauert ja nicht lang!“

Dr. Petersen nickt, gibt seinen vier Rettungssanitätern ein Zeichen mit der Hand in Richtung Kirchenbank, und die fünf Herren setzen sich in die erste Reihe. Keiner von ihnen hat je eine Hochzeit im Notdienst miterlebt.

Pfarrer Sebastino klatscht in die Hände und sagt mit erhobener Stimme: „Liebe Hochzeitsgemeinde, bitte kommen Sie zu Ihren Plätzen zurück. Wir wollen die Zeremonie fortsetzen.“

Während die Gäste aus der ganzen Kirche zusammeneilen und der Mann mit den Hosenträgern rasch seine Zigarette ausdrückt, bevor er die Kirche betritt, sieht Dr. Petersen, wie Patricia wieder anfängt, schneller und tiefer zu atmen. Er beugt sich vor und flüstert ihr zu: „Langsam und flach! Das ist wichtig!“

Sie schaut zu ihm herüber, nickt mit ängstlichem Blick und merkt nicht, wie ihre Atmung noch rascher wird. Pfarrer Sebastino beginnt: „Bitte, liebes Brautpaar, erheben Sie sich. Ich werde Sie jetzt fragen, ob Sie die Ehe miteinander eingehen wollen!“

Das Brautpaar steht langsam auf, und Patricia stöhnt: „Mir ist so eng im Gesicht! Es geht wieder los!“ Sie klammert sich an Pierre, der erschrocken zu Dr. Petersen schaut.

Da steht der Arzt auf und sagt freundlich zu Pfarrer Sebastino: „Ich glaube, das wird heute nichts. Ich möchte die Braut mit in die Klinik nehmen, damit sie zur Ruhe kommen kann. Sie sollten die kirchliche Hochzeit verschieben.“

„O nein!“ weint Patricia los und zittert am ganzen Leib. „Ich will nicht in die Klinik. Ich will doch heiraten!“ Sie verdreht die Augen, und Pierre und Dr. Petersen könne sie gerade noch auffangen, bevor sie gebremst von den starken Männerarmen auf den roten Teppich vor dem Altar gleitet. Sie atmet tief und schnell, ihre Hände sind krampfartig gestreckt.

Dr. Petersen kommandiert leise und bestimmt seine Sanitäter: „Trage und Calcium mit Braunüle!“ Zwei Rettungssanitäter rennen hinaus, um die Trage aus dem Wagen zu holen, der dritte zieht noch einmal eine Ampulle auf. Innerhalb von Sekunden sitzt auch diese Injektion mit einer Kanüle, die Dr. Petersen in der Vene liegen lassen kann. Er beobachtet, wie das Medikament langsam hineinfließt.

Die Trage rattert durch den Kirchengang. Die Sanitäter heben Patricia hinauf, schlagen die Gurten um sie herum, um sie zu sichern. Und die Gäste schauen zu, wie die Braut mit nachgeschleifter Schleppe aus der Kirche gefahren wird. Einer der Rettungssanitäter tritt versehentlich darauf, und der Stoff reißt krachend vom Kleid.

In dem engen Gang rennt Pierre hinter seiner Braut her und ruft: „Liebling, ich fahr euch sofort nach! Hörst du mich?“

Sie antwortet nicht, weil sie weinend die Hände vors Gesicht geschlagen hat. Mit wenigen Griffen wird sie in den Notarztwagen geschoben. Die Türen klappen zu. Der Wagen fährt ab.

Pierre und die anderen Hochzeitsgäste rennen zu ihren Wagen, steigen in aller Hektik ein, die Motoren springen an, und die Kolonne setzt sich in Bewegung. Voraus rast der Notarztwagen mit Martinshorn und Blaulicht. Dann folgt der Krankenwagen.

Dahinter sitzt Pierre im Hochzeitsauto. Schon beim Anfahren hört er ein schreckliches Geklapper. Zuerst denkt er, der Motor sei kaputt, dann hat er den Geistesblitz: „Dosen an der Stoßstange!“

Tatsächlich sitzt im nachfolgenden Wagen Florian und weiß nicht so recht, ob seine Idee wirklich gut war, zwanzig Dosen an das Auto zu binden. Aber er freut sich wenigstens über das Schild, das er kunstvoll mit „Just married“ gemalt hat. Es klebt auf der Heckscheibe.

Die Passanten drehen sich um, als sie den ungewöhnlichen Konvoi an sich vorbeirasen sehen. Florian erschrickt: Die Dosen überschlagen sich wild in den Kurven und reißen sich durch die schneller Fahrt los. Eine Dose knallt einem Kind auf dem Bürgersteig an den Kopf. Die Platzwunde blutet sofort. Das Kind schreit.

Weiter geht die Jagd ins Krankenhaus. Im Notarztwagen liegt Patricia mit ihrem zerrissenen Hochzeitskleid auf der Trage und weint. Der Rettungssanitäter reißt ein Heftpflaster von einer Halterung ab und klebt den klaffenden Schlitz an der Seite einfach zu: „Sieht nicht schön aus, aber hält!“ sagt er mehr für sich als zu Patricia.

Sie ist inzwischen durch die beiden Spitzen wieder so weit hergestellt, dass sie Dr. Petersen zuhören kann, der beruhigend auf sie einredet: „Bitte, glauben Sie mir doch. Sie Sache mit der Tüte sieht zwar komisch aus, aber sie hilft wirklich. Probieren Sie es wenigstens!“

„Also gut!“ Patricia gibt nach und greift nach der Tüte. Dr. Petersen lässt die selbst die Tüte über Mund und Nase halten, und zuerst sehr ungläubig atmet sie langsam in die Tüte und zieht die Luft wieder ein. „Prima!“ lobt Dr. Petersen, „und jetzt ganz langsam weiter!“ Patricia spürt, dass sie genügend Luft bekommt und dass sie sich sogar von Atemzug zu Atemzug wohler fühlt. Sie schaut den Arzt mit verwunderten Augen an, und er sieht, dass sie zuversichtlicher wird.

Er versucht noch einen nächsten Schritt: „Und jetzt halten sie mal kurz die Luft an, dann steigt der Kohlendioxidspiegel in ihrem Blut, und sie bekommen noch mehr Calciumionen frei!“ Er weiß nicht, ob sie diese Erklärung versteht, aber Patricia stoppt tatsächlich ihre Atmung für kurze Zeit, beobachtet Dr. Petersen dabei, und als er nickt, atmet sie langsam wieder aus. „Na also, klappt doch!“ ermuntert er sie, und Patricia kann sogar schon ein bisschen lächeln.

Der Notarztwagen biegt in die Krankenwageneinfahrt der Klinik, die Tür schließt sich automatisch. Die Rettungssanitäter steigen aus und ziehen die Trage mit der Patientin heraus. Sie fahren gemeinsam zur Ambulanz, wo Patricia rasch in eine leere Kabine geschoben wird.

Pierre ist inzwischen mit den anderen Hochzeitsgästen auch auf dem Klinikparkplatz eingetroffen. Sie rennen zur Pforte: „Ich bin der Bräutigam! Wo ist meine Frau?“ ruft er angstvoll der Pförtnerin zu. Diese deutet zum Lift: „Zweiter Stock, Innere Ambulanz! Und alles Gute!“ Die Verwandten zwängen sich in den Aufzug, fahren hoch, klingeln an der Anmeldung und werden freundlich zurückgewiesen: „Bitte, warten Sie noch einen Moment, bis die Patientin sprechbereit ist!“ Pierre ist entsetzt: „Aber meine Frau braucht mich! Lassen Sie mich hinein, nur wenigstens mich!“ bittet er inständig! „Also gut, kommen Sie rein,“ gibt die Schwester nach und öffnet die Tür.

Patricia liegt jetzt ruhiger auf der Trage, und Dr. Petersen hält ihre Hand: „Na schauen Sie mal, da ist ja Ihr Mann!“ – Pierre stößt einen Seufzer der Erleichterung aus, als er sieht, das es seiner Patricia wieder besser geht. Aber Patricia bricht in Tränen aus und umarmt ihren Pierre: „Liebling, was für eine Schande! Ich hab dir die ganze Hochzeit verdorben. Wie kann ich das wieder gut machen!“

Pierre nimmt sie herzlich in seine Arme: „Indem du mich bei der allernächsten Gelegenheit nochmal heiratest!“ Er macht ein kurze Pause und fügt lachend hinzu: „Wir sind doch seit gestern schon verheiratet, falls du das in deiner Aufregung vergessen hast.“

Und mit einem schelmischen Blick zu Dr. Petersen sagt er: „Das nächste Mal heiraten wir in der Krankenhauskapelle, und Sie sind herzlich dazu eingeladen. Einverstanden?“

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht.

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Aktion Erdmann

(Dies ist eine Geschichte meiner Frau Birgit, die wir in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht haben.)

Schon als Kind konnte ich nicht ruhig auf dem Stuhl sitzen bleiben. Obwohl ich ein zierliches Mädchen war und alle Bekannten mich für ein lebendiges Püppchen hielten, suchte ich ständig nach Abenteuern. Ich war meistens mit den Buben zusammen und kletterte an den gefährlichsten Hängen, Dächern und Bäumen herum. Alle Familien mit gleichaltrigen Kindern kannten mich in der Umgebung, weil ich regelmäßig fast überall zu Gast war. Auch heute noch meine ich, dass ich ein richtige kindliche Streunerin war. Und im Rahmen meiner vielfältigen Aktivitäten ist die Aktion Erdmann eines meiner wichtigsten Kindheitserlebnisse.

Ich war acht Jahre alt, als ich mit meinen Eltern und meinen beiden Geschwistern in dem Block einer Wohnsiedlung lebte. Beamte, Angestellte der Gemeinde und einiger Firmen, Arbeiter, auch Menschen aller Altersstufen wohnten hier friedlich beieinander. Wir Kinder spielten unabhängig von unseren sozialen Herkunft gern und regelmäßig miteinander. Auf der Straße veranstalteten wir Rollschuhwettrennen, weil wir auf der großen Wiese vor dem Haus nicht spielen durften und immer von dem Hausmeister mit wütenden Worten verjagt wurden. Er achtete auch darauf, dass wir keinen Lärm machten und die Mittagsruhe einhielten. Obwohl in unseren Häuserblocks viele Kinder lebten, verhielten sich manche Erwachsene recht kinderfeindlich.

Eines Tages sah ich, wie Roswitha mal wieder mit einem völlig verdreckten Kleid und vom Schweiß verklebten Haaren auf der Straße stand. In der einen Hand hielt sie ein Brot und mit dem Zeigefinger der anderen holte sie sich die Würze dazu aus der Nase.

Das rotweiße Kleid Roswithas war durch die Schmutzflecken mit einer Einheitsfarbmischung getüncht, einer Mischung aus grau und braun, Öl und Straßendreck. Zwei der Knöpfe waren abgerissen, und deshalb konnte ich das schmutzige Unterhemd durch den vorderen Kleiderschlitz blitzen sehen. Die Unterhose hing unter dem Kleid hervor und war so groß, dass sie eigentlich nur von einem der älteren Brüder Roswithas stammen konnte. Abgesehen davon wusste ich, wie diese Unterhose roch, denn Roswitha war noch nicht ganz trocken, trug häufig keine Windel und ließ ihren Bedürfnissen freien Lauf. Schon allein deshalb wollten wir gerade mit ihr nicht gern spielen.

Roswitha gehörte zur Familie Erdmann aus unserem Haus und war drei Jahre alt. Sie hatte zwei ältere Brüder, nämlich Herbert und Franz, und ihre jüngeren Schwestern Angelika und Sabine. Ich wusste, dass auch Erdmanns Wohnung ähnlich aussah und roch wie Roswithas Kleid.

Während ich Roswitha beobachtete, stand ich in unserer Wohnung am Fenster, aß einen knackigen Apfel und spürte plötzlich, wie mir der Apfel fast wieder hochkam. Ich konnte einfach nicht mehr weiteressen.

Mir schoss der Gedanke durch den Kopf: So kann es mit den Kindern nicht weitergehen! Jetzt muss etwas geschehen! Mir war klar, dass die Familie sich offensichtlich nicht selbst helfen konnte. Also überlegte ich, wie ich mit meinen acht Jahren einen Beitrag leisten könnte, um diese Zustände in der Familie Erdmann zu verbessern. Da kam mir eine Idee.

Ich rief meine Freundin an, die direkt über Erdmanns wohnte: „Veronika, ich muss unbedingt mit dir reden! Wir müssen uns sofort am Baum hinterm Haus treffen und etwas Wichtiges besprechen!“

Sie antwortete: „Birgit, ich muss aber für meine Mama einkaufen!“

Ich ließ mich nicht abwimmeln: „Also gut, dann gehe ich mit zum Einkaufen, und wir reden auf dem Weg! Es ist sehr wichtig! Es muss dringend etwas passieren!“

Als wir zum Bäcker und Metzger gingen, besprachen wir meinen Plan. Veronika war sofort begeistert und meinte: „Dazu brauchen aber Wolfgang, Alexander und die Ursula! Die machen bestimmt mit! Wir müssen gleich mit ihnen reden!“

Auf dem Rückweg machten wir einen Umweg über den Spielplatz, weil wir hofften, dass die drei dort sind. Wir hatten Glück und konnten unser Vorhaben tatsächlich bei der Schaukel besprechen.

„Ja, wann machen wir´s denn?“, fragte Wolfgang, als der Plan klar ausgeheckt war. „Um vier Uhr morgen Nachmittag, weil Frau Erdmann dann zur Spätschicht geht!“ war meine Antwort. Alle waren einverstanden, und wir verabredeten uns wie Verschwörer zum nächsten Tag: „Wir machen Aktion Erdmann! Aber das bleibt unser Geheimnis!“

Als wir gerade wieder auseinander gehen wollten, wurde Ursula nachdenklich: „Und wie kommen wir in die Wohnung?“

Ich schlug vor: „Wir müssen es Herbert sagen, der lässt uns rein.“

Am nächsten Nachmittag trafen wir uns pünktlich um vier Uhr vor dem Haus. Als wir sahen, dass Frau Erdmann ums Eck verschwunden war, stürmten wir die Treppe zu ihrer Wohnung hoch und klingelten: Herbert öffnete und fragte verwundert: „Was wollt ihr denn alle?“

„Wir machen Aktion Erdmann!“ flüsterten wir fast wie aus einem Mund -denn im Treppenhaus sollte das natürlich niemand hören- und drängten ihn zur Seite. „Lass uns rein! Wir erklären dir alles!“

Als die Tür hinter uns zu war, überschütteten wir ihn mit unserem Plan. Wir redeten alle gleichzeitig, weil es uns doch so wichtig war. Aber Herbert verstand sofort und war begeistert: „Das ist klasse! Da muss ich schon keine Hausaufgaben machen und nicht alleine spülen! Also los geht´s!“ Er warf seine Hefte in die Schultasche.

Wir wollten uns an den Tisch setzen und besprechen, in welcher Reihenfolge wir vorgehen. Aber da mussten wir erst mal aufräumen, denn auf den Stühlen lagen Kleider und klebten Essensreste. Auf dem Tisch stand noch das schmutzige Geschirr vom Mittagessen, und an den Resten sahen wir, dass es bei Erdmanns nichts Gutes zum Essen gab.

„Was habt ihr denn heute gegessen? fragte ich Herbert. Er murrte: „Nur eine Fertigbrühe und Brot. Ich hab das Essen schnell nach der Schule gemacht, weil Mama noch im Bett lag. Und wir hatten alle Hunger!“

„Wisst ihr was, wir müssen zuerst mal die ganze Wohnung anschauen, und dann überlegen wir, wo wir anfangen!“ Ich übernahm unbewusst die Leitung der Aktion.

In der kleinen Küche stand auf allen möglichen Flächen sehr viel ungespültes Geschirr, an dem die verkrusteten Speisereste festgetrocknet waren. Seit mehreren Tagen hatte hier niemand mehr gespült. Der Herd war von altem Fett verklebt, die Platten waren auch am Rand verschmiert, und ich konnte ihre Abgrenzungen nicht mehr erkennen. Die Vorhänge konnten wir an einem Zipfel ziehen, und sie waren so starr vor Dreck, dass wir nicht einmal eine Vorhangstange brauchten, um den Stoff gerade zur Seite zu bewegen. Die Schränke waren sicherlich schon seit Erdmanns Einzug vor ein paar Jahren nicht mehr gereinigt worden.

Im Wohnzimmer lagen und standen leere Bierflaschen auf dem Boden und auf dem Tisch. In den Ecken hatte sich Müll angesammelt, den wir in diesem Moment noch nicht genau anschauten.

In den beiden Zimmern, in denen die fünf Kinder schliefen, standen zwei Stockbetten und ein Säuglingsbett, in dem Sabine gerade ihre schmutzigen Zehen in den Mund steckte. Die Bettwäsche war verdreckt und lag zerknüllt herum. Ich konnte erkennen, wie die Kinder mit ihren Fetthänden an den Fenstern auf- und abgefahren waren. Wahrscheinlich hingen sie oft am Fensterbrett und warteten auf die Eltern.

In der Badewanne lagen schmutzige Windeln und verbreiteten einen Gestank wie ein volles Toilettenhäuschen in der prallen Sonne. Der Dreck am Wannenrand ließ uns vermuten, dass man bei einem Bad schmutziger herauskommt als man hineinsteigt. Nachdem wir das alles gesehen hatten, getrauten wir uns nicht mehr, die Toilette zu besichtigen.

„Oje! Was hab ich uns da eingebrockt!“ Ich stand mit offenem Mund im Flur und war ratlos: „Das schaffen wir nie!“

Aber Herbert gab uns wieder Mut: „Wir können ja in der Küche anfangen! Das ist doch schon mal was! Wir teilen ein, wer was macht!“

Also bekamen die Jungs die leichteren Aufgaben wie Staub wischen und saugen und Aufräumen im Wohnzimmer. Wir Mädchen gingen in die Küche und übernahmen die Spülarbeiten und das Entfernen der Fettschichten an allen Wänden und Stellflächen.

Am Anfang kostete es uns sehr viel Kraft und Zeit, die festgeklebten Krusten abzukratzen und die Fliesen abzuseifen. Aber schließlich erkannten wir, dass der Erfolg zwar sichtbar, aber doch nicht vollständig sein konnte. Unser Ekel vor dem verschmierten Dreck schwand mit jedem sauberen Zentimeter, den wir der Schmuddelküche abringen konnten.

Zwischendurch schauten wir nach den Jungen und gaben ihnen Ratschläge, wo sie den Müll und die noch brauchbaren Gegenstände hinräumen sollten, die wahllos herumlagen. Und in den Schlafzimmern zogen wir die übel riechende Bettwäsche ab und wechselten sie gegen saubere, so weit wir überhaupt welche fanden.

„Das macht ja richtig Spaß!“ sagte Veronika, als wir langsam sahen, wie unsere Heinzelmännchenarbeit sichtbar wurde.

Nach ein paar Stunden, als wir uns gerade überlegten, wann wir wiederkommen und weiterarbeiten würden, hörten wir, wie Herr Erdmann versuchte, im Flur den Wohnungsschlüssel in das Schloss zu stecken. Nach mehreren Anläufen schaffte er es schließlich und kam herein. Er schwankte auf uns zu und lallte: „Was macht ihr dann da?!“ Wir drückten uns in ein Eck in der Küche, weil wir Angst vor ihm hatten, wenn er betrunken war. Er schimpfte dann oft sehr ungeduldig mit uns.

Herbert kam uns zuvor: „Wir haben aufgeräumt, Papa, schau mal!“ Er zeigte mit Stolz in die Küche und das Wohnzimmer. Herr Erdmann starrte mit glasigen Augen in die Wohnung, verströmte seinen Alkoholatem und brauchte eine ganze Weile, bis er verstand, was hier geschehen war. Dann hellte sich sein hochrotes Gesicht mit der blauen Nase etwas auf, und er murrte schon etwas freundlicher: „Da könnt ihr mal wiederkommen! Aber jetzt müsst ihr zum Abendessen nach Hause!“

Wir verabschiedeten uns und beratschlagten draußen, dass es am besten wäre, die Wohnung nach und nach auf Vordermann zu bringen. Immerhin hatten wir jetzt erlebt, dass wir es doch schaffen könnten, wenn wir zusammenhalten und gezielt vorgehen.

„Wir brauchen schöne Tischdecken, das Plastiktuch war ganz zerrissen, und ich konnte es gar nicht mehr sauber machen,“ klagte Wolfgang. „Ich frag mal meine Mama, ob sie eins hergeben kann.“

„Nein, das machst du nicht!“ widersprach ich. „Wir erzählen zu Hause überhaupt nichts. Die Aktion Erdmann ist unser Geheimnis! Wir fragen, ob manche Sachen, die noch gut sind, weggeworfen werden können, und dann bringen wir sie zu Erdmanns!“

Auf diese Art und Weise sammelten wir in den nächsten Tagen und Wochen aus den verschiedenen Haushalten heimlich zahlreiche Gegenstände, die unsere Muttis dank unserer Überredungskunst reif für den Lumpensack oder den Mülleimer hielten: Handtücher, Servietten, kleine Küchenutensilien, Bettwäsche, Blumenvasen und vieles andere, was wir für Erdmanns nützlich und zu Hause entbehrlich fanden.

Unsere Eltern wussten über Monate nichts von unserer heimlichen Tätigkeit. Sie wunderten sich immer wieder, wo wir Kinder denn seien, und offensichtlich konnten wir sie mit unseren ständig neuen Ausreden zufriedenstellen.

Herbert war unser Verbindungsmann und sagte uns, wann ein neuer Einsatz nötig war. Dann riefen wir die Kinder zusammen und veranstalteten eine neue Aktion Erdmann. So schafften wir es tatsächlich, die Wohnung etwas gemütlicher und sauberer zu gestalten, obwohl sie doch dauernd wieder verschmutzt wurde. Wir stellten kleine Blumensträuße auf und entfernten den Müll, der in so vielen Ecken lag. Dann wuschen wir die Küchenschränke aus. Die Schlafzimmerschränke glichen einem Mülllager. Wir räumten sie aus, sortierten die Wäsche, wuschen und bügelten sie und stapelten sie wieder sorgfältig in die Fächer.

Auch der Balkon war zum Müllplatz umfunktioniert. Ziemlich planmäßig brachten wir bei jeder Säuberungsaktion einigen Müll aus der Wohnung und verteilten ihn auf die Mülleimer der verschiedenen Familien, soweit es dort Platz gab. Und durch die regelmäßigen Sperrmülltransporte der Gemeinde konnten wir erreichen, dass die Wohnung allmählich wieder leerer wurde.

Frau Erdmann wusste natürlich inzwischen von unserer kameradschaftlichen Gemeinschaftsarbeit und ließ uns gewähren. Eines Mittags, als wir wieder zu einer neuen Aktion Erdmann anrückten, lag Herberts Mama wie so oft noch im Bett und stöhnte: „Räumt schon mal auf, ich schaff´ es wirklich nicht alleine. Ich muss jetzt ins Geschäft.“ Sie schob uns die leeren Bierflaschen auf dem Nachttisch entgegen, quälte sich aus dem Bett und verschwand im Badezimmer.

Dann kam Ostern. Wir Nachbarskinder wussten, dass die Familie Erdmann sehr wenig Geld hatte, und wir ahnten, dass die Eltern ihren Kindern sicherlich gar keine Geschenke kaufen konnten. Deshalb überlegten wir heimlich, wie wir gemeinsam für die Kinder ein Osterfest gestalten könnten.

„Das ist klar, wir müssen unser Taschengeld zusammenlegen und was kaufen. Und das meiste müssen wir selbst basteln.“ Ich machte den Vorschlag, und alle waren einverstanden. Also legten wir unsere kleinen Ersparnisse auf den Tisch und kauften davon Pappe, Bast, Papier und noch einige Kleinigkeiten, die wir nicht zu Hause hatten. Vom Wald brachten wir frisches Moos mit.

Dann verwandelten wir Veronikas Zimmer in eine Osterbastelstube. Unsere Wangen müssen geglüht haben, so begeistert waren wir bei der Sache. Plötzlich war es auch mir gar nicht mehr wichtig, draußen zu spielen, und selbst bei schönem Wetter blieb ich gern bei Veronika und bastelte. Wir bemalten hartgekochte Eier mit unseren Wasserfarben, bauten Nestchen aus der Pappe, dem grünen Glanzpapier und dem duftigen Moos und setzten in jedes noch einen Schokoladenhasen.

Am Ostersonntag versteckten wir morgens die Gaben im Garten, ohne dass der Hausmeister uns bemerkte, klingelten dann bei Erdmanns und sagten zu den Kindern, die öffneten: „Der Osterhase hat was versteckt! Jetzt dürft ihr alle Kinder suchen!“

Mit großem Hallo stürmten Herbert, Franz, Angelika und Roswitha hinunter, und wir waren glücklich zu sehen, wie sie eifrig durch den Garten liefen und jubelten, wenn sie ein Osternestchen gefunden hatten.

Herr und Frau Erdmann waren langsam nachgekommen und standen etwas beschämt an der Hauswand: „Das habt ihr aber wirklich sehr lieb gemacht! Vielen Dank!“ Frau Erdmann schaute uns mit feuchten Augen an und verschwand nach oben in die Wohnung. Nach einer Weile kam sie wieder und sagte zu uns: „So, und jetzt dürfen die Kinder was suchen, die Osternestchen gebastelt haben. Kommt mal mit!“

Wir schauten einander verwundert an, denn damit hatten wir wirklich nicht gerechnet. Aber natürlich gingen wir gern mit. Frau Erdmann führte uns in ihre Wohnung und sagte: „Im Wohnzimmer hat der Osterhase etwas versteckt.“ Wir kannten natürlich die Ecken sehr gut von unseren Aufräumarbeiten und fanden schnell zwei Schokoladenhasen. Einen davon bekam ich, und er war für mich ein so wichtiges Andenken an Erdmanns und unsere Aktion, dass ich ihn jahrelang als wertvolle Trophäe aufbewahrte, obwohl mein Bruder regelmäßig drängte, den Hasen endlich zu schlachten.

„Das ist aber toll! Vielen Dank, dass Sie für uns auch was haben!“ Wir bedankten uns herzlich, weil wir spürten, wie Frau Erdmann ihre Dankbarkeit für unsere Einsätze zeigen wollte. Sie nahm uns etwas unbeholfen in ihre Arme: „Es ist schön, dass ihr uns so helft. Ich hab noch was! Wollt ihr zum Essen bleiben?“

Wir waren hin und her gerissen zwischen Verwunderung, Begeisterung und dem Gefühl, eigentlich nach Hause zum Mittagessen gehen zu müssen. „Ja, gern,“ stotterte ich, „aber dann muss ich meiner Mutti Bescheid sagen! – „Ja, ich auch,“ riefen die anderen Kinder.

„Also, dann kommt in ein paar Minuten wieder!“ Frau Erdmann öffnete uns die Tür, und wir rannten davon, um zu Hause unsere frohe Botschaft zu verkünden. Es kostete uns zwar einige Überredungskunst, unsere Eltern davon zu überzeugen, dass wir unbedingt am Ostersonntag mit den Nachbarkindern essen müssen, aber sie sahen es schließlich ein.

Wir deckten bei Erdmanns gemeinsam den Esstisch mit einer unserer mitgebrachten Decken, verteilten die Papierservietten mit den bunten Osterhäschen, die ich mir aus dem Schrank meiner Mutti rasch noch eingeschoben hatte, stellten saubere Saftgläser dazu und holten mehr Stühle aus Veronikas Wohnung.

Wir freuten uns riesig, schon allein die Vorbereitung zu dem Osterfestessen miteinander gestalten zu dürfen.

Frau Erdmann hatte inzwischen eine große Portion Spaghetti in kochendes Wasser geschüttet, und wir rührten eine Tomatensauce aus dem Päckchen an. Herbert verteilte Sprudel und Apfelsaft.

Schließlich saßen wir einträchtig um den großen Tisch, und Frau Erdmann gab jedem von uns Spaghetti auf den Teller und goss Sauce darüber. Ich erinnere mich genau, wie ich mich in diesem Moment zu dieser Familie gehörig fühlte. Und ich sah, wie meine Freude und Freundinnen und sogar Herr Erdmann mit glücklichen Augen am Tisch saßen und aßen.

Veronika sagte: „Jetzt sind wir eine richtige große Familie!“

Und Frau Erdmann erwiderte: „Ja, und das haben wir euch zu verdanken!“

Dieser Ostersonntag war einer der Höhepunkte unserer Aktion Erdmann.

Etwa ein halbes Jahr später kam Herbert eines Tages zu uns und sagte traurig: „Mein Papa ist heute auf der Toilette gestorben. Er hat Schlaftabletten genommen und Alkohol getrunken!“ Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Ich weiß gar nicht, wie das mit uns weitergehen soll!“

Wir behielten unsere Aufräumarbeiten bei und veränderten sie nach Bedarf. Nach und nach hatten die anderen Kinder keine Lust mehr mitzumachen, und eine Zeit lang arbeitete ich allein bei Erdmanns. Aber dann wurde auch meine Belastung in der Schule größer, und ich beendete die Aktion Erdmann.

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Schöne Bescherung!

„Billa,” sagt die Mutter an der Wohnungstür, „ich geh mal rasch zu Frau Sandler hinüber und besorge noch Butter und Sahne. Das habe ich vorhin vergessen. Bleibst du so lange da? Dann können wir anschließend mittagessen, und später gehen wir zum Weihnachtsgottesdienst.”

Billa nickt nur leicht mit ihrem blonden Lockenschopf: „Ja, ja, ich muss noch meine Puppen fürs Fest umziehen!” Auf diese Gelegenheit hatte sie gewartet! Jetzt kann sie endlich nachschauen, ob ihr Plan funktioniert. Deshalb blickt sie kaum vom Boden auf, wo sie mit ihren puppenmütterlichen Aufgaben beschäftigt ist.

Billa wartet eine Weile, bis sie unten die Haustür zuklappen hört, dann geht sie zielsicher in Mamas Schlafzimmer. Ihr Herz pocht, weil sie ganz genau spürt, dass sie etwas streng Verbotenes vorhat. Aber sie kann die Spannung einfach nicht mehr aushalten.

Billa weiß, dass Mama im Schlafzimmerschrank ihre Geschenke versteckt, ganz oben in dem Fach, wo Kinder nicht hinaufreichen können. Billa zieht sich Mamas Stuhl vom Ankleidetisch heran, klettert hoch, öffnet die Tür, und da entdeckt sie genau, was sie vermutet hatte.

Viele kleine und größere Päckchen liegen da, bunt mit Weihnachtspapier dekoriert. Überall hängen die kleinen Schildchen dran mit den Namen der Menschen, denen Mama etwas schenken will. Und Billa muss gar nicht lange suchen. Ganz vorne liegt das Päckchen, das sie unbedingt sehen will. Genau hatte sie sich im Schaufenster des Puppengeschäftes Form und Größe der Schachtel eingeprägt. Es gibt nur ein einziges Paket in dem Schrank, das zu der Puppe passt, die sich Billa so sehnlich von Mama gewünscht hat. Und Mama hat „Billa” auf das Schild am Paket geschrieben. Alle anderen Päckchen interessieren Billa nicht.

Sie spürt, wie ihr die Freude ins Gesicht schießt und ihre Augen glücklich leuchten. Ja, ihr Plan wird gelingen! Sie hat es sich genau überlegt. Das wird ein wunderbares Fest werden.

Sie schließt die Tür des Schrankes, steigt vom Stuhl und geht wieder in ihr Zimmer. Als Mama zurückkommt, sind die Puppen mit ihren schönsten Kleidchen angezogen. „Das hast du aber schön gemacht,” lobt Mama. „Mit deinen sieben Jahren bist du schon eine prima Puppenmutter!”

Billa ist zufrieden mit sich, sie hat sich nichts anmerken lassen von ihrem heimlichen Blick in den Schrank. Sie hört nicht, dass Mama ins Schlafzimmer geht, um sich umzuziehen. Billa ist so sehr auf ihren Plan konzentriert, während sie auf dem Teppichboden mit ihren Puppen spielt, dass sie richtig zusammenzuckt, als Mama plötzlich neben ihr steht und mit strenger Stimme faucht: „Sybilla! Du warst am Schlafzimmerschrank!”

Oje, denkt Billa, wenn Mama Sybilla sagt, dann gibt´s fürchterlichen Ärger! Wie hat sie das bloß gemerkt? Billa weiß, dass ihr Gesicht wie eine rote Lampe leuchtet und sie verrät. Sie stottert nur: „Aber, Mama, ich wollte doch nur …” Weiter kommt sie nicht.

Mama schreit: „Du hast den Stuhl vor dem Schrank stehen lassen! Du hast mir das ganze Fest verdorben!” Sie packt Billa am Pulli und wirft sie sehr unsanft auf dem Boden um. Billa kann sich gerade noch abstützen, sonst würde sie mit dem Gesicht auf den Teppich fallen. Sie ist starr vor Schreck und spürt, wie die Angst vor noch mehr Streit sie lähmt. Sie kann gerade noch Clarissa, ihre Lieblingspuppe, in den Arm schließen, um sich bei ihr zu trösten.

Billa hört, wie Mama mit ihrer Wut ins Schlafzimmer rennt. Dort schlagen die umherfliegenden Päckchen auf den Boden, und dann kommt Mama mit stampfenden Schritten zurück zu Billas Zimmer. Billa sitzt auf dem Boden, als die Tür auffliegt und Mama von der Türschwelle her mit einem Schwung alle Geschenke so heftig vor Billa hinwirft, dass sie auf dem ganzen Zimmerboden herumkullern. Und Mama schreit aus vollem Hals und mit zitternder Stimme: „Sybilla, das war für dich Weihnachten!”

Billa erkennt gerade noch, wie Tränen über Mamas wutrotes Gesicht fließen. Da knallt die Tür ins Schloss, und Billa ist allein. Sie sinkt mit dem Schlag der Tür in sich zusammen wie ein platzender Luftballon. Erst nach einer ganzen Weile löst sich die Starre ihres Erschreckens, und sie beginnt zuerst zögernd und dann hemmungslos zu weinen. Ihre ganze Trauer fließt in das Kopfkissen.

Nur von weit dringt Mamas Schluchzen aus dem Wohnzimmer zu ihr. Billa hat schon oft seit dem Sommer erlebt, als Papi nicht mehr von der Geschäftsreise zurückkam, dass sie und Mama getrennt voneinander weinen und dann wieder zusammenfinden. Mama ist manchmal richtig ungerecht. Aber Billa spürt, dass Mama immer noch über Papis Tod sehr traurig ist. Es war ja auch schrecklich, als die Polizisten erzählten, er sei von einem Betrunkenen auf dem Gehweg überfahren worden. Und dann der Moment, als die Männer in den schwarzen Anzügen Papi im Sarg in die Erde versenkt haben! Bei diesem Gedanken schüttelt es Billa, und sie schluchzt noch heftiger.

Nach einer ganzen Weile wischt sich Billa ihre Tränen aus dem Gesicht, sie schnieft einmal kräftig die Nase hoch und schaut die Fotografie von Papi an, der sie von der Wand her anlacht. Sie löst das Bild vom Haken, legt sich damit auf ihr Bett und sagt: „Papi, bitte hilf mir. Ich hab´s doch nicht böse gemeint!”

Billa weiß in ihrem wunden Herzen, dass sie Mama unbedingt ihren Plan mit der Puppe erklären muss. Sie zieht sich das Paket, in dem die Puppe eingepackt ist, ins Bett und weint über Papi, über Mama und über den Schmerz, gerade an Weihnachten mit Mama Streit zu haben. Billa spürt die wühlenden Messer des Unrechts und die wohltuende Wärme der Erinnerung an glückliche Tage. Billa kann Mamas Wut und Traurigkeit kaum aushalten. Zum ersten Mal Weihnachten ohne Papi und ohne Omi! Und dann auch noch solchen Ärger!

Billa weint sich in den Schlaf. Es dauert einige Zeit, in denen Billa sich hin- und herwälzt, weil sie viele Bilder im Traum mit verwirrenden Gefühlen quälen.

Inzwischen legt der Schnee am Nachmittag einen weißen Teppich auf die Straßen und die Bäume, und die Kerzen in den Fenstern und auf den weihnachtlichen Tischen lassen ein warmes Licht in die Stuben strömen. Nur in Billas Zimmer wird es immer dunkler.

Sie hört nicht, wie leise die Tür aufgeht. Sie wacht erst auf, als Mamas Hand zärtlich über ihr Haar streicht: „Billa, es tut mir leid, ich wollte nicht so garstig zu dir sein.”

Billa schlingt dankbar ihre Arme um Mamas Hals und küsst sie. Mama drückt Billa an sich und sagt: „Weißt du, Billa, als Kind habe ich auch manchmal heimlich gespickt, welche Geschenke Omi verpackt hatte. Ich kann dich verstehen. Aber ich habe mich so geärgert, weil ich dich mit den Geschenken überraschen und dir eine Freude machen wollte.”

Billa schluckt, fasst sich ein Herz und gesteht: „Ich habe doch nur wegen Omi geschaut!”

Mama runzelt die Stirn: „Wegen Omi? Das versteh ich nicht!”

Billa rutscht näher zu Mama hin und erklärt ihr wie einer Mitverschwörerin: „Ich hatte doch einen Plan! Ich verrate ihn dir. Aber du darfst mir nicht böse sein! Versprichst du mir das?” Billa hielt Mama die offene Hand hin.

„Also gut, versprochen!” Mama nimmt zärtlich Billas Hand und schaut sie aufmerksam an, und Billa spürt, wie liebevoll Mama doch ist.

Billa erzählt: „Seit Omi im Pflegeheim liegt, besuche ich sie doch immer wieder mit Clarissa zusammen.” Billa deutet auf ihre Lieblingspuppe und fährt fort:

„Omi erkennt mich oft nicht, und fragt immer wieder, wer ich bin. Das ist doch so schlimm für mich. Erst wenn ich ihr sage, dass wir doch Billa und Clarissa sind, nimmt sie uns in den Arm und weiß dann, dass wir zu ihr gehören. Dann holt sie immer ganz vorsichtig Clarissa aus meinem Arm und streichelt sie. Und neulich hat Omi langsam gesagt: ´Mein ganzes Leben lang habe ich mir so eine schöne Puppe gewünscht wie deine Clarissa!´”

Billa macht eine kleine Pause und beobachtet neugierig, ob Mama jetzt den Plan schon erkennt. Mama nickt: „Und jetzt willst du …?”

„Ja,” sagt Billa begeistert, „und da hab ich gedacht, ich wünsche mir von dir die Puppe aus dem Laden und bringe Clarissa zu Omi, und dann hat Omi auch eine Puppe! Und vielleicht erkennt sie mich dann besser!”

„Oh Billa,” seufzt Mama und umarmt sie, „dann hab ich dir ja schrecklich Unrecht getan mit meiner Wut! Verzeihst du mir?”

„Ja, Mama!” Billa fühlt sich plötzlich so viel leichter! Jetzt wird ihr Plan doch noch Wirklichkeit werden, und Mama freut sich auch! Mit ihrer ganzen Begeisterung strahlt Billa: „Gehen wir nachher zu Omi und feiern mit ihr und mit Clarissa Weihnachten?”

„Aber gern, Billa!” lacht Mama. Doch dann fragt sie ernst: „Bist du dir sicher, dass du Clarissa hergeben willst?”

Billa nickt energisch mit dem Kopf: „Ja, Mama, das habe ich mir gut überlegt. Für Oma mache ich das gern. Und ich kann die beiden ja immer besuchen, wenn ich will. Ich verliere Clarissa nicht, sie wohnt nur in einem anderen Haus und macht Oma glücklich. Das ist doch gut, oder nicht?”

Auch Mama ist inzwischen ernst geworden und sagt nachdenklich: „Ja, Billa. Das ist sehr gut. Du hast es ganz richtig gedacht. Wir müssen jetzt in Zukunft immer gemeinsam entscheiden, damit wir miteinander unser Leben meistern. Und ich sehe schon, du bist ein sehr vernünftiges Kind, das auch mit dem Herzen denkt.”

Da schaut Billa Mama fragend an: „Erfüllst du mir noch einen Wunsch, Mama?”

Mama nickt: „Gern, wenn du noch so eine gute Idee hast!”

„Ja,” lacht Billa, „ich hab eine zweite Überraschung. Ich möchte jetzt einen geschmückten Zweig von unserem Weihnachtsbaum mitnehmen, mit dir im Schnee zu Papis Grab gehen und dort eine Kerze anzünden. Schau mal, was ich habe!”

Billa zieht eine Schublade an ihrem Schreibtisch auf und holt aus dem hintersten Eck eine Bienenwachskerze, auf die sie einen Weihnachtszweig geformt hatte: „Ich habe die Kerze selbst gegossen. Tante Bertel hat mir in ihrer Werkstatt gezeigt, wie das geht. Meinst du, Papi würde sich darüber freuen?”

Mama lächelt mit Tränen in den Augen: „Aber ja, Billa, du bist ein Schatz! Deine Pläne sind wunderbar. Genau so werden wir es machen!”

Billa umarmt Mama: „Ja, und dieses Bild von Papi nehmen wir zu Omi mit, dann sind wir alle beieinander!” Sie drückt Mama noch einen herzhaften Kuss auf die Wange und rennt hinaus an die Garderobe, um sich für den Besuch bei Papi und Omi warm anzuziehen.

Sie hört und sieht nicht, wie Mama auf dem Bett Papis Bild in die Hände nimmt und unter Tränen sagt: „Danke, dass ich dieses Kind von dir habe! So bist du immer bei mir!”

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht.

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Frederik schläft gefährlich

Frederik schläft gefährlich

„So, wenn wir mit dieser Partie fertig sind, gehen wir ins Bett!“, sagt Mama und legt noch zwei Patience-Karten an die Reihen auf dem Wohnzimmertisch. „Du kannst nicht jedes Mal, wenn du bei mir bist, so spät ins Bett gehen! Und ich bin müde!“ Sie gähnt herzhaft.

Frederik spürt den liebevollen und doch bestimmten Ton, den er an Mama mag, auch wenn er überhaupt nicht die geringste Lust hat, jetzt schon schlafen zu gehen. Denn er ist schließlich nie müde. Er trinkt den letzten Schluck aus dem Saftglas und versucht zu handeln: „Aber Mama, ich freue mich doch so aufs Wochenende mit dir, weil ich die ganze Woche bei Papa wohnen muss. Er war wieder so streng mit mir. Und seine neue Freundin spielt nie mit mir. Nur noch eine Partie, bitte! Ich habe morgen doch keine Schule!“

„Nein, Frederik, es ist schon elf Uhr. Großes Indianer-Ehrenwort, morgen spielen wir wieder. Es ist sowieso schlechtes Wetter angesagt. Da können wir draußen nichts unternehmen. Ich hab ja auch meinen Spaß daran, mit dir zu Karten zu spielen, wenn du zu mir kommst.“

Frederik vervollständigt eine Reihe mit seiner letzten Karten und triumphiert: „So, aber ich habe wenigstens gewonnen! Du hast noch einiges in der Hand!“ Er ist sichtlich erleichtert über den Sieg, schließlich gewinnt doch meistens Mama. „Weißt du,“, meint er nachdenklich, während er die Karten zum Stapel zusammenschiebt, „es ist schön, dass ich wenigstens bei dir im Zimmer schlafen darf. Gute Idee, dass du Papas Bett nicht fort gebracht hast, als er vor drei Jahren ausgezogen ist.“ Er strahlt Mama an.

Sie streichelt ihm über den blonden Schopf und lächelt: „Für mich auch, dann muss ich schon nicht alleine schlafen. Jetzt hab ich einen richtigen Mann, der mich bewacht.“

„Na klar, ich bin ja schon sieben!“ Frederik ist stolz und streckt sich gleich noch zwei Zentimeter in die Höhe: „Bald bin ich so groß wie du!“

Sie gehen miteinander ins Schlafzimmer hinauf, ziehen die Schlafanzüge an, waschen sich im Bad, und nach ein paar Minuten liegen sie einträchtig nebeneinander im ehemaligen Ehebett. Frederik kuschelt sich unter die Decke. Mama beugt sich über ihn und küsst ihn zärtlich auf die Wange: „Gute Nacht, Frederik, träum schön, und schlaf gut!“

Frederik schlingt seine Kinderarme um Mamas Hals und lacht sie an: „Das war wieder ein toller Abend! Ich habe gewonnen! Schlaf gut, Mama!“

Sie lösen sich voneinander, Mama löscht die Nachttischlampe, und schon nach wenigen Minuten hört Mama, wie Frederiks Atemzüge weich und gleichmäßig werden. Sie freut sich über den harmonischen Abend, den sie fast immer mit Frederik erlebt, wenn er am Wochenende kommt. Aber die Anstrengungen des Alltags fordern ihren Tribut, und langsam gleitet auch sie in einen wohl tuenden Schlaf.

Nach einigen Stunden nimmt sie halb wach wahr, dass Frederik leise seine Bettdecke beiseite schiebt, aufsteht, das Schlafzimmer verlässt und die Tür wieder hinter sich schließt. Mama dreht sich beruhigt um, weiß sie doch, dass er gleich wieder von der Toilette zurück sein wird.

Frederik geht langsam im Dämmerlicht des Mondes den Flur entlang. Die Gardinen bewegen sich sanft im Windzug, der durch den kleinen Spalt der gekippten Fenster hereinweht. Der Teppich schluckt die leisen Geräusche der Schritte, auch als Frederik sich am Geländer haltend die Treppe hinuntergeht. Er nimmt seine Jacke vom Kleiderständer, zieht sie an, öffnet die Haustür und tritt in den Vorgarten. Achtlos geht er an den Beeten vorbei, in dem die Sommerblumen schlafen, und hört das Knirschen des Kieses unter seinen Hauspantoffeln nicht.

Frederik schiebt das schmiedeeiserne Gartentor gerade so weit, dass er auf die Allee hinaustreten kann. Dann schlägt er den Weg nach rechts ein und marschiert zielsicher unter den hohen Buchen die Straße entlang. Immer wieder wird seine zierliche Gestalt von den Schatten der Bäume verschluckt. Einen Stein, der auf dem Weg liegt, kickt er mit geübtem Schwung an den nächsten Zaun.

In der Ferne schlägt ein Hund an, ein zweiter antwortet. Die Menschen in dem feinen Wohnviertel schlafen, die gepflegten Gärten saugen sich voll Tau, und Frederik kennt seinen Weg im Halbdunkel.

Er überquert die Straße und reagiert überhaupt nicht darauf, dass der Fahrer eines vorbeifahrenden Autos gerade noch im letzten Moment das Lenkrad herumreißen kann, um den Jungen nicht zu überfahren. Quietschend und schimpfend bringt der Autofahrer den Wagen auf Kurs.

Frederik nähert sich der Baustelle, an der er am Nachmittag mit seiner ganzen Faszination für Technik zugeschaut hat, wie die Bauarbeiter mit der Hilfe eines kleinen Kranes den großen Kran aufgebaut haben. Jetzt steht er auf dem Podest und streckt seinen langen Ausleger über das schwarze Erdloch. Im Mondlicht glänzt die Scheibe des Führerhauses, und eine Wolke schiebt ihren Schatten über die weißen Container. Hier wohnen die ausländischen Bauarbeiter, die Frederik den Zugang zum Kran verwehrt haben. Durch die offenen Türen konnte Frederik die schmutzigen Stockbetten, die herumliegenden Kleider und die leeren Bierflaschen auf den zusammenklappbaren Holztischen sehen.

Frederik geht an den geschlossenen Türen vorbei, hebt die rotweiß gestreiften Bänder vor dem Kran hoch und betritt den umgitterten Innenraum der Stahlkonstruktion, in dem die Leiter nach oben zum Führerhaus weißt. Nach kurzem Zögern fasst er die Leiter an, die zu der Kanzel hinauf führt, setzt einen Fuß vor den anderen und klettert langsam die schmalen Querstreben empor. Die wattebauschigen Sommerwolken ziehen ihre Bahn und begleiten Frederik mit ihren dunklen Schatten. Seine Jacke weht im Nachtwind. Er sieht nur die Leiterstäbe an seinem Kopf vorbei nach unten wandern, noch einen und noch einen.

Zwei junge Polizisten schlendern gemächlich auf die Baustelle zu. Sie kennen einander schon einige Jahre von der Polizeischule und dem gemeinsamen Dienst im gleichen Revier. Johannes lacht vor sich hin: „Mensch, Michael, Streife zu gehen in einer solch lauen Sommernacht ist wirklich erholsam! Heute ist ja wieder überhaupt nichts los!“ – „Ja, das ist prima!“, antwortet Michael, „Ich war den ganzen Nachmittag auf dem Fußballplatz, da kann ich ein bisschen Erholung gut gebrauchen!“

Johannes entgegnet: „Dann sollten wir mal schauen, ob die Arbeiter die Baustelle richtig gesichert haben. Das Loch ist ja riesig! Hoffentlich fällt da niemand rein!“ Er runzelt besorgt seine Stirn.

Michael fängt an zu spotten: „Na, irgendwohin müssen die Banken ihr Geld ja bauen. Das gibt wieder einen von den protzigen Palästen, in dem die armen Banker unser Geld aufbewahren müssen. Deshalb brauchen sie auch so viel Marmor, Granit und Glasfassaden. Kein Wunder, dass wir immer noch mehr Gebühren auf die Konten gebrummt kriegen!“ Er steht vor dem Bauschild, betrachtet im Mondlicht die Computerzeichnung des künftigen Gebäudes und schüttelt den Kopf: „Schau dir diesen Riesenkasten an! Und das mitten in einem Wohngebiet!“

„Das ist immer noch besser als ein Industriebau mit Gestank oder Lärm!“, beschwichtigt Johannes. „Du weißt doch, dass ein paar Leute nicht nur im Aufsichtsrat der Bank, sondern auch im Stadtrat sitzen. Beziehungen schaden schließlich nur dem, der sie nicht hat!“

Sie betreten das Grundstück und beginnen, mit den Lichtdolchen ihrer großen Taschenlampen die Baustelle abzusuchen. Die hellen Strahlen fuchteln über die schmutzigen Container und die grauen Stahlträger, die sorgfältig geordnet auf dem Boden liegen. Michael beobachtet im Lichtkegel eine Katze, die vor dem Betonmischer liegt, vom Licht erschrickt und schnell hinter einen Holzstoß vor dem Kran rennt.

In die Ruhe hinein hören die beiden Polizisten eine aufgeregte weibliche Stimme rufen: „Frederik! Frederik!“ Die Stimme kommt näher, die beiden Männer schauen einander fragend an: „Was soll das denn? Die hat ja richtig Panik!“

Michael schaut in die Richtung, aus der die besorgte Stimme durch die Nacht dringt. Nach kurzer Weile löst sich aus dem Schatten eine junge Frau, die auf die beiden Männer zurennt. Keuchend steht sie vor den Polizisten: „Haben Sie meinen Sohn gesehen? Er ist sieben Jahre alt und blond! “

„Nein, natürlich nicht, Sie sehen doch, dass hier alles ganz ruhig ist!“, wirft Johannes locker hin, aber dann nimmt er die Frau ernst und fragt besorgt: „Sie sind ja völlig durcheinander! Was ist denn los? Und überhaupt: Warum haben Sie denn nur einen Morgenmantel an?“

Die Frau fährt sich zitternd durch die wirren Haare und zieht den Gürtel des Morgenmantels fest: „Mein Junge ist ausgerückt, und ich suche ihn!“ Sie holt kurz Luft, dann sagt sie leise: „Es ist mir schrecklich peinlich, dass ich hier so auf der Straße stehe. Aber ich dachte, Frederik geht nur kurz auf die Toilette, als er das Bett verließ, und da bin ich wieder eingeschlafen. Erst als ich nach einer ganzen Weile bemerkte, dass er nicht im Bett war, wurde ich unruhig und suchte ihn im Haus. Dann stellte ich fest, dass die Haustür offen stand. Ich hatte vergessen, sie abzuschließen.“

Die Polizisten hören aufmerksam zu und versuchen, die Frau zu beruhigen: „Na, das wird nicht so schlimm sein. Hat er denn einen Grund abzuhauen? Haben Sie Streit gehabt?“

„Nein, ganz im Gegenteil, Frederik ist übers Wochenende immer bei mir, unter der Woche wohnt er bei seinem Vater. Ich habe mit Frederik ein sehr herzliches Verhältnis. Mit uns ist wirklich alles in Ordnung!“ Sie setzt den letzten Satz mit einem besonders kräftigen Nachdruck hinzu, aber dann zögert sie und ergänzt kleinlaut: „… höchstens, na ja, das sollten Sie vielleicht doch wissen …“ Sie macht eine Pause und tritt unschlüssig von einem Fuß auf den anderen.

„Ja, was denn, reden Sie schon!“ Michael drängt ungeduldig.

Sie seufzt: „Frederik ist Schlafwandler, und da hat er sich schon manchmal in Gefahr gebracht. Besonders wenn er aus dem Tiefschlaf aufwacht, ist er ganz verstört und braucht einige Zeit, bis er weiß, wo er ist. Da reagiert er manchmal sehr unkontrolliert.“ Sie beginnt zu weinen: „Ich hätte nicht vergessen dürfen, die Tür abzuschließen. Es ist alles meine Schuld!“ Die Männer sehen etwas verlegen zu, wie sich die Frau ihre Tränen am Ärmel des Morgenmantels abwischt.

Mehrere kurze und klingende Schläge wie bei einem schlecht gestimmten Glockenspiel lassen alle drei herumfahren, und sie hören, wie ein Gegenstand in dem Kran herunterfällt und an die Querstreben anprallt. „Was ist das denn?“, ruft Johannes, und mit wenigen hastigen Schritten steht er im Eingang des Krans und bringt einen Kinderhausschuh heraus.

„Das ist Frederiks Schuh!“ ruft die Frau. Johannes rennt zurück in den Turm, leuchtet mit seiner starken Taschenlampe senkrecht hoch und kann seinen Schrei kaum unterdrücken: „Und ganz da oben ist Frederik!“

Sie stehen fassungslos und eng nebeneinander im Fuß des Kranes und starren im Lichtkegel in die Höhe, wo sie nur schemenhaft sehen können, dass Frederik sich in etwa fünfzehn Meter Höhe an die Sprossen klammert und offensichtlich gar nicht bemerkt, dass er nur noch einen Schuh trägt.

Frederiks Mama steht mit vor Schreck geweiteten Augen neben den Männern, blickt in die Höhe, wo sie ihren Sohn kaum sehen kann, weil wieder eine Wolke ihn mit ihrem Schatten verdunkelt. Und weil Frederik einen dunkelblauen Schlafanzug und eine braunschwarze Jacke trägt, ist er wirklich kaum vom Nachthimmel zu unterscheiden. Mama kann nicht einmal mehr rufen, so sehr verschließt die Angst ihre Kehle.

Da gellt Frederiks Schrei durch die Nacht: „Mama! Mama!“

Die Mutter stößt hervor: „Um Gottes Willen, ausgerechnet jetzt ist er aufgewacht und ganz verwirrt!“

„Frederik, halt dich fest! Halt dich ganz fest. Ich bin da!“, brüllt sie mit ihrer ganzen Kraft ihm entgegen. Dann fleht sie die beiden Männer an: „Schnell, rufen Sie die Feuerwehr. Sie sollen ein Sprungtuch bringen!“

Sie rennt unschlüssig vor dem Kran hin und her, sie will Frederik sehen, ihm nahe sein, kann ihn aber aus der Entfernung besser beobachten, weil er schon so weit oben hängt.

Johannes überwindet den Schreck zuerst. Er sagt leise und eindringlich: „Ein Sprungtuch nützt hier überhaupt nichts, weil wir es nicht im Kraninnenraum aufspannen können. Dort ist es viel zu eng!“ Dann setzt er hinzu: „Und abgesehen davon: Wenn er fällt, ist er tot, bevor er unten ankommt, weil er gegen die Gitterstäbe des Turms schlägt!“ Kaum hat er es gesagt, bereut er den unklugen Satz schon. Er weiß, dass er Recht hat, aber so deutlich hätte er es auch nicht sagen müssen, jetzt, da Frederiks Mutter in heller Panik vor dem Kran steht.

Sie braucht einen kurzen Moment, bis sie den Satz mit all seinen Konsequenzen verstanden hat und fragt verzweifelt: „Wie können wir ihm denn jetzt helfen?“ Johannes deutet auf Michael: „Wir haben doch hier in Stuttgart die Höhenrettungsgruppe der Berufsfeuerwehr. Hol sie her und den Notarztwagen dazu! Ich geh hoch!“

Dann drückt er der zitternden Mutter die Taschenlampe und seine Uniformmütze in die Hände, reißt sich die Lederjacke vom Leib, um beweglicher zu sein. Frederiks Mutter klammert sich in ihrer Angst daran fest.

Johannes sagt mit freundlicher Bestimmtheit zu ihr: „Und Sie bleiben ruhig! Bitte!“

Dann hetzt er die Leiter hoch so schnell er kann, geübt vom Training in der Polizeischule. Gleichzeitig bemüht er sich, die Leiter nicht zu sehr zu erschüttern, um Frederik nicht noch mehr zu gefährden.

Frederiks Mama steht mit Johannes´ Utensilien in den Armen weinend vor dem Kran. Sie sieht und hört, wie Michael sein Sprechfunkgerät bedient und hineinruft: „Standort Plieninger Straße. Bei der großen Baustelle ist ein schlafwandelnder Junge in dem Kran hoch geklettert. Schickt sofort die Höhenrettungsgruppe und den Notarztwagen!“ Aus dem Lautsprecher kommt ein krächzendes: „Verstanden. Ende!“

Michael schaut Frederiks Mama an: „Gott sei Dank, die sind gleich da. Ist ja nicht weit! Wie heißen Sie eigentlich?“

„Rosemarie Brandauer.“ Die Stimme klingt verzagt. Und Frau Brandauer wendet keinen Blick von ihrem Sohn und dem Mann, der die Leiter hoch klettert. „Also ich bin Polizeiobermeister Grassler, und mein Kollege da oben ist Polizeihauptmeister Steinmann,“, sagt der Polizist höflich, aber Frau Brandauer hört es nicht. Sie starrt in die Richtung, wo sie ihren Sohn vermutet, der wieder mit aller Kraft schreit: „Mama, wo bist du?“

Jetzt hat Johannes Frederik erreicht. Er will sich vorsichtig von unten so an ihn heran schieben, dass er ihn umfassen und mit seinem Körper gegen die Leiter drücken kann.

Da rutscht Frederiks nackter Fuß wieder von der Leiter, und er stürzt mit einem Aufschrei an den Sprossen entlang abwärts. Nur Johannes´ Geistesgegenwart ist es zu verdanken, dass dieser automatisch seinen Körper gegen Frederik und diesen gegen die Leiter presst. Seine kräftigen durchtrainierten Arme sichern den Jungen nach der Seite. Frederik schreit auf. Sein Gesicht ist gegen die Leiter geschlagen. Johannes lockert den Griff leicht, um Frederik am Kopf Bewegungsfreiheit zu geben. Aber den Unterkörper hält er hart gegen den Jungen gepresst. Johannes spürt, dass das Gitterkäfig so eng ist, dass er sich mit dem Rücken gegen die Stäbe stemmen und so mehr Erleichterung und Unterstützung gewinnen kann.

Johannes ist völlig außer Atem, aber er zwingt sich, so ruhig wie möglich zu reden: „Frederik, ich bin da. Bleib ganz ruhig. Ich halte dich fest. Frederik, ich bin da.“

Frederik schreit: „Du tust mir weh! Lass mich los!“ Er versucht, sich zu wehren und zu befreien, aber Johannes klammert ihn so fest, dass Frederik gefangen ist. Johannes klemmt seine Schuhe zwischen die Leitersprossen, damit er Frederik sicher halten kann und bemüht sich ruhig zu bleiben: „Frederik, weißt du eigentlich, wo du bist? Schau mal herum!“

Frederik dreht den Kopf, und Johannes sieht, wie Frederik zuerst teilnahmslos in den Nachthimmel stiert. Dann schießt plötzlich der Schreck in seine Augen, und Frederik schreit in die Nacht: „Ich hab Angst! Ich will runter!“

Johannes bleibt ruhig, und seine Stimme klingt sanft an Frederiks Ohr: „Ich helfe dir, wenn du tust, was ich dir sage. Dann haben wir beide eine Chance, heil zu deiner Mama zu kommen. Halt dich fest!“ Er presst den Jungen gegen die Sprossen und schlingt seine Arme um die Leiter, weil seine Hände feucht werden.

„Wo ist meine Mama? Ich hab Angst!“ Jetzt zittert Frederiks Stimme, und er beginnt zu weinen. Er hat die tödliche Gefahr erkannt und klammert sich an die dünnen Sprossen.

„Sie steht da unten und schaut zu, ob du jetzt tapfer bist!“ Johannes nimmt alle Kraft zusammen, um den Jungen zu beruhigen. „Du musst jetzt zuerst ganz wach sein. Dann können wir weitermachen! Frederik, weißt du, wo du jetzt bist?“

„Ich will runter!“, schreit Frederik verzweifelt und versucht, sich aus der Umklammerung zu befreien. „Lass mich los!“

Johannes braucht seine ganze Kraft, um den tobenden Jungen zu bändigen und einen gemeinsamen Absturz zu verhindern. Er herrscht Frederik an: „Wenn Du jetzt nicht sofort aufhörst, fliegen wir beide runter und sind tot! Verdammt nochmal, ich will dir helfen! Sei endlich still und reiß dich zusammen! Ruhe jetzt!“

Das wirkt. Frederik weint leise vor sich, und Johannes spürt, wie Frederiks Körper weicher wird. „Aber du musst dich festhalten! Nicht loslassen!“, ermahnt er liebevoll den Jungen. Und Frederik packt wieder zu.

„Frederik, weißt Du eigentlich, wo du bist?“ fragt Johannes noch einmal. Frederik schluckt seine Tränen hinunter und antwortet zögernd: „Ja, ich bin auf den Kran geklettert. Und wer bist du?“ Seine Stimme klingt wieder fester, und das beruhigt den Polizisten. „Ich bin der Johannes, und ich helfe dir jetzt. Aber zuerst erkläre ich dir, was wir machen. Kannst du mir zuhören?“

Die Stille wird durch die Sirenen von Feuerwehr und Notarztwagen zerrissen, die fast gleichzeitig an der Baustelle eintreffen. Die Einsatzwagen halten mit quietschenden Reifen vor der Absperrung. Die Männer in ihren roten Overalls mit den Leuchtstreifen und den grasgrünen Bergsteigerhelmen springen aus dem Auto, der Fahrer bringt den Wagen in die richtige Position, lässt die seitwärtigen Stützen ausfahren, um dem Fahrzeug die nötige Stabilität für die Drehleiter zu gewährleisten, der Maschinist bringt sie mit Rettungskorb in Stellung, der Korb wird ausgeklappt, einer der Höhenretter lässt sich von Michael mit wenigen Worten rasch über die Situation informieren, klettert mit seiner kompletten persönlichen Schutzausrüstung hinein, sichert sich mit einem Gurt im Korb und einer zusätzlichen Leine bei dem Sicherungsmann neben dem Feuerwehrauto, befestigt noch zwei gering elastische Sicherungsseile für Frederik und seinen Retter, überprüft den Sprechkontakt mit dem Einsatzleiter, und schon schiebt sich die Drehleiter in den Nachthimmel. Der Höhenretter ruft noch herunter: „Wie heißt der Junge?“ – „Frederik!“, antwortet die Mutter sofort. Der Scheinwerfer auf dem Dach des Feuerwehrautos strahlt und begleitet den Feuerwehrmann in die Höhe.

Der Notarzt und die Rettungsassistenten beobachten das Geschehen aufmerksam. Im Moment können sie nichts für Frederik tun, aber der Arzt spricht mit Frau Brandauer und versucht, sie zu beruhigen.

Da fliegen die Türen der Wohncontainer auf, die Bauarbeiter stürzen mit zerzausten Haaren in Schlafanzügen oder teilweise auch nur mit einer Hose bekleidet heraus: „Was ist los?“, schreien sie. Die Lichter in den benachbarten Häusern gehen an, die Fenster werden geöffnet, ein lautes Stimmengewirr erfüllt die Nacht.

Aber eine Erklärung ist nicht nötig, denn die empor gleitende Leiter zeigt nur allzu deutlich, wo das Problem hängt. Dort oben in dem Krangitter knapp unter dem Führerhaus krallt sich ein kleiner Junge an die Leiter und wird von einem Polizisten nur mit Körperkraft gesichert. Und Frau Brandauer steht umringt von den vielen Menschen und kann vor Aufregung nicht reden. Sie klebt mit ihren Augen förmlich ihren Sohn an die Leiter.

Keiner der Umstehenden kann erkennen, dass sie voller Kummer darüber nachdenkt, wie sie um das Sorgerecht gekämpft hat. Und dann ist Frederik einmal nachts schlafwandelnd in ein Auto gelaufen, hat sich zwar nicht schlimm verletzt, aber ihr Mann warf ihr vor Gericht mangelnde Aufsicht vor und erreichte so, dass das Sorgerecht ihm zugesprochen wurde. Selbst wenn Frederik jetzt heil herunterkommt, wird sein Vater die regelmäßigen Besuche des Jungen bestimmt mit Gerichtsbeschluss untersagen lassen. Sie bricht in heftiges Weinen aus, und Polizeiobermeister Grassler ist hilflos: „Es wird bestimmt alles gut. Warten Sie nur ab.“

„Frederik, ich bin dein Freund!“ Johannes redet langsam, und Frederik fasst Vertrauen: „Schaffen wir das? Was muss ich tun?“ Er ist jetzt wach und versteht, dass es um sein Leben geht.

Johannes redet ganz sachlich: „Pass auf, Frederik, siehst du jetzt den Feuerwehrmann in dem Rettungskorb? Der wird ganz nah hierher kommen und uns helfen.“

„Ja, ich sehe ihn. Was muss ich tun?“ Frederik zittert, aber er wird langsam ruhiger.

„Wir müssen jetzt überlegen, wie wir uns am besten sichern können, wenn wir hinuntersteigen. Der Feuerwehrmann bringt Rettungswesten für uns mit. So etwas hast du bestimmt schon mal im Fernsehen beim Bergsteigen gesehen.“

Johannes ist froh, dass er jetzt mit Frederik vernünftig reden und wenigstens teilweise auf seine Hilfe bauen kann.

Frederik fängt an zu frieren: „Wenn du mir hilfst, kann ich ja langsam absteigen. Aber ich habe schreckliche Angst!“

Johannes spürt sein eigenes nasses Hemd auf dem Rücken kleben, und der Schweiß rinnt über sein hochrotes Gesicht. Oje, wenn der Junge wüsste, dass ich auch Angst habe, schießt ihm durch den Kopf. Ich muss mich zusammennehmen, sonst dreht Frederik durch! Nur jetzt keine Angst zeigen!

Sie beobachten beide, wie die Feuerwehrleiter sich immer näher heran schiebt und der Mann den Rettungskorb über Sprechfunk genau neben das Krangitter dirigiert. Als er in Reichweite neben Frederik und Johannes angekommen ist, sagt der Feuerwehrmann halb scherzend: “Hallo, Frederik, ich bin der Jürgen, jetzt dauert´s nicht mehr lang, dann kannst du wieder ins Bett gehen. Ich habe dir was mitgebracht!“

Er reicht vorsichtig eine Rettungsweste durch die Stahlstäbe herein und sagt zu Johannes: „Zuerst sichern wir den Jungen, dann dich, und dann komm´ ich zum Abseilen rein! Einverstanden?“ Johannes nickt und sagt: „Ich hätte ja nicht gedacht, dass ich so schnell zu einer praktischen Übung eurer neuen Gruppe komme! Kannst du Frederik die Weste anlegen? Ich halte ihn!“

Während Johannes sich nach hinten abstützt und sich mit seinen Schuhabsätzen in die Leitersprossen einhakt, getraut er sich, mit einer freien Hand dem Feuerwehrmann zu helfen. Sie umschlingen Frederiks Körper mit raschen und geübten Griffen so sachkundig mit dem reißfesten Plastiktuch, das an den Schlaufen der drei Enden in einen Karabinerhaken gehängt wird, dass Frederik wie in einem sicheren Sitz mit Gesäß und Oberkörper eingebunden ist. Die Leine befestigt der Feuerwehrmann an einer Querstrebe des Kranes.

Frederik erkennt erleichtert, dass die Gefahr kleiner wird: „Und die Leine hält, wenn ich falle?“, fragt er unsicher.

„Aber ja!“, lacht Jürgen. „Ich habe für deinen Retter auch eine Weste mitgebracht. Sie hält sogar ihn.“ Aber Johannes sagt zu ihm: „Wenn du Frederik abseilst, brauche ich keine Sicherung. Dann kann ich allein absteigen.“

„Einverstanden!“, sagt Jürgen. Aber ich lege dir trotzdem eine Rettungsweste an und sichere dich mit einer Leine. Lieber ein bisschen zu viel Vorsicht als zu wenig.“ Mit wenigen Handgriffen ist Johannes gesichert, und er atmet erleichtert auf.

„Wie weit seid ihr?“, schnarrt es aus dem Sprechfunkgerät am Rettungskorb. „Ich beide gesichert und steige jetzt in den Kran!“, antwortet der Feuerwehrmann und befestigt Umlenkrollen für sein, Johannes´ und Frederiks Sicherungsseil am Krangitter. Dann klettert er über den Rand des Korbes durch das Gitter oberhalb von Frederik und Johannes in das Innere des Krangitters. Dort verbindet er Frederiks Karabinerhaken mit seinem eigenen, so dass sie beide aneinander fixiert und über die Leinen am Kran und über die Umlenkrolle nach außen zum Sicherungsmann am Boden gesichert sind.

„Hast du aufgepasst, Frederik?“, fragt er. „Du siehst, wir sind jetzt ganz sicher. Du kannst mit mir langsam abwärts gleiten. Durch dieses Abseilgerät hier vor meinem Bauch läuft unser Hauptseil, und ich kann genau steuern, wie schnell wir miteinander hinunter fahren. Und mit dir mache ich das ganz vorsichtig!“

Frederik staunt und traut der Rettung noch nicht völlig: „Hängen wir dann richtig in der Luft?“

„Ja, natürlich könnten wir uns in der Luft abseilen!“, meint Jürgen. „Aber du kannst dich mit deinen Händen gegen die Gitterstäbe ein bisschen abstützen oder dich an meinen Schultern halten, du musst mir nur die Hände frei lassen. Ich pass auf dich auf. Alles klar?“

„Ja!“, sagt Frederik. Er gewinnt immer Vertrauen zu seinen Rettern.

„Jetzt mach dich mal dünn!“, sagt Jürgen zu Johannes. „Ich muss an dir mit Frederik vorbei.“ Johannes presst sich eng in ein Eck auf der Leiter, um nicht im Weg zu sein. Jürgen dosiert vorsichtig an seinem Abseilgerät vor dem Bauch die Sinkgeschwindigkeit und schiebt sich mit Johannes Unterstützung langsam mit Frederik vorbei.

Johannes ist erleichtert, dass er den Jungen nicht mehr halten muss und atmet zuerst einmal ruhig durch, entspannt seine Muskulatur, soweit es eben in dieser Lage geht und steigt dann ebenfalls langsam die Leiter abwärts.

Die Menschenmenge am Boden verfolgt den Abstieg mit großem Interesse. Alle starren gebannt in die Höhe. Die Spannung ist unerträglich, besonders für Frau Brandauer. Sie seufzt: „Ich halte das nicht aus! Wie lange dauert das denn noch?“

Michael beruhigt sie: „Jetzt kann eigentlich nichts mehr passieren. Sie sind beide gut gesichert, und Johannes ist ein hervorragender Sportler. Frederik wird gesund hier unten ankommen. Und die Männer von der Höhenrettungsgruppe sind sehr gut trainiert. Sie haben uns Polizisten neulich mal mit ein paar Übungen ihre Möglichkeiten demonstriert, damit wir wissen, wann wir sie rufen können. Jetzt erlebe ich sie zum ersten Mal im echten Einsatz.“

Inzwischen erkennt Frederik, dass es tatsächlich ganz einfach ist, mit Jürgen abwärts zu fahren und sagt verwundert: „Das ist ja wie im Aufzug!“ – „Ja, das stimmt, Frederik, und wir sind gleich unten, schau mal, nur noch ein paar Meter.“ Jürgen kommt zuerst am Boden auf, nimmt Frederik in seine Arme, stellt ihn auf die Füße und dreht ihn zu seiner Mutter hin, die vor dem Kraneingang steht und die beiden Kletterer umarmen will.

Aber Jürgen sagt lachend: „Moment mal, wir sind noch angeseilt. Wir müssen uns zuerst befreien.“ Er schnallt Frederik und sich los, entfernt die Rettungsweste vom Haken und ruft dem Sicherungsmann am Wagen zu: „Danke! Leinen hoch!“ Da kommt auch schon Johannes aus dem Kraneingang. Die Strapaze und die Freude über die gelungene Rettung sind ihm anzusehen. Er strahlt und sagt: „Eigentlich ein ganz gutes Gefühl, so einen festen Boden unter den Füßen zu haben!“ Er öffnet seinen Karabinerhaken an der Rettungsweste, reicht sie einem Feuerwehrmann und gibt das Seil frei.

Frederik umklammert voll Freude seine Mama. Sie kann kein Wort sprechen. Die Menschenmenge klatscht begeistert. Einigen der harten Bauarbeiter und der Nachbarn stehen Tränen der Erleichterung in den Augen.

Der Notarzt beobachtet mit Freude die Szene und sagt zu Frau Brandauer: „Das ist ja wirklich noch einmal gut gegangen, herzlichen Glückwunsch! Jetzt brauchen Sie mich ja nicht mehr. Gute Nacht!“ Er verabschiedet sich mit einem Kopfnicken von der Rettungsmannschaft und verlässt das Gelände.

Michael umarmt Johannes und klopft ihm auf die Schultern: „Prima gemacht! Ich bin stolz, solch einen Freund zu haben!“ Er gibt ihm die Lederjacke und die Mütze zurück. Johannes schluckt und atmet tief durch: „Das war der schwierigste und beeindruckendste Einsatz meines Lebens!“ Die ganze Anspannung, Freude und Erleichterung der vergangenen halben Stunde stecken in diesem Satz. Johannes setzt sich auf einen Holzbalken am Boden, Jürgen nimmt neben ihm Platz und reicht ihm die Hand: „Danke für die gute Zusammenarbeit!“ Johannes lacht: „Ganz meinerseits. Das ist ja prima, dass wir euch Höhenretter hier haben!“

In diesem Moment knattert das Blitzlichtgewitter los, und die Fotografenmeute drängt sich vor, stürzt sich auf die Geretteten. Frau Brandauer hält die Hände schützend über Frederik und ruft: „So lassen Sie uns doch in Frieden, reicht es nicht, was wir gerade durchgemacht haben?“

„Wir bringen die Story und die Bilder noch in die Morgenausgabe!“, brüllt einer der Reporter, boxt die Kollegen rüde zur Seite und blitzt Frau Brandauer und dem weinenden Frederik mit der automatischen Kamera ratternd ins Gesicht.

Das ist zu viel für Frau Brandauer. Sie dreht mit einer heftigen Bewegung den Oberkörper und schlägt dem Fotografen die Kamera aus der Hand: „Hören Sie auf, Sie Scheusal! Haben Sie denn keinen Funken Mitgefühl im Leib?“ Sie stürzt sich auf den verblüfften Mann und knallt ihm eine schallende Ohrfeige.

Das nächste Blitzlicht zischt. Frau Brandauer fährt herum: „Noch mehr Verrückte?“, schreit sie und rast wie ein angeschossenes wildes Tier auf den anderen Fotografen los. Johannes springt auf und stellt sich ihr in den Weg, packt sie an den Schultern: „Halt, so nicht!“ Und mit einer Drehung zu den Fotografen sagt er streng: „Keine Fotos mehr, bitte!“

Seine Stimme schneidet scharf in die wütende und aufgeheizte Stimmung, und die Fotografen lassen resigniert die Apparate sinken. Man sieht den Gesichtern an, dass sie verärgert sind über die Störung. Das hätte solch gute Sensationsbilder abgegeben!

„Man wird ja noch fotografieren dürfen!“, mault der geohrfeigte Mann, hebt seine Kamera vom Boden auf und wischt den Lehm vom Gehäuse. Er schnauzt Frau Brandauer an: „Sie können mich doch nicht an der Ausübung meines Berufes hindern. Das gibt eine Anzeige wegen Körperverletzung! Verlassen Sie sich darauf!“

Frau Brandauer holt Luft, will zurück schreien, aber Johannes schneidet ihre Antwort ab: „Ruhe jetzt!“ Er lockert den Griff bei Frau Brandauer langsam und vergewissert sich, dass sie den Kameramann nicht wieder angreift.

Da löst sich aus der Menschenmenge eine junge Frau in Jeans, Pulli und heller Windjacke und geht langsam auf Frau Brandauer zu. Sie trägt ein kleines schwarzes Kästchen umgehängt an der Schulter und in der Hand ein Mikrophon. Freundlich sagt sie: „Ich bin Karin Schneider-Jahn von der Rundschau. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“

Frau Brandauer zuckt zusammen, und nach kurzem Zögern sammeln sich Tränen in ihren Augen. Sie schüttelt den Kopf: „Nein, bitte nicht. Bitte lassen sie uns jetzt in Ruhe. Vielleicht morgen. Wir müssen das Ganze zuerst mal verdauen. Ich möchte mit Frederik allein sein und nach Hause gehen!“

Die Reporterin nickt verständnisvoll und steckt das Mikrophon weg. Wie soll ich das wieder meinem Chef erklären, denkt sie, aber der hat ja diese wütende Frau nicht erlebt! So mache ich in unserem Blatt nie Karriere, wenn ich auf die Gefühle der Leute Rücksicht nehme.

Frau Brandauer nimmt Frederik schützend in ihre Arme, der immer noch barfuß neben ihr steht und sich zitternd an sie klammert. Sie schaut ihn an, bückt sich zu ihm hinunter und lächelt ihn an: „Eigentlich müsste ich ja mit dir schimpfen, aber ich bin so froh, dass du so tapfer warst und dass du gesund bist.“

„Ja, Mama!“ sagt Frederik, der seine Fassung wieder gefunden hat. „Johannes und Jürgen haben mir geholfen!“ Er deutet auf seine Retter und streckt ihnen seine Kinderhände entgegen: „Danke! Ihr seid prima Typen!“

Johannes und Jürgen sind etwas verlegen, so vor der ganzen Menschenmenge von einem Kind gelobt zu werden, lächeln zurück und drücken Frederiks Hände. Johannes sagt: „Ich bin froh, dass wir´s miteinander geschafft haben! Du bist auch ein prima Typ.“ Und er fügt schmunzelnd hinzu: „Aber hier unten gefällst du mir viel besser als da oben!“

„Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, dass Sie meinen Jungen gerettet haben!“ Frau Brandauer schaut die beiden Männer an: „Vielen, vielen Dank!“

„Mama,“, sagt Frederik plötzlich „das muss ich unbedingt Papa erzählen!“ Frau Brandauer erschrickt: „Bitte nicht, Frederik, ich hab große Angst, dass er dich vielleicht nie wieder zu mir lässt. Ich habe doch vergessen, die Haustür abzuschließen. Er ist bestimmt ganz furchtbar böse, wenn er erfährt, dass ich nicht gut genug auf dich aufgepasst habe.“

Frederik überlegt kurz, dann streckt er seine Hand aus: „Also, großes Indianer-Ehrenwort: Ich erzähle es ihm nicht! Ich will doch immer wieder zu dir kommen!“

„Danke, Frederik, hoffentlich klappt´s!“ Frau Brandauer ist im Moment erleichtert und drückt Frederik an sich. Dann sagt sie: „Ich glaube, wir sollten jetzt mal nach Hause gehen.“

Jürgen lacht: „Na, ich denke, dafür haben wir ein Feuerwehrauto. Wir setzen Sie auf unserem Rückweg zu Hause ab. Frederik ist bestimmt noch nie in solch einem Einsatzfahrzeug gefahren!“ Und jetzt leuchten Frederiks Augen.

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht.

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Die Predigt

Am Adventskranz auf dem alten und mit Büchern übersäten Schreibtisch spendet die eine brennende Kerze ein warmes Licht, und Pfarrer Haslacher muss seine Arbeitslampe einschalten, um bei dem Schneetreiben draußen genügend Helligkeit im Zimmer zu haben. Er sitzt wie immer samstags auf dem abgewetzten Ledersessel über seiner Predigt für den Sonntagsgottesdienst. Morgen, am zweiten Advent will er wieder seiner Gemeinde die frohe Botschaft berichten und die Hoffnung auf ein friedliches Leben vermitteln. Es sollte sein letztes Weihnachtsfest werden, das er noch im Amt verbringt. Denn das Neue Jahr wird er als Rentner begrüßen. Er freut sich schon auf die freie Zeit, in der er sich seinen Liebhabereien widmen kann. Und er will seine letzten Predigten noch einmal neu erdenken und frisch schreiben, nicht auf die wertvolle Sammlung zurückgreifen, die er im Laufe seines langen Dienstes zusammengetragen hat. Aber heute fließen seine Gedanken nicht so leicht auf das Papier wie sonst.

Jetzt steht der Pfarrer auf, legt sein halb volles Blatt mit einer ruckartigen und ärgerlichen Bewegung auf die Seite. Er kann es überhaupt nicht leiden, wenn er nicht sofort die zündende Idee für seine Predigten hat. Also zieht er ungeduldig die Schneestiefel und den Mantel mit dem hohen Kragen an und setzt den schwarzen Hut mit der großen Krempe auf. Der Pfarrer denkt an die alte und kranke Frau Bramberger. Heute morgen war er bei ihr auf dem Bauernhof und hat ihr Trost gespendet. Er will jetzt die zwei Kilometer zum Hof durch den Schnee zu Fuß gehen und schauen, ob sich ihr Zustand verschlechtert hat. Er hofft, dass ihm unterwegs in der klaren Luft, im leisen Schneetreiben die richtigen Gedanken zugetragen werden, mit denen er morgen seine Predigt bereichern kann. Aber er stapft ergebnislos und unbefriedigt in die Hofeinfahrt, schüttelt den Schnee und seine Unzufriedenheit unter dem Vordach des Hauses ab, klopft laut an die schwere Eichentür mit den reichen Verzierungen und wartet. Aber niemand antwortet. Nach nochmaligem Pochen öffnet er schließlich die Tür und betritt den grauen Steinboden im Vorraum des alten Bauernhauses.

Er bleibt stehen, weil er ein lautes Geschrei und Geräusche von eilig hin und her rennenden Menschen hört. Durch die verschlossene Türe im Obergeschoss kann er nur ein heftiges Stimmengewirr wahrnehmen: „Bleib stehen!” – „Jetzt hab ich dich!” – „Verflucht nochmal, schon wieder weg!” Und dazwischen mischen sich viele Sätze, die er gar nicht verstehen kann. Er hört nur noch das gellende Schreien der alten Frau Bramberger: „Nicht zu mir auf´s Sofa, nicht zu mir auf´s Sofa!”

Der Pfarrer zuckt zusammen und überlegt kurz, wie er auf diesen Tumult reagieren soll. Was geht denn da vor? Er entschließt sich, die Treppe hinaufzugehen und nachzuschauen. Deshalb betritt er ohne Klopfen das Wohnzimmer. Es hätte ihn bei diesem Krach ohnehin niemand gehört.

Das Bild, das er sieht, verwirrt ihn noch mehr. Der alte Herr Bramberger und sein Sohn, der den Hof führt, krabbeln schreiend auf den Knien durchs Zimmer: „Halt, bleib doch stehen!” Die junge Frau Bramberger kreischt: „Euch kann man ja überhaupt nichts machen lassen, jetzt haben wir den Salat!”

Und die beiden Kinder rennen von einer Zimmerecke in die andere. Erst als Pfarrer Haslacher genauer hinschaut, sieht er, dass die kleine Franziska und ihr Bruder Peter Salatblätter in der Hand halten und damit in der Luft herumfuchteln und „Wuschel! Wuschel!” rufen.

Automatisch geht der Pfarrer ganz verwirrt von dem hektischen Geschrei und dem lauten Tumult auch auf die Knie und schaut auf dem Boden herum, um endlich zu verstehen, was eigentlich der Grund für die Aufregung ist.

Da huscht plötzlich ein braunes Wollknäuel unter der schwarzen Eichenkommode hervor und hetzt unter die Eckbank. Der junge Herr Bramberger stürzt sich nach vorn, um das flüchtende Tier zu packen, schlägt aber mit der Stirn an die Holzkante, auf der ein hellroter Fleck hängen bleibt. „Verdammt, du Mistvieh!”, flucht er und wischt sich über die schmerzende Stirn. Da sieht er seine blutverschmierte Hand, verdreht die Augen und fällt totenbleich mit einem lauten Poltern auf den Boden.

„Um Gottes Willen, Herbert!”, schreit seine Frau und beugt sich erschrocken über ihn. „Schnell einen Arzt, ich glaub´, er ist ohnmächtig!” Sie tätschelt die Wangen ihres Mannes, der flach atmend und langgestreckt auf dem Teppich liegt. Aus der Platzwunde fließt das Blut langsam über die Schläfe und bildet einen roten Kreis auf den hellgrauen Läufer.

Die alte Frau Bramberger sieht sehr schlecht, und tagsüber liegt sie auf dem Sofa im Wohnzimmer, um am Familienleben teilnehmen zu können. Sie hat nur das Rumpeln gehört und ruft entsetzt in die ruhige Schrecksekunde: „Was ist denn jetzt los?” Da gibt ihr Herr Haslacher die Antwort: „Der Herbert ist ohnmächtig geworden!”

„Oh Gott, der Herr Pfarrer!” ruft da die junge Frau Bramberger ganz erschrocken und fährt herum. „Wie sind Sie denn rein gekommen? Schnell, helfen Sie uns! Herbert hat die Käfigtür offen gelassen, deshalb ist unser Hamster entwischt. Seit einer halben Stunde jagen wir hinter ihm her, und jetzt hat sich Herbert die Stirn angeschlagen!” Sie deutet hilflos auf ihren Mann.

„Lassen Sie mich mal sehen!” sagt Herr Haslacher beruhigend. Er beugt sich über den jungen Bramberger, der stöhnend die Augen aufschlägt: „Oh mein Kopf tut so weh!” Der Pfarrer zieht ein sauberes Taschentuch aus der Hose und legt es mit sanftem Druck auf die Wunde: „Na also, gar nicht so schlimm, Sie sind ja wieder da! Bleiben Sie liegen. Ich schau mal die Wunde an.” Er nimmt langsam das Tuch zur Seite und sieht den klaffenden, blutenden Riss. Während er das Tuch wieder darüber deckt, sagt er ruhig und bestimmt: „Das muss man nähen. Jetzt verbinden wir den Kopf und bringen Ihren Mann nachher zu Dr. Semling.”

Frau Bramberger holt den Verbandskasten aus der Kommode, und der Pfarrer wickelt etwas umständlich die lange weiße Binde so breit um Herberts Kopf, dass jeder Betrachter sofort an eine schwerwiegende Verletzung denkt.

In diese fast andächtige Stille hinein hören und sehen die Brambergers und der Pfarrer plötzlich verblüfft, wie Wuschel zielstrebig aus seinem Versteck heraus quer durch´s Zimmer zu seinem Käfig trippelt und am Futternapf zu fressen beginnt, als sei nichts geschehen. Peter schließt das Türchen und schaut seinem Liebling glücklich zu.

Der Pfarrer unterhält sich noch mit der kranken Frau Bramberger und stellt beruhigt fest, dass es ihr wieder besser geht. Die Aufregung hat ihrem Kreislauf gut getan. Und als die junge Frau Bramberger ihren Mann mit dem Auto zum Arzt bringt, steigt der Pfarrer gern ein und lässt sich vor seinem Haus absetzen. „Danke, dass ich dabei sein durfte!” sagt er zum Abschied, und Frau Bramberger erwidert: „Danke, dass Sie den Verband angelegt haben! Bis morgen!”

Mit ruhigem und sicherem Schritt geht der Pfarrer zufrieden in sein Arbeitszimmer, legt die Winterkleider ab und setzt sich lächelnd an den Schreibtisch. Jetzt hat er seine Idee. Nach kurzer Zeit ist die Predigt notiert und besitzt klare Gestalt.

Am nächsten Morgen sitzen die jungen Brambergers beim Adventsgottesdienst. Herr Bramberger trägt ein kleines Pflaster auf der Stirn. Die Gemeinde und besonders natürlich die Brambergers sind ganz überrascht, als der Pfarrer berichtet, wie er gestern eine Hamsterjagd erlebt und dabei etwas sehr Wichtiges gelernt hat. Herr Haslacher kommt zum wesentlichen Teil seiner Predigt:

„Ich glaube, dass jeder von uns seinem eigenen Hamster nachjagt. Und je mehr wir uns unkontrolliert anstrengen, um so weniger erreichen wir unser Ziel. Wir verlieren in der Hektik den Überblick und vergeuden unsere Energie für Unnützes. In der Eile liegen Fehler. Wer es eilig hat, sollte langsame Schritte machen. Die Energie, die wir einsetzen, um ein Ziel zu erreichen, ist oft das Hindernis auf diesem Weg.

Und wir werden von einer Energie getrieben, die oft ins Unheil führt: Sie heißt bei dem Einen zum Beispiel Neid, bei den anderen Eifersucht, Ärger, Habgier, Angst oder Geltungsdrang. Oder sie wird bei manchen von uns unter dem Deckmäntelchen des Helfenwollens verborgen und heißt in Wirklichkeit Macht ausüben und abhängig machen. Und diejenigen, die vor lauter Arbeit überhaupt keine Zeit mehr haben für sich und andere und für ihren Fleiß auch noch belohnt werden mit Ansehen und Geld, entdecken vielleicht zu spät, dass sie auch süchtig sind. Und das heißt in Wirklichkeit suchend.

Wir alle suchen. Wir werden mehr oder weniger gedrängt und besessen von dieser Energie und verlieren die Kontrolle über unsere Tätigkeit, mit der wir ständig das vermeintliche Glück erhaschen wollen. Dann glauben wir, immer mehr von dieser Aktivität sei richtig und es würde am Ende den gewünschten Erfolg bringen.

Jesaja hat in Kapitel 30, Vers 15 gesagt: ´Durch Umkehr und Ruhe halten werdet ihr gerettet werden, im stille Sein und Vertrauen besteht eure Kraft.´

Denkt daran: Wir haben dem Hamster gezeigt, was wir von ihm wollten, aber er ging von allein in den Käfig, als er wollte und wir nicht mehr auf ihn konzentriert waren.

Das Wesentliche im Gebet liegt darin, dass wir einen Wunsch, eine Bitte äußern und sie dann loslassen. Erst dann kann sie sich erfüllen. Besser gesagt: ER kann sie erfüllen. Das meinen wir mit dem Satz: ´Dein Wille geschehe.´

Deshalb bitte ich euch, jetzt eine Minute in aller Stille darüber nachzudenken, wie euer Hamster heißt. Wie heißt die Energie, die euch in die Hektik, ins Unkontrollierte, in das sprichwörtliche Hamsterrad treibt?

Und ich wünsche euch die Gnade, eure wahre Stärke in der Ruhe zu erkennen und richtig zu nützen. Dann spürt ihr Christi Kraft, seinen Advent, seine Ankunft. Amen.”

 

Diese  Geschichte habe ich in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht.

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