Die Flucht

Auf der Flucht

„Nur weg von diesem Tag! Schnell raus aus dieser Katastrophe ins Ferienhaus zu Maria! Gott sei Dank ist sie voraus gefahren!”

Er erinnert sich an den liebevollen Blick seiner Frau heute morgen bei der Verabschiedung, als er in die Klinik fuhr. „Pass gut auf dich auf!” hatte sie ihm zärtlich ins Ohr geflüstert. „Ich freue mich auf dich heute Abend! Ich fahre schon an den See, und du kommst nach, wenn du in der Klinik mit den Operationen fertig bist. Wir werden ein glückliches Wochenende haben!”

Und dann kam alles ganz anders als geplant!

Jetzt jagt er seinen Porsche Carrera rücksichtslos wie bei einem lebensentscheidenden Kampf durch den Wolkenbruch über die Autobahn. Die Scheibenwischer hetzen hinter den herunterprasselnden Regenmassen her. Er sieht nur wenig von der schwarz glänzenden Straße. Grelle Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos blen­den ihn, weil die Trennlamellen auf dem Mittelstreifen fehlen. Trotzdem tritt er das Gaspedal fast bis zum Anschlag durch. Der Sportwagen reißt die Wasserdeck von der Straße. Einen Moment lang tauchen Bilder aus den Sommerwochen am Mittelmeer vor seinem inneren Auge auf. Da zwang er sein getuntes Rennboot auch mit höchster Drehzahl über die Wellen.

Er ist ständig in Hochspannung und sprungbereit. Deshalb fährt er sein Leben schon immer wie den Rennwagen: mit vollem Risiko im roten Bereich.

Bei der Operationsbesprechung gestern hatte er mit seinem Oberarzt, Professor Münchinger, den bevorstehenden Eingriff bei der Frau des Ministerpräsidenten diskutiert. Außerdem erklärte er ihr und ihrem Mann: „Eine Operation der Bauchschlagader an dieser Stelle direkt am Abgang zu den Nieren bei solch einer starken Ausbuchtung der Gefäßwand ist riskant.”

Frau Schreiner zuckte zusammen und wischte sich ihre Tränen aus den Augen: „Aber, Herr Professor Bader, wenn Sie mich nicht operieren, kann es doch sein, dass das Gefäß bei der nächsten Anstrengung platzt und ich verblute!”

Der Professor ließ ihre schwankende Stimme auf sich wirken, und er nickte nachdenklich: „Ja, grundsätzlich ist das möglich. Deshalb schlage ich vor, dass wir den Eingriff unter optimalen Bedingungen vornehmen und eine Kunststoffprothese einsetzen.”

Herr Schreiner legte seine Hand auf den Unterarm des Professors und sagte ernst: „Wenn wir Sie nicht hier an der Uniklinik hätten, würde ich mir große Sorgen machen um meine Frau. Sie haben alles ausführlich mit uns besprochen. Wir vertrauen Ihnen. Nicht wahr, Nina?”

Er schaute seine Frau liebevoll an, und sie nickte mit einem Seufzer: „Hoffentlich geht es gut. Sie werden mich wieder gesund aufwachen lassen! Unsere Kinder sind noch klein!”

Nach einem kurzen Zögern setzte sie hinzu: „Und Michael braucht mich besonders, er ist doch behindert auf die Welt gekommen. Was soll aus ihm werden, wenn ich nicht mehr da bin?” Sie putzte sich auffällig lange die Nase und wischte sich ganz unauffällig noch über die Augen.

„Ja,” bekräftigte Herr Schreiner, „und ich brauche dich auch!” Er streichelte ihr zärtlich über die verweinten Wangen und lächelte sie an. Sie nickte: „Geht schon wieder!”

Er bewunderte seine tapfere Frau, die entschlossen zu dem Kugelschreiber griff und ihre Unterschrift so fest auf die gepunktete Linie des Aufklärungsbogens setzte, dass sie auf der Zeitung darunter noch zu lesen war.

Herr Schreiner bekräftigte: „Das unterschreibe ich auch! Meine Frau soll wissen, dass ich total auf ihrer Seite stehe! Wann wollen Sie operieren, Herr Professor?”

Der Klinikchef war wie immer rasch mit seinen Entscheidungen: „So bald wie möglich. Alle Voruntersuchungen sind erledigt. Von mir aus morgen Früh!”

„Also gut, einverstanden! Morgen früh!” Frau Schreiner nickte und ließ sich auf das Kopfkissen sinken. „Ich bin schon ein bisschen erleichtert, weil wir entschieden haben. Jetzt muss nur noch ER helfen!” Sie deutete mit dem Zeigefinger zum Himmel.

Mit einem charmanten Lächeln zu Professor Bader ergänzte sie: „Und ER wird Ihre Hand führen!”

Der Professor wird aus seinen Gedanken gerissen, weil die peitschenden Windstöße den Regen besonders heftig gegen das Fenster klatschen. Er sieht, wie im Scheinwerferlicht die Wasserwand vor seinem Wagen zerstiebt. Glücklicherweise ist die Autobahn frei, denkt er, aber ich komme einfach nicht so schnell vorwärts wie sonst! Ich rase ohnehin schon zu schnell. Wenn das Maria wüsste! Sie wird verblüfft sein, wenn ich so früh schon bei ihr bin.

Er dreht das Radio lauter, und einen Moment hat er den Eindruck, jetzt besser sehen zu können. „So ein Quatsch! Mit dem Radio kann ich meine Sicht nicht verbessern!” sagte er laut vor sich hin und schlägt bekräftigend gegen das Lenkrad. Sofort schlingert der Wagen. Der Professor packt das Steuerrad fest mit beiden Händen. Er hebt den Fuß vom Gaspedal und schafft es in der letzten Sekunde vor der Leitplanke gerade noch, das rasende Geschoss auf der Straße zu halten. Er weiß, dass ein Bremsversuch auf dieser Wasserpiste bei diesem Tempo sein Todesurteil wäre. Aber wäre das so schlimm? Nach diesem Tag?

Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Das ist ja noch einmal gut gegangen,” sagt er leise vor sich hin und nimmt sich vor, langsamer zu fahren. „Maria wartet. Sie hat nichts davon, wenn ich unterwegs verunglücke,” denkt er. „Ich muss ihr wenigstens erzählen, was los war, bevor es morgen in allen Zeitungen steht! Oje, und was bringen die Nachrichten?” Der Gedanken schießt ihm durch den Kopf. Er schaut mit einem flüchtigen Blick auf die Uhr. Bald kommen die Nachrichten. Vielleicht bringen sie dort schon alles?

Seine Gedanken wandern wieder zurück zum OP-Tisch. Es läuft doch alles prima! Er öffnet den Bauch rasch und routiniert. Professor Münchinger assistiert. Großartig, mit solch einem zuverlässigen Mann arbeiten zu können, denkt Professor Bader, während er sich behutsam in die Tiefe des Bauches vortastet. Wir verstehen uns seit Jahren am Operationstisch schweigend. Wenige Blicke, einige Handzeichen, sehr selten einzelne Wörter genügen uns beiden erfahrenen Chirurgen zur idealen Zusammenarbeit. Das gibt mir zusätzliche Sicherheit, überlegt er. Jetzt bin ich schon so lange Chef in dieser Klinik und habe tausende von Operationen gemacht. Da ist es immer wieder eine Freude, gute Mitarbeiter zu haben.

Eigentlich hätte Herr Münchinger diese OP auch selbst machen können. Aber der Ministerpräsident hatte gesagt: „Herr Professor Bader, versprechen Sie uns, dass Sie selbst meine Frau operieren?” „Ja, klar!” hatte er geantwortet.

Er sieht jetzt wieder, wie er die Darmschlingen aus dem Bauch hebt. Schwester Siglinde bedeckt sie mit einem grünen Tuch, das sie vorher in Kochsalzlösung angefeuchtet hatte. Sie steht auf einem kleinen Podest, um das Operationsfeld besser überblicken zu können.

Dann präpariert er langsam das Gewebe bis zu dem großen Aneurysma zur Seite. Hier liegt die gefährliche Vorwölbung! So oft schon hatte er solche lebensbedrohlichen Gefäßwandausbuchtungen gesehen und operiert.

Mit einem Blick zum Anästhesisten fragt er: „Alles klar? Kann ich?” Professor Habermann, der Ordinarius der Anästhesieabteilung, war selbst gekommen und hatte die prominente Patientin unter seine Obhut genommen. Ruhig antwortet er: „Alles klar, Sie können!”

Professor Bader beginnt konzentriert, die nächste Umgebung des pulsierenden Gefäßes freizulegen. Nur der EKG-Monitor piepst gleichmäßig beruhigend in die Stille. Ab und zu klappert ein Besteck, wenn Schwester Siglinde ein neues Instrument reicht. Sie weiß Bescheid, denkt er, auch so eine treue Seele, ruhig und zuverlässig. Ich brauche ihr nicht einmal in Notfällen zu sagen, welches Besteck ich will. Sie ahnt es schon im Voraus und hat es im richtigen Moment in der Hand. Aber warum gibt sie mir jetzt eine Klemme, wo sie doch sehen muss, dass ich das Skalpell brauche?

Professor Bader stutzt, weil Schwester Siglinde auch langsamer als sonst arbeitet. Er schaut sie an: „Was ist los mit Ihnen, Sie sind so blass?”

Sie zögert mit der Antwort und murmelt dann: „Ach nichts, es geht schon!”

Er lässt sich nicht beirren und sagt noch einmal fürsorglich: „Ich kenne Sie schon so lange. Machen Sie mir nichts vor. Also raus mit der Sprache!”

Obwohl das Gesicht von Schwester Siglinde mit der Haube und dem Mundschutz fast vollständig bedeckt war, sieht Professor Bader, wie sie errötet. Alle warten gespannt auf ihre Antwort.

Dann flüstert sie, so als könne niemand außer ihm es hören: „Ich wollte es Ihnen ja nicht gerade hier sagen.” Sie schaut ihn an und hofft, er würde verstehen.

Aber er sagt: „Was denn?” Die Wanduhr tickt monoton zur nächsten Sekunde.

„Mein Mann und ich haben uns einen großen Wunsch erfüllt!”

Der Professor wird ungeduldig: „Also los jetzt, ich will weiter operieren, was haben Sie?”

Schwester Siglinde hebt den Kopf, wird noch eine Spur verlegener und sagt: „Ich bin schwanger!”

Der Professor lacht: „Na, großartig!” Und nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Wollen Sie sich ablösen lassen?”

Sie erkennt seinen besorgten Ton und strafft ihren Körper: „Nein, nein, ich mache weiter!”

Dann legt sie ihm wie gewohnt das Skalpell mit festem Griff in die Hand. Er präpariert weiter und klemmt die Gefäße ab, so weit es so dicht unter dem Zwerchfell ging.

Schwester Siglinde nimmt eine langstielige Klemme, greift damit einen großen Tupfer und sagt leise: „Herr Professor, Sie schwitzen! Darf ich?” Und während er seine Stirn ihr entgegenhält, wischt sie die Schweißtropfen ab und wirft die Klemme mit dem Tupfer in den Abwurf. Er dreht seinen Kopf wieder zum Operationsfeld, und Schwester Siglinde reicht ihm wortlos das kleine Skalpell, mit dem er seine sorgfältige Arbeit in der Tiefe fortsetzt.

Bei diesen Gedanken wird Professor Bader wieder abgelenkt. Er sieht in der Ferne durch den strömenden Regen Blaulichter blinken und nimmt den Fuß vom Gas. „Wahrscheinlich ein Unfall,” denkt er, „vielleicht ist einer so schnell gefahren wie ich.” In der prasselnden Gischt kann er nur viele verwirrende Reflexe sehen, rote Rücklichter, weiße Lampen von den Entgegenkommenden. Und jetzt auch noch die Polizei! Muss das denn sein? Für heute reicht´s mir mit Notfällen! Vielleicht eine Alkoholprobe?“

Da erkennt er ein schwenkendes Rotlicht mitten auf der Straße. Er spürt, wie plötzlich der Schweiß seinen Rücken hinunter läuft und seine Hände und Füße eiskalt werden! Das Lenkrad klebt in seinen Händen. Er wischt sich mit dem zerrissenen Ärmel seines Arztmantels den Schweiß von der Stirn. Sein Puls schlägt im Hals Alarm. Eine böse Vorahnung schießt in ihm hoch.

Wie ein Blitz den Himmel erhellt, läuft plötzlich die ganze Katastrophe vor seinem inneren Auge ab. Er will an dem Aneurysma direkt am Zwerchfell noch ein kleines Stückchen Lymphgewebe entfernen. In diesem Moment hört er ein seufzendes Geräusch. Schwester Siglinde stöhnt: „Mir wird schlecht!”

Bevor er seine Hand aus dem Bauch ziehen kann, fällt sie von ihrem kleinen Podest auf ihn. Das Skalpell schneidet in die Bauchaorta oberhalb der abgeklemmten Stelle. Die Blutfontäne schießt dem Professor ins Gesicht. Er zuckt zurück. Der pulsierende Blutstrom verwandelt den Tisch und die Umgebung in Sekundenbruchteilen in ein Schlachtfeld.

Jetzt geht alles rasend schnell. Professor Bader greift fast blind mit der ganzen Hand in den Blutsee und versucht, die Aorta zusammenzudrücken. Mit einem kräftigen Schütteln des Kopfes und mehreren Grimassen will er seine blutverschmierten Augen frei bekommen.

Professor Münchinger schaut entsetzt seinen Chef an und stößt leise hervor: „Mein Gott, wie sehen Sie denn aus!” Er nimmt rasch ein paar Tupfer mit einer großen Klemme und fährt dem Kollegen übers Gesicht. Jetzt kann Professor Bader wieder sehen. Und Professor Münchinger sagt nichts über die Schmiererei, die er veranstaltet hat.

Dann hört Professor Bader seinen eigenen unterdrückten Schrei: „Sauger, Klemme, Tupfer, schnell!” Der Strahl pulsiert weiter.

Schwester Siglinde gleitet zu Boden. Ein Pfleger, der hinter ihr gestanden hatte, fängt sie auf, reißt ihr den Mundschutz vom Gesicht und zieht sie vom Tisch weg. In der Ecke erbricht sie heftig.

Der Oberarzt greift geistesgegenwärtig auf den Instrumententisch nach der Klemme und versucht mit Professor Bader zusammen, die Blutungsstelle zu finden. Aber die Bauchhöhle steht voll Blut.

„Sauger höher drehen!” Professor Bades Stimme durchdringt die Spannung des Raumes wie ein Skalpell.

Der Pfleger ist mit Schwester Siglinde beschäftigt und hört den Befehl nicht. Eine zweite Schwester rennt herbei und schaut zum Saugapparat am Boden: „Der ist schon ganz hoch gedreht, Herr Professor!”

„Verdammt!” Der Professor kommandiert weiter: „Zweiten Sauger anschließen!” Die Schwester zögert: „Aber, Herr Professor, der ist draußen, ich muss ihn zuerst holen.”

Der Professor herrscht sie an: „Schnell! Sonst verblutet die Frau auf dem Tisch!”

Professor Habermann reagiert auch blitzschnell. Er zeigt zuerst auf Schwester Monika, dann auf die Tür zum Nebenraum: „Rasch, Dr. Weber!”

Er schließt in Windeseile eine der bereit hängenden Blutkonserven an. Das Blut schießt in die Vene. Sofort legt er einen zweiten Venenzugang und vergewissert sich, dass die Plasmaexpanderflüssigkeit mit maximaler Geschwindigkeit fließt. Der Wert auf dem Blutdruckmonitor beunruhigt ihn. Das EKG-Bild signalisiert einen rasenden Puls.

Dr. Weber rennt herein: „Was ist los?”

Professor Habermann schaut ihn nicht an, sondern beobachtet die EKG-Kurve. Gleichzeitig antwortet er: „Die Aorta ist angeschnitten! Sie suchen die Blutungsstelle. Legen Sie noch einen dritten Zugang! Vielleicht müssen wir noch reanimieren!”

Die Narkoseschwester flüstert erregt in die Hektik hinein: „Mein Gott, der Druck ist nur noch 60 zu 40!”

Professor Bader tastet sich in dem Blutsee an der Aorta entlang und sucht die Verletzungsstelle: „Der Schnitt muss ganz dicht unterm Zwerchfell liegen! Ich finde ihn nicht!” Sein Stimme klingt gepresst. Die Schweißperlen stehen ihm und seinem Oberarzt auf der Stirn.

Professor Münchinger sagt leise: „Vielleicht finden wir das Loch, wenn der Druck noch weiter nachlässt!” Und er schaut nach Schwester Siglinde, die sich langsam auf dem Boden hinsetzt. Dann ruft er Richtung Flur: „Wo bleibt denn der zweite Sauger?”

Seine Aufmerksamkeit wird wieder auf die Straße gezwungen, die im Wasser ertrinkt. Professor Bader lässt das Auto langsam vor das schwenkende Rotlicht rollen und stoppt den Porsche. Dann erkennt er im strömenden Regen einen Polizisten, der ihm ein Zeichen macht, die Scheibe herunterzulassen. Der Professor drückt auf den elektrischen Fensterheber, und schon schlägt ihm der Regen ins Gesicht.

„Guten Tag!” sagt der Polizist. „Sind Sie Professor Bader?”

„Ja, das bin ich, warum fragen Sie?” Er bemüht sich, ganz unauffällig zu reagieren. Der Polizist mustert den Mann in dem Carrera mit den nassen Haaren und den feuchten Kleidern. Am meisten fällt ihm auf, dass dieser ganz in Weiß gekleidet ist und einen Arztkittel mit einem langen Riss im linken Ärmel trägt.

„Steigen Sie bitte aus!” Professor Bader nimmt den betont distanzierten Ton des Polizisten wahr. Dann schüttelt er widerwillig den Kopf: „Ist das Ihr Ernst? Bei diesem Sauwetter? Was ist denn los?”

Der Polizist steht klatschnass in seinem Uniformmantel vor dem Wagen, wischt sich vergeblich das Wasser aus dem Gesicht, zögert einen Moment, ob er den wahren Grund sagen soll und meint dann: „Ja, ich muss Sie bitten aus­zusteigen. Sie sind verhaftet! Sie stehen unter Mordverdacht!”

Der Professor zuckt zusammen. Er lässt den Motor aufheulen und schießt mit dem Wagen davon. Der Polizist springt zur Seite, kramt umständlich seine Pistole unter dem Mantel hervor und zielt in die Regenwand, wo er die Hinterreifen vermutet. Der Schuss geht daneben. Der rasende Porsche ist im Schutz des Wassers verschwunden.

Professor Bader merkt erst nach einiger Zeit, dass das Gewitter immer noch von einem Seitenwind durch das offene Fenster gepeitscht wird und das Wasser über sein Gesicht rinnt. Er versucht, mit einer Hand den Knopf des Fensterhebers zu drücken und mit der anderen den Wagen auf der Straße zu halten.

Er flucht: „Verdammter Regen! Ich seh´ nichts!” Dann schaltet er noch einmal am Hebel für den Scheibenwischer. Aber dieser jagt schon in Höchstgeschwindigkeit über das Glas.

In das hochtourige Surren des Motors hört Professor Bader aus der Ferne seiner Erinnerung den Alarm des EKG-Monitors schrillen. „Nulllinie! Herzmassage!” Mit diesem Kommando reißt Professor Habermann die grünen Tücher von Frau Schreiners Oberkörper und beginnt mit rhythmischen Stößen den Brustkorb zusammenzudrücken. Dr. Weber überwacht die künstliche Beatmung. Die Zeit verfließt in der Hektik unmerklich.

Die beiden Chirurgen schauen einander an. Der Blutstrom lässt nach. Der Sauger entleert die Bauchhöhle mit schlürfenden Geräuschen und entzieht Frau Schreiner das Leben.

Professor Bader sieht jetzt die verheerende Verletzung, die der kleine ungewollte Schnitt angerichtet hat. Der erfahrene Chirurg wird bleich, als er das ganze Ausmaß der Katastrophe einschätzen kann.

Die Anästhesisten sind auf die Reanimation konzentriert. Die Nulllinie bleibt bestehen. Professor Habermann schaut Professor Bader an: „Haben Sie die Schnittstelle?”

„Ja,” sagt dieser langsam und lässt die Hände sinken. „Drei Zentimeter in der Bauchhöhle und durch das Zwerchfell in die Brusthöhle. Ich müsste eine Zweihöhlenoperation machen. Ich kann nicht abklemmen. Aussichtslos! Wir haben verloren!”

Der Monitor zeigt eine waagrechte Gerade. Professor Habermann kann sich nicht mit der Antwort zufrieden geben: „Wollen Sie wirklich aufgeben?” fragt er besorgt, während er weiter den Brustkorb massierte.

Professor Bader hört den eindringlichen Ton des Kollegen. Er schaut auf den Blutbehälter des Saugapparates und sagt: „Fünf Liter! So viel können Sie gar nicht so schnell infundieren. Keine Chance!”

Nach einem Blick auf die Uhr über der Tür ergänzt er: „Schon fünf Minuten Herzstillstand.”

Er holt Luft und überlegt kurz: „Und wir brauchen zu lang, bis wir die Schnittstelle oberhalb des Zwerchfelles frei präpariert haben.”

Seine Stimme wird unheilvoll leise: „Aussichtslos!”

Der Chirurg schüttelt langsam den Kopf. Dann legt Professor Habermann bedächtig das grüne Tuch auf Frau Schreiners Brust zurück, stoppt die Infusionen und schaltet das Beatmungsgerät aus.

Er nimmt seinen Mundschutz ab und sagt langsam in die schreckensvolle Stille: „Die armen Kinder!”

Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Wir müssen es Herrn Schreiner sagen. Er versucht, im Krankenzimmer seiner Frau zu arbeiten, bis wir kommen!”

Sie stehen beide noch eine ganze Weile schweigend am Tisch. Dann gibt sich Professor Bader einen inneren Ruck und sagt zu seinem Oberarzt: „Bitte, schließen Sie den Bauch! Ich gehe mit Herrn Habermann zu Herrn Schreiner.”

Schwester Siglinde sitzt am Boden. Ihr heftiges Schluchzen zerbricht die Stille: „Ich bin an allem schuld!”

Der OP-Pfleger legt ihr ein grünes Tuch um den zitternden Körper und versucht, sie zu trösten: „Du musst dir klar machen, dass du ein Werkzeug des Schicksals bist. Das hast du doch nicht gemacht, um die Frau umzubringen!” Er hilft ihr beim Aufstehen und führt sie hinaus.

Die zwei Professoren verlassen wortlos den OP. Die anderen Mitarbeiter sehen an den schleppenden Schritten, welche Last sie mit sich hinausziehen. Im Umkleideraum erkennt Professor Bader erst im Spiegel, wie blutig sein Gesicht ist. Er wäscht sich sorgfältig und zieht dann wie sein Kollege die weiße Klinikkleidung an. Auf dem Weg durch die Flure und im Aufzug sprechen die Ärzte nicht. Vor dem Krankenzimmer, in dem sie mit Herr Schreiner reden müssen, bleiben sie kurz stehen und schauen einander schweigend an. Jeder ist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Professor Bader spricht seine aus: „Ich werde mich nie daran gewöhnen, eine solche Katastrophennachricht zu überbringen! Das ist die schwärzeste Seite unsere Berufes! Und man kann es drehen und wenden wie man will: Aber ich habe den Schnitt gesetzt und bin dafür verantwortlich. Auch wenn ich eigentlich gar nichts dafür kann.” Er holt tief Luft. Dann nimmt er die Klinke in die Hand. Die Haut verfärbt sich weiß über den Knöcheln, so kräftig ist sein Druck. Sie treten langsam in das Zimmer.

Herr Schreiner schaut auf von seinem Aktenstoß, springt hoch und geht auf die Ärzte zu: Seine leuchtenden Augen und seine geröteten Wangen zeigen die Hoffnung und Freude, mit denen er jetzt die gute Nachricht vom Gelingen der Operation hören will.

„Na, das ging aber viel schneller, als Sie erwartet hatten, meine Herren. Lief die Operation gut? Wie geht´s meiner Frau?” Er fährt sich nervös durch sein weißes Haar.

Da schießt Professor Bader der Gedanke durch den Kopf: Drei gegen einen, das ist unfair. Erst recht bei einer solchen Nachricht!” Aber er kann nicht mehr zurück.

Er tritt noch einen kleinen Schritt auf Herrn Schreiner zu und sagt mit belegter Stimme: „Wir haben eine sehr schlimme Nachricht!” Dann stockt er und beobachtet die Reaktion des Ehemannes.

Der Ministerpräsident steht aufrecht: Ein kurzer Blick fliegt zwischen den beiden Männern hin und her, ein Flackern der Erkenntnis blitzt in den Augen von Herrn Schreiner auf: Nein, das durfte nicht sein!

Und so fragt er betont sachlich: „Sie wollen mir bestimmt sagen, dass Sie vor der OP noch etwas festgestellt haben, was Schwierigkeiten macht. Und deshalb haben Sie gar nicht operiert. Ist es das?”

Professor Bader denkt, o wenn es doch das wäre! „Nein!” sagt er langsam. „Es ist wirklich viel schlimmer!”

Wieder zögert er, schiebt den Stuhl zu Herrn Schreiner und meint: „Setzen Sie sich doch!”

Aber dieser spürt die hochexplosive Spannung im Raum und bleibt stehen. Er fragt: „Also, sagen Sie´s mir! Was ist los?”

Professor Bader räuspert sich: „Herr Schreiner, wir sind gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Ihre Frau durch äußerst unglückliche Umstände auf dem Tisch gestorben ist! Wir haben alles …”

Weiter kommt Professor Bader nicht. Herr Schreiner sinkt wie von einem Fausthieb getroffen im Stuhl zusammen und bricht in hemmungsloses Weinen aus. Seine sonst so große Selbstbeherrschung ist verschwunden. Er schluchzt wie ein Kind und verbirgt sein Gesicht in den Händen. Die zwei Ärzte sehen, wie Tränen zwischen den Fingern auf den Boden tropfen.

Erst nach einer ganzen Weile blickt Herr Schreiner langsam auf. Sein Gesicht ist angeschwollen, seine Augen sind hochrot, und die Tränen laufen über seine Wangen. Er fragt Professor Bader mit gequälter Stimme: „Was ist da passiert? Sie waren doch so zuversichtlich, dass es gut gehen würde!”

Professor Bader antwortet: „Als ich gerade die kritische Gefäßstelle präparierte, kollabierte die OP-Schwester und fiel auf mich. Ich konnte nicht schnell genug reagieren. Das Skalpell rutschte so unglücklich in die Aorta, dass Ihre Frau verblutet ist. Wir haben alles versucht, um …”

In dieser Sekunde schießt Herr Schreiner hoch. Sein zornbebendes Gesicht ist plötzlich hochrot angelaufen. Er packt den Chirurgen am Revers seines weißen Mantels und schreit ihn an: „Sie haben Sie umgebracht! Sie sind ein Mörder! Ich bring Sie auch um!”

Er brüllt und würgt den Chirurgen. Professor Habermann packt Herrn Schreiner und versucht, den völlig außer Kontrolle geratenen Ministerpräsidenten zu bändigen. Professor Bader wehrt sich und reißt sich los. Herr Schreiner schnappt nach dem weißen Mantel. Und während der Chirurg sich aus den Händen des Schreienden windet, bleibt ein Fetzen des Mantelärmels in den Händen von Herrn Schreiner hängen. Professor Bader springt mit einem Satz zur Tür, reißt sie auf und rennt hinaus.

Er stürmt den Flur entlang und hört noch die verzweifelten Wutschreie hinter sich her gellen: „Sie sind ein Mörder! Ich bring Sie um!”

Erst als er durch das Klinikportal hinaus gestürmt ist und im strömenden Regen auf dem Parkplatz steht, wird ihm bewusst, in welcher Situation er sich befindet.

Er sieht schon die Schlagzeilen in den Zeitungen: „Professor tötet Frau des Ministerpräsidenten!” „Professor Bader macht einen tödlichen Kunstfehler bei Frau Schreiner!” „Ministerpräsident will Chirurg ermorden!” „Schwester fällt auf Chirurg – Frau des Ministerpräsidenten stirbt im OP!”

Professor Bader steht wie betäubt und nass vor seinem Auto. Dann spürt er in der Tasche seines weißen Mantels den Schlüsselbund. Er denkt nicht nach, sondern schließt automatisch die Tür auf, setzt sich hinein, dreht den Schlüssel im Zündschloss, fährt aus der Parklücke und gibt Gas.

Er steuert seinen Wagen durch den prasselnden Regen Richtung Autobahn und sieht noch im Vorbeirasen, wie Passanten ihm den Vogel zeigen, weil rechts und links vom Auto die Wasserlachen weg spritzen und die Fußgänger beschmutzen.

An der nächsten Kreuzung blitzt eine Radarfalle, und er erkennt zu spät, dass er bei Rot über die Ampel gerast war. Im letzten Moment kann er einem Wagen ausweichen, der bei Grün auf die Kreuzung fährt. Das kümmert Professor Bader nicht. Er gibt Gas.

Während er jetzt dem Polizisten davon fährt, wird ihm erst richtig bewusst, dass er die Nerven verloren hat. Dabei hätte er doch erklären können, was geschehen war. Er schreit plötzlich: „Ich bin kein Mörder! Ihr Idioten!”

Eine Sekunde zu spät erkennt er auf der Autobahn die Barriere in der Kurve. Es kracht. Scheiben splittern. Der Wagen durchbricht die Leitplanke. Dann überschlägt er sich den Abhang hinunter mehrfach. Professor Bader sieht noch, wie sein Blut über die Lederpolsterung tropft. Dann wird er bewusstlos und empfindet nur noch ein wunderbar gleißendes Licht.

Das nächste, was er wahrnimmt, ist ein Schütteln an seinem Oberarm und eine weibliche Stimme: „Was ist los? Du bist ja schweißnass und hast geschrieen! Hast du geträumt?”

Es dauert eine Weile, bis ihm klar wird, dass die Sonne durchs Fenster seines Ferienhauses in sein vertrautes Bett scheint.

Seine Frau beugt sich über ihn und beobachtet ihn besorgt. Als sie sieht, dass er wach ist und sie ganz erstaunt anschaut, sagt sie: „Übrigens, Professor Münchinger hat gerade angerufen. Ich soll dir berichten, Frau Schreiner hat gut geschlafen, und Herr Schreiner ist sehr froh und dankbar. Er meinte, du hast wie immer prima operiert.”

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht.

 

 

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Das Geständnis

Hanna packt sorgfältig einen kurzärmeligen Pulli und ihre hellblaue Sommerwindjacke in den kleinen Rucksack. Der Wetterbericht hat für diesen Tag Sonne, etwas Wind und sommerliche Temperaturen vorausgesagt. Also wird leichte Kleidung für die Bergwanderung gut ausreichen. Hanna schaut zu Frank hinüber, der auf seinem Hotelbett ebenfalls einen umhängbaren Wanderbeutel füllt.

Frank blickt zum Fenster hinaus und strahlt Hanna an: „Jetzt gehört endlich mal wieder ein Tag ganz uns! Schau diesen prächtig blauen Himmel an! Das wird herrlich!”

„Das ist schon herrlich,” widerspricht Hanna lächelnd und küsst Frank zärtlich auf die Wange. Sie umarmt ihn herzlich und drückt ihn an sich: „Also, lass uns gehen. Hast du alles?”

„Ja, ich hab dich,” erwidert Frank und streicht Hanna langsam über ihr schwarzes Lockenhaar, das schon mit einigen grauen Fäden veredelt ist. „Jetzt können wir in den Vogesen wandern! Diesen Weg in die Vergangenheit haben wir uns doch schon so lange vorgenommen!”

Sie verlassen die kleine Pension, in der sie übernachtet haben, steigen ins Auto und fahren langsam durchs malerische Dorf. Die Gärten leuchten mit den satten Farben des frühen Sommers, ein sanfter Wind zieht durchs ansteigende Hochtal und wiegt die grünen Blätter an den Bäumen.

Die schmale Straße führt den Pass hinauf. Frank steuert den Sportwagen konzentriert und routiniert durch die Kurven: „Ist das nicht wunderbar? Diese herrliche Aussicht! Und dort hinten der Grand Ballon!”

Nach ein paar Minuten sind sie schon an ihrem ersten Ziel angekommen: „Hier ist der Parkplatz, von dem aus wir damals die Wanderung begonnen haben. Da lassen wir den Wagen stehen.”

Frank biegt ein und stellt das Auto ab. Sie steigen aus, ziehen die normalen Straßenschuhe aus und die Wanderschuhe an, die im Kofferraum bereit stehen. Zielsicher schlagen sie den Weg ein: bergaufwärts zwischen Büschen und niedrigen Kiefern, an gelbem Enzian, Disteln, wilden Orchideen und anderen Kostbarkeiten vorbei auf dem ausgeschilderten Weg zur Hütte, in der alles angefangen hatte. Frank und Hanna wandern schweigend nebeneinander her, und doch sind sie innerlich und äußerlich verbunden. Der Pfad ist gerade noch breit genug, dass sie Hand in Hand marschieren können.

Sie genießen die stille Zweisamkeit, die sich in den zwanzig Jahren der Ehe zwischen ihnen entwickelt hat. Ein kurzer vertrauter Blick, ein stummer Fingerzeig genügen längst, um Wichtiges zu zeigen und Stimmungen zu vermitteln.

Frank bleibt stehen, atmet tief ein und deutet mit ausgestrecktem Zeigefinger wortlos an den Horizont. Dort hat sich in den vergangenen Minuten eine große graue Wolke mitten in den strahlend blauen Himmel geformt, und der Wind frischt auf. Hanna nimmt zärtlich Franks Finger, küsst ihn und sagt: „Der Wind wird die Wolke wegblasen!”

Sie beobachten die Gräser und die Blätter. Es hat lange nicht mehr geregnet. Die Natur ist durstig, und die Blätter sind zum Teil schon faltig eingerollt. Hanna fühlt das trockene Moos, das sie sonst immer so gern anfasst, wenn es erfrischend feucht in ihrer Hand liegt.

Plötzlich lässt der Wind nach, die warme Sonne brennt mit der ganzen Kraft auf die beiden Wanderer. Es wird noch stiller. Eine drückende Glocke von stehender schwüler Luft legt sich auf den Berghang.

Frank setzt sich auf das Moos und wischt den Schweiß von der Stirn: „Lass uns ein wenig rasten. Wir haben genügend Zeit bis zur Hütte. Du hast doch was zum Trinken eingepackt.”

Hanna setzt sich neben ihn und holt die Thermosflasche aus ihrem Rucksack: „Hier! Das Wasser ist bestimmt noch kühl!”

Frank trinkt, setzt ab, gibt die Flasche zurück und streicht langsam über Hannas Oberschenkel: „Danke für diesen Genuss! Hast du noch mehr?” – „Was denn?” fragt Hanna mit gespielter Verwunderung und legt sich ins Moos.

Frank schaut Hannas immer noch bewundernswert gute Figur an, gleitet mit seinen Augen an ihren wohlproportionierten Rundungen entlang, dann an den Himmel und sagt nach einer ganzen Weile des Schweigens nachdenklich: „Irgendwie gefällt mir das nicht!”

„Redest du von mir?” Hanna hat einen verunsicherten Ton in der Frage.

„Nein, nein!”, knurrt Frank und macht eine weit ausschweifende Bewegung zum Himmel. „Es riecht so komisch nach Gewitter!”

„Ach was, das bleibt schön!” wiegelt Hanna ab. Sie blinzelt ihn an, streckt ihm eine Hand einladend entgegen und will ihn zu sich herunterziehen. Aber Frank bleibt sitzen und nimmt liebevoll ihre Hand.

Hanna fragt: „Was möchtest du jetzt tun?” Frank hört den verführerischen Unterton und zögert mit der Antwort: „Weißt du, ehrlich gesagt, ich bin richtig unruhig. Schau mal, diese Wolke ist jetzt schon viel dunkler und größer geworden, sie zieht direkt auf uns zu. Die schwüle Luft drückt mich in den Boden. Ich habe das Gefühl, da zieht ein Unwetter auf. Und hier draußen haben wir überhaupt keinen Schutz. Lass uns weitergehen. Zur Hütte brauchen wir noch zwei Stunden, wenn wir zügig marschieren. Das schaffen wir vielleicht. Es ist auf jeden Fall kürzer, als zum Parkplatz zurückzugehen.”

Hanna steht mit einem Ruck auf, nimmt wortlos ihren Rucksack und lässt Frank stehen. Sie marschiert mit demonstrativ kräftigen und weit ausholenden Schrit­ten den ansteigenden Weg hinauf, ohne zurückzublicken.

Frank rennt ihr hinterher, und nachdem er sie eingeholt hat, hakt er bei ihr ein: „Jetzt sei doch nicht gleich so eingeschnappt! Ich hab es nicht böse gemeint! Aber ich kann nicht in aller Ruhe hier mit dir sitzen, wenn ein Gewitter aufzieht und wir völlig ohne Dach sind.”

Hanna antwortet nicht. Sie fühlt sich zurückgewiesen und grollt. Frank ist auch still, und die beiden wandern wortlos weiter.

Inzwischen haben sie die Baumgrenze erreicht. Die Büsche und Gräser sind noch reich verteilt, die wenigen Gebirgsblumen verschwenden ihre prächtigen Farben. Nur vereinzelt hat in dieser Höhe ein Baum der Witterung getrotzt und sich aus dem kargen Boden genügend Nahrung holen können. Die wenigen Stämme ragen verwittert, vom herben Wind gebeugt und knorrig derb in die Höhe. Die Hartlaubgewächse sind dürr geworden in den Wochen der Trockenheit, und die schwüle Luft zwingt die beiden Wanderer zu einem langsameren Schritt. Nach einiger Zeit nimmt Hanna wieder Franks Hand, und sie gehen gemeinsam weiter.

Hanna bricht das Schweigen: “Erinnerst du dich an den Abend in der Hütte? Das war eine fröhliche Gesellschaft mit den französischen Studenten!”

„Ja, und besonders mit dir und den Studentinnen,” ergänzt Frank. Er ist froh, dass das Gespräch wieder in Gang kommt. Hanna bekräftigt: „Du hast mir gleich gefallen, als ich dich an dem Kamin mit deinen Kommilitonen sitzen sah. Ich hab´s dir ja schon oft erzählt: Ich war sofort in dich verliebt!” Sie lächeln einander an, und Hanna drückt kräftig Franks Hand.

Er sagt schmunzelnd: „Das hast du mir ja auch gleich in der Nacht auf sehr charmante Art gezeigt.” Und er fügt nach einer kleinen Pause hinzu: “Ein Glück, dass ich ein Einzelzimmer hatte!”

Hanna schaut an den Himmel und erschrickt: „Das sieht ja richtig giftig aus! Die schwarze Wolke wird von einem fahlgelben Rand umgeben und reicht mit einem grauen Schleier bis zum Boden! Da hinten tobt ein heftiges Gewitter! Ich glaube, du hast recht. Es kommt direkt auf uns zu!”

In der Ferne grollt der Donner, und Frank und Hanna sehen einen grellen Blitz über das Tal zucken. Sie beschleunigen ihren Schritt. Da schießt schon wieder ein gleißender Zick-Zack-Strahl aus der Wolke.

Hanna fragt besorgt: „Wie weit ist es noch bis zur Hütte? Schaffen wir das vor dem Regen?”

Frank runzelt die Stirn und schüttelt langsam den Kopf: „Ich schätze, mindestens noch vierzig Minuten. Und wenn die Wand so schnell weiterzieht wie bis jetzt, können wir uns auf einen nassen Mittag vorbereiten!”

„Oje, meine dünne Jacke bietet ja höchstens ein bisschen Schutz vor dem Wind, aber sicher nicht vor einem ordentlichen Regenguss.”

Gleichzeitig will Hanna die Unterhaltung fortführen, um von dem heraufziehenden Gewitter abzulenken:

„Ich kann mich noch an Pierre und Natalie erinnern, weißt du noch, die Studenten aus Paris?”

„Ja, an Natalie erinnere ich mich sehr gut!” sagt Frank einen Sekundenbruchteil zu schnell.

Hanna sieht, wie Frank plötzlich einen roten Kopf bekommt und sich wegwendet, um die verräterische Farbe zu verbergen. Aber Hanna hat mit ihren wachen Augen schon bemerkt, was sie nicht erkennen soll.

Sie fragt sofort mit warnender Schärfe: „Was war das denn?”

„Nichts, natürlich nichts!” beeilt sich Frank zu versichern, aber das Lächeln, das er aufsetzt, sieht sehr gequält und unecht aus.

Hanna bleibt stehen und schaut Frank direkt ins Gesicht. In diesem Moment fallen die ersten dicken Tropfen auf ihre Stirn und klecksen dunkle Flecken auf ihre hellblaue Bluse. Der Wind bauscht ihre Jacke auf und verwirrt Hannas Locken.

Hanna beharrt: „Hör mal, Frank, das will ich jetzt hören: Ich kann mich nur undeutlich an eine blonde Frau erinnern. Was war mit Natalie? Ist mir da etwas entgangen, was ich wissen muss?”

Frank schließt seine Jacke, öffnet die eingerollte Kapuze und zieht sie über, als wolle er Zeit gewinnen. Nach verdächtig langer Pause sagt er ärgerlich mit einer wegwischenden Handbewegung: „Lass doch dieses Thema! Das ist längst Vergangenheit. Ich habe dich gewählt. Das ist doch einzig entscheidend! Oder nicht? Du bist meine beste Wahl! Mit dir hat sich in den Monaten nach dem Ausflug eine wunderbare Liebesbeziehung entwickelt. Und wir sind doch in unserer Ehe sehr glücklich.”

Der Regen wird kräftiger, und ein heftiger Donner rollt über das Tal den Berghang hinauf. Frank spürt die Schwingung der feuchten warmen Luft, die in seine Kapuze bläst und sie wieder herunterreißt. Frank und Hanna stehen zwischen niedrigen Büschen und mageren Gräsern auf steinigem Grund.

Hanna fasst ihren Mann an den Händen und sagt mit fester Stimme: „Frank, ich möchte es jetzt wissen, auch wenn es hier stürmt. Wir werden in jedem Fall fürchterlich nass. Also können wir auch das Thema besprechen. Was war mit Natalie?”

Frank spürt die Entschlossenheit seiner Frau. Und es ist ihm klar, dass er jetzt Farbe bekennen muss. Er steht hier wie ein begossener Pudel im wahrsten Sinne des Sprichwortes im strömenden Regen weit ab von jeglichem Schutz.

Der Himmel verdunkelt sich und taucht die Natur rund herum in schmutzig nasses Grau und Schwarz. Die Welt erbebt in Aufruhr. Der gischtende Regen prasselt vom Wind gepeitscht in Franks Gesicht, als wolle er ihn schlagen für das, was er noch verheimlicht. Über Hannas Stirn fließt das Wasser in Strömen, als stünde sie unter der Dusche. Ihr Haar klebt in Strähnen am Kopf, und die Locken haben die Form von triefenden Korkenziehern angenommen, die das kühle Nass in Hannas Blusenkragen lenken. Sie zittert vor Kälte und innerer Erregung. Die Jacke und die hellblaue Jeans haften unangenehm feucht am Leib.

Es gibt keinen Ausweg. Frank kennt Hanna. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, erreicht sie ihr Ziel. Wozu also soll er jetzt noch Verzögerungstaktik oder Schwindeleien benützen. Es ist ja sowieso alles mehr als zwanzig Jahre lang her!

Er fasst seinen Mut zusammen und sagt langsam: „Als du damals morgens mit Pierre Küchendienst hattest und ich mit Natalie die Zimmer gerichtet habe, hat Natalie mich dazu verführt, mit ihr das zu tun, was ich in der Nacht mit dir genossen habe. Reicht dir das?”

Der Regen prasselt auf den Berg und die beiden Wanderer. Rollende Donnerwagen rattern mit grollendem Getöse durch den schwarzen Himmel. In die Dunkelheit dieser Endzeitstimmung schießen gleißende Zacken ihre gefährliche Ladung. Die Moose saugen das kühlende Wasser auf wie trockene Schwämme. Bäche bilden sich, rinnen zwischen den Kieseln und Wurzeln talabwärts und reißen Erde und Schlamm mit sich.

Auch aus Hannas schreckgeweiteten Augen schießen plötzlich Tränen hervor und spülen den letzten Rest ihres Lidschattens in schmierigen schwarzen Bächen über ihr Gesicht. Sie schlägt die Hände vor ihre Augen, holt Luft, als wollte sie schreien, dann schaut sie Frank an, und er hört sie nur wimmern: „Du hast …?”

Er nickt wortlos. Es scheint, als kehre trotz des Aufruhrs in der Natur eine gefährliche Ruhe auf dem donner- und sturmumtosten Hügel ein. Sie stehen einander gegenüber. Frank schaut betreten auf den Boden. Hanna lässt ihren Tränen freien Lauf. Sie klammert ihre Hände zusammen, knetet die Knöchel, die weiß und tropfnass aus den Jackenärmeln ragen, dreht sich, als wolle sie weglaufen, bleibt stehen, wendet sich zurück, tritt von einem Bein auf das andere. Sie weiß im Moment nicht, was sie tun soll.

Erst nach einer Minute, die Frank wie eine Viertelstunde erscheint, rafft sie sich im berstenden Sturm zusammen, schaut Frank mit traurig wütendem Gesicht an und presst heraus: „Das war eine riesige Gemeinheit von dir, auch wenn es mehr als zwanzig Jahre her ist! Das hätte ich nicht von dir gedacht: Nach unserer schönen Nacht gleich die nächste Frau im selben Haus! Pfui Teufel!”

Sie spuckt verächtlich auf seine Schuhe. Dann schreit sie ihn an: „Lass mich jetzt allein! Hau ab!”

Er versucht, sie anzufassen und zu beschwichtigen: „Aber Hanna…!” Sie reißt sich los und brüllt ihm ihre ganze Verzweiflung entgegen: „Lass mich in Ruh! Ich brauche Zeit, um darüber wegzukommen und einen Entschluss zu fassen.” Und wie zur Bestätigung deutet sie mit einer heftigen Handbewegung in die Richtung, wo sie die Hütte vermutet: „Geh endlich! Ich kann dich nicht mehr sehen!”

Frank weiß, dass er zumindest für den Moment verloren hat. Er weiß aus Erfahrung, dass sie später miteinander den Konflikt besprechen werden, wenn Hanna ihre erste Empörung und tiefe Verletzung überwunden hat. Auch er braucht Zeit, um wieder einmal die Wahrheit zu verdauen, die so jäh aus der längst verdeckt geglaubten Vergangenheit gerissen wurde.

Er dreht sich langsam zu dem Weg, den er beschreiten soll und sagt leise zu Hanna: „Bitte, komm nach. Ich warte auf dich. Verzeih mir. Es tut mir leid.” Er zieht die nasse Kapuze wieder über den Kopf und hält sie fest, damit der Wind sie ihm nicht wieder vom Kopf weht.

Dann geht er über den Trampelpfad Richtung Hütte. Hanna sieht durch ihre verweinten Augen und den dichten Regenschleier, wie Frank mit schleppenden Schritten über den aufgeweichten Boden stapft und die Kleidung schlaff an seinem Körper klebt und trieft. Sei spürt in ihrem rasenden Schmerz nicht mehr, dass sie selbst genau so tropfnass und jammervoll aussieht wie Frank.

Der Himmel hat alle Pforten geöffnet. Die Umgebung ist in ein tiefes Dunkelgrau getaucht. Die Blitze tauchen nur Sekunden lang die karge Bergwelt in grellgelbes Giftlicht. Hanna schaut Frank weinend nach und sieht, wie der nächste Blitz vom Himmel schießt, Frank in eine leuchtend weiße Lichtkugel taucht und mit einem grausigen Zischen genau auf den Metalldruckknopf trifft, der in Franks Nacken blank liegt und die Kapuze befestigt. Eine Stichflamme zuckt über Franks Rücken und brennt ein großes Loch in die Jacke, den Pullover und das Hemd. Aber der strömende Regen löscht das Feuer sofort.

Wie durch einen Schleier nimmt Hanna wahr, dass der Mann vor ihr wie ein gefällter Baum nach vorn kippt und regungslos mit dem Gesicht nach unten in die Mischung aus Kies, Wasser, Schlamm und Moos klatscht und regungslos liegen bleibt.

Hanna ertappt sich bei dem zornigen und selbstgerechten Gedanken: „Das geschieht dir gerade recht!” Und sie hört wie aus der Ferne ihre Stimme schreien: „NEIN!” gellt es in das nächste Donnerrollen. „NEIN! FRANK!”

Gleichzeitig rennt sie los, stolpert über eine glitschige Wurzel, rafft sich hoch, hastet weiter, wirft sich neben Frank auf den Boden, dreht ihn an der verkohlt riechenden Jacke um, blickt in sein Gesicht, das völlig verschmutzt durch sie hindurch schaut.

Sie ruft mit angstvoller Stimme: „Frank! So sag doch was!” und tätschelt sein Gesicht, wischt mit ihren nassen Händen den Dreck von Stirn, Wangen und Lippen, küsst ihn auf den erdigen Mund, presst ihren heißen Atem in seinen Rachen und seine aufgeschürfte Nase, drückt zwischendurch rhythmisch auf seinen Brustkorb, reißt seine Jacke auf, wirft sich mit dem Ohr über sein Herz, hört doch nur ihr eigenes Herz rasen, schreit “HILFE!” in den schwarzen Himmel gegen die tobende Sturmwand, glaubt, dass jemand sie hört und weiß doch, dass sie völlig allein auf weiter Flur vergeblich kämpft.

Sie ruft, fleht, jammert. Hanna ist völlig außer sich vor Verzweiflung und Hilflosigkeit. Ihre unbeholfenen Wiederbelebungsversuche sind ohne Erfolg. Frank ruht im heftigen Gewitter mit gebrochenem Blick zwischen Flechten, Baumwurzeln und Moos.

Der strömende Regen lässt langsam nach. Der Donner und die Blitze entfernen sich und werden seltener.

Hanna liegt neben Frank, sie liebkost seine leblose Wangen, seinen kalten Mund, streichelt über sein schmutzig nasses Haar. Sie schluchzt vor sich hin: “So hab ich es nicht gemeint. Bitte, vergib mir! Ich wollte nur eine Weile meinen Schmerz verdauen und dich nicht in den Tod schicken.”

Es dauert lange, bis sie sich gefasst hat und ihre Lage klar einschätzt. Sie bemerkt erst spät, dass es inzwischen aufgehört hat zu regnen. Die Umgebung leuchtet wieder heller, in der Ferne taucht die Sonne hinter den schwarzen Wolken auf. Die nassen Gräser blinken glitzernd mit ihren Tropfen.

Hanna ordnet Franks nasse Kleider, faltet seine Hände über der Brust, drückt ein wasserpralles Mooskissen aus und legt es auf Franks Brust. Sie reinigt sein Gesicht so gut es geht. Dann steht sie auf, schaut weinend an sich hinunter, strafft ihre verdreckte Bluse und Jacke, lockert ihre triefende und mit Erde und Moos verschmierte Jeans am Körper, kippt das Wasser aus ihren Wanderschuhen und streicht ihre klebenden Haare zurück.

Während die ersten warmen Sonnenstrahlen über die nasse Landschaft huschen, spricht Hanna ein stilles Gebet, zeichnet Frank ein Kreuz auf die Stirn und das Herz und verharrt noch ein paar Minuten kniend neben ihm.

Dann steht sie auf, streicht Frank über das Gesicht und sagt mit fester Stimme: „Ich werde jetzt Hilfe holen. Ich komme ganz bestimmt zurück und bringe dich nach Hause!”

Hanna geht langsam wie in Trance zur Hütte. Sie spricht in Gedanken mit ihren Kindern, ihren Eltern, ihren Freunden. Sie versucht zu erklären, was geschehen ist, ohne das intime Geheimnis auszuplaudern. Als sie nach einer guten halben Stunde bei der Hütte ankommt, begrüßen die drei Menschen, die vor der Hütte den Platz von den Folgen des Unwetters reinigen, sie freundlich. Sie erkennen Hannas seltsam versteinerten Gesichtsausdruck und fragen besorgt: „Madame, Sie sind in das Gewitter geraten, können wir Ihnen helfen?”

Nach einigem Zögern antwortet Hanna mit Tränen in den Augen: „Mir wäre es lieber, Sie würden meinem Mann helfen. Er liegt dort draußen. Vom Blitz erschlagen!”

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht.

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Die Falle

Die Plattensiedlung war der ganze Stolz des „real existierenden Sozialismus“, und sie erfüllt wie alle Massenwohnsiedlungen die besten Bedingungen, dass in der Anonymität der prall gefüllten Mietkaserne tragische Schicksale unbemerkt ihren Lauf nehmen können. Die grauen großflächigen Fassaden mit ihren langweiligen und ungepflegten Fenstern laden niemanden ein, hinter die tristen Kulissen in das pulsierende Leben zu schauen, das wohl verborgen seinen staatlich verordneten Gang trottet.

Jetzt in den ersten sonnigen Frühlingstagen treiben auch hier in der vergammelten Siedlung aus Ulbrichts Glanzzeiten noch einige Bäume neues Grün, und die gelben und blauen Krokusse bieten ein lebendiges Beispiel, dass auch nach kalten Zeiten das warme Leben die Oberhand gewinnt. Keiner gießt die Blumen, und doch treiben sie kräftig ihre frischen Triebe durch die letzten Schneereste in der ehemaligen Erich-Honecker-Straße, die nach der Wende unverfänglich Nelkenstraße heißt. In den rasch wandelnden Tagen wurden die berühmten Namen schnell durch einen Gemeinderatsbeschluss umbenannt. Deshalb ist aus der Staatsratsiedlung mit den Politikernamen die Blumensiedlung geworden, und die Straßen tragen Namen wie Akazienplatz, Tulpenstraße und Rosenweg.

Nur das Schild mit der Nummer 9 vor dem Eingang des Hauses wurde nicht ersetzt. Es fehlt schon lange. Wahrscheinlich konnte es jemand gebrauchen und hat es „weggefunden“. Aber wenn man genau hinschaut, ist der Rostrand auf der schmutzigen Hauswand zu lesen. Die Namen an der großen Klingeltafel neben der grauen Haustür mit dem abgeblätterten Einheitslack lauten immer noch gleich wie vor der Wende und sind mit unterschiedlicher Schrift geschrieben, meist verwischt. Und viele Schilder tragen keine Namen, obwohl alle Wohnungen belegt sind. Man kennt einander und weiß, wer durch welchen Klingelknopf erreichbar ist.

Aber der sorgfältige Beobachter bemerkt, dass auf dem Schild für die Wohnung Nr. 73, das ist die dritte links im sechsten Stock, mit der Schrift eines alten Menschen Rosa Zielinski steht. Sie hat das Schildchen noch im letzten Sommer geschrieben und das alte vom Regen verwaschene Zettelchen ersetzt, als sie sich einmal nachts heimlich aus dem Haus schlich. Damals hat sie lange geprüft, ob ihr auch wirklich niemand folgt. Dann montierte sie das Deckelchen mit einem uralten Schraubenzieher ihres verstorbenen Mannes ab und verschloss das neue Schildchen unter einem durchsichtigen Plastedeckel.

Die Haustür ist immer offen, und jeder kann ins Haus gehen. Man hat ja staatlich befohlenes Vertrauen zueinander und achtet genau darauf, was der Nachbar macht. Neben dieser als sozialistische Brüderlichkeit getarnten Kontrolle entstanden aber auch die echten menschlichen Freundschaften und nachbarschaftlichen Hilfsdienste, ohne die es keiner in diesem Staat ausgehalten hätte.

Jedenfalls scheint sich in der Wohnung Nr. 73 gerade eine solche gute kameradschaftliche Verbindung anzubahnen. Da arbeiten nämlich zwei ältere Herren in den beiden Räumen, die jetzt die Wohnung von Sebastian Schlosser werden sollen. Er ist einer der beiden Männer und hat das Glück, dass er noch auf seine alten Tage in die frisch aber doch nur notdürftig renovierte Wohnung von Rosa Zielinski einziehen darf. Herr Schlosser hat sich schon vor fünf Jahren für eine der billigen Mietwohnungen beim Sozialamt angemeldet, und jetzt kann er endlich sein Hab und Gut in die neuen Zimmer bringen. Einige Möbel aus alten Zeiten stehen neben den Umzugskartons und vielen Kleinigkeiten in den beiden Zimmern.

Hubert Klassinger, der rüstige Hausmeister, hatte Herrn Schlosser geholfen, alle Einrichtungsgegenstände hoch zu tragen. Und jetzt schiebt der hilfsbereite Hausmeister seine Leiter an die Wand, weil er dort eine Lampe anbringen will, die Herr Schlosser mitgebracht hat. Die Leiter knallt leise an die Sockelleiste, Herr Klassinger schaut hinunter und erschrickt: „Oje, nicht schon wieder das!” ruft er aufgeregt und bückt sich rasch zum Boden.

Herr Schlosser, der gerade im zukünftigen Schlafzimmer einen Stuhl zurechtrückt, kommt schnell herüber und fragt: „Was ist los? Ist Ihnen etwas passiert?”

„Nein, nein, nichts,” stottert Herr Klassinger etwas unbeholfen und lässt seine rechte Hand in der Arbeitsmanteltasche verschwinden. „Nein, mir ist nichts passiert, machen Sie sich keine Sorgen!”

Herr Schlosser schaut verdutzt und fragt: „Aber warum sind Sie plötzlich so weiß im Gesicht? Und Sie haben ganz viele Schweißperlen auf der Stirn. Das kommt doch nicht davon, dass Sie die Leiter hochgeklettert sind. Irgend etwas stimmt nicht mit Ihnen.”

Herr Klassinger überlegt einen Moment, schließlich erwidert er langsam: „Es ist doch besser, ich sage es Ihnen gleich, wenn Sie schon in diese Wohnung einziehen. Irgendwann erfahren Sie die Geschichte von jemand anderem und dann vielleicht falsch. Da ist es schon besser, ich erzähle sie Ihnen.”

„Welche Geschichte? Ich verstehe Sie nicht. Gerade haben Sie doch gerufen: ´Oje, nicht schon wieder das!´ Was hat das mit einer Geschichte zu tun?”

„Das war´s,” meint Herr Klassinger, holt seine rechte Hand aus dem Mantel und streckt sie Herrn Schlosser offen hin. Dieser schaut genau drauf und sagt verwundert: „Das ist ein ganz normaler, länglicher schwarzer Knopf. Lag der hier? Er gehört mir nicht. Was regt Sie daran so auf?”

Der Hausmeister zupft nervös an seinem Kittel, und dann dreht er den Knopf zwischen seinen Fingern hin und her: „Eigentlich bin ich wegen zwei Sachen aufgeregt. Ich habe bei dem Knall an die Sockelleiste geschaut und einen schwarzen Punkt gesehen und gedacht, dass Sie hier in der Wohnung Kakerlaken haben. Und dann habe ich den Knopf von Rosa gefunden, und das ist wirklich sehr aufregend.”

„Also, dass Sie Ungeziefer aus der Fassung bringt, kann ich verstehen. Haben wir denn hier im Haus Kakerlaken?” fragt Herr Schlosser erregt und mit weit aufgerissenen Augen und wischt sich mit dem Ärmel über die nasse Stirn. „Nein, nein, Sie können beruhigt sein, Herr Schlosser,” besänftigt Herr Klassinger, „wir hatten Ungeziefer, aber ich habe zusammen mit dem Kammerjäger eine gründliche Reinigung der Wohnung vorgenommen, nachdem wir hier ausgeräumt und bevor wir renoviert haben. Und jetzt dachte ich, das schwarze Ding an der Sockelleiste sei eine Kakerlake.”

„Oje,” ruft Herr Schlosser entsetzt, „ich würde einen Herzschlag bekommen, wenn ich in meiner Wohnung solches Ungeziefer finden würde. Das ist das Schlimmste, was es für mich gibt: Spinnen, Würmer und Kakerlaken! Sind Sie wirklich sicher, dass die Wohnung jetzt ganz frei von Kakerlaken ist?”

„Aber natürlich, Herr Schlosser,” beruhigt Herr Klassinger den aufgeregten Mieter, „der Kammerjäger hat mir garantiert, dass die Wohnung frei ist von Ungeziefer. Sie können beruhigt sein!”

„Das will ich aber hoffen. Ich habe schon einen Schreck bekommen!” Herr Schlosser atmet auf und fragt weiter: „Aber warum haben Sie sich denn über den Knopf aufgeregt?”

„Das ist für mich sehr wichtig,” erklärt Herr Klassinger, „denn genau dieser Knopf ist ein ganz wichtiger Schlüssel zu dem Rätsel, das Rosa uns aufgegeben hat. Die Kripo und die Gerichtsmediziner haben nach zwei solchen Knöpfen gesucht wie nach einer Stecknadel im Heuhaufen. Jetzt haben wir wenigstens einen davon.”

„Das klingt ja wirklich spannend: Kripo, Gerichtsmedizin, Indizien! Ich hatte schon immer eine Vorliebe für Kriminalromane. Erzählen Sie mir die Geschichte! Ich will wissen, was in der Wohnung passiert ist, in der ich jetzt wohnen soll!” Herr Schlosser zieht den grünen Sessel zum Sofa und lädt Herrn Klassinger mit einer freundlichen und drängenden Geste ein, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Dabei wischt er sich die wenigen schweißverklebten weißen Haare aus der runzeligen Stirn und putzt sich kräftig schnaubend die blaurot gefärbte Nase ins bunt karierte Taschentuch, das ihm sein Sohn im Zehnerpack aus dem Westen geschickt hatte.

„Also gut, Herr Schlosser, machen wir Pause. Das ist eine gute Idee. Wir haben ja schon alle Möbel oben,” meint Herr Klassinger freundlich, klopft seinen Mantel ab, um das Sofa nicht staubig zu machen, und zündet sich zitternd eine Zigarette an. Herr Schlosser bemerkt die innere Erregung und wartet geduldig ab, bis Herr Klassinger langsam anfängt zu reden: „Sie müssen wissen, Herr Schlosser, ich bin schon dreißig Jahre hier im Haus und kenne jeden Bewohner genau. Die Stasi wollte immer meine Kontakte ausnützen und mich aushorchen, aber ich bin standhaft geblieben und habe meinen Mund gehalten. Der Rosa, die hier gewohnt hat, habe ich auch immer geholfen, bis zum Schluss.” Dabei wird seine Stimme traurig, und er bricht den Satz ab, als wollte er das angefangene Thema gleich wieder beenden.

Es entsteht eine kurze Pause, und ihre Blicke wandern in dem ungemütlichen Raum umher. Die Wände sind frisch gestrichen, aber die über Putz verlegten Stromleitungen und die Zimmertür mit den vielen übermalten Macken zeigen das Alter der Wohnung, die immer noch muffig riecht. Der stumpf gelaufene Linoleumboden und die durchgedrückten Löcher verraten genau, wo Frau Zielinski den Schrank, den Tisch und die Kommode stehen hatte.

„Ja, ja,” seufzt Herr Klassinger und schaut dem Zigarettenrauch nach, der durch das geöffnete Einfachglasfenster in die Frühlingsluft hinauszieht, „heute haben Sie ja Glück mit dem Wetter für den Umzug gehabt!” Er stockt kurz und mit einem Wink zum Kanonenofen hin ergänzt er bedeutungsvoll: „… nach dem strengen Winter!”

Herr Schlosser versteht nicht ganz, warum Herr Klassinger vom Thema ablenkt, aber er will nicht unhöflich sein und beobachtet deshalb den Hausmeister genau, der unruhig auf dem Sofa hin und her rutscht und sichtlich unsicher ist, wie er die Geschichte beginnen soll. Und Herr Schlosser entschließt sich deshalb dazu, lieber eine Frage zu stellen: „Wissen Sie denn etwa, wie viel Kohle ich brauche, wenn´s richtig kalt wird?”

Er schaut Herrn Klassinger aufmerksam an. Der stämmige Hausmeister streicht sich überlegend den grauen Vollbart und sagt dann langsam und mit einem traurigen Unterton: „Na ja, das hängt natürlich davon ab, wie warm Sie´s haben wollen und wie viel Sie in der Wohnung anziehen.” Er macht eine kleine Pause, und weil er Herrn Schlossers verblüfftes Gesicht sieht, ergänzt er leise und warnend: „Rosa, also Frau Zielinski, hat trotz der Eiseskälte überhaupt nicht geheizt!”

Herr Klassinger gleitet noch etwas tiefer in das Sofa, schaut auf den Boden und wie im Selbstgespräch murmelt er vor sich hin: „Das war ja das Problem.” Aber diesen Satz hört Herr Schlosser nicht, weil er aus lauter Eitelkeit das Hörgerät nicht tragen will, das er jetzt nach der Wende von der Krankenkasse kostenlos bekommen würde. Er fragt weiter: „Das ist ja seltsam. Der Winter war wirklich bitterkalt. Wie hat Frau Zielinski denn das ausgehalten in diesem schlecht isolierten Bau?”

Herr Klassinger zögert einen Moment mit der Antwort und überlegt, wie viel er von Rosa erzählen soll, er weiß ja auch nicht, wie dieser neue Mieter mit Rosas ungewöhnlicher Geschichte zurechtkommen würde. Und so gibt er im Moment nur zwei Sätze preis: „Wissen Sie, die Rosa war in den letzten Jahren schon recht seltsam und eine schrullige Frau. Sie war manchmal nicht so ganz richtig im Kopf.” Er tippt mit dem Zeigefinger leicht an seine Schläfe, um seinen Worten noch mehr erklärenden Nachdruck zu verleihen.

Herr Schlosser drückt seinen Zigarettenrest in einem alten Farbenbecher aus, den die Maler vergessen hatten, und fragt interessiert: „Wie meinen Sie das denn – nicht so ganz richtig im Kopf?”

„Ach,” sagt Herr Klassinger, „sie wurde immer vergesslicher und oft sehr ärgerlich, weil sie glaubte, die Stasi und die Nachbarn würden sie abhören. Dabei wussten doch alle, dass sie völlig alleine lebte und nur sehr selten ihre Wohnung verließ, um das Nötigste einzukaufen. Und besonders schlimm wurde es mit ihr, als sie anfing zu behaupten, die Nachbarn würden ihren Willen mit Röntgenstrahlen zerstören. Da war es sehr schwierig, mit ihr richtig umzugehen.”

Herr Klassinger rutscht nach vorn auf die Sofakante, seine Stimme wird leicht erregt und klingt gepresst: „Und stellen Sie sich vor, mir allein hat Rosa vertraut, nur mir hat sie ihre bösen Ängste erzählt. Am schlimmsten war es, als sie von den vielen Stimmen gepeinigt wurde, die sie drängten, sich zu verstecken, weil sie bald zum Foltern abgeholt werden würde. Das hat sie ganz verrückt gemacht. Sie schlief nicht mehr, verbarrikadierte sich und zog auch tagsüber alle Gardinen zu.”

„Ja aber haben Sie denn nicht versucht, ihr diesen Blödsinn auszureden?” fragt Herr Schlosser erregt. „Das ist es ja gerade,” wirft Herr Klassinger ein: „Eben weil ich ihr immer wieder klar gemacht habe, dass es die Stimmen gar nicht gibt, wurde alles nur noch fürchterlicher. Denn jetzt behauptete sie, ich mache mit den Stimmen gemeinsame Sache, und Rosa beschuldigte mich, ich sei ein Verschwörer. Sie ließ mich ein paar Wochen lang nicht mehr in die Wohnung. Es hat lange gedauert, bis ich wieder ihr Vertrauen bekam.”

Herr Klassinger betont langsam und mit allem Nachdruck: „Ich sag es Ihnen, Herr Schlosser, kein Mensch hat sie verfolgt, wirklich nicht! Und Rosa verlangte von mir, ich solle dafür sorgen, dass diese anderen Leute alle in die Irrenanstalt kommen, weil sie krank seinen. Dabei haben wir hier im Haus wirklich friedliche Bewohner, und wir mochten die Rosa, auch wenn sie manchmal komisch war, denn alle wussten, dass sie im Grunde eine harmlose und gute Frau war. Deshalb hat auch oft einer von uns für sie eingekauft, weil sie doch mit ihrer kranken Hüfte die vielen Treppen nur mit Schmerzen steigen konnte.”

Herr Klassinger zieht eine neue Zigarette aus der Schachtel und ein Billigfeuerzeug aus der Manteltasche. Dabei schaut er den Werbeaufdruck an und knurrt ärgerlich: „Da sehen Sie, auch so eine Gaunerversicherung! Diese Kapitalberater und angeblich menschenfreundlichen Versicherungsagenten haben unser Land nach der Wende wie eine Heuschreckenplage heimgesucht! Sich haben sie gut beraten und zu sich und ihrem Geldbeutel waren sie freundlich. Mich haben sie dabei reingelegt. Jetzt komme ich aus dem Vertrag nicht mehr raus! Es ist ja nur ein kleiner Trost, aber dieses Feuerzeug werde ich bis zum letzten Tropfen Benzin ausbrennen!”

Seine Stimme ist voll Wut, und Herr Schlosser pflichtet ihm bei: „Ja, das glaube ich Ihnen! Wenn mein Sohn aus Düsseldorf mich nicht rechtzeitig gewarnt hätte, wäre ich auch zwei Vertretern aufgesessen, die mir auf meine alten Tage noch eine Lebensversicherung aufreden wollten.”

Er lässt sich von Herrn Klassinger eine Zigarette anzünden und fragt nach einem tiefen Zug: „Und wie ging die Geschichte mit Frau Zielinski weiter?”

Der Hausmeister fährt in seiner Erzählung fort: „Irgendwann kapierte ich, dass sie einen echten Verfolgungswahn hatte und richtig krank war und nicht nur ein bisschen komisch. Ich verstand, dass alles nur schlimmer wird, wenn ich versuchte, ihr den Wahn auszureden. Deshalb ließ ich mich darauf ein, mit Rosa ein Klopfzeichen zu vereinbaren, an dem sie erkennen konnte, dass ich es war, der sie besuchen wollte. Ich musste ihr hoch und heilig und immer wieder versprechen, es niemanden zu verraten. So kam es, dass ich über Wochen der einzige Mensch war, der sie sah. Und ich musste zusehen, wie sie die Wohnung und sich verkommen ließ. Sie aß immer weniger, obwohl ich ihr alles einkaufte, was sie brauchte. Und so nahm sie auch immer mehr ab, und weil sie ohnehin eine zierliche Frau war, bekam ich es mit der Angst zu tun. Denn ich befürchtete, sie würde vielleicht verhungern. Schrecklich unangenehm wurde es, als Rosa auch noch viele Nahrungsmittel in den hintersten Ecken versteckte, denn sie meinte, die Stimmen würden ihr das Essen stehlen.

Zu allem Übel vernachlässigte sie sich selbst auch körperlich und wusch sich nicht mehr, wechselte nur noch selten die Kleider, und die schmutzigen Hemden ihres Mannes, die sie auftrug. Die Socken und Unterhosen lagen in irgend welchen Ecken auf dem Fußboden oder in Schubladen herum. So begann es schließlich im warmen Spätsommer überall schrecklich zu stinken, und Rosa erlaubte nicht, dass ich die Fenster öffne.”

Herr Schlosser zieht die Nase hoch und sagt angewidert: “Das muss ja fürchterlich gerochen haben!” – “Nein,” besteht Herr Klassinger auf seinem Wort, “es hat bestialisch gestunken. Ich habe es schon im Treppenhaus gerochen, wenn ich hoch kam, und die Nachbarn beschwerten sich bei mir. Und das Allerschlimmste war, dass ich eines Tages die Kakerlaken in allen Ecken entdeckte. Da bekam ich wirklich die Panik. Ich versuchte alles, um mit Insektenvertilgungsmitteln dieser Plage Herr zu werden. Es war ein ständiger Kampf mit Rosa, die mir dauernd vorwarf, ich wolle sie gleich mit vergiften, und die Sache mit den Kakerlaken sei nur ein Vorwand, um Gift in die Wohnung zu schleppen. Es wundert mich heute noch, warum sie mich überhaupt noch herein ließ.”

Herr Klassinger wischt seine schweißnassen Hände hektisch am Arbeitsmantel ab und redet schnell weiter: „Schließlich konnte ich Rosa in einer stundenlangen Diskussion endlich dazu bewegen, dass ich unter ihrer Aufsicht aufräumen und lüften durfte. Sie können sich nicht vorstellen, wo ich überall Essen gefunden habe: Unter der Matratze, unter dem Sofa, auf der Gardinenstange, zwischen den verdreckten Wäschestücken, sogar in einem Beutel im Toilettenwasserkasten! Es war wirklich entsetzlich! Und überall dieses Ungeziefer! Mich ekelt heute noch, wenn ich an dieses Gewimmel denke! Und dann musste ich mit Rosa um jede Minute kämpfen, die das Fenster noch länger offen bleiben durfte.”

Herr Schlosser verdreht die Augen, als würde er gerade den alten Gestank riechen und die Kakerlaken durchs Zimmer huschen sehen, aber er drängt weiter: „Ja, haben Sie denn keinen Arzt geholt?” Aber Herr Klassinger schüttelt den Kopf: „So einfach ging das nicht! Ich durfte ja niemandem etwas von Rosa erzählen. Wenn ich wenigstens mit meiner Frau reden und sie um Hilfe fragen hätte können, aber ich lebe ja seit ihrem Tod vor drei Jahren auch allein. Und Rosa hatte zu mir Vertrauen, das wollte ich nach der Zwangspause nicht verspielen, die Rosa mir damals auferlegt hatte, als sie glaubte, ich würde mit den Stimmen gemeinsame Sache machen. Andererseits wusste ich, dass ich ihr nicht wirklich helfen konnte, also ich meine medizinisch. So für den Alltag ging es schon – mit einkaufen, waschen, aufräumen, aber Rosa wurde immer verbohrter, starrsinniger, und oft konnte ich mit ihr kein vernünftiges Wort reden.”

Er fährt sich mit der Hand über den Bart und schüttelt langsam den Kopf: „Eines Tages war ich dann so weit, dass ich auch nicht mehr konnte. Ich war völlig verzweifelt, mein Herz begann ganz unregelmäßig zu schlagen, und ich bekam starke und beklemmende Brustschmerzen. Da ging ich zu Dr. Maschek. Er ist schon viele Jahre mein Hausarzt und hat in dem Block um die Ecke seine Praxis. Ich wusste, dass er auch Rosa betreut hatte, aber sie war schon lange nicht mehr bei ihm gewesen.

Dr. Maschek untersuchte mich gründlich, auch mit dem neuen EKG, das er sich nach der Wende kaufen konnte, und meinte dann, es sei nichts Schlimmes. Aber er kannte mich gut und merkte, dass ich ganz erschöpft aussah und kalte nasse Hände hatte. Ich zitterte, und er spürte meine innere Erregung. Und so fragte er mich ganz gezielt, ob ich Sorgen hätte. Da hielt ich es nicht mehr länger aus und erzählte die Geschichte von Rosa und mir.

Er hörte geduldig zu und erklärte mir dann, dass Rosa eine Psychose habe. Wissen Sie, Herr Schlosser, das ist eine schwere Geisteskrankheit, bei der sie die Wirklichkeit ganz anders erlebt hat als wir, und da hat es gar keinen Wert, wenn man mit Vernunftargumenten kommt. Er hat von einem richtigen Wahnsystem gesprochen, das die Kranken für sich aufbauen und in dem sie leben. Und wenn wir Gesunden der Wirklichkeit dieser Menschen widersprechen, werden sie wütend, weil sie nicht verstanden fühlen. Dann glauben sie, auch wir würden sie verfolgen und bedrohen. Dr. Maschek hat mir das so gut erklärt, dass ich die Zusammenhänge tatsächlich verstanden habe, auch wenn ich immer noch nicht weiß, warum Rosa sich verfolgt fühlte.”

Herr Klassinger hält einen Moment inne und lässt Herrn Schlosser nachdenken. Dann holt Herr Schlosser tief Luft und meint: „Ja aber, was hat Dr. Maschek dann vorgeschlagen?”

„Er sagte sofort, dass Rosas Krankheit so weit fortgeschritten sei, dass man ihr wenn überhaupt nur in einer psychiatrischen Klinik helfen könne. Aber wie sollten wir sie denn freiwillig dorthin bekommen? Da wurde mir plötzlich klar, dass Rosa sich noch mehr verfolgt fühlen würde, wenn wir ihr sagen, dass wir sie in eine Klinik bringen wollen. Das wäre ja Wasser auf ihre Mühlen und würde ihre schlimmsten Ängste bestätigen. Können Sie sich vorstellen, was das für eine verzwickte Situation für mich war, weil ich nicht wusste, wie ich es richtig machen soll?”

Herr Schlosser sieht, wie Herr Klassinger schon wieder nervös seine Schweißperlen auf der Stirn abwischt und hört ihm weiter zu: „Dr. Maschek und ich vereinbarten schließlich, dass wir es bei nächster Gelegenheit so arrangieren mussten, dass er einen Hausbesuch bei Rosa machen durfte, am besten unter einem medizinischen Vorwand, und sie dabei nach längerer Zeit einmal untersuchen konnte.

Tatsächlich hatte Rosa zu jener Zeit immer wieder heftigen Husten. Es war mittlerweile Herbst geworden. Sie erinnern sich bestimmt, dass der Oktober schon recht kalt war. Und Rosa heizte nicht, weil sie von ihren Stimmen gehört hatte, dass die Kohlen vergiftet seien und die Nachbarn sie mit den Dämpfen des Ofens umbringen wollten.”

Herr Klassinger macht eine ausladende Geste mit beiden Armen und zieht die Schultern hoch, und Herr Schlosser erkennt die Ratlosigkeit seines neuen Hausmeisters, der sein ganzes Entsetzen verzweifelt zeigt: „Stellen Sie sich vor, sogar vor den Kohlen hatte sie Angst! Deshalb trug sie im Herbst schon immer zwei oder drei Pullis oder dicke Hemden über der Unterwäsche, weil es in der Wohnung bitterkalt wurde und sie sich nicht getraute zu heizen. Auch ich zog immer einen besonders dicken Pullover an, wenn ich in ihre Wohnung kam. Ich war mir sicher, dass Rosa eine Bronchitis oder vielleicht sogar eine Lungenentzündung hatte. Das wäre ein guter Vorwand gewesen, Dr. Maschek zu ihr zu bringen.

Und so fragte ich sie bei meinem nächsten Besuch an diesem Nachmittag, ob ich denn nicht Dr. Maschek rufen sollte. Er würde sicherlich gern zu ihr kommen. Aber sie war entsetzt über die Idee und verbot mir schroff, mit ihm zu reden. Jetzt wusste ich überhaupt nicht mehr, was ich tun sollte. Ich versuchte, mit ihr zu diskutieren und ihr die Vorteile eines Arztbesuches schmackhaft zu machen. Denn ich wollte ja auf jeden Fall ihr Einverständnis für den Besuch erreichen. Aber ich schaffte es nicht. Sie müssen sich das mal vorstellen: Da lebt man viele Jahre in einem Haus mit einem Menschen und will ihm helfen, weil er krank ist. Und dieser Mensch meint, alle anderen seien krank und wehrt die Hilfe ab. Das ist doch wirklich eine Katastrophe!”

Herr Schlosser drängt: „Das ist ja schlimm, dafür muss es doch eine Lösung geben. Was haben Sie denn da gemacht?” „Es wurde noch viel dramatischer!” meint Herr Klassinger. „In den darauf folgenden Tagen ging es Rosa so schlecht, dass sie kaum mehr aus dem Bett kam und manchmal ganz blau anlief, wenn sie husten musste. Sie konnte mir nur noch unter großen Mühen die Wohnungstür aufmachen. Deshalb überredete ich sie dazu, mir ihren Wohnungsschlüssel zu überlassen. Ich musste ihr versprechen, ihn niemandem zu geben und keinen ihn die Wohnung zu lassen.

Und als sie eines Morgens bei einem Hustenanfall fast erstickt wäre, lief ich zu Dr. Maschek in die Sprechstunde hinüber, ohne es Rosa zu sagen, und bat ihn, sofort zu kommen. Ich war schweißgebadet vor Angst um ihr Leben und machte mir im Moment keine Sorgen mehr um ihre Reaktion mir gegenüber. Ich hatte nur noch im Sinn, wenigstens ihr Leben zu retten. Ich wollte nicht verantwortlich sein dafür, dass sie stirbt, nur weil ich den Doktor nicht rechtzeitig geholt habe. Er kam auch sofort mit und ließ seine Patienten warten. Wir standen auf dem Hausflur, und ich schloss mit heftigem Herzklopfen die Tür auf. Ich spürte plötzlich, wie ich zitterte vor Angst, was Rosa sagen würde, wenn ich einen Fremden mitbringe. Sie kannte Dr. Maschek ja, aber inzwischen waren alle Menschen außer mir Feinde für sie, auch wenn sie diese Leute schon lange kannte.”

Herr Klassinger greift mit zitternden Händen nach der Schachtel in seiner Arbeitsmanteltasche, holt eine neue Zigarette hervor, zündet sie umständlich mit dem Billigfeuerzeug an, nimmt einen hektischen Zug und stößt den Rauch rasch aus dem Fenster. Herr Schlosser atmet schnell: „Das ist ja aufregend!”

Der Hausmeister nickt bestätigend: „Jetzt ging es erst richtig los! Sie können sich nicht vorstellen, wie wütend Rosa war, als sie uns beide sah. Sie beschimpfte mich, ich sei ein Verräter, ich solle sofort verschwinden und den Fremden mitnehmen, er wolle sie nur umbringen. Sie erkannte den Doktor nicht, und als er sich vorstellte, er sei doch ihr Hausarzt, wurde sie noch zorniger und schrie, er habe sich nur verkleidet und maskiert, er sei von der Mörderbande aus dem Nachbarhaus und habe ihre Kohlen vergiftet, er solle sich zum Teufel scheren, da gebe es noch mehr Kohlen, sie werde ihn rauswerfen, wenn er nicht freiwillig gehe. Sie geriet völlig außer sich und lief mit ihrem Geschrei dunkelblau im Gesicht an und schnappte so nach Luft, dass ich noch mehr Angst bekam, sie würde sofort an einem Erstickungsanfall sterben.

Sie wollte aus dem Bett springen und auf den Doktor losgehen, fiel aber dabei auf den Boden, und wir konnten sie gerade noch auffangen, so dass sie sich nicht verletzte. Als wir sie aufheben wollten, packte sie den Doktor am Jackett und versuchte, ihn ins Gesicht zu schlagen. Er konnte gerade noch ausweichen, reagierte aber trotzdem ganz beruhigend auf sie und ließ sich nicht drausbringen. Ich war total aufgeregt. So etwas hatte ich ja noch nie erlebt. Aber er blieb gelassen und redete beruhigend auf sie ein. Zuerst machte das Rosa nur noch wütender, böser, und sie stieß die schlimmsten Schimpfwörter aus. Sie schlug um sich und warf mit dem Hausschuh nach uns, den sie auf dem Boden gerade noch greifen konnte.

Es war ein Riesentumult, und ich dachte daran, was wohl die Nachbarn sagen, wenn es hier am hellichten Tag so zugeht. Aber wir wussten auch, dass Rosa manchmal ihren Wutanfall bekam und dann auf den Boden stampfte, schimpfte und tobte, um die bösen Verfolger zu verjagen. Es ging immer wieder rasch vorbei, und deshalb nahm diesen Krach inzwischen keiner mehr ernst. Aber früher hat sie mich nie angegriffen. Jetzt war das ganz anders, denn wir beide waren die Zielscheibe ihrer Verzweiflung und ihres Zorns.

Ich ging in Deckung, um ihre Schläge nicht abzubekommen, und Dr. Maschek bemühte sich aus angemessener Entfernung, Rosa gut zuzureden. Schließlich beruhigte sie sich und sank erschöpft auf den Boden. Wir wollten ihr ins Bett helfen, aber sie wehrte sich mit Händen und Füßen um sich schlagend und krabbelte schließlich mühsam und hustend mit blauem Gesicht ins Bett zurück und versteckte sich unter der Decke. Dann war endlich Ruhe.”

Herr Klassinger sinkt erleichtert in das Sofa zurück und stöhnt: „Meine Güte, das regt mich heute noch auf, wenn ich daran denke. Die Situation war fürchterlich. Das können Sie sich gar nicht vorstellen!”

Herr Schlosser atmet auf und sagt mit gepresster Stimme: „Es ist ja schon aufregend, wenn ich Ihnen nur zuhöre. Wie schlimm muss es dann erst gewesen sein für Sie, in der Wohnung so bedroht zu werden. Hat sie sich denn dann untersuchen lassen von Dr. Maschek?”

„Nein,” sagt Herr Klassinger, „er hat es gar nicht versucht, sondern zu mir leise gesagt: ´So kommen wir nicht weiter. Wir gehen jetzt, und ich organisiere den Krankenwagen und melde sie in der Klinik an. Dann komme ich nach der Sprechstunde wieder und bringe sie in das Krankenhaus. Wenn es sein muss auch mit Zwang, aber ich werde alles versuchen, um es so friedlich wie möglich zu machen. Sie können sie beobachten, und wenn sie ruhig ist, kann sie schlafen. Sie ist jetzt sowieso ganz erschöpft. Ich lasse Ihnen diese zwei Fläschchen hier.´ Damit stellte er zwei kleine Medikamentenschachteln aus seiner Arzttasche auf den Tisch und sagte: ´Das hier enthält ein Beruhigungsmittel, und das andere ein schleimlösendes Mittel. Wenn Sie Frau Zielinski überreden können, wäre es gut, ihr von beiden Medikamenten zwanzig Tropfen zu geben. Dann hat sie Erleichterung mit dem Husten und wird ruhig gestellt bis zu dem Transport. Vielleicht gelingt es uns dann besser, sie ohne großen Wirbel in die Klinik mitzunehmen.´ Ich kannte die Mittel, weil er sie auch meiner Frau damals gegeben hatte, als sie mit ihrem Lungenkrebs im Bett lag und sich so quälte.

Dann verließ er die Wohnung, und ich setzte mich auf den Stuhl neben das Bett und wartete ab. Ich sah, wie Rosa einen kleinen Schlitz an der Bettdecke freigelassen hatte, um Luft zu holen, und wie sich die Bettdecke in Rosas Atemrhythmus langsam hob und senkte. Erst nach einer ganzen Weile bemerkte ich, wie Rosa sich bewegte, herausschaute und fragte: ´Ist der Verrückte jetzt weg?´ Ich beruhigte sie und riet ihr, ein bisschen zu schlafen. Sie lächelte verschmitzt und verwirrt. Es war so ein richtig irrer Blick. Das wunderte mich nicht, weil ich diese seltsame Mimik kannte. Ich erklärte ihr die Medikamente und bat sie, die Tropfen zu nehmen, aber sie meinte inzwischen wieder ruhig, sie könne auch so schlafen. Ich wollte nicht noch einen Streit mit ihr haben, und so drängte ich sie nicht weiter und ließ die Tropfen auf dem Tisch stehen.

Da fiel mir plötzlich ein, dass ich unbedingt nach einem defekten Lattenverschlag im Keller schauen musste. Die Nachbarn hatten sich schon bei mir beschwert. So vereinbarte ich mit Rosa, dass ich mich jetzt um die Reparatur kümmern würde, während sie schläft. Später würde ich wieder nach ihr schauen. Ich musste ihr noch einmal versprechen, ja diesen Verrückten nicht mehr mitzubringen, überhaupt niemanden dürfe ich in die Wohnung bringen, sonst würde sie mir den Schlüssel abnehmen. Ich versprach es ihr und hatte ein elend schlechtes Gewissen, denn ich wusste ja, dass ich Dr. Maschek später wieder in die Wohnung lassen musste.

Ich ging also in den Keller und versuchte, den Verschlag zu reparieren. Aber mir fehlten ein paar Ersatzteile, und so fuhr ich mit dem Rad zu dem neuen Baumarkt, kaufte die Nägel und Schrauben und Eisenwinkel und konnte schließlich den Verschlag ausbessern. Das Ganze dauerte länger als ich beabsichtigt hatte, da stand auch schon der Rot-Kreuz-Wagen mit Dr. Maschek vor der Tür. Die beiden Sanitäter holten die Trage und ein paar Gurte aus dem Wagen, um im Notfall Rosa festbinden zu können. Dann stiegen wir die Treppen hoch, und ich schloss mit zitternden Händen auf. Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wie schlecht es mir ging! Ich war der helfende Verräter, der Rosa hinterging, um sie ins Krankenhaus einliefern zu lassen. Richtig kotzübel fühlte ich mich. Entschuldigung für das Wort, aber es zeigt am besten, wie es mir ging.”

Herr Klassinger erhebt sich aus dem Sofa und geht langsam zum Fenster, schaut hinaus und deutet hinunter vor das Haus: „Da parkte der Wagen!” Dann dreht er sich um und zeigt an die Wand im Schlafzimmer: „Und hier stand das Bett, wo jetzt Ihr Bett auch steht.” Er macht eine lange Pause, Herr Schlosser hält die Luft an und schaut den Hausmeister erwartungsvoll an, der langsam und leise sagt: “Und was wir dann sahen, war ein totaler Schock für uns!”

Herr Klassinger hält inne, schüttelt langsam den Kopf, als wolle er es immer noch nicht wahrhaben, was er damals gesehen hatte. Erst als Herr Schlosser ungeduldig „Weiter, weiter!” drängt, sagt Herr Klassinger trocken: „Das Bett war leer. Rosa war verschwunden!”

Eine fette Fliege surrt durch das Zimmer, dreht brummend ihre Runde über das Bett und das Sofa und lässt sich auf dem verstaubten Linoleumboden nieder. Sie findet ein winziges Krümelchen, packt es mit ihren Vorderbeinen und hebt wieder zum Flug ab. Mit einer großen Runde durch das Wohnzimmer findet sie das offene Fenster und verschwindet. Die beiden Männer beobachten sie verblüfft, denn diese Unterbrechung lenkt sie von der Erzählung ab. Herr Schlosser kommt zuerst in den Gedankengang von vorhin zurück und wendet sich Herrn Klassinger zu: „Wie bitte? Das Bett war leer? Wo war sie denn?”

Herr Klassinger zuckt mehrfach mit den Schultern und mit der Stirn: „Sie war verschwunden. Ganz einfach weg.”

„Sie wollen mich auf den Arm nehmen, Herr Klassinger!” sagt Herr Schlosser, und sein Gesicht blieb in einer völlig verdutzten Mimik stehen: „Erzählen Sie mir nicht so etwas! Das ist jetzt ein schlechter Witz am falschen Platz. Sie konnte doch nicht einfach verschwinden!”

„Doch!” beharrt Herr Klassinger, „Nachdem wir unseren ersten Schreck überwunden hatten, suchten wir systematisch die Wohnung ab, und das geht ja in diesen zwei Zimmern schnell. Rosa war tatsächlich verschwunden. Wir waren total irritiert und wussten im ersten Moment gar nicht, wie wir ihr Verschwinden erklären sollten. So setzten wir uns hier an den Tisch und auf das Sofa und beratschlagten, was wir tun könnten.

Dabei entdeckte Herr Dr. Maschek, dass das vorher ganz volle Fläschchen mit dem Beruhigungsmittel leer und das andere mit den schleimlösenden Tropfen noch ganz voll war. Erst als ich ihm mehrfach versicherte, dass ich Rosa die Tropfen nicht gegeben hatte, sie sogar strikt alle Medikamente abgelehnt hatte, erklärte Dr. Maschek uns, wie gefährlich es war, wenn Rosa tatsächlich die Flasche leer getrunken hat: ´Dann kommt sie nicht weit,´ sagte er, ´und wenn sie da draußen irgendwo im Wald liegt, erfriert sie.´ Wir fanden auch in der Wohnung keine Spuren, wo sie das Fläschchen ausgekippt haben könnte. Sie muss das Fläschchen mit dem Beruhigungsmittel leer getrunken haben. Dr. Maschek vermutete, dass sie das schleimlösende Mittel nehmen wollte, um Erleichterung zu haben, es aber mit dem Beruhigungsmittel verwechselt hat.

Wir entdeckten auch, dass ihr grauer Wintermantel, die schwarzen Fellstiefel und der braune selbstgestrickte Schal fehlten. Auch ihre Wollmütze und die Fausthandschuhe konnten wir nicht finden. Sie hatte also, wie sie selbst immer sagte, ihr eigenes Heizsystem mitgenommen. Als ich dann feststellte, dass auch ihre große Handtasche verschwunden war, suchte ich in Rosas Versteck ihr gespartes Geld. In einem besonders vertrauensvollen Moment hatte sie mir nämlich einmal vor langer Zeit verraten, dass sie ihre ganze Habe in einem Kuvert im Futter ihres Sessels versteckt und mit einem verdeckten Reißverschluss an der Unterseite des Kissens gesichert hatte. Auch das Geld war verschwunden. Jetzt wussten wir, dass Rosa geflohen war und alles mitgenommen hatte, was sie an Wertvollem tragen konnte.

Da beschlossen wir, eine Suchaktion nach ihr einzuleiten. Dr. Maschek benachrichtigte von seiner Praxis aus die Polizei. Ich lieferte dazu die Personenbeschreibung. Dann fragten wir die Nachbarn, ob jemand Rosa beim Verlassen der Wohnung bemerkt hatte, aber keiner hatte sie gesehen. Zu der fraglichen Zeit hielt sich außer mir und der alten bettlägerigen Frau Steinhauer in der Wohnung direkt hier drunter niemand im Haus auf. Alle anderen waren bei der Arbeit, und ich war im Keller, anschließend beim Baumarkt und kam dann erst zurück. Rosa hatte also genügend Zeit, langsam und unbemerkt von ihrer Wohnung durch das Treppenhaus ins Freie gehen. Um diese Zeit ist draußen nicht viel los. Auch der Kinderspielplatz liegt auf der anderen Seite des Hauses. Und der Wald beginnt gleich dort drüben. Sie hatte es nicht weit, um unbemerkt unterzutauchen.”

„Ja aber, sie war doch schwer krank! Warum hätte sie denn die Wohnung verlassen sollen?” fragt Herr Schlosser verwundert.

„Na klar, weil sie Angst vor dem Verrückten hatte. Aber vielleicht gibt es ja noch einen besseren Grund!” Herr Klassinger hebt den Zeigefinger, als wolle er sich zu Wort melden und auf eine besondere Idee aufmerksam machen: „Mir fiel schließlich ein, dass sie unter der Decke einen Luftschlitz gelassen hat, um atmen zu können, und da hat sie vielleicht gehört, dass der Doktor zu mir gesagt hat, er wolle Rosa später abholen lassen. Das brachte mich auf die Idee, dass sie deshalb geflohen war. Als ich diese Überlegung Dr. Maschek erzählte, meinte er, das sei durchaus möglich. Nur, und das war das Unerklärliche: Rosa blieb verschwunden.”

Herr Schlosser schüttelt den Kopf: „Das glaube ich nicht. Ein Mensch kann doch nicht einfach spurlos verschwinden, und schon gar nicht, wenn er so gehbehindert und körperlich und seelisch krank ist wie Frau Zielinski. Also jetzt geben Sie es zu, Herr Klassinger, an welcher Stelle der Geschichte Sie mich auf den Arm genommen haben. Es ist ja wirklich unerträglich zu glauben, sie sei tatsächlich verschwunden und nicht wieder aufgetaucht.”

Herr Klassinger nickt bekräftigend: „Es war tatsächlich so! Wir haben auch systematisch den ganzen Wald durchgekämmt. Und trotz einer umfangreichen Suchaktion der Polizei und einigen Zeitungsanzeigen mit Bild wurde sie nicht gefunden.” Er steht auf, geht zum Fenster und schaut hinaus, als wolle er sich vergewissern, dass sie auch jetzt nicht draußen auf dem Rasen spazieren geht.

„Erzählen Sie doch, Herr Klassinger! Wie ging die Geschichte weiter?” Herr Schlosser wird ungeduldig, aber der Hausmeister bleibt ruhig: “Langsam, langsam! Ich erzähle Ihnen alles, aber der Reihe nach!”

Herr Klassinger lässt die Worte wie Tropfen langsam fallen und berichtet weiter: „Die Polizei hat diese Wohnung dreimal gründlich durchsucht, um Spuren aufzunehmen und Hinweise zu finden, die uns weiterhelfen könnten bei der Suche nach Rosa. Und die Beamten haben es wirklich gründlich gemacht, das können Sie mir glauben. Der Kriminalkommissar stellte sogar fest, dass Rosa in all den Jahren eigentlich nur einen der drei Stühle benutzt hatte, denn sein abgeschabtes Polster an der Vorderkante und die Eindrücke auf dem Linoleum waren deutlich sichtbar, während die anderen Stühle nur verstaubt aber sonst wie neu wirkten und der Boden darunter nicht verbraucht aussah.

Die Polizei hat auch alle Nachbarn befragt. Aber niemand hat Rosa gesehen. Wie gesagt, keiner außer Frau Steinhauer und mir war hier im Haus, und sie berichtete lediglich, sie habe lange lautes Gepolter gehört, aber dann sei es immer stiller geworden. Eine genaue Zeit konnte Frau Steinhauer nicht angeben, weil sie keine Uhr am Bett hat. Und der Krach war ja nichts Neues. Den Lärm haben wir miterlebt.”

Herr Schlosser rutscht gespannt auf dem Sessel hin und her, sein Mund steht offen, als könne er so besser hören: „Also jetzt raus mit der Sprache! Es muss doch eine Lösung des Rätsels geben!” Er ist jetzt sehr bestimmt, und Herr Klassinger spürt, dass der neue Mieter nicht mehr bereit ist, sich länger auf die Folter spannen zu lassen. Herr Schlosser sinkt in den Sessel zurück und wartet mit angehaltenem Atem auf Herrn Klassingers Antwort.

Dieser schaut Herrn Schlosser ganz ruhig an und sagt bedächtig: „Als die Polizei Rosa als nicht auffindbar erklärt hat und wir auf Anordnung des Sozialamtes die Wohnung ausräumen mussten, damit sie neu vermietet werden konnte, habe ich einen Container besorgt. Dann trugen wir die Einrichtung und den ganzen Ramsch Stück für Stück aus der Wohnung. Das meiste hier war so alt, dass wir es geradewegs zum Müll warfen. Verwandte gab es ja nicht, die Ansprüche auf die Einrichtung hätten anmelden können.

Als wir alle Räume fast leer hatten, blieb noch das letzte Möbelstück übrig. Das war ihr Sofa. Es stand hier, wo auch Ihr Sofa jetzt steht. Rosa hatte dieses Möbel von ihrem Ersparten mit ihrem Mann Ende der Fünfzigerjahre gekauft, es war ihr eine fast heilige Erinnerung an ihn. Wissen Sie, so ein richtig großes altes Stück mit abgewetztem Bezug und kaputten, durchgesessenen Federbälgen, das man kaum heben kann, weil es so unhandlich und schwer ist. Deshalb hatten wir es auch bis zum Schluss stehen gelassen.”

Herr Schlosser erhebt sich, geht nervös auf und ab und schüttelt ungläubig den Kopf. Da klatscht ein heftiger Windstoß den Fensterflügel zu. Die beiden Herren haben nicht bemerkt, dass ein Gewitter aufzieht. Sie schauen unwillkürlich zum Fenster. Die grauschwarzen Wolken bedecken bedrohlich den Himmel, der stürmische Wind peitscht die Bäume und Hecken, und im Laufe des Gespräches war langsam die Dämmerung in das Zimmer gekrochen. Herr Klassinger steht auch auf, schließt das Fenster, geht zum Lichtschalter, und jetzt verbreitet die nackte Glühbirne an der Decke ihr ungemütliches Licht. Die Männer setzen sich wieder, und Herr Schlosser spürt, wie sein Gegenüber die Gedanken sammelt und überlegt, wie er am besten weitererzählen soll.

Nach einer kurzen Pause sagt der Hausmeister: „Stellen Sie sich die Situation vor, wir stehen hier und wollen zu viert das Sofa hochheben. Ich greife mit einer linken Hand vorn an das Polster, mit der rechten hinten an die Lehne. Die drei Männer packen ebenfalls zu, und auf mein Kommando heben wir an. Da splittert plötzlich unter dem Sofa Holz, es kracht entsetzlich, und der Bezug in der unteren Frontverkleidung zerreißt, als ob das ganze Sofa entzwei brechen würde. Wir schauen uns verblüfft an, und ich lache: `Na prima, wenn das olle Ding jetzt schon kaputt geht, können wir die Einzelteile leichter hinuntertragen. Ich kommandiere: Absetzen! Mal sehen, was abgebrochen ist. Dann können wir das Sofa gleich hier auseinander nehmen.`

Wir wollen es gerade wieder erleichtert abstellen, und ich schaue auf den Boden, um meine Finger nicht einzuklemmen, da sehe ich, wie langsam eine weiße Hand aus dem Riss unter der Sitzfläche herausrutscht.”

Herr Klassinger hält inne und sieht, wie Herr Schlosser blass wird, die Augen verdreht und schließt und tief in seinen Sessel sinkt. Sein Kopf fällt auf die Brust. Ein Seufzer des Entsetzens würgt sich zwischen den krampfhaft zusammengepressten blauen Lippen hervor, und die Hände hängen schlaff und blass über die abgeschabte Lehnen. Der Hausmeister springt alarmiert auf: „Herr Schlosser, was ist denn los mit Ihnen? Ist Ihnen nicht gut? Soll ich Dr. Maschek holen?”

Er reißt mit einem Sprung das Fenster auf, und der Regen prasselt ins Zimmer. Herr Klassinger knallt in aller Eile den Flügel wieder zu, holt aus seiner Hose ein Taschentuch und wischt über Herrn Schlossers schweißnasse Stirn. Langsam hebt und senkt sich die Brust des fast bewusstlosen Mannes. Und der Hausmeister ergreift langsam das Handgelenk von Herrn Schlosser, um den Puls zu fühlen, wie er es in der letzten Arztserie gesehen hat. Er erschrickt, denn was er tastet, ist sehr unregelmäßig, und er spürt, dass dieses Stolpern und die Pausen gefährliche Zeichen sein müssen.

Da hört er, wie sich aus den Lippen von Herrn Schlosser ein leiser Satz quält: „Legen Sie mich auf den Boden, dann geht´s gleich wieder!” – „Ja, natürlich, gern!” beeilt sich Herr Klassinger und hilft dem neuen Mieter, langsam von dem Sessel auf den Boden zu rutschen. Ganz vorsichtig nimmt Herr Klassinger schließlich den Kopf von Herrn Schlosser in die Hand, damit er nicht auf dem Linoleum aufschlägt, und er legt seine Beine vorsichtig auf einen kleinen Schemel, der neben dem Sessel steht.

„Danke,” stöhnt Herr Schlosser leise, und Herr Klassinger sieht, wie der erschöpfte Mann am Boden sich entspannt. Dann wartet der Hausmeister einen Moment ab und beobachtet erleichtert, wie langsam die rosa Farbe des Lebens wieder in Herrn Schlossers Gesicht zurückkehrt. Nach ein paar Minuten öffnet er die Augen, und ein gezwungenes Lächeln fliegt über sein Gesicht: “Entschuldigung, aber ich hätte Ihnen sagen sollen, dass ich Aufregungen nicht so gut vertrage. Das war doch ein bisschen viel!”

„Stimmt,” nickt Herr Klassinger und setzt sich neben Herrn Schlosser auf den Boden, „für uns auch!” Die beiden schweigen und schauen einander an. Erst nach einer ganze Weile dreht sich Herr Schlosser langsam auf die Seite, stützt seinen Kopf auf den Ellbogen und sagt mit einem halb ernsten, halb lachenden Ton: “Also, erzählen Sie weiter, ich bleibe vorsorglich liegen! Vielleicht hauen Sie mich ja noch einmal um mit Ihrer Geschichte!”

Herr Klassinger getraut sich nicht: „Wollen Sie wirklich? Ist es nicht zu viel?” Herr Schlosser schüttelt den Kopf: „Nein, nein, jetzt will ich´s wissen! Hat Frau Zielinski tatsächlich die ganze Zeit tot im Sofa gelegen? Wie geht das denn?”

Da setzt Herr Klassinger sich etwas bequemer hin, lehnt sich an das Sofa, zieht seine Beine an und sagt: “Ja, können Sie sich unseren Schock vorstellen: Wir sehen die tote Hand vorn aus dem Sofa ragen! Und wir können ihn gar nicht richtig absetzen, weil wir den Arm sonst in den Spalt einklemmen. Jetzt wird es schwierig, weil drei von uns das unhandliche Möbelstück halten müssen. Ich versuche herauszufinden, wie sie in das Polster hineingekommen war. Erst beim genaueren Hinschauen erkenne ich, dass die Sitzfläche des Sofas beweglich und ein Bettkasten in den unteren Teil eingelassen ist. Ich muss die kalte Hand wieder durch den Schlitz in den Kasten zurück stecken, damit wir das Sofa absetzen können. Dann wollen wir die Sitzfläche hochklappen, aber da sperrt irgendein Widerstand.”

Herr Schlosser hat sich inzwischen in seiner inneren Anspannung aufgerichtet und an seinen Sessel gelehnt. Er kann es einfach nicht fassen, was er hört. Und so sitzen die beiden Männer einander gegenüber auf dem Fußboden.

Herr Klassinger erzählt weiter: „Wir müssen uns hier auf den Boden vor das Sofa legen, um durch einen kleinen Schlitz unter der Sitzfläche in den Kasten hinein schauen zu können. Da erkennen wir, dass es tatsächlich Rosa ist, die in dem engen Gefängnis zusammengequetscht liegt. Sie hat sich mit der linken Hand in dem unteren Futter des Sitzes verkrallt, und ich will hinein fassen, um die starren Finger aus der verkrampften Lage zu lösen. Aber mein Arm reicht nicht so weit. Rosa hält noch im Tod ihr Sofa so fest, dass wir die Sitzfläche schließlich mit roher Gewalt anheben müssen. Dabei ziehen wir Rosa mit hoch, weil sie mit dem Mantel an den Stahlfedern hängt. Erst jetzt kann ich in den Kasten greifen und Rosas Hand mit einiger Mühe aus dem zerrissenen Bezug heraus hebeln. Dann lasse ich Rosa wieder auf den Bettkastenboden sinken, und wir können wir den Sitz ganz hoch klappen und die Lage überblicken.”

Herr Klassinger stöhnt auf, fast so intensiv wie damals, als er Rosa nach vielen Monaten tot wiedersah. Er redet mit geschlossenen Augen weiter und ruft sich dadurch die gespenstische Szene noch einmal deutlich in Erinnerung: „Es ist so gruselig! Ich spüre, wie mein Hemd vom Schweiß an meinen Rücken geklebt wird und ich am ganzen Körper anfange zu zittern. Ich sehe, wie eine Gänsehaut meine Unterarme überzieht. Mir wird übel, mein Bauch rebelliert, ich kann gerade noch den Mageninhalt hinunterschlucken, der plötzlich in meinen Mund hoch geschleudert wird. Ich will raus rennen, aber ich habe das Gefühl, Rosas Hand hält mich hier am Boden. Fest geklammert sitze ich hier am Boden, als hätte sie sich in meinem Hemd verkrallt! Die nackte Angst schüttelt mich! Rosa packt mich noch im Todeskampf und zieht mich zu sich ins erstickende Gefängnis! Sie stiert mit starren und panikgeweiteten Augen in das Unterfutter des Sofas, kann es nicht fassen, dass sie sich selbst in den Sarg gelegt und lebendig begraben hat.

Ich höre, wie sie mich wütend und in höchster Todespanik anschreit: `Warum hilfst du mir nicht?! Du hast mir doch sonst immer geholfen? Warum hast du diesen verdammten Doktor mitgebracht? Warum lässt du mich hier elendig verrecken?!` Dieses Warum! Immer wieder das Warum! Es verfolgt mich bis in meine Träume! Ich wache nachts schweißgebadet auf, weil Rosa mich immer wieder anschreit! Ich hätte ihr helfen sollen! Aber ich habe doch nicht geahnt, dass sie versucht zu fliehen, und schon gar nicht, dass sie sich in das Sofa einsperrt! Ich spüre richtig, wie sie mich zu sich in den Tod reißt, mitnehmen will ins Jenseits!”

Herr Klassinger drückt röchelnd die erstickenden Schreie aus seinem Mund, gestikuliert wild mit seinen Armen. Er rutscht auf dem Boden hin und her, um sich Rosas Griff zu entziehen, die Augen immer noch verkrampft geschlossen, den ganzen Körper in tobender Aufruhr. Herr Schlosser spürt Rosas und Herrn Klassingers totale Verzweiflung und herausbrechende Wut. Er ist gebannt von dem Gefühlsausbruch, der sich vor seinen schreckgeweiteten Augen abspielt. Auch er kann sich der dramatischen Lage in dem erdrückenden und erstickenden Sofaquetschgefängnis nicht entziehen. Er vergisst fast zu atmen, scheint die verzweifelten Schreie der Eingeschlossenen zu hören, er sieht wie sie schwächer wird. Ihr stoßender Atem keucht immer leiser, schon legen die vernichtend überdosierten Beruhigungstropfen besänftigende Schleier über die peitschenden Wogen ihrer Todesangst. Rosa wird müde. Verzweifelt müde. Tödlich müde. Mit allerletzter Kraft packt sie die herausgerissenen Stahlfedern über sich, will sie nach oben stoßen, um vielleicht doch noch den rettenden Atemzug der Freiheit einzusaugen. Aber die übermächtigen Fäuste des schweren Medikamentes entreißen ihr unerbittlich den Lebenswillen und die Körperkraft aus dem geschwächten, bebenden Leib. Da gleitet langsam ihre rechte Hand aus dem Stahlgewirr der Federn, Rosa ist schon bewusstlos, ohnmächtig, ohne Macht über ihr Sterben. Die Luft zum Atmen wird knapper, und Rosas Leben erlischt leise wie eine Kerze. Todesruhe breitet sich endgültig in dem flachen Sofagrab aus.

Ruhe liegt jetzt auch über dem Wohnzimmer. Aber diese Stille ist ganz anders. Es ist ein Moment der lebhaften inneren Anteilnahme, bei der die äußere Bewegungslosigkeit nicht über die intensiven Gefühle hinwegtäuschen darf. Dies sind die Minuten, in denen alle Konzentration nach innen gerichtet ist, und jeder Gedanke, jede Regung, die nach außen gelangen, nur das große innere Geschehen zerstören. Die beiden Männern haben ihre Augen geschlossen und lassen langsam die Bilder des Grauens und des tödlichen Friedens abklingen. Sie kommen wieder in die Wirklichkeit dieses Spätnachmittags in der ungemütlichen Wohnung zurück.

Herr Klassinger richtet sich etwas mühsam wieder auf, lehnt am Sofa, öffnet sich noch einen seiner Hemdknöpfe, und er fragt vorsichtig: „Sagen Sie mal, Herr Schlosser, also bitte, fassen Sie es nicht als unbescheiden auf, aber könnte ich mir mal eine Flasche von dem Bier holen, das in der Küche steht?”

„Aber ja, natürlich, das habe ich in der Spannung Ihrer Erzählung völlig vergessen! Bringen Sie mir eines mit. Mir geht es wieder besser! Wir trinken aus der Flasche, die Gläser sind noch eingepackt.” Herr Schlosser lacht mühsam, und als Herr Klassinger die beiden Flaschen mit dem Kronkorkenöffner an seinem Taschenmesser öffnet, prostet er seinem Hausmeister zu: „Auf eine gute Nachbarschaft, und danke für Ihre Hilfe bis jetzt!” Sie nehmen einen tiefen Zug aus der Flasche, da setzt Herr Klassinger ab und meint nachdenklich: “Eigentlich müssten wir auf Rosa trinken!”

Herr Schlosser überlegt kurz: „Warum hat sie denn keiner gefunden, Sie haben doch erzählt, dass die Wohnung mehrfach sorgfältig durchsucht worden ist?”

Herr Klassinger nickt und zuckt mit den Schultern: „Ganz einfach, wir haben nicht gewusst, dass dieses Sofa einen Bettkasten besitzt, und keiner von uns hatte die Idee, die Sitzfläche hoch zu klappen.”

Herr Schlosser lässt nicht locker: „Der Gedanke, dass sie mehrere Monate tot in diesem Kasten gelegen hat, ist für mich fast unerträglich! Das kann nicht stimmen!”

Herr Klassinger bestätigt ihm: „Aber genau so war es. Erst als die Polizei und ein Gerichtsmediziner die Lage genau untersuchten, stellte sich heraus, dass Rosa, nachdem wir sie verlassen hatten, mehrere Pullover und Mäntel übereinander angezogen hatte. Sie trug alle Kleidungsstücke übereinander, die wir vergeblich gesucht hatten, und noch einige dazu. Auch ihre zweite Armbanduhr fanden wir bei ihr, die sie all die Jahre sicherheitshalber in ihrem Sesselversteck verborgen hatte. Fluchtbereit kletterte sie in den Bettkasten. Offensichtlich wollte sie sich verstecken, damit wir sie nicht finden, wenn wir ein paar Stunden später zurückkommen, um sie zu holen. Wir nehmen an, dass sie in der Nacht das Haus verlassen wollte.

Als sie aber in dem Kasten lag, muss es ihr zu eng geworden sein. Jedenfalls haben die Gerichtsmediziner und die Kripobeamten festgestellt, dass Rosa zusammengequetscht in ihrer eigenen Falle lag, ihre Handtasche neben sich mit dem vollen Geldumschlag. Tiefe Eindruckspuren von den defekten Sprungfedern waren in ihr totes Gesicht und in die Kleider graviert. Bei ihrem Befreiungskampf müssen die Knöpfe, von denen ich vorhin einen gefunden habe, an den Stahlzacken abgerissen sein. Die Polizei hat bemerkt, dass sie am Mantel fehlten und fand sie nicht. Wahrscheinlich sind sie damals im allgemeinen Trubel aus dem Bettkasten herausgerollt und beim Putzen unter die Sockelleiste gerutscht.

Der Lärm, den Frau Steinhauer gehört hat, dieses dauernde Stampfen und Schlagen, muss durch Rosas verzweifelte Versuche entstanden sein, sich aus dem Gefängnis zu befreien. Ich habe es genau angeschaut: Es war schrecklich eng, und sie bekam bestimmt nur kurze Zeit genügend Luft. Der Doktor erklärte mir auch, dass sie ja durch ihre körperliche Anstrengung und Aufregung noch mehr Sauerstoff verbraucht hat als man normalerweise benötigen würde.”

„Das ist ja ein schrecklicher Tod!” stöhnt Herr Schlosser. „Sie ist richtig erstickt!” Er schaut Herrn Klassinger erwartungsvoll an, der zustimmt: „Ja, und sicherlich ist sie durch die Überdosis des Beruhigungsmittels noch rascher gestorben. Deshalb war auch Ruhe in der Wohnung, als wir Rosa holen wollten.”

Herr Schlosser gibt zu bedenken: „Aber es kann doch nicht sein, dass man die ganzen Monate keinen Verwesungsgeruch dieser Leiche gerochen hat!”

Aber Herr Klassinger entgegnet: „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass der Winter so kalt war, und die Wohnung natürlich auch nach Rosas Verschwinden nicht geheizt wurde. Den ganzen Winter über lag sie bei tiefen Minusgraden gut konserviert hier im Sofa. Als wir sie herausholten, war sie wie eine Mumie gut erhalten und stank nicht. So konnte der Gerichtsmediziner sie problemlos sezieren, und er stellte fest, dass sie erstickt war. Außerdem konnte er das Betäubungsmittel nachweisen.”

Herr Klassinger lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander: „So, jetzt kennen Sie die ganze Geschichte. Grausig, nicht wahr?” Herr Schlosser sitzt mit gesenkten Lidern vor seinem Sessel und schweigt. Erst nach einer ganzen Weile und einem Schluck Bier sagt er: „Das muss ich jetzt erst mal verdauen.”

Der Hausmeister erhebt sich langsam und streckt dem neuen Mieter freundlich die Hand hin: „Also dann, eine gute erste Nacht! Und morgen früh komme ich, dann mache ich Ihnen die Lampen und die Gardinen hoch.”

Während er zur Tür geht, dreht er sich noch einmal um, hält Herrn Schlosser den Knopf hin und fragt: „Darf ich den behalten? Als Erinnerung an Rosa? Und Sie erzählen es nicht der Kripo, dass ich ihn gefunden habe? Die Polizei nimmt ihn mir sonst vielleicht weg. Auch wenn der andere noch fehlt.”

„Natürlich behalten Sie ihn. Er gehört mir ja gar nicht!” Herr Schlosser lacht und fügt dann hinzu: „Da fällt mir ein, das Namensschild von Frau Zielinski an der Klingelanlage unten könnten Sie auch haben, wenn Sie wollen. Stecken Sie ein neues für mich rein?” –

„Aber, ja, danke, das mache ich gleich morgen Früh,” sagt Herr Klassinger und verlässt grüßend die Wohnung.

Herr Schlosser geht nachdenklich in die Küche, um noch ein Bier zu holen. Er räumt den Tisch leer, auf dem allerlei Utensilien liegen, die noch ihren Platz in der Küche finden müssen. Die Gläser und Becher liegen in Zeitungspapier eingewickelt in einer kleinen Kiste. Herr Schlosser packt aus und sucht ein Glas. Da fällt ein blauer Plastebecher auf den Boden und rollt ins Eck. Herr Schlosser bückt sich und entdeckt dabei neben dem Ofen einen schwarzen länglichen Fleck. Intuitiv greift er danach, um den zweiten Knopf aufzuheben. Aber die Kakerlake rennt unter den Spülstein.

Nachtrag: Rosa Zielinski hat tatsächlich in der ehemaligen DDR gelebt -natürlich unter ihrem richtigen Namen-, und sie ist nach der Wende so gestorben, wie ich es geschildert habe. Der Fall wurde bei einer Ärztetagung in einem Gerichtsmedizinischen Institut vorgestellt. Die Unterhaltung zwischen Herrn Klassinger und Herrn Schlosser habe ich erfunden, um die Geschichte mit einer Rahmenhandlung erzählen zu können.

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Das Geständnis veöffentlicht

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Irische Verwünschungen – Flüche

 

 

Du sollst die Bienen finden und den Honig verpassen!

Ich wünsch Dir einen Fuchs an den Angelhaken!

Alle Ziegen in Gorey sollen Dich zur Hölle jagen!

Du sollst jedes Haar im Schwanz deiner Kuh bezahlen!

Der Fluch der Krähen über Dich!

Auf dass Du viele trock´ne Tage in der Erde liegst!

Ich wünsch´ Dir rote Bänder bei Deiner Beerdigung! (Rote Bänder wurden früher bei Trauerfeierlichkeiten von Mordopfern benutzt.)

Du wirst noch mit beiden Füßen voraus reisen!

Du sollst im Armengrab verrotten!

Du gemeines Stück! Ich wünsch Dir, dass Du bald entdeckst, dass es im Leichenhemd keine Taschen gibt!

Krüppel und Diebe sollen Deinen Sarg tragen!

Ich wünsch Dir, dass an Deinem Grab keiner weint – außer dem Zwiebelschäler!

Hoffentlich wirst Du so steinblind, dass Du deine Frau nicht von einem Grabstein unterscheiden kannst!

Hoffentlich hast Du bei Sonnenuntergang nichts mehr im Beutel und noch weniger in der Hosentasche!

Hoffentlich siehst Du nie das Himmelslicht, bevor Du mir bezahlst hast, was Du mir schuldest.

Tanz doch mit dem Teufel auf dem Rücken!

Ich schieß Dich zur Hölle!

Der Teufel soll Dich in den Aschenkasten sieben Meilen unter der Hölle sschleudern!

Sie sollen alle zur Hölle fahren ohne einen Tropfen Guinness  Dann können sie den ewigen Durst nicht stillen!

Der Teufel soll Dich quer verschlucken!

Der Teufel soll Dich zerreißen!

Die heißeste Ecke der Hölle für Dich!

Dafür sollst Du in der Hölle rösten, und der Teufel soll die Bratensoße trinken!

Ich bring Dich zum Teufel und sorg dafür, dass er Dich aus meiner Sicht nimmt!

Kalte Tage und Nächte für Dich ohne Feuer!

Dafür sollst Du in der Hölle verrotten, Du Bastard!

Am Galgen sollst Du enden!

Unheil über Deine Mutter, weil sie Dich getragen hat!

Hoffentlich brichst Du Dir die Kniescheibe, wenn Du die steilen Treppen deines blühendsten Gartens hinuntergehst!

Den Montagsfluch auf Dich!

Schlechte Steuern für Dich!

Ich wünsch Dir die Heirat in Eile und Reue mit Weile!

Ich wünsch´ Dir, dass Du fern vom Aschenkasten heiratest! (d.h. einen Fremden!)

Sie soll einen Geist heiraten und ihm eine Katze werfen, und der Hohe König der Ehre soll dafür sorgen, dass sie die Räude bekommt!

Ameisen und Spinnen in Euer Hochzeitsbett!

O verfluchtes Weib, das nicht zu Maria betet!

Deine Zähne sollen ausfallen, und Du sollst übers Meer verschwinden!

Einen rostigen Nagel durch die Zunge, die das gesagt hat!

Einen Haufen Flüche über Dich!

Die Schwindsucht über Dich!

Die Armseligkeit des Sünders und den Galgenknoten für Dich!

Mögen sich die Tore des Paradieses nie für Dich öffnen!

Ich wünsch Dir, dass Dein ganzes Hab und Gut nach Öl stinkt!

Drei Flüchen kann man nicht widersprechen:
Dem Fluch einer Frau in Wehen,
dem Fluch eines Mannes ohne Land,
dem Fluch eines Toten.

 

Dein Dach soll lecken,
Deine Stiefel quietschen,
Deine Augen sollen schielen
und im Alter ohne Rente trielen.

 

Hoffentlich musst Du einmal den Rücken eines Bettlers kratzen!

Die Hölle soll Deine Lippen trocknen!

Verdammt sei der Teufel, der Dich hierher gebracht hat!

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Irische Trinkwünsche – Toasts

Trinksprüche

 

Mögen die Scharniere unserer Freundschaft nie rosten!

Gute Gesundheit für die Feinde Deiner Feinde!

Mach Deine Pfeife nass, und lass uns nie in der Dürre sterben!

Nimm noch einen Drink, und lass Petrus glauben, es sei Tee!

Trink aus! Es ist immer der nächste, von dem Dir übel wird.

Hier noch einer für die Straße! Hoffentlich kennst Du jede Kurve!

Gesundheit für Dich und die Deinen, die meinen und die unsrigen! Wenn die meinen und die unsrigen je Dir und den Deinigen begegnen, hoffe ich, daß Du und die Deinigen so viel für die meinigen und die unsrigen tun werden wie die meinigen und unsrigen für Dich und die Dinigen getan haben.

Nicht empfohlen für Trinksprüche zu später Stunde!

Whiskey ist das Leben des Mannes!

Whiskey Johnny!

Whiskey in einer alten Zinndose,

Whiskey für meinen Johnny! (Toast der Dockarbeiter in Belfast)

Lass uns die bittere Tatsache vergessen, dass wir dafür bezahlen müssen!

Viel Glück für Dich und schlechte Schuhe für Deine Ratgeber! (Zu einem Zechkumpanen, der sich darüber beklagt, dass trinken schlecht sei für einen Mann.)

Hier ist das gleiche nochmal oder was ähnliches!

Der nächste Tropfen soll das Gras wachsen lassen auf Deinem Weg zur Hölle!

Gesundheit! Möge Dein Brunnen nie trocken fallen!

Der Mann mit leerer Tasche und Geldbörse kann nicht wie die anderen bezahlen. Laß diesen Mann hier für den dort bezahlen, und Gott wird für den letzten zahlen!

Auf die Gesundheit! Und wenn die Sorgen der Welt auf dem Fußboden ausgebreitet werden, sollst Du Dir Deine eigenen auswählen dürfen!

Möge nie eine Schramme sein auf der Hand, die bezahlt!

Wenn Du auf dem Ohr liegst, bevor Du gehst, wünsch ich Dir, dass Du süße Worte des Trostes hörst!

Ich wünsche Dir immer ein sauberes Hemd, ein ruhiges Gewissen und ein paar Pfund in der Tasche.

Antwort: Und wenn nicht, einen anständigen Mann, der uns einen Drink spendiert.

Trink als wär´s Dein letzter, aber möge der letzte nicht kommen vor morgen früh!

Trink aus! Hoffentlich sterben wir glücklich beim Anblick unserer eigenen Beerdigung!

Möge Gott Dich in seiner hohlen Hand halten und in der anderen einen Drink für Dich!

Am Ende dieses Tages trinken wir
auf die Arbeit, heute wohlgetan,
und wenn Du bist ein faules Tier,
stoßen wir auf morgen an!

 

Wir haben unsere Gesundheit,
wir haben unsere Erinnerung,
und wir haben unsere Frauen,
die uns nach Hause bringen!

 

Hoffentlich bist Du schon eine halbe Stunde im Himmel,
bevor der Teufel merkt, das Du tot bist!

 

Hoffentlich bleibt Dir Dein Eigentum, damit Du Deine Kinder damit aufziehen kannst. Und ich wünsche Dir, dass sie bei Dir sind und für Dich sorgen!

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Irische Segenswünsche

 

Mögen Freude, Frieden Dich umfangen,
Zufriedenheit die Türen schließen.
Möge Glücksgefühl bei Dir anlangen
und Dir für immer Segen sein.

Bei allen Deinen Taten sei Dein Freund das große Glück,
und fremd sei stets Dir jeder Sorgenblick.

 

Dies wünsch´ ich Dir mit vollem Herzen:
jemanden zu lieben,
Arbeit zu haben,
ein bisschen Sonne,
ein bisschen Lächeln
und einen Schutzengel immer in Deiner Nähe.

 

Wo immer Glück ist, hoff ich, trifft es Dich;
wo freundlich Lachen schallt, da klingt´s für Dich;
wo immer Sonne strahlt, da hoff ich, scheint sie Dir,
um jeden Tag so hell zu leuchten wie nur Dir.

 

Legende

Vor langer Zeit war Irland Heimat der Druiden,
und Bischof Patrick kam zu lehren Gottes Wort.
Er ward verehrt als Heiliger von seinem Volk
und gern geseh´n als Gast an jedem Ort.
Eines Tags begegnete er Menschen, die gestanden,
dass es ihnen schwer sei, die Dreieinigkeit zu fassen.
Partick dachte nach nur einen Augenblick und pflückte
rasch ein Kleeblatt, um sie diese seh´n zu lassen.
Er bot mit dieser schlichten schönen Pflanze
das Bild des „drei in einem“ überzeugend dar,
so dass seit dem Moment das Kleeblatt allen Iren
das Symbol von Vater, Sohn und heil´gem Geiste war.

 


Ich wünsche Dir noch viel mehr Segen
als Klee auf uns´ren Wiesen wächst,
und Sorgen seien fern von Deinen Wegen.

 

Ich wünsche Dir, dass die Liebe und der Schutz, die der Heilige Patrick spenden kann, Dich im Überfluss begleiten, so lange Du lebst.

 

Erin ist Irland

Immer wenn ich träume,
ziehen Erins Hügel fließend durch die Sinne,
lieblich schimmern seine Seen,
und so manche Bäche murmeln.
Ich höre Mädchen fröhlich lachen
ferne über weite Wiesen,
und meine Träume sehen sie an diesem Ort.

 

O Irenland! O Irenland!
Nie bin ich entfernt von Dir,
denn Deine Schönheit füllet meine Sinne
und greift erwärmend mir ans Herz.

Du segnetest mit Freunden mich,
mit Lachen und mit Freude,
mit Regen, weich wie Sonnenlicht.
Du segnetest mit Sternen mich, die meine Nacht erhellen.

Du schenktest Hilfe mir, das Falsche und das Richtige zu sehen.
Du schenktest vieles mir!
Drum bitte, Herr, so schenk mir auch
ein Herz, das danke sagt dafür.

 

 

Von der Brustplatte des Heiligen Patrick

Christus sei bei mir, Christus in mir,
Christus hinter mir, Christus vor mir,
Christus neben mir, Christus, mich zu gewinnen,
Christus mich zu trösten und aufzurichten,

Christus unter mir, Christus über mir,
Christus in Ruhe, Christus in Gefahr,
Christus in den Herzen aller, die mich lieben.
Christus im Mund von Freund und Fremden.

 

 

Sei gesegnet mit der Stärke des Himmels,
dem Licht der Sonne und der Leuchtkraft des Mondes,
der Pracht des Feuers,
der Geschwindigkeit des Blitzes,
der Feinheit des Windes,
der Tiefe des Meeres,
der Stabilität der Erde
und der Festigkeit des Felsens.
 

Gottes Macht, um mich zu lenken,
Gottes Kraft, um mich zu schützen,
Gottes Weisheit, um zu lernen,
Gottes Auge, um zu unterscheiden,
Gottes Ohr, damit ich höre,
Gottes Wort, damit ich kläre,
Gottes Hand, um mich zu decken,
Gottes Weg, um hinüberzugehen,
Gottes Schild, um mich zu führen,
Gottes Heer, um mich zu verteidigen.

 

Gewähre mir den Sinn für Humor, Herr,
die errettende Gnade, einen Witz zu erkennen,
um dem Leben ein wenig Glück abzugewinnen
und es an andere Menschen weiterzugeben.

 

Voll von Lachen sei Dein Heim,
Deine Taschen voll von Gold,
und alles Glück, das Dein
irisch Herz erfasst, sei stets Dir hold.

 

Mögest Du ein Lied im Herzen haben,
ein Lächeln auf den Lippen
und Dich an großer Freude laben,
wohin auch Deine Finger tippen.

 

Der Herr sei vor Dir,
um Dir den rechten Weg zu zeigen.
Der Herr sei neben Dir,
um Dich in die Arme zu schließen und Dich zu schützen.
Der Herr sei hinter Dir,
um Dich zu bewahren vor der Heimtücke böser Menschen.
Der Herr sei unter Dir,
um Dich aufzufangen, wenn Du fällst
und Dich aus der Schlinge zu ziehen.
Der Herr sei in Dir,
um Dich zu trösten, wenn Du traurig bist.
Der Herr sei um Dich herum,
um Dich zu verteidigen, wenn andere über Dich herfallen.
Der Herr sei über Dir, um Dich zu segnen.
So segne Dich der gütige Gott.

 

Gebet vor einer Reise

Schenke Sinn mir, wenn ich denke,
fülle Leben in mein Wort.
Gib, dass ich voll Kraft die Schritte lenke,
schlafe an dem sich´ren Ort.
Deine Liebe soll aus mir erstrahlen
und mir meine Wege glätten.
Sie möge mich bei allen Qualen
dieser Reise gnädig retten.

Lass diese Liebe alle Menschen spüren,
die meine Wege kreuzen oder teilen,
denn nur Du kannst alle sicher führen,
die in Deinem Reiche ruhen, eilen.

Lass gesund uns eines Tages wiederkehren
oder Heimat finden an dem fremden Ort.
Schenk uns Wasser, Brot und wilde Beeren
und jeden Tag Dein liebevolles Segenswort.

Zeige uns mit Deiner Weisheit klar
den Pfad aus Schlucht und dürrem Feld.
Und segne jetzt und immerdar
uns mit Frieden Deiner Geisteswelt.

 

Segenswunsch beim Anzünden des Feuers

Ich zünde Feuer an für diesen Tag, der uns geschenkt.
Ich bitte Dich, in mir die Liebe zu entfachen,
die mich und alle Hausbewohner lenkt.
Lass uns tatenkräftig sein und miteinander lachen.
Schenke uns, dass Deine Liebe über dieses Heim
hinaus wächst wie die Pflanze sprießt aus ihrem Keim.

 
Segenswunsch beim Sichern des Feuers für die Nacht

Erhalte, Herr, uns dieses Feuer bis zum Morgen.
Behüte uns mit Deiner großen Gunst
und lass uns ruhig schlafen ohne Sorgen.
Bewahr vor Räubern uns und Feuersbrunst.
Schenke uns mit Deiner Segensmacht
morgen wieder einen Tag, der lacht.

 

Ich wünsche Dir
den tiefen Frieden der fließenden Wellen,
den tiefen Frieden der strömenden Luft,
den tiefen Frieden der lächelnden Sterne,
den tiefen Frieden der ruhenden Erde,
den tiefen Frieden des wachenden Schäfers
und den tiefen Frieden des Friedenssohnes.

 

Ich wünsche Dir, dass die Gnade von Gottes Schutz und seine große Liebe in Deinem Heim verweilen und in dem Herzen aller, die darin wohnen.

Ich wünsche Dir, dass Gott in seiner Weisheit und unendlichen Liebe immer aus Himmels Höhen auf Dich herabschaut und Dir ein gütiges Schicksal, Zufriedenheit und Frieden sendet und all Deine Segnungen stets wachsen.

 

Irischer Weihnachts- und Neujahrswunsch

Ich wünsche Dir nicht,
dass keine Wolke des Leides über Dich kommt,
dass Dein Leben ein langer Weg von Rosen ist,
dass Du niemals eine Reueträne vergießt,
dass Du niemals Schmerzen fühlst.
Nein, das alles wünsche ich Dir nicht.

Denn Tränen reinigen das Herz, Leid adelt die Seele,
Schmerz und Not bringen uns dem Menschgewordenen und Gekreuzigten näher.

Mein Wunsch für Dich ist,
dass Du in Deinem Herzen immer die goldene Erinnerung
an jeden Tag Deines reichen Lebens bewahrst,
dass Du tapfer bist in den Stunden der Prüfung,
wenn das Kreuz auf Deine Schultern gelegt wird,
wenn der Berg, den Du zu besteigen hast,
überhoch und das Licht der Hoffnung sehr fern scheint,
dass jede Gabe, die Gott Dir geschenkt hat,
wächst mit den Jahren und dass sie Dir dazu dient,
die Herzen derer, die Du liebst, mit Freude zu erfüllen,
dass Du in jeder Stunde einen Freund hast,
der der Freundschaft wert ist,
dem Du vertrauend die Hand reichen kannst,
wenn es schwer wird,
mit dem Du den Stürmen trotzen
und die Spitzen der Berge erreichen kannst,
und dass in jeder Stunde der Freude und des Leidens
das Freude bringende Lächeln des menschgewordenen Gottessohnes mit Dir ist
und dass Du in Gottes Liebe bleibst.

 

Du kennst das Glück der Iren,
es ist das größte in der Welt,
und dieses Glück hab ich:
Du bist mein Freund! Das zählt.

 

Wenn du das Glück hast, Ire zu sein, hast du Glück genug.

 

Wie sanft liegt Irland als Smaragd so grün
und über allem Meeresschaum!
Es lässt erweckend süß Erinn´rung blühn
und ruft im Herz den Heimattraum!

Lasst uns Schuhe anzieh´n zu dem Tanze
und kleeblattgrüne Kleider tragen
und unsre Freunde grüßen hier und dort
und fröhlich sein an allen Tagen.

 

Die Legende der Kobolde

Gehst Du in mondheller Nacht durch den Frühling
den Waldpfad entlang und hörst leise seltsames Klopfen
des winzigen Hammers am Spund,
könntest Du Glückskind mit flüchtigen Blicken erhaschen
den irischen Kobold, den Schuster der Elfen.
Listreich und heiter durchziehen die Späße des Trolls
die alten Legenden der Iren.
Versteckt hat der Kobold an heimlicher Stelle
den Topf, bis zum Rande gefüllt mit dem Gold.
Er muss ihn dem geben, der einfängt den Troll.
Du musst schon sehr flink sein, die Beute zu greifen,
denn schlau ist der Flinke, der rasch Dich verführt,
den Blick wegzuwenden.
Und fort ist der Kobold im Wald.

Einst zwang den Kobold ein Mann,
ihm zu zeigen die Stelle,
wo tief im Boden das Gold lag im Topfe.
Rasch band der Mann an den Busch sein grellrotes Tuch,
um den Platz zu erkennen.
Dann rannte er heimwärts und holte den Spaten.
Er war nur fort drei Minuten.
Und doch hing an jedem der Büsche ein grellrotes Tuch.

 

Der Schwung im Lachen aller Iren
erleicht´re Deine Wege.
Die Nebel, welche Kräfte magisch zieren,
verkürzen Deine Stege.

Die süßesten Vergnügen in dem Innern,
die Dein Schicksal für Dich findet,
wünsche ich und Freunden das Erinnern
an die Gunst, die Euch gemeinsam bindet.

 

Ich wünsche Dir die schweren Taschen
und Dein Herz sei leicht,
und möge Dich das Glück erhaschen
am Morgen und zur Nacht.

 

Hügel wie Smagarde grün
bedecken Ländereien,
die Seen blau wie die Saphire
sind Irlands großer Stolz.
Und Flüsse, die wie Silber schimmern
lassen Irland hell erleuchten.
Aber seines Volkes Freundlichkeit
ist dort reichster Schatz.

 

Der Segen des Lichts

Ich wünsche Dir, dass der Segen des Lichts auf Dir ruht und Licht um Dich und in Dir leuchtet.

Ich wünsche Dir, dass das gesegnete Sonnenlicht auf Dich scheint und Dein Herz wärmt, bis es glüht wie ein großes Kaminfeuer. Dann kommen die Fremden und die Freunde und wärmen sich daran.

 

 

Ich wünsche Dir den Regenbogen
fürs Sonnenlicht nach diesem Schauer
und viele Meilen Irlands Lachen
für Glückesstunden ohne Dauer.

 

 

Klee auf Deines Hauses Schwelle
für Glück und Lachen auch!
Und eine Menge Freunde ohne Ende
sei an jedem Tag des Lebens Brauch.

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Irische Segenswünsche – Widmung

Widmung für Birgit

Den Iren, das sagt die Legende,
ist das Glück am meisten hold,
denn an jedem Regenbogenende
finden sie den Topf voll Gold.

Wenn ich mich nach innen wende,
sehe ich als Iren mich,
denn an meines Regenbogens Ende
fand ich Glückspilz Dich.

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Auf Glatteis

 

Die Notarztwageneinsätze im Winter sind oft riskant, denn der Fahrer sollte so rasch wie möglich und sicher sein Ziel erreichen. Das kann zu so komischen Szenen führen wie ich sie einmal erlebt habe, als ich mit dem Frühgeborenen-Rettungswagen mitten in der Nacht vom Olgahospital in Stuttgart nach Leonberg fuhr, um bei der Geburt eines Risikokindes dabeizusein und dieses anschließend zu versorgen. Es schneite so stark auf der breiten Straße, daß wir keine Straßenbegrenzung sehen konnten und mit Blaulicht im Schneckentempo mehr vorwärts rutschten als fuhren und uns mit den Augen im Scheinwerferlicht an der Leitplanke regelrecht entlangtasteten. Wir brauchten über eine Stunde für eine Strecke, die man bei trockener Witterung bequem in zwanzig Minuten hinter sich bringen kann. Glücklicherweise war das Kind bei unserer Ankunft schon vom Frauenarzt versorgt und außer Gefahr. Da es unreif war, nahmen wir es mit in die Kinderklinik und fuhren fast zwei Stunden Rutschpartie zurück.

Die volle Dramatik des Lebens habe ich allerdings bei dem folgendem Erlebnis empfunden. Es war in den frühen Morgenstunden, als unser Notarztwagen alarmiert wurde und ich mit den Rettungssanitätern auf spiegelblankem Glatteis zu einem Autounfall fahren musste. Ich fühlte an dem rutschenden Auto und sah in der konzentrierten Mimik des Fahrers, dass er sich redlich bemühte, auf dem schmalen Grat zwischen kontrolliertem Fahren und gefährlichem Schleudern die Richtung zu halten und zügig vorwärts zu kommen. Unglücklicherweise führte uns der Weg eine steile Straße empor, die wir zwar kannten aber nicht umfahren konnten. Schließlich kamen wir bei der gespenstisch beleuchteten Unfallstelle an und stiegen aus. Obwohl ich an das Eis dachte und mich beim Aussteigen festhielt, rutschte ich aus und wäre beinahe der Länge nach hingefallen.

Am Ende der wirren Reifenspur und hinter den aus dem Schnee gepflügten Grasbüscheln am Straßenrand sah ich das Unfallauto fast senkrecht am Baum stehen. Es war offensichtlich aus der Kurve gerutscht und mit einem ordentlichen Tempo an der stämmigen Tanne emporgeschleudert. Der Baum stand noch, der Schnee war durch den heftigen Aufprall über das Auto herabgefallen und hatte es mit einem weißen Überzug bedeckt. Ein gespenstisch ruhiges und scheinbar groteskes Bild!

Ich schaute nach dem Fahrer des Unfallwagens und entdeckte, dass er im Vordersitz eingeklemmt war. Die vordere Tür ließ sich nicht öffnen, und so kletterte ich durch die hintere Tür auf den Rücksitz und versuchte wiederholt, von hinten unten mit dem über mir liegenden Fahrer zu sprechen. Ich hörte nur ein schmerzverzerrtes Röcheln, keine Antwort. Wahrscheinlich war der Mann bewusstlos. Nach einigen Kletterübungen gelang es mir, die Krawatte des Patienten zu lockern und seinen Hemdkragen zu öffnen. Sein Puls an der Halsschlagader war schwach, über die Stirn rann Blut. Er war nicht angeschnallt. Als ich vorsichtig von hinten seinen Brustkorb abtastete, stöhnte er laut auf. Wahrscheinlich hatte er Rippenbrüche und vielleicht auch innere Brustkorbverletzungen.

Ein gemeinsamer Versuch mit dem inzwischen auf der anderen Seite hinten eingestiegenen Rettungssanitäter, den Patienten nach rechts aus dem Vordersitz zu ziehen, scheiterte. Wir konnten im Schein der Taschenlampe sehen, das das linke Bein demoliert und eingeklemmt war.

Während einer der Rettungssanitäter den Bergungswagen der Feuerwehr alarmierte, konnte ich nicht anderes tun, als dem bewusstlos stöhnenden und sicher schwer verletzten Mann eine rasch aufgezogene Morphium-Spritze von hinten in den einzigen größeren Muskel zu setzen, den ich erreichen konnte, in den Brustmuskel. Ich hoffte, wenigstens die Schmerzen zu lindern, wenn ich schon in dieser beklemmenden und eingeklemmten Lage nichts wirklich Helfendes erreichen konnte. Der Fahrersitz war blockiert und nicht weiter nach hinten zu kippen. Nicht einmal eine Blutdruckmanschette konnte ich benützen, weil wir das Jackett des Fahrers nicht ausziehen konnten. Wir kamen auch nicht an die Hand, sonst hätte ich versucht, dort eine Infusion anzulegen. Auch das Aufschneiden der Kleider hätte uns nicht geholfen.

So waren wir gezwungen, hilflos zu warten, während langsam das Röcheln leiser und die Atmung langsamer und flacher wurden. Ich hatte von hinten mein Stethoskop am Hals entlang auf das Herz geschoben und hörte, wie der letzte Herzschlag sanft im Brustkorb verklang. Da schwiegen auch wir und warteten betroffen auf den Bergungswagen, während der Winterwind leise durch die weißen Äste strich.

Nachdem der Tote nach vielen Bemühungen mit aufwendigem Rettungsgerät aus dem Schrottauto befreit und in den Sarg gebettet war, fuhren wir sehr, sehr langsam und wortlos in der Morgendämmerung durch den glitzernden Tannenwald zurück in die Klinik. Ein neuer Tag begrüßte uns mit der Pracht der strahlenden Winterlandschaft.

Als ich nachdenklich an der Pforte vorbeiging, kam ein freudig-aufgeregter Ehemann mit seiner hochschwangeren Frau vorbei: „Schnell, schnell, das Kind kommt, wo ist der Kreissaal?“ Diese Bemerkung zeigte mir das unveränderbare Gesetz: Kommen und Gehen, Geburt und Tod, Freude und Trauer, Tag und Nacht bestimmen abwechselnd unser Leben. Und so erlebten der Sterbende und das Neugeborene das für sie bestimmte Licht.

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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Endstation Lattenverschlag

Wir hatten es gerade für fünf Minuten geschafft, am Sonntagnachmittag gleich drei diensthabende Kollegen aus den verschiedenen Abteilungen um einen Tisch im Ärztekasino zu versammeln, da wurde die Idylle schon wieder gestört. Mein Notarztwagenalarm schrillte und zerriss die gemütliche Kaffeerunde, noch bevor ich ein Stückchen von dem Kuchen essen konnte, den die Mutter einer kleinen Patientin mitgebracht hatte.

Ich rannte los zum Ausgang, wo der Pkw-Notarztwagen und der große Rettungswagen geparkt waren. Die Rettungsassistenten eilten gleichzeitig aus ihrem Dienstzimmer herbei, und wenige Sekunden später bogen wir von der Ausfahrt auf die Hauptstraße, die Blaulichter rotierten auf den Dächern der roten Autos. Der Fahrer gab Gas. Die Straßen waren frei, und wir kamen rasch voran.

„Was gibt´s denn?“ wollte ich von dem Fahrer wissen. Während er bei Rot über die freie Kreuzung fuhr, meinte er knapp: „Ich weiß ich auch nicht viel. Die Zentrale sagte, ein Mann hat angerufen, eine Frau hat starke Schmerzen, wir sollen schnell kommen!“ Damit war unsere Unterhaltung schon beendet, und ich versank in Gedanken und überlegte mir die vielfältigen Schmerzen, bei denen ein Notarzteinsatz gerechtfertigt war. Ich dachte an Herzinfarkt, Nieren- und Gallenkoliken, Unfälle und andere schlimme Notfälle.

Während ich mich innerlich auf eine komplizierte Situation einzustellen versuchte, rasten wir weiter in einen Vorort und dort in eine Gegend mit abbruchreifen Häusern und verkommenen Grundstücken, auf denen allerlei Müll und aufeinander gestapelte Schrottautos herumlagen. Eine verwahrloste Gegend, die ausgestoßen wirkte von der Glitzerwelt der Innenstadt wie ein schmutziges Anhängsel an einem gepflegten Körper.

Der Beifahrer hatte den Stadtplan auf dem Schoß und dirigierte den Fahrer routiniert und mit knappen Angaben zu unserem Einsatzort. Da standen wir vor einem verfallenen Einfahrtstor aus zerrissenem Maschendraht, dahinter sahen wir vergammelte Hütten und ein kleines dreistöckiges Haus. Ein altes und verrostetes Schild verkündete von einer Schrotthandlung, die irgendwann einmal hier ihre Geschäfte erledigt hatte und längst verlassen war. Ein Rettungssanitäter stieg aus, öffnete mit raschem Griff das altersschwache Tor, das fast aus den Angeln fiel, und wir fuhren mit beiden Einsatzwagen auf holperigem Weg durch ölverschmierte Pfützen und steinige Schlaglöcher auf den Hof, der wie ein verlassener Müllplatz aussah. Wir bahnten uns durch die herumliegenden Schrottwracks und alten Reifen einen Weg zum Haupthaus, das völlig heruntergekommen vor uns stand. An den Fenstern hingen zugeklappt verwitterte Bretter, die einmal Läden waren, einige hingen aus den Scharnieren gerissen im Wind, und viele der Fensterscheiben waren im Laufe der Jahre zu Bruch gegangen. Die Scherben ragten spitz aus dem Rahmen. Der Putz fiel von den Wänden, den alten Firmennamen konnte ich nur mit viel Phantasie lesen. Wir schauten einander fragend an und dachten wohl alle das gleiche: Hier sollte unsere Patientin sein? Wohnt hier jemand?

Aber die Zeit drängte, es war schließlich ein Notarzteinsatz. Also hatten wir keine Zeit, lange Überlegungen anzustellen und uns mit Vermutungen aufzuhalten. Ich sagte nur: “Also, schnell suchen!“ Da wir zu fünft waren, lief ein Rettungssanitäter rasch über das Gelände, wir anderen betraten das düstere und muffig riechende Haus. Schon im Eingang sahen wir eine Maus über den schmierigen Boden huschen und in irgendeinem Versteck verschwinden. Das kann ja heiter werden, dachte ich und ging hinter dem Sanitäter her. Er versuchte vergeblich, Licht zu machen. Die Schalter funktionierten nicht. Aber dieser erfahrene Mann hatte vorsorglich die starke Taschenlampe aus dem Wagen eingesteckt. Die Erdgeschoßräume waren im überfliegenden Scheinwerferlicht schnell durchsucht: Überall Müll, alte Möbel, zerrissene Tapeten, kaputte Bodenbeläge, verstreute Aktenordner, umgeworfene Stühle, offene und leere Schränke.

Wir riefen durch das Treppenhaus und erhielten keine Antwort. So tasteten wir uns im Halbdämmer eine Treppe hoch, das Geländer war defekt, die Stufen knarrten, der Wind pfiff durch das Treppenhaus wie durch einen Kamin, und ich musste sofort an den Film „Psycho“ denken mit seinen unheimlichen Szenen. Wir stiegen zügig Stockwerk um Stockwerk empor, und in jeder Etage bot sich dasselbe Bild wie im Erdgeschoß: ein altes Chaos, stummes Zeugnis der unbewohnten Verwahrlosung.

Da hörten wir plötzlich auf unser Rufen eine schwache Frauenstimme: „Ich bin auf dem Speicher!“ Also noch eine klapprige steile Holzstiege hinauf durch eine Bodenluke, an Spinnenwebennetzen vorbei, auch hier rannten Mäuse und knackten Dielen. Der alkohol- und rauchgeschwängerte Mief hier oben verschlug uns fast den Atem. Da hinten in einem Lattenverschlag flackerte eine Kerze! Das war das einzige Licht in diesem fensterlosen Dachboden.

Der Rettungssanitäter hievte seinen schweren Koffer hoch, wir halfen ihm und eilten zu dem kleinen Verlies, das offensichtlich die Bleibe unserer Patientin war. Da lag sie auf einer uralten Matratze ohne Leintuch, bedeckt mit einem fleckig-verschmierten Laken. Ringsherum lagen zahllose leere Bierflaschen, stanken überquellende Aschenbecher und schmutzige Wäsche, die auf dem Boden verstreut waren. Die Kerze hatte sich auf einer Glasscherbe festgetropft und verbreitete ein schwaches unruhiges Licht. Schemenhaft konnte ich einen winzigen Dachraum mit Ziegeln und Dachsparren, Bretterboden und einer niedrigen schrägen Decke erkennen. Ich bückte mich nieder und versuchte mit Hilfe der Taschenlampe, das Gesicht zu erkennen.

Eine verhärmte Frau mit wirren Haaren und schmutzigem Gesicht schaute mich aus ihren Runzeln blinzelnd an: „Gut, dass Sie kommen, mir tut´s weh!“ Die verwaschene Sprache war noch verständlich und bewies mit dem erheblichen Mundgeruch, was die Patientin getrunken hatte. Die eingefallenen Lippen ließen beim Sprechen viele Lücken und ein paar verrottete Zahnstummel frei.

„Wo tut´s denn weh?“ fragte ich. Sie hatte sich wohl eine schmerzstillende Alkoholdosis genehmigt und reagierte verlangsamt. Ihre ausgemergelten Arme bewegten sich, die schmutzstarrenden Hände mit der glimmenden Zigarettenkippe zwischen den gelben Fingerspitzen schoben ein Kleidungsstück weg, das wohl in besseren Zeiten ein Nachthemd gewesen war, und sie streckte uns ihr nacktes Hinterteil entgegen. „Da!“ nuschelte sie und zeigte auf ihre eingefallene Gesäßbacke. Ich leuchtete genauer hin und erkannte die eindeutigen Abdruckspuren eines kräftigen Gebisses, mit Blut unterlaufen, aber ohne oberflächliche Hautverletzung. Wie gut, dass mein Gesicht im Schatten des Lichtkegels war, so konnte keiner meine Verblüffung sehen.

„Wie kommen Sie denn zu diesem Biss?“ wollte ich wissen. Ein gequältes Lächeln flog über ihr von der Sucht gezeichnetes Gesicht, und sie klärte uns mit einem Satz auf: „Wir mögen´s gern mit Beißen, und da hat er wohl zu fest gebissen! Haben Sie eine Salbe da?“ Ich war entsetzt. Das soziale Elend, die bizzare Entstehung einer Bissquetschwunde, die katastrophale Umgebung, Endstation eines Abstiegs. Ich hielt einen Moment inne und schaute mir die Frau an, ein menschliches Wrack, ihre Haut war vergilbt, das Gesicht aufgedunsen, Tränensäcke unter den Augen, der Körper abgemagert, ein zerfallender Mensch.

Der Sanitäter fragte: “Können Sie uns mal Ihre Personalien sagen?“ Sie drehte sich stöhnend zur Seite, griff in eine Tasche und zog mühsam ein zerschlissenes Etui heraus, das sie umständlich öffnete, und dann streckte sie mir ihren Personalausweis entgegen. Ich schaute das Passbild an und sah eine junge und gepflegte Frau mit freundlichen und klaren Augen. Mein Blick wanderte zu der Frau auf der Matratze und noch einmal auf den Ausweis. Ich konnte es kaum glauben. Deshalb fragte ich: „Sind Sie das?“ Sie schüttelte langsam den Kopf und sagte leise und langsam: „Nein, das war ich mal vor fünf Jahren.“ Ich rechnete nach: Sie war dreißig Jahre alt, ich hatte sie auf mindestens fünfzig geschätzt.

Die zweite Matratze lag neben der Frau, von einem Knäuel aus zerrissener Bettdecke und dreckiger Schmutzwäsche bedeckt. Ich schaute die Patientin an, die mich aus rot geränderten Augen musterte. “Wo ist denn ihr Partner?“ fragte ich. Sie überlegte kurz: „Danach“, seufzte sie und deutete auf ihre Hinterfront, die sie inzwischen wieder bedeckt hatte, „hat er mich hier liegen lassen und ist ins Stadion gegangen. Von unterwegs hat er Sie aus einer Telefonzelle angerufen.“

Was sollte ich tun? Hier gab es keinen Grund für eine Fahrt im Notarztwagen oder einen Krankenhausaufenthalt. Eine Salbe hatten wir nicht im Auto, weil es dort nur Notfallmedikamente gab. Ich schrieb eine Salbe auf und reichte der Frau das Blatt: „Wenn er zurückkommt, bitten Sie ihn, die Salbe zu holen. Macht er das?“ Sie überlegte: „Ja, wahrscheinlich schon, wenn er nicht voll ist. Morgen gibt es wieder Geld beim Sozialamt. Da muß einer von uns sowieso in die Stadt. Danke, daß Sie da waren!“

Sehr nachdenklich verabschiedete ich mich. Im Kasino wollte ich meinen Kuchen nicht mehr essen, und der Kaffee schmeckte bitter.

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

 

 

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Auf der Vanguard

Nachdem ich die Wachen am Militärhafen hinter mir hatte und auf das riesige Schiff zufuhr, sah ich die meergraue Tarnfarbe der Kriegsschiffe. Nach wenigen Sätzen mit dem Wachposten und mit Hilfe meines Passierscheines kam ich an Bord, wurde von der Operationsschwester freundlich begrüßt, und sie führte mich durch das Schiff. Besonders beeindruckten mich die großen Räume, die mit flimmernden Monitoren geradezu tapeziert waren. Schon bei der Herfahrt hatte ich auf dem Schiff die vielen Antennen bestaunt, und jetzt sah ich die Sprechfunkgeräte, Mikrofone, Telefone, Computerwände, die dazugehörten. Die Schwester bestätigte meine Vermutung: Während der Mondlandungsphase stand noch viel mehr Technik hier an Bord zur Verfügung! Jetzt war der ganze Apparat überwiegend auf meteorologische Untersuchungen eingestellt.

Das medizinische Zentrum bestand aus einem Praxisraum, der wie auf der Meteor als Vielzweckraum benutzbar war für die Sprechstunde, Verbände, kleinere operative Eingriffe, Röntgenaufnahmen, und als Labor und Arbeitszimmer. Die Schwester berichtete mir von ihren vielseitigen Aufgaben hier an Bord: Sie war als Seelsorgerin, Ärztin, Krankenschwester und Vermittlerin zwischen Kranken und dem Kapitän tätig. Sie machte ihre „Hausbesuche“ am Bett der Kranken und hielt eine regelmäßige Sprechstunde ab. Glücklicherweise betreute auch sie nur wenige Kranke an Bord, und die hatten keine schwereren Leiden.

Wir gingen weiter durch das Labyrinth der Gänge, Treppen und Türen und kamen schließlich gerade richtig zur Essenszeit in die Offiziersmesse. Wir stellten uns in die Schlange vor die Ausgabe, und was gab es zum Mittagessen? Groß stand es auf der Tafel hinter dem Servicepersonal: „Suebian Sauerkraut with sausages“! Als ich meiner Gastgeberin erzählte, dass ich aus Schwaben komme, war sie ganz begeistert. Sie stellte mich dem Kapitän vor, der auch gerade zum Essen gekommen war, und er lud uns an seinen Tisch ein. Eine entspannte Unterhaltung schloss sich an, ich fühlte mich wohl und genoss es, wieder einmal über längere Zeit englisch sprechen zu können. Nach dem abschließenden Kaffee verabschiedete ich mich und fuhr zur Meteor zurück.

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